Hugo von Hofmannsthal
Andreas
Hugo von Hofmannsthal

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Andreas hörte alles nur mit halbem Ohr. Die Treppe war eng und dunkel, bei jeder Wendung glaubte, hoffte er die Unbekannte irgendwo hervortreten zu sehen, noch oben vor Ninas Tür erwartete er, sie würde vorüberhuschen. Der Gegenwart einer ältlichen Person, die ihn und Zorzi oben in ein dunkles Vorzimmer einließ wurde er sich kaum bewußt und stand in einem freundlichen hellen Zimmer. Jetzt erschien es ihm über jeden Zweifel sicher, daß zwischen beiden Gebärden ein geheimnisvoller Bezug geherrscht hatte: die flehentlich wie beschwörend gehobenen Arme der Bekümmerten ihm ebenso wie der Wink der Jungen gegolten hatte. Die Spannung, die Ungeduld, dieses unbegreifliche Wesen zu entziffern, war kaum erträglich; nur eines beruhigte ihn: sie hatte, um einen Augenblick mit ihm allein zu sein, auf eine unbegreifliche Weise den Weg gefunden, eine hohe Mauer, unter der vielleicht das Wasser dahinfloß, hatte sie nicht abgehalten, das zu machen, was außer einer Katze jedem Geschöpf versagt schien, aus ihren Fingern das Blut fließen zu lassen war ihr nicht zu viel gewesen. Sie würde ihn an jedem Ort und zu jeder Stunde wieder zu finden wissen.

Sie fanden Fräulein Nina auf einem Sofa in einer sehr bequemen und hübschen Stellung. Alles an ihr war hell und von einer allerliebsten zarten Rundheit. Ihr Haar war hellblond wie verblichenes Gold, und sie trug es ungepudert. Drei Dinge, die in reizender Weise gekrümmt waren und ganz zueinander gehörten: ihre Augenbrauen, ihr Mund und ihre Hand hoben sich mit dem Ausdruck von gelassener Neugierde und großer Liebenswürdigkeit dem eintretenden Gast entgegen.

Ein Bild ohne Rahmen lehnte verkehrt an der Wand, durch die Leinwand lief ein Schnitt wie von einem Messer. Zorzi nahm es vom Boden auf und besah es kopfschüttelnd. »Wie finden Sie übrigens die Ähnlichkeit?« fragte er und hielt Andreas, der sich zu Ninas Füßen auf ein Taburett niedergesetzt hatte, das Gemälde hin. Das Bild war, was ein grobes Auge sprechend ähnlich finden mochte: es waren Ninas Züge, aber kalt, gemein. Ihre leicht nach oben gekrümmten Brauen waren darum so reizend, weil sie in einem fast zu weichen Gesichtchen saßen; ihren Hals hätte ein strenger Beurteiler zu wenig schlank finden können – aber wie der Kopf auf ihm saß gab es ein bezauberndes Ich-weiß-nicht-was von frauenhafter Hilflosigkeit. Auf dem Porträt waren die Augenbrauen von einer gemeinen Bestimmtheit, der Hals, den der Messerstich durchschnitt, üppig und dirnenhaft. Die Augen hafteten mit frechem kaltem Feuer auf dem Beschauer. Es war eines von jenen peinlichen Porträts, von denen man sagen kann, daß sie das Inventarium eines Gesichtes enthalten, aber die Seele des Malers verraten. Andreas wandelte ein innerlicher Schauder an.

»Räum es mir aus den Augen«, sagte Nina, »es erinnert mich nur an Ärger und Brutalität.« – »Ich werde dieses wieder herstellen«, sagte Zorzi, »und ein zweites machen und es nicht in der venezianischen Art sondern in der flämischen untermalen. Es wird noch besser werden, und ich werde es mir von den beiden Herren zweimal bezahlen lassen. Ich müßte ein Vieh sein, wenn es mir nicht gelingen sollte, es mir von beiden bezahlen zu lassen.«

»Nun, wie finden Sie es?« fragte sie, als der Maler mit seinem Werk verschwunden war. – »Ich finde es recht ähnlich und recht häßlich«, sagte Andreas. – »Da machen Sie mir ein schönes Kompliment.« – Er schwieg. – »Nun sind Sie erst einen Augenblick bei mir und haben mir schon etwas Unfreundliches gesagt. Meinen Sie denn auch, daß den Männern ihre größere Kraft, ihr schärferer Verstand, ihre stärkere Stimme nur gegeben sind, um uns armen Weibern das Leben schwer zu machen?«

»So meine ich es nicht«, beeilte sich Andreas zu sagen, »wenn ich Sie malen sollte, so käme ein anderes Bild heraus, das dürfen Sie mir glauben.« – Er sagte es und hätte gerne viel mehr gesagt, denn sie schien ihm unsäglich reizend. Aber der Gedanke, daß Zorzi jeden Augenblick wieder ins Zimmer treten werde, machte ihn befangen, und er schwieg. Vielleicht hatte er genug gesagt, aber er wußte es nicht. Denn es kommt nicht auf die Worte an, sondern auf einen Ton, einen Blick.

Nina sah wie zerstreut über ihn hin; auf ihrer Oberlippe, die geschwungen war wie ihre Augenbrauen und gleichsam wie in etwas, das kommen würde, ergeben, schwebte die Andeutung eines Lächelns und schien auf einen Kuß zu warten. Andreas neigte sich unbewußt vor und sah benommen auf diese halboffenen Lippen. Das Bauernmädchen Romana tauchte herauf, um sich gleich wieder in Luft aufzulösen. Er fühlte, wie etwas Entzückendes, zugleich Bangmachendes sich sanft auf sein Herz niedersenkte, sich dort zu lösen.

»Nun sind wir allein«, sagte er, »aber wer weiß wie lange.« Fast hätte er nach ihrer Hand gegriffen und nahm sie doch nicht, denn er glaubte Zorzis Hand in der Türklinke zu fühlen. Er stand auf und trat ans Fenster.

Andreas sah durchs Fenster und gewahrte unter sich einen hübschen kleinen Dachgarten. Auf einer flachen Terrasse standen Orangen in Kübeln, Lilien und Rosen wuchsen aus hölzernen Behältern, und Kletterrosen bildeten einen Gang und eine kleine Laube. Ein kleiner Feigenbaum in der Mitte trug sogar einige reife Früchte. Er fragte: »Gehört der Garten Ihnen?« – »Er gehört nicht mir«, gab Nina zurück, »wie gerne möchte ich ihn mieten, aber ich kann den geldgierigen Leuten nicht so viel geben, als sie haben wollen. Hätte ich ihn, so ließe ich ein Bassin und einen kleinen Springbrunnen machen – Zorzi sagt, man kann das – und eine Laterne in die Laube.«

Andreas sah sich bei den Nachbarsleuten eintreten, das Geld für die Miete auf den Tisch zählen, er sah sich dann mit dem Mietskontrakt zu Fräulein Nina zurückkommen. In seiner Phantasie gab er schon die Anordnung, das Gitter um den Dachgarten zu erhöhen: Kletterrosen und Winden liefen an leichten Stäben aufwärts und machten den kleinen Raum wie ein lebendes Zimmer, in das von oben die Sterne hereinblickten. Der leichte Nachtwind trat spielend hindurch, die zudringlichen Blicke der Nachbarn waren abgehalten. Auf kleinen Tischchen standen Früchte in Schalen, zwischen Lichtern unter Glasglocken; Nina lag in einem leichten Umhang auf einem Sofa, fast so wie sie hier wirklich vor ihm lag. Aber wie anders stand er dort vor ihr – traumartig fühlte er jenes andere Selbst: er war kein zufälliger Besuch, den jedes Knarren einer Tür aufschreckte, dem eine ungewisse zerstreute Viertelstunde zugewiesen war, er war der berechtigte Freund, der Herr dieses Zaubergartens und der Herr seiner Herrin. Er verlor sich in ein unbestimmtes Gefühl von Beglückung, als schlüge der Ton einer Äolsharfe durch ihn hindurch. – Er wußte nicht, wie wenig es eines solchen Umweges bedurfte, ja daß der nächste Moment ihm vielleicht das Glück geschenkt hätte.

»Was haben Sie? Woran denken Sie?« fragte Nina, und in ihrer Stimme lag der Ausdruck einer leichten Verwunderung, die ihr so nah lag. Die Stimme zog ihn ins Bewußtsein zurück. Ihm fiel ein, daß man von dem Dachgarten aus müßte auf jenes Dach aus Weinlaub hinabschauen können, das sich von einer Feuermauer zur andern spannte, auf den Kanal, der sich zwischen jenem Hof und dem Garten des Redemptoristenklosters hinzog. Der Gedanke an seine Unbekannte fiel ihn an, aber wie ein Schreck. Dieses Wesen war in der Welt, darin lag etwas, das unentfliehbar war. Die Brust wurde ihm enger, ihm war, als müsse er Schutz suchen, er trat ins Zimmer zurück, er stützte sich auf die Lehne des Sofas und beugte sich über Nina. Ihre Oberlippe, die zart gekrümmt war wie ihre Augenbrauen, hob sich in leichtem Erstaunen nach oben.

»Ich habe daran gedacht, daß ich in Ihren früheren Zimmern wohne, und daß ich allein dort wohne – und daß Sie hier wohnen«, sagte er, aber die Worte wurden ihm schwer. »Wenn Sie den kleinen Garten da drunten hätten und die Laube mit der Lampe drin, so möchte ich dort mit jemandem wohnen – aber schon recht gern -, freilich nicht mit der, die der da hinausgetragen hat. Mit der möchte ich in keinem Haus, in keiner Laube und auf keiner Insel wohnen. Und Sie haben ja keine Laube und keine Lampe drin!«

Er wäre gerne vor ihr niedergekniet und hätte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, aber er sagte alles und insbesondere den letzten Satz in einem kalten und beinahe finsteren Ton, denn er glaubte, daß eine Frau alles erraten müsse, was in ihm vorging. Wenn er nun hart und spöttisch von jener Nina auf dem Bild sprach, so mußte sie wissen, daß eine andere ihm näher und er ihr näher war, als sich mit Worten sagen ließ, und daß alles an ihm bereit war, die Umstände herbeizuführen, deren Nichtvorhandensein er hart und trocken hervorhob. Zugleich aber überkam ihn eine sonderbare und trübe Vorstellung: es war die Erinnerung an alte, wie ihm in diesem Augenblick schien, und bis zum Ekel oft geträumte Kinderträume: hungrig hatte er sich in die Vorratskammer geschlichen, sich ein Stück Brot abzuschneiden, er hatte den Laib Brot an sich gedrückt, das Messer in der Hand, aber schnitt es wieder und wieder an dem Brot vorbei ins Leere.

Seine Hand hatte ohne Verwegenheit, ja ohne Hoffnung Ninas Hand erfaßt, die reizend ohne Magerkeit und zart war, ohne klein zu sein. Sie ließ sie ihm, ja er glaubte zu fühlen, wie sich die Finger mit einem leisen beharrenden Druck um die seinigen zusammenschlossen. Ihr Blick verschleierte sich, und das Innere ihrer blauen Augen schien dunkler zu werden; die Ahnung eines Lächelns lag noch auf ihrer Oberlippe, aber ein vergehendes, beinah angstvolles Lächeln schien einen Kuß dorthin zu rufen. Nichts konnte ihn tiefer und jäher erschrecken als diese Zeichen, die einen andern vielleicht kühn, ja frech gemacht hätten. Er war verwirrt über die Maßen. Wie konnte er fassen, was so einfach und so nahe war! Er dachte nicht an die, über die er gebeugt war, sondern an ihr Leben. Blitzschnell sah er die Mutter, den Vater, die Schwester, die Brüder; er sah den jähzornigen Herzog wie aus der Kulisse um das Sofa auftauchen, den blutigen Kopf eines Papageien in der Hand, daneben schob sich der Kopf eines jüdischen Verehrers lauernd hindurch, er sah aus wie einer der Bedienten, aber ohne Perücke, und der ungarische Hauptmann, dessen Haar in Zöpfe geflochten war, hob mit wilder Gebärde ein krummes Messer. Er fragte sich, ob seine ganze Barschaft hinreichen würde, Fräulein Nina völlig von all diesen Gestalten loszumachen, – und er mußte sich sagen: vielleicht für eine Woche, für drei Tage. Und was war ein einmaliges Geschenk, wenn es ihn auch zum Bettler machte, wo, wie es ihm schien, der Anstand es verlangte, eine Rente auszusetzen, ja, vielleicht eine Wohnung oder gar ein Haus neu einzurichten, Dienerschaft herbeizuschaffen, zumindest – überschlug er – eine Jungfer und Diener. Die Miene des Bedienten Gotthelff grinste ihm entgegen, der schöne Moment war zerronnen. Er fühlte, daß er Ninas Hand auslassen müßte, er tat es mit einem sanften Druck. Sie sah ihn an, ihrem Ausdruck war wieder etwas wie Verwunderung beigemischt, aber kühler als vorhin. Er hatte Abschied genommen und wußte nicht wie, und hatte um die Erlaubnis gebeten, wiederzukommen.

Drunten fand er Zorzi, der das Bild, in ein Papier gehüllt, unterm Arm hatte und auf ihn zu warten schien. Er verabschiedete ihn schnell, es reute ihn sehr, daß er diesem Menschen von der Unbekannten gesprochen hatte; er war froh, daß Zorzi nicht davon anfing, um alles hätte er gerade ihn nicht dürfen auf diese Spur bringen, von dessen Blick er sich und alles belauert fühlte. Er sagte ihm, daß er Fräulein Nina demnächst wieder besuchen werde, – er glaubte selbst nichts davon. Kaum daß Zorzi mit seinem Bild sich entfernt hatte, ging Andreas durch das Gäßchen unter dem Schwibbogen durch über die Brücke, nach der Kirche.

Der Platz lag menschenleer da, wie vorhin; unter der Brücke hing regungslos die leere Barke, und Andreas glaubte darin ein Zeichen zu sehen, das ihn ermutigte. Er ging wie im Traum und zweifelte eigentlich nicht. Er dachte nichts anderes, als daß die Bekümmerte dasitzen, und wie er hereinträte, die Arme angstvoll und wie flehend gegen ihn heben würde. Dann würde er zurücktreten und wissen, daß in seinem Rücken die andere sich von dem gleichen Betstuhl erhob, um ihm zu folgen. Dies Geheimnisvolle war für ihn nichts Vergangenes sondern ein Etwas, das sich kreisförmig wiederholte, und es lag nur an ihm, in den Kreis zurückzutreten, daß es wieder Gegenwart würde.

Er trat in die Kirche, es war niemand da. Er ging wieder zurück auf den Platz, er stand auf der Brücke und sah in jedes Haus und fand niemanden. Er entfernte sich, durchstreifte ein paar Gassen, kam nach einer Weile wieder auf den Platz zurück, trat durch die Seitentür in die Kirche, ging durch den Schwibbogen zurück und fand niemanden.


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