Heinrich Hoffmann
Der Badeort Salzloch
Heinrich Hoffmann

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I. Einleitung

Scharlatanerie in der Arzneikunst. – Sonst wie jetzt. – Salzlochs Bedeutung. – Römischer Ursprung. – Mittelalterliche Periode. – Neue Entdeckung. – Dr. Goldfischer. – Die Kurkomödie.

Wenn ich nicht Badearzt in Salzloch wäre,
möchte ich Badearzt in Salzloch sein!
(Frei nach Diogenes und Alexander)

Von allen Kinder- und Schulliedern scheint keines schneller und gründlicher vergessen zu werden als das bekannte: »Üb immer Treu und Redlichkeit!«, und das Sprichwort: »Ehrlich währt am längsten«, wird jetzt dahin gedeutet werden müssen, daß es sehr lange währt, bis man den Ehrlichen in der Welt begegnet. Der Scharlatanismus, der industrielle Humbug sind im sozialen Treiben der heutzutage die Erdenkugel bewohnenden Menschen so alltägliche Dinge, daß man den Mangel derselben, die klare treue Zuverlässigkeit als etwas ganz Absonderliches betrachtet und ihr oft am allerwenigsten trauen zu können vermeint. Vorab in medizinischen Sachen herrscht der sonderbarste Widerspruch; da wo die Marktschreierei ohrenfällig ist, erkennt sie niemand; da wo sie nicht ist, argwöhnt sie jeder.

        Was hilft das Sonnenlicht
An hellsten Tagen,
Wenn sich mit Blindheit selbst
Die Ärmsten schlagen?

Ein Mecklenburger Sprichwort im Mittelalter lautete:

        Aber wat helpen Fackel und Brillen,
Wenn die Lüte nit sehen willen?

Man höre, wie elektrogalvanische Ketten und Heilkissen, Haarsalben, Augenwässer, Magenkrampfmittel und ähnliches gekauft und bekräftigt werden, man sehe, wie die rätselhaften Ankündigungen geheimnisvoller Spezialisten beachtet, wie wundertätige Schäfer und Rotlaufbesprecher bewallfahrtet werden, und nie wird man von einem der Gläubigen auch nur den allerleisesten Zweifel über die unbedingteste Zuverlässigkeit und Untrüglichkeit der Anpreisungen äußern hören. Bei Lichte betrachtet ist aber die Sache gar nicht neu und wohl immer so gewesen. Schon der Nestor unter den deutschen Balneographen, der alte Tabernaemontanus, klagt (in der Vorrede zu seinem »New Wasserschatz« 1605) auf die der damaligen Zeit eigne derbe Art: »Ich geschweig der barbarischen ungelerten Juden, Balbierern, ausgelauffenen München und Pfaffen, die ihren Beruf verlassen, verdorbnen Kaufleuten, Henkersbuben, Zahnbrechern, der newen vermeynten Ärzten und ketzerischen erstandenen Secten der Paracelsisten und dergleichen Landstreicher, die Fürsten und Herren, Bürger und Bauwern meisterlich mit ihrem Lügengeschwätz und erdichteten Fabelwerk hinder das Liecht wissen zu führen, ihnen das Geld außsaugen, und darneben doch den meistentheil der Kranken umb Leib und Leben bringen. Also ist leyder dieser herrliche und fürtreffliche Orden der Ärzte mit obgemeldten schändlichen Lotterbuben gezieret, wie der Markt mit deß Henckers oder Schinders Hauß.«

Damals wie jetzt galt das Wort:

Toller Trug und immer toller
macht die Narren glaubensvoller.

Fällt dagegen eine moderne Badeschrift einem Pansophisten der Gegenwart in die Hände, so besieht er den Titel, lächelt, legt das Buch wieder hin, zuckt die Achseln und spricht vornehm: »Wir kennen das!« Wo aber in aller Welt ist weniger Geheimniskrämerei, als im Verkehr und im Gebrauch eines Mineralbrunnens? Alles ist ja hier öffentlich: Genuß und Wirkung, fast mehr, als gut und schön ist. Ein rite lateinisch geschriebenes, in der Offizin zusammengebrautes Rezept ist ein Mysterium gegenüber einem Becher Ragoczy oder Karlsbader Sprudel.

Von dieser ehrlichen deutschen Offenheit wollen auch wir nicht abweichen; wenn wir über unsere Heilquellen schreiben, so werden wir geradezu heraussagen, was da ist und was da nicht ist.

Ein einfach Wort hat rechte Kraft;
Das ist der Rede Meisterschaft.

Unsere wunderbar kräftigen Wasser verdienen diese offene Besprechung und haben sie nicht zu scheuen. Aber noch einen weiteren Zweck haben wir mit dieser Schrift im Auge: Wir wollen eine Musterbadeschrift geben; in ihrer Darstellung den besten der Art nachgebildet, soll sie andern wiederum als ein Modell dienen, welches mit geringen Veränderungen an Namen und Ort auch für andre Bäder dienen mag. Die Wahrheit bleibt überall die Wahrheit, sie ist dieselbe im Taunus wie im Erzgebirg, in Thüringen wie in der Schweiz; der Titel aber der Schablonenarbeit soll unsere Schrift ehren, niemals ihr ein Vorwurf sein.

Vorreden zu Badeschriften haben gemeinlich noch einen andern nicht unfeinen Zweck, und den hat auch die unsre. Sie geben als populäre medizinische Darstellungen dem Badepublikum allerlei Regeln und Anweisungen, aber immer entweder so wenig, daß man damit nicht ausreicht, oder so viel, daß man dadurch verwirrt wird und nun erst doppelt genötigt ist, den lokalen Badearzt zu beraten. Und das ist doch am Ende für den Badearzt eine ganz natürliche Lebensfrage. An geeigneter Stelle des Vorworts wird die ganze Gefahr der Unterlassung in grellen Farben geschildert, und so verrät der Badearzt weder die Wissenschaft noch sein Interesse und hat am Ende, wenn auch kein Honorar vom Buchhändler, doch eins vom Leser zu erwarten. Darüber soll sich niemand verwundern und niemand es tadeln, denn:

Was rät dir Kluges wohl ein Mann,
Der sich nicht selbst einmal beraten kann?

Hier aber mag die einfache Erklärung genügen, daß eine Badekur ohne Badearzt dasselbe ist wie eine Ehe ohne Segen, nämlich eine sog. wilde, wie ein Bild ohne Farbe, wie ein Tag ohne Sonne, wie eine Irrfahrt ohne Weg und Steg, ziellos und ohne Aussicht der Heimkehr, eine schmähliche Gesundheits-Odyssee. Wir können uns nicht versagen, aus einer alten Badeschrift »Der Württembergische Wasserschatz«, wo zugleich gegen den leichtsinnigen Badegebrauch die Bemerkung zu lesen ist, daß doch nicht alle Schuhe über einen Leisten gemacht werden sollen, nachfolgende Worte zu Nutz und Frommen unserer Leser herzusetzen: »Etliche ziehen also nach ihrem Gutdünken ohne Rat eines Medici bald in dieses Bad, bald in jenes Bad, welches ihnen auch bekommen tut, wie dem Hund das Gras.« – Wenn Sirach sagt: »Ehre den Arzt mit gebührender Verehrung, auf daß du ihn habest in der Not, denn der Herr hat ihn erschaffen; die Kunst des Arztes erhöhet ihn und macht ihn groß bei Fürsten und Herrn«, so beziehen wir dies vorzugsweise auf die Badeärzte. Jeder Schriftsteller aber schreibt ein Stück seiner selbst wegen, der Badeschriftsteller mehr als jeder andre.

Völlig überflüssig scheint es mir, unanständigen Lärm zu machen, um den Ruhm unseres Badeorts zu weiterer Kunde zu bringen. Wenn man liest, wie alle Bäder von sich prahlen, daß der Zudrang in den letzten Jahren sich enorm gehoben habe, so sollte man wahrlich glauben, in Deutschland säßen in den Sommermonaten alle Menschen in Badewannen oder würden von mineralischen Najaden gesäugt. Ja, wenig fehlt, daß manche Badeverwaltung an den Eingang oder an die Landesgrenze einen Trompeter stellt, der der Menschheit beständig ein »Memento bibere et lavari« in die Ohren blasen soll, ähnlich wie in Schaubuden auf Jahrmärkten: Nur hereinspaziert, meine Herrschaften! Eben wird alles kuriert! Nur hereinspaziert! – Solche Fanfaren brauchen wir nicht, denn Salzloch ist von europäischer, ja von tellurischer Bedeutung! In wissenschaftlichen Zeitschriften ist sein Wert anerkannt, ich erwähne hier nur die Aufsätze in dem vorigen Jahrgange des »Butzheimer Postreuters«, der »Schnackenberger Fackel« und der »Allgemeinen Winkelstädter Zeitung« und in vielen ändern. Weit schon über die Grenzen des Vaterlandes ist der Ruf unserer Universalquellen gedrungen, ja selbst der Ozean hielt ihn nicht auf, und an fernen Küsten ist der Name Salzloch kein begriffsloser, wie dies gediegene Besprechungen im »Colporteur von Oweihi« und in dem »Teeblatt von Schanghai« beweisen. Die Anerkennung, die an allen diesen Orten unserem Bade geworden ist, zeigt hinlänglich, daß es sich hier nicht um gewöhnliche Wasserliteratur handelt, und der Geist lebendiger Kritik, der diese Aufsätze durchweht, erhebt diese Arbeiten auch weit über das steigende Literaturwasser. Wenn jedoch diese Zeitungsartikel nicht genügen sollten, so wäre es ein leichtes, neue und noch entschiedenere in großer Zahl erscheinen zu lassen. Bis jetzt haben wir gemeint, es sei vorderhand damit genug.

Allein nicht nur in der Gegenwart spendet unsere »Bade-Najade« Wohlsein und Gesundheitsfülle, auch in nebelverhüllter grauer Vorzeit sammelte sich schon die Hilfe suchende Gemeinde zum Dienste bei der Nymphe Heiligtum. Leider fehlen uns sichere historische Urkunden und Anhaltspunkte, doch ist es wohl keinem Zweifel unterworfen, daß unser Bad, so gut wie viele andre, die sich darauf so viel zugute tun, den Römern bereits bekannt und von ihren Legionen benutzt war. Zwar ist es bis jetzt noch nicht gelungen, Reste römischer Niederlassungen hier zu entdecken; wir haben aber nicht den mindesten Zweifel, daß sie noch gefunden werden, gefunden werden müssen. Schon der Name des Ortes: Salzloch deutet auf römischen Ursprung, wo er einst Locus salsus genannt worden sein mag. Eine Viertelstunde davon liegt das Dorf: Dumbach, zweifelsohne einst wegen Vorhandensein eines Bacchustempels als Domus Bacchi bezeichnet; unter den Bauern kommt der Name Faber und Cornel sehr häufig vor. Wir können also mit vollem Rechte sagen:

Dort an dem schattigen Born fand Kraft der ermattete, Römer,
Und in der heilenden Flut wusch er die Wunden sich aus.

Auch im Mittelalter muß unsre Quelle schon zu Heilzwecken benutzt worden und ihre Kraft bekannt gewesen sein; wenigstens läßt sich nur so eine Stelle im alten Kirchenbuche deuten, wo es im Jahr 1690 also heißt: »Am 10. Januarii starb der Baur Peter Vollmann am Suff; wäre ihm wol nicht so jung widderfahren, hätt er mehr des Wassers statt des Weins genommen.« Es deutet dies unleugbar auf die Heilsamkeit der Quelle hin; es anders auszulegen, wäre Gewaltsamkeit.

Doch wie dem allen auch sein mag, die Vergangenheit ändert nichts an der Gegenwart, und was heute den Kurt kuriert, kann vor 1500 Jahren auch den Curtius kuriert haben, und was damals dem Fabius gut war, wird heute dem Fabian auch nicht schaden.

Über die spätere Wiederauffindung der Quelle sind nur wenige Worte zu verlieren; damit ging es hier wie anderwärts. Vorerst trank das liebe Vieh mit Vorliebe aus dem versumpften salzigen Wiesenborn. Ob verwundete wilde Schweine auch hier, wie es von Wildbad erzählt wird, sich eingefunden, um eine Badekur und Schlammbäder zu gebrauchen, wissen wir nicht. Dann gab ein Hirte davon einer alten gliederlahmen Frau zu trinken, diese wieder einer andern, und so gingen die ersten Kurbecher wie die Eimer bei einem Brande von Hand zu Hand durch Jahrzehnte, bis zuletzt das aufgeklärte Bewußtsein einer hellen Gegenwart den Schatz erkannte und zur Geltung brachte.

Vergessen dürfen wir nun nicht – denn es wäre schwere Undankbarkeit –, des Mannes zu erwähnen, dem unsere Quelle und unser Bad so viel verdankt, daß ihr Flor mit seinem Namen immerdar verbunden bleibt, und er gleichsam als Pate der Neugebornen anzusehen ist. Ich meine hier einen meiner ärztlichen Vorfahren, den bekannten Badearzt Dr. Goldfischer. Er hat die Quelle neu belebt, und man darf wohl von ihm dasselbe sagen, was andre in ähnlichen Fällen gesagt haben, wie z. B. über Salzbrunn, daß er einer unermeßlichen Zahl von Leidenden den größten Dienst geleistet, ja daß er sich um die Menschheit verdient gemacht hat. In welcher Achtung jener Kollege, unser Vorgänger, bei den Kranken, und in welchem Vertrauen die Quelle bei denselben gestanden hat, beweist ein Gedicht, welches zu seinen Lebzeiten (1790) von dem Professor Reimerling verfaßt worden ist. Kantor Blasius hatte die Musik dazu gesetzt. Badegäste und Einwohner des Ortes hatten das Ganze passend aufgeführt. Der Leser wird uns Dank wissen, wenn wir es hier veröffentlichen. Das Manuskript, welches wir vor uns haben, führt den Titel:

Die anmutige Komödie vom Goldbrunnen

Der Schulz
      Du Bauernvolk, herbei! Wasch dir Gesicht und Hand,
Und schmücke deinen Hut mit Blumen und mit Band!
Du sollst den Brunnenarzt mit einem Fest begrüßen,
Das ihm sein sauer Amt soll honiglich versüßen.
Die Bauern
Da sind wir alle schon gewaschen und geschmückt,
Wie es für solchen Tag und solchen Mann sich schickt!
Wir sind im Sonntagswams, in nagelneuen Buchsen,
Bereit zu Schimpf und Scherz und allen Festspieljuxen
Der Schulz
Vor allem ziemt es nun, die Göttin anzusprechen,
Aus deren Busen hier die Sauer-Quellen brechen.
Sie möge sich zur Zeit herauf ans Licht verfügen,
Um unsern Doktorfreund mit Ehre zu vergnügen.
Chorus
        Steig herauf aus deinem Brunnen,
Steig herauf ans Licht der Sonnen,
    Salzlochs Wasserkönigin!
Hilf uns diesen Doktor ehren!
Leg' ihm, er wird's niemand wehren,
    Deine schönste Gaben hin!
Das Brunnenweib
              Gott grüß Euch, liebe Herrn! Ich bin heraufgestiegen
Aus meinem dunklen Haus, wo ich so warm tu liegen.
Ich weiß, was ihr verlangt, und bin des sehr erfreut;
Hab drob auch nicht die Kält und nicht das Licht gescheut.
Der Doktor ist für mich ein hochgeschätzter Mann,
Der mit Gelehrsamkeit mir Guts schon viel getan,
Der mich in Stein gefaßt und säuberlich macht laufen,
So daß mich Mensch und Vieh jetzt mit Behagen saufen.
Doch besser als ich selbst verstehn dies wohl die Kranken,
Die nun genesen nahn, um selbst sich zu bedanken.
Ein Gichtischer
Ich kam von Schmerz zernagt, verbogen und geschwollen;
Das Herz war mir voll Haß, der Leib war mir voll Knollen.
Jetzt bin ich kreuzfidel und bin von Schmerzen frei;
Das Essen schmeckt mir gut, das Trinken auch. Juchhei!
(Er gibt der Brunnennixe eine Handvoll Dukaten.)
Ein Hämorrhoidarier
Ich war ein elend Ding, gelbsüchtig, ohne Kraft,
Kreuzlahm, und ich verlor den besten Lebenssaft.
O Doktor, habe Dank! Du halfst mir von der Pein!
Und wer da widerspricht, der soll geprügelt sein.
(Er tut wie der Vorige.)
Ein Phthisiker
Die Stimme war dahin, der Atem viel beschwert;
Was von mir übrigblieb, schien nicht drei Batzen wert.
Ich kam, ich trank, und – nun! Ich schnaufe tief und froh;
Ich brülle wie ein Stier: Hallo! Halli! Hallo!
(Wie der Vorige.)
Ein Paralytiker
Im Rollstuhl kam ich an, halbtot wie auf der Bahre,
Es schien mein eigen Bein mir selber fremde Ware.
Und jetzt durch Doktors Kunst schreit' ich einher mit Kraft,
Und tanze den Menuett mit alter Meisterschaft.
(Er macht kühne Sprünge und
gibt der Brunnennixe gleichfalls eine Handvoll Dukaten.)
Das Brunnenweib
Gepriesner Mann! Du hast vernommen deinen Ruhm
Aus dankbar frohem Mund; da bleibt der meine stumm.
Ich wünsche dir noch oft ein Fest, das diesem gleiche.
Erlaube, daß ich dir die goldnen Fische reiche!

(Sie überreicht dem Herrn Dr. Goldfischer die Dukaten in einer goldnen Tabatiere.
Der Doktor steckt sie ein und verbeugt sich.)

Chorus
        Bringt ein Brunnen solche Gaben
Muß er doch wohl Wirkung haben.
Wer ist's, der da zweifelt noch?
Und den Weltruf, den famosen,
Danken wir den vollen Dosen!
Unser Doktor lebe hoch!

(Die Bauern, die Kranken und die Brunnennixe führen nach einer schönen Melodie ein anmutig Ballett auf.)

In solch naiver annehmlicher Art pflegte man vor 70 Jahren das Verdienst zu ehren. Übrigens erlauben wir uns die Bemerkung, daß das Stück mutatis mutandis an allen Badeorten aufs neue aufgeführt werden könnte, ohne daß der Verfasser irgendeine Tantieme beanspruchen würde.


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