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Denkwürdig war immerhin schon die Art, wie er seine Liebeserklärung endlich ablegte: er ging aus von der Nibelungenfrage.
Für einen Eingeweihten lag eigentlich nichts besonders Auffallendes darin, und Fräulein Anna war eingeweiht; sie kannte den Feuereifer, mit dem er seine germanistischen Studien betrieb, und hatte auch, wenn nicht einen Begriff, so doch eine Ahnung von der Wichtigkeit derselben im Haushalt der Wissenschaft; darum vermochte sie es auch über sich, geduldig zuzuhören und auszuharren, bis er eine Durchfahrt zum Hauptthema fände. Denn sie wußte natürlich längst, wohin das Schifflein seiner Rede steuerte; schon die fürchterliche Feierlichkeit, die er zur Schau trug, als er sie zu dem gewöhnlichen Spaziergang abholte, mußte ihr ein Leuchtfeuerchen aufstecken. Und es scheint festzustehen, daß die Ueberraschung sie nicht überwältigte; ganz sicher ist, daß sie ihr nicht durchaus unangenehm war. –
10 Es ist richtig, ein absonderlich schöner Mann war dieser Schulamtskandidat Christian Dinse kaum zu nennen, und ein Muster weltsicheren Auftretens erst recht nicht; es lag vielmehr in seiner Haltung und Gebärde stets etwas Eckiges, Unausgewachsenes, Dumpfes, jenes geheimnißvolle kleine Unwesen, das den meisten germanischen Jünglingen zwischen sechzehn und sechzig, zumal wenn sie gelehrt sind, anzuhaften pflegt, als ob ihre Hosen immer um eine Kleinigkeit zu lang oder die Aermel um eine Kleinigkeit zu kurz wären, oder die Knöpfe irgendwo nicht in der richtigen Ordnung säßen. Zur Deckung dieses männlichen Fehls aber hat zum Glück die Natur einigen deutschen Frauen (nicht allen, bei Leibe nicht!) einen gewissen Blick in die Tiefe verliehen, der sie befähigt, verborgene Goldkörner zu erspähen, welche diese ungestalte Schale nicht selten umschließt.
Er ging also aus von der Geschichte und Kritik der Nibelungensage, verglich deren Gestaltung im skandinavischen Norden (Edda) mit der südgermanischen Wendung und suchte aus beiden durch ein sehr verschmitztes Auflösungs- und Zersetzungsverfahren die echte Urgestalt wissenschaftlich herauszuwaschen. Als er solcherart den schönen Sonnenmythus von Brynhild und Sigurd-Siegfried freigelegt hatte, schien sich von hier aus als von einer 11 simpeln Liebesgeschichte der denkbar bequemste Uebergang zum Endziel seiner Rede zu bieten. Und in der That benutzte Christian Dinse das gegebene Sprungbrett zu einem ernstlichen Anlaufe: er schilderte mit Feuer die Beschwerden und Wagnisse, welche der Kühne zu bestehen hatte, ehe er die Geliebte gewann, – aber sei es, daß er sich schämte, sich die Sache so bequem zu machen; sei es, daß er den Ruhm deutscher Gründlichkeit zu gefährden fürchtete: sei es, daß er sich überhaupt mehr im Allgemeinen vor irgend einem dunkeln Schreckniß fürchtete: er lenkte mitten im besten Zuge wieder ab und marschirte erst noch einige Stationen weiter durch die blumenreichen Wildnisse der comparativen, symbolisirenden, spintisirenden und irrlichterirenden Mythologie.
Fräulein Anna Gebhart trippelte währenddessen je länger je mehr wie auf Kohlen; sie genoß ganz die qualvollen Empfindungen der Zuhörer, wenn ein Redner sich verhaspelt hat und den Ausgang aus der Ueberfülle seiner Gedanken nicht mehr finden kann; sie hätte ihm gar zu gern herausgeholfen, ihm das befreiende Wort zugeflüstert; doch jeder Versuch erwies sich als gänzlich erfolglos.
»Herr Gott, ja, woher weiß man denn eigentlich das Alles?« fragte sie endlich in einem Anfall 12 von Verzweiflung, »und wer hat denn überhaupt die Nibelungen geschrieben?«
Sie hatte die Frage zu bereuen. Allerdings riß sie ihn dadurch aus jenen fabelhaften Regionen zurück, jedoch nur, um ihn alsbald kopfüber in das noch viel struppigere Dickicht der Textkritik des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes stürzen zu sehen.
»Unter den Handschriften, welche uns das Heldengedicht überliefern,« docirte er, »sind nun allgemein anerkannt als die grundlegenden, die von uns mit A, B und C bezeichneten, von denen wiederum A und C die wichtigsten und zugleich die umstrittensten sind. A bietet den kürzesten, C den längsten der uns erhaltenen Texte. Der große Philologe Lachmann und wir, seine Anhänger, halten den Text A für den ältesten, wenngleich auch er die echte Gestalt nur durch zahlreiche spätere Zusätze erweitert und entstellt bietet; aus dieser Erkenntniß entwickeln wir dann die Thatsache, daß auch unser Volksepos wie das homerische nicht das vorberechnete Werk eines einzelnen Kunstpoeten ist, sondern vielmehr aus einer Anzahl unabhängiger Lieder allmählich nach inneren Gesetzen zu einer Einheit sich zusammengeballt und um den festen Grundstock der lebendigen Sage selbst sich gleichsam krystallisirt hat. Die Gegner freilich gehen in ihrer Verbohrtheit und hirnverbrannten Dünkelhaftigkeit so weit, den 13 breitgetretenen Text der Handschrift C mit seinen überflüssigen und albernen Zusätzen für ursprünglicher zu halten und auf diesen plumpen Irrthum ihre Hypothese von der einheitlichen Entstehungsart des Gedichtes durch einen kunstmäßigen Verfasser zu gründen, eine Hypothese, deren frevelhafte Blödsinnigkeit nur übertroffen wird durch die nackte Frechheit und den wahrhaft schwindelnden Größenwahn, mit welchem eine Rotte denkunfähiger und sittlich unzurechnungsfähiger Subjecte sich nicht entblödet, ihre eigene jammerhafte Armseligkeit und dilettantische Kinderfaselei mit den erborgten Lappen einer gewerbsmäßigen Opposition gegen Lachmann kläglich zu überhängen.«
»Herr du meine Güte,« unterbrach ihn Anna ganz erschrocken, »wie ist es nur möglich, daß es so schlechte Menschen in der Welt gibt! Und wie kann denn der Staat nur so offenkundige Dummköpfe in ihren Stellungen dulden? Denn offenbar müssen sie doch Stellungen haben, wovon sollten sie sonst leben? Und da müßte doch der Minister ein Einsehen haben oder die Polizei.« –
»Liebes Fräulein,« belehrte sie Christian Dinse ernst, »das erste, heiligste Gesetz in der Gelehrtenrepublik heißt: gegenseitige Duldung, unverkümmerte Freiheit der Lehre, verständnißvolle Anerkennung auch geringerer Leistungen und selbst irrender Geister.« –
14 »Wahrhaftig?« fragte Anna schüchtern und etwas verwirrt. »Ich dachte nur, weil Sie so heftig gegen diese Subjecte redeten, so müßte doch –«
»Heftig?« fiel er verwundert ein. »Liebes Fräulein, mein Streben geht beständig nach strenger Ruhe und Mäßigung des Urtheils. Freilich bekenne ich, daß in Druckschriften auch ich nicht immer die volle Lindigkeit zu wahren vermag; es gibt da oft zwingende Gründe, schärfer vorzugehen, als ich es so im mündlichen Plauderton für nöthig halte.« –
»Gott schütze die unglücklichen Gegner!« dachte Anna, die Hände faltend, »aber was müssen das auch für Creaturen sein, die unseren sanftmüthigen Herrn Dinse zu solchem Zorne reizen können! Er steht ihm aber ganz gut, dieser Zorn, besonders seinen dunkeln Augen!«
Sie ließ nun jedoch die letzte Hoffnung fahren, daß er aus so menschenfeindlicher Stimmung heute noch den Rückweg zu sanfteren Gefühlen finden werde, und lenkte in heimlicher Betrübniß ihre Schritte wieder der Stadt und dem Hause zu; ihr Begleiter folgte gehorsam, ohne die veränderte Richtung zu merken und ohne seine Auseinandersetzung zu unterbrechen.
»Himmel, ist das ein langweiliges Zeug!« dachte Anna, »wie schrecklich, sich sein Leben lang mit solchem gleichgültigen Krimskrams plagen zu 15 müssen, der doch keinem Menschen etwas nützen kann! Die armen Gelehrten! Der Staat sollte wirklich viel mehr für ihre Entschädigung thun, und vor Allem sollten ihre Frauen (wenn sie welche haben) sich immerdar bestreben, durch Fügsamkeit, Sanftmuth und treue Fürsorge ihr schweres Loos nach Kräften zu lindern. Man hört leider manchmal das Gegentheil. Auch Schwester Hannchen könnte zuweilen – ach na, aber Schwager Ludwig ist ja auch gar nicht so ein richtiger Gelehrter; bei dem habe ich noch nie solchen Zorn und solche Begeisterung gesehen; der prügelt seine Schüler und ist zufrieden und braucht wirklich keine so besondere Behandlung; da ist Hannchen am Ende doch ganz in ihrem Recht!«
Unter diesen tiefsinnigen Betrachtungen und Reden waren sie vor der Thür des Hauses angelangt, in welchem Anna, die Waise, bei ihrer Schwester und deren Gatten, dem Gymnasiallehrer Ludwig Gumprecht, ihr Quartier hatte zu eigenem Schutze und zur Unterstützung der Hausfrau. Der junge Hausfreund hatte die Erlaubniß erhalten, Fräulein Anna bisweilen spazieren zu führen, wegen seiner Jugend und anscheinenden Ungefährlichkeit und wegen der Faulheit des besagten Schwagers Ludwig.
Anna stand und bereitete sich etwas zögernd und etwas verlegen zum Abschied. Er aber merkte 16 jetzt erst, bis wohin er seine Schutzbefohlene inzwischen schon geführt hatte, erschrak, brach seine Rede ab, stotterte etwas, erröthete, stotterte noch etwas, schwieg endlich und sah sie angstvoll flehend an, als ob er von ihr bestimmt die Fortsetzung des Liebesergusses erwartete, den er so beredt und ausführlich begonnen hatte. Das war denn aber doch wohl etwas zu viel verlangt. Noch gab sie ihm eine Minute Zeit, indessen ihre Blicke verzweifelte Angstsprünge um die Gegend seiner Augen herum machten und ihre Finger zitternd die wunderbarsten Handgriffe an dem Sonnenschirm vollführten.
Da er jedoch auch jetzt noch nichts Verständliches, daran man sich hätte halten können, herausdrückte, machte sie plötzlich mit auffallender und fast kriegerischer Schroffheit Kehrt und begann, die Treppe hinanzusteigen.
Sie hatte gerade die Höhe des ersten Absatzes erreicht (der Schwager wohnte selbstverständlich im dritten Stock), als Christian Dinse ihr nachgestürzt kam und von unten heraufrief:
»Ach bitte, Fräulein – ach – ach, was ich sagen wollte –«
Bei jedem dieser schwer herausgequälten Achs klomm er eine Stufe höher, während sie sich im gleichen Zeitmaß unvermerkt um ebensoviel tiefer 17 senkte, so daß einige Aussicht auf eine baldige Begegnung in der Mitte war.
»Ja – nun – ach – was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte sie mit einer Stimme, die vor Erregung dumpf und weich erklang.
Er sank vor Schreck wieder die drei Stufen auf den ebenen Flur zurück.
»O bitte,« klagte er, »ich wollte nur bemerken, daß – wenn mich nicht Alles täuscht – ich fest glaube –«
Sie folgte ihm inzwischen in derselben Richtung, ohne daß aus ihrer Haltung völlig klar wurde, ob sie ihn mit Gewalt zurückzuhalten oder hinauszujagen gedachte.
Schon hatte sie die unterste Stufe und er, etwas langsamer zurückweichend, fast die halboffene Hausthüre erreicht, als er im Rückwärtsschreiten die Richtung ein wenig verfehlte und sich in die Ecke zwischen Wand und Thürflügel eingeklemmt fand. Und ehe er in der Verwirrung den Ausgang aus dieser Falle gefunden hatte, sah er das glühende Gesicht des Mädchens dicht vor sich und vernahm den sonderbar gebrochenen und offenbar leidenschaftlich drohenden Ton ihrer Stimme:
»Was – Was – Was wollen Sie eigentlich von mir?«
Doch gerade ihrem Zorne gegenüber besann er 18 sich seiner männlichen Würde und sprach gefaßt und nachdrücklich aus seiner Enge heraus:
»Mein Fräulein, ich bin mir keines Vergehens, keines unrechtmäßigen Anspruches bewußt. Wenn ich das Geständniß meiner Liebe zu Ihnen länger in meiner Brust zu verschließen nicht die Kraft hatte, so ist es das Recht jeder gequälten Creatur, sich durch einen Aufschrei Luft zu machen. Fürchten Sie nicht, daß ich deshalb Ansprüche erheben oder nur ernstere Absichten offenbaren könnte; o, ich weiß zu gut, daß mich nichts berechtigt, meine Augen so hoch zu erheben – o nein, nichts, nichts! Aber doch, das Recht, Sie zu lieben, Sie zu verehren, Sie anzubeten, kann mir Keiner nehmen, nicht einmal Sie selbst, Fräulein Anna? Und wenn Sie mir deshalb zürnen, so thun Sie ein Unrecht an mir, dasselbe Unrecht, wie im Mythus die strenge Jungfrau –«
»So? Also ernste Absichten haben Sie nicht?« rief Fräulein Anna, zwischen Erbitterung und Rührung schwankend, mit ziemlich herbem Ton.
»Nein! Nein! Nein!« hauchte er wie vernichtet. »Nein, wahrlich nicht! Ich verzichte trauernd auf ein Glück, danach ich kaum in stillen Hoffnungen zu streben wagte; ich verzichte gelassen, als ein Mann, der da weiß, daß dies Leben noch höhere Ziele kennt, als die Erfüllung eines Liebestraums –«
19 »Ach, wirklich? Höhere Ziele?« rief sie entrüstet. »Nun, dann – dann – dann – – sprechen Sie mit meiner Schwester!«
Mit einer kaum glaublichen Geschwindigkeit hatte sie ihren Belagerungsposten geräumt und war die drei Treppen hinaufgeflogen; schon klang aus ferner ungeheurer Höhe ihr scharfes Klingeln.
Er aber löste sich langsam aus seinem Winkel und wankte halb betäubt von dannen, um den Sinn ihres letzten Bescheides einer kritisch gewissenhaften Prüfung zu unterziehen.
So kam es, daß nicht er, sondern sie mit ihrer Schwester sprach und auch dem neugierig dazutretenden Schwager Ludwig die an sie ergangene Schicksalsfrage offenbarte. Beide Hüter ihres elternlosen Herzens zeigten eine angemessene Zurückhaltung in ihrer Theilnahme und hielten sich sogar zu einer wohlmeinenden Warnung für berufen.
»Dieser Dinse ist ja soweit ein zuverlässiger Mensch,« meinte der Schwager, »das will ich nicht in Abrede stellen, auch ein fleißiger und nicht unbegabter Philologe. Jedoch ist andererseits zu bedenken, daß seine Zukunft noch keineswegs gesichert ist; zum mindesten muß er sein Oberlehrer-Examen erst hinter sich haben. Ich zweifle ja nicht, daß er's bestehen wird; seine germanistischen Kenntnisse müssen ihn unter allen Umständen herausreißen. 20 Indessen, es kommen unglückliche Fälle vor – und dann, seine Gelehrsamkeit ist viel zu einseitig; vom Deutschen weiß er mehr als genug, aber in den übrigen Fächern hapert es an allen Ecken. Und was nützt ihm nachher für den praktischen Unterricht die ganze deutsche Literatur vom Hildebrandsliede bis zum Kutschkelied? Wer kümmert sich überhaupt in einem ordentlichen Gymnasium ums Deutsche? Flickstunden sind das, weiter nichts! Nibelungen hin – Nibelungen her! Lateinisch hätte er hübsch büffeln sollen und Griechisch – aber dieser Dinse ist ein ganz unpraktischer Mensch, der nicht weiß, was er will, und es nie zu etwas Rechtem bringen wird. Ueberhaupt finde ich nichts thörichter, als wenn ein so junger Mensch sich und einer anderen Person vorzeitig die Hände bindet, ohne recht zu wissen, was daraus werden soll –«
»Ueberhaupt finde ich,« fiel hier Schwester Hannchen mit Würde ein, »daß ein vermögensloses Mädchen gut thäte, sich für alle Fälle zunächst auf eigene Füße zu stellen und mit dem Lehrerinnen-Examen Ernst zu machen. Einige Jahre warten müßt ihr ja doch unter allen Umständen; und da ist es klug, nicht allzu fest auf unbedingte Treue zu bauen. Doch, wie dem auch sei, persönlich habe ich gar nichts gegen Herrn Dinse; er ist ein guter Mensch, dem ich alles Glück wünsche, – nur nicht 21 gerade auf Kosten meiner nächsten Verwandten. Gewarnt bist Du jedenfalls, liebe Schwester.«
»Das scheint fast so,« bestätigte Anna kühl. »Ihr rathet mir also, dem Herrn einen Korb zu geben?«
»Davon habe ich kein Wort gesagt,« rief Hannchen schnell.
»Ich bitte, meinen Worten keine künstlichen Deutungen unterzulegen,« sagte Ludwig. »Uebrigens bist Du durchaus Herrin Deiner Entschlüsse.«
»Ich würde es sogar ein wenig lieblos finden,« setzte Hannchen hinzu, »einen ehrlichen Antrag eines edlen Mannes so schroff von der Hand zu weisen: man muß sich doch auch in die Gefühle eines solchen versetzen. Natürlich, wenn Du ihn durchaus nicht leiden kannst – erzwingen läßt sich ja die Liebe nicht – aber bedenken solltest Du doch, welche bittere Kränkung Du ihm anthun würdest. –«
»Und auf einen Grafen oder Millionär hat ein vermögensloses Mädchen am Ende auch keinen Anspruch,« versicherte Ludwig.
»Nun, wenn Ihr fertig seid mit Euren Rathschlägen,« sagte Anna heiter, »so erlaubt mir, daß ich in aller Bescheidenheit auch meine Meinung andeute.«
»Ei sieh, Du hast Dir also schon inzwischen eine eigene Meinung gebildet?« fragte Hannchen.
22 »Seit einigen Wochen, ja!« entgegnete Anna gelassen. »Ich denke, das Einfachste ist, ich sage Ja! und nehme ihn.«
»Aber Anna!« rief die Schwester ärgerlich, »wie kannst Du in so leichtfertigem Tone die wichtigste Lebensentscheidung treffen? So ganz ohne innerliche Selbstprüfung –«
»Du lieber Gott,« warf Anna in demselben leichtfertigen Tone hin, »warum soll ich mich denn mit aller Gewalt in das Elend einer unglücklichen Liebe stürzen, wo ich's doch gar nicht nöthig habe?«
Sie lachte wie ein Kobold, bis sie plötzlich der starrblickenden Schwester um den Hals fiel und in heftige Thränen ausbrach. Da begriff Hannchen Alles und ließ ebenfalls die Thränen freudiger Rührung fließen. Auch Schwager Ludwig zeigte sich der Sachlage gewachsen, indem er der hübschen Schwägerin mehrere sehr menschenfreundliche Küsse schenkte, »um sie ein bischen einzuüben,« wie er zur Erklärung beifügte, ohne dadurch die schmerzliche Aufregung seines Weibes über das Unschickliche dieser Handlungsweise wesentlich zu lindern.
Die nächste Folge dieses belebten Familienauftritts war, daß der gute Schwager unverzüglich zu seinem jüngeren Freunde Christian Dinse eilte, den er mit Thränenspuren in den Augen und 23 schmerzlich versunken fand in die Betrachtung des schwermüthigen Nibelungenverses:
wie liebe mit leide ze jungest lônen kan.
»Aber lieber Mensch!« rief Ludwig lachend, »die Strophe ist ja unecht! Eine ganz gemeine Interpolation! So viel verstehe ich denn doch auch von der höheren Kritik! Aber wenn Sie durchaus auch in Ihren Herzensangelegenheiten nicht ohne Nibelungen auskommen können, so will ich Ihnen ein anderes Verschen aufschlagen, das mir immer besonders gut gefallen hat, und dessen Echtheit obendrein meines Wissens selbst der große Strophenwürger Lachmann niemals mit dem Gift seiner Verdächtigungen bespritzt hat. Sehen Sie hier – Giselher und Rüdiger's Töchterlein:
Dô man begunde vrâgen die minneclîchen meit,
ob si den recken wolde, ein teil was ez ir leit;
doch dâchte sie zu nemene den wæltlîchen man.
si schamte sich der vrâge, sô manic meit hât getân.
Wenn Sie jetzt noch nicht verstehen, werde ich Sie der königlichen Prüfungscommission wegen vollkommener wissenschaftlicher und moralischer Unreife denunziren.«
Der arme Schulamtskandidat verstand aber wirklich, und die Verlobung konnte in Folge dessen ohne weitere schmerzhafte Zwischenfälle in aller Form mittels einer reichhaltigen Pfirsichbowle 24 vollzogen werden. Christian Dinse vergaß heute, und heute nicht zum letzten Mal, seine wissenschaftlichen Streitfragen, Examensängste und Zukunftssorgen und alle sonstigen Nibelungennöthe unter den Küssen seiner minniglichen Maid.
Examinandus (a, um): Einer, (Eine, Eines), der geprüft werden soll oder muß.
Das ist's, das sagt Alles, dieses fürchterliche, namenlos grausame »Soll oder muß!«
Welch eine Häufung ausgesuchter Seelenmartern findet der unglückliche Sohn unseres menschenfreundlichen Jahrhunderts in der einen ungeheuren Heimsuchung des Examens! Wehe aber dem, und dreimal wehe, der in diese Verdammniß im verliebten oder gar verlobten Zustande hineingestoßen wird! Ihm wäre es besser, daß ein Mühlstein – o ihr unglückseligen Seelen, welch' ein Verbrechen muß eure Liebe sein, daß ihr so erbarmungslos mit Skorpionen dafür gezüchtigt werdet!
Seit vielen Wochen lebte der Schulamtscandidat Christian Dinse nun in immerwährender, ungestörter Todesangst; er wohnte in ihr wie in einem ewig fließenden, eiskalten Bade; sie zehrte an seinem Lebensmuthe langsam, stillvergnügt und bedachtsam, wie eine krabbelnde Schar Ameisen gemächlich eine schöne, fette Raupe bei lebendigem Leibe aufspeist. Wenn ja einmal eine Minute kam, da er im 25 Bewußtsein seines Fleißes und barer Kenntnisse sich in gefährliche Sicherheit zu wiegen geneigt war, so brauchte er nur einen frischen Griff nach dem gedruckten Prüfungsreglement zu thun, und die Gefahr war beseitigt. Dieses Reglement wiegt einen Hexenhammer, eine peinliche Gerichtsordnung, eine Inquisitionsgesetzgebung auf. Dante's Hölle hat nicht so viele Strafen, als hier Wissenschaften, Fähigkeiten und Gesinnungen aufgezählt werden, deren Besitz und Beherrschung dem bejammernswerthen Candidaten »nicht erlassen werden kann«. Vergebens pflegen weltkundige Menschenfreunde den Bedrohten zu trösten durch den Hinweis auf die alte Thatsache, daß in dieser Welt »nichts so heiß gegessen als gekocht wird«. Die markerschütternden Forderungen des Reglements gießen darum nicht weniger ihr schleichendes Gift in die gequälten Seelen. –
Mitten in einer bewegten Welt lebensfrischen Geschäftsbetriebes steht ein riesiges Haus, das schon von außen auch dem gewissensreinen Wanderer einen dumpfen Schauder zu erregen vermag, wie wenn ihm unvermuthet in blühender Waldfrische am hellen Tage ein Nachtwächter begegnete. Ganz schmucklos steht es da, steif, grau, amtlich, theilnahmslos, grämlich abweisend, geistlos geheimnißvoll; in dumm-ernster Würde: die Fenster scheinen statt der Gardinen mit Frackschößen und weißen Halsbinden 26 verhängt; aus den traurigen Schornsteinen haucht ein dünner, mattwirbelnder Dunst, wie der Wasserdampf des drinnen vergossenen Angstschweißes; über dem öden Portale steht eine unleserlich gewordene Inschrift; Einige wollen die Worte erkennen:
Per me si va nelle città dolente -
Andere lesen einfach:
Examinandus, a, um.
Im Grunde ist's ein und dasselbe.
Auf dieses Haus der Schrecken schwankte Christian Dinse zu, geleitet und gestützt von Schwager Ludwig. Ein dumpfer Trommelwirbel scholl aus einer Ferne; ein Zug Klageweiber schien von der anderen Seite der Straße heraufzukommen.
Sie traten ein. In dem schauerlich leeren Gange weckte jeder Tritt den unheimlichen Widerhall klopfender, ächzender, ins Dunkel der Schattenwinkel scheu verflatternder Töne.
Der Treppenabsatz heißt im Munde des philologischen Volkes die Seufzerbrücke; Christian Dinse überschritt sie und nahte entschlossen der letzten Thür, die ihn von seinen Peinigern trennte. Hier nahm er Abschied von seinem letzten Begleiter.
»Halt Dich wacker, mein Junge!« sagte Schwager Ludwig.
Christian sah ihn an mit einem sanft klagenden Blicke und sprach:
27 »Wenn es das Unglück wirklich will, daß heute Klickmann prüft und nicht Müllerhaus, dann –«
»Aber, lieber Mensch,« rief Schwager Ludwig sehr ärgerlich, »Du bist und bleibst ein Frosch. Wenn der Klickmann auf die Handschrift C schwört, so laß ihn schwören und verhalte Dich objectiv; rein objectiv, sage ich. Das ist überhaupt das einzig Schickliche, wie das einzig Vernünftige. Was gehen Dich als Examinanden wissenschaftliche Ueberzeugungen an? Gar nichts. Und was gehen sie Dich später als Lehrer an? Erst recht nichts. Genau so wenig, wie politische und kirchliche Ueberzeugungen oder Gesinnungen. Objectivität ist hier wie dort die Losung in allen Stücken für einen braven Mann, der seinen Weg machen und Weib und Kind mit Anstand ernähren will. Der Lehrer hat nur ein Amt und keine Meinung, und der Examinand hat noch nicht einmal ein Amt, kriegt auch keins, wenn er etwa zur unrechten Zeit eine Meinung hat. Also nochmals: sei kein Frosch! Maul gehalten zur rechten Zeit, Reden gehalten zur rechten Zeit! Und wenn Du sonst etwa Lust hättest, zum Blutzeugen für die Heiligkeit der Handschrift A zu werden, so denke gefälligst an Deine Braut und an die mögliche Echtheit der Worte: Wie liebe mit leide ze jungest lônen kan!«
Der Candidat drückte ihm stumm leidend die 28 Hand und trat in den grauen, öden Raum, wo die Opfer ihres letzten Schicksals harren. Ein Amtsdiener, mit dem kurzen, struppigen Subalternbart auf der Oberlippe, nahm ihn schweigend in Empfang. Man nannte denselben die Hyäne des Schlachtfeldes, weil er sogar von den Gefallenen im Prüfungskampf noch obendrein ein beträchtliches Trinkgeld zu entnehmen liebte.
Dieser führte den bangen Jüngling mit leiser Hand zu einer Bank, auf der ein halb Dutzend Angstgenossen saß, schweigsam, dumpf starrend, aneinandergedrängt gleich frierenden Vögeln, zuweilen kummervolle Blicke wechselnd, zuweilen jäh zusammenschreckend, als sähen sie in der Ferne das Blitzen eines Fallbeiles.
Christian Dinse setzte sich zu ihnen, schmiegte sich an sie und wartete mit ihnen in Schweigen.
Aus diesem großen Gemache führte ringsum eine Anzahl Thüren in kleinere Seitenzimmer: die eigentlichen Schreckenskammern, zur Zeit noch geschlossen und ihre Schauer geheimnißvoll verhüllend.
Noch blieb Alles still. Nur von Zeit zu Zeit schritt ein Mann quer durch den Raum, groß, schön, stolz und furchtbar anzusehen: jeder Zoll ein Schulrath. Das war der Vorsitzende der Prüfungscommission. Er ließ jedes Mal verächtlich wüthende Blicke über die Schlachtopfer gleiten und schien 29 nicht völlig abgeneigt, Einem und dem Anderen im Vorbeigehen einen Fußstoß zu versetzen. Doch wußte er dies Gelüsten, wenn er es hatte, heldenhaft in sich niederzuringen.
»Der Herr Schulrath ist heute nicht schlimm,« flüsterte tröstend die Hyäne des Schlachtfeldes, »er ist sonst gröber. Dahingegen der Herr Professor Klickmann scheint heute in häßlicher Laune; er grinst dann immer so komisch. Er prüft heute fürs Deutsche.«
Christian Dinse knickte tiefer in sich zusammen und wäre vielleicht wie ein abgebrochenes Stück Holz von der Bank gestürzt, hätten ihn die Nachbarn nicht zwischen sich eingeklemmt gehalten.
In diesem Augenblick schlug eine Uhr mit kläglich schrillendem Ton die vierte Stunde; eine der Thüren that sich auf, ein schwarzgekleideter, hagerer, finsterer Greis ward sichtbar:
»Herr Candidat Scholz!«
Der Aufgerufene schnellte empor; die Collegen blieben nicht ganz frei von der Befürchtung, er möchte an der Decke zerschellen; doch blieb er an zweien von ihnen hängen, die er nur eine Strecke weit mit sich in die Höhe riß.
»Kommen Sie!« sagte der Professor kalt.
Der Unglückliche kam; knarrend schloß die Thür sich hinter ihm.
30 Noch Einer und wieder Einer ward abberufen in andere Zellen; die Zurückbleibenden schauten ihnen mit stumpfem Mitgefühle nach. Sie lauschten qualvoll; manchmal schien ihnen ein eintöniges Wimmern aus einer der Zellen hervorzustreichen wie der Schrei eines sterbenden Säuglings; und dann ward jedesmal eine furchtbare Stille danach.
»Herr Candidat Dinse!«
Ein kleiner Mann rief es mit einem scharfen Stimmchen; er trug in überraschender Aehnlichkeit das Gesicht und den Ausdruck eines angehetzten Pinschers guter Rasse, jedoch ziemlich stark ins Menschliche übertragen.
Christian taumelte auf.
»Kommen Sie!«
Er kam, einen Blick stummer Anklage zum Himmel werfend. Die Pforte schloß sich hinter ihm.
»Der sieht aus, als ob er geliefert wäre,« sagte die Hyäne des Schlachtfeldes gelassen; »er hat den hippokratischen Zug; das kennen wir.«
Er nahm eine Prise, trat heran und legte das Ohr an jene Thür, hinter der er die Katastrophe erwartete.
»Hm, hm,« brummte er nach längerem Horchen, »es scheint doch nicht. Dieser Herr Candidat Dinse weiß viel, weiß wirklich viel. Dem wird er vielleicht nichts anhaben können; aber schlimm ist er 31 heute, ich höre ihn ja ordentlich grinsen. Und er spuckt auch so viel; das ist immer kein gutes Zeichen.«
Und er fuhr fort zu lauschen.
Indem kam einer der Geprüften von seinem Leidensgange zurück, todtenbleich und noch am ganzen Leibe zitternd, aber wohlbehalten und siegreich.
»Der Schulrath hat mich in den Fängen gehabt,« berichtete er, »aber es ging ganz glatt; sobald ich gelegentlich seinen Gegner in der Heraklitfrage, Korn, einen hirnlosen Ignoranten geheißen hatte, konnte ich ihn um den Finger wickeln. Und ich hoffe, er wird nun auch für baldige Anstellung sorgen; man kann sich doch nicht umsonst für die langweiligen Fragmente des Heraklit erwärmt haben, die ich übrigens mit dem feinfühligen Korn meistens für unecht halte.«
Die Hyäne des Schlachtfeldes nickte mit liebevoller Befriedigung.
Danach ward wieder eine lange, furchtbare Stille.
Plötzlich hörte man aus der Folterkammer des Candidaten Dinse einen seltsamen Ton, wie einen kreischenden Aufschrei.
»Da ist etwas passirt,« flüsterte die Hyäne, »das war Klickmann; so fängt er an sich zu ärgern.«
32 Alle Anwesenden beugten die Köpfe vor, um schärfer zu horchen.
Man vernahm nun zuerst eine lange heftige Rede des Professors, aus welcher Feinhörige die Worte Codex A und Codex C, Lachmann, Blindheit, Verranntheit, Unwissenheit, Stumpfsinn, Hochmuth, Frechheit, Tobsucht und verwandte Vokabeln allgemeineren Sinnes deutlich heraushören konnten.
Dann antwortete die Stimme des Candidaten, erst noch so leise und unsicher, daß keine gegliederte Silbe zu unterscheiden war, dann aber stoßweise anwachsend zu schöner Fülle und Kraft.
Das erste Wort, welches sich kräftig hervorhob, war: »Böswillige Verkennung (oder Verzerrung oder Entstellung) der Thatsachen;« dann folgte Schlag auf Schlag: »Gegner Lachmann's – kindisch – blödsinnig – schamlos – verbohrt – läppisch – tölpelhaft – wahnwitzig –« und so fort in gleicher Tonart immer lauter und heftiger.
Dazwischen wieder der Professor: »Handschrift A – ekelhaft rohe Verstümmelung des Urtextes durch gedankenlose Abschreiber, die würdigen Vorläufer Lachmann's –«
Und der Candidat: »Codex C – armselig' platte Verwässerung des Urtextes durch plumpe Zusätze ungebildeter Bänkelsänger, der würdigen Vorläufer moderner superkluger Interpolatoren –«
33 Der Professor: »Allmähliche Entstehung des Epos aus Liedern – sinnlose Mystik – toller Traum eines begrifflosen Phantasten – schwärmender Wuthausbruch eines fieberkranken Wahnpropheten – absoluter Aberwitz –«
Der Candidat: »Die alberne Fiction eines einheitlichen Dichterwerks – ganzen Plattheit und widerlichen Hohlheit – seichte Oberflächlichkeit – bäuerische Plumpheit – geistige Engbrüstigkeit – am Boden kriechendes Gewürm – absolut blödsinnig –«
Mit markerschütternder Deutlichkeit schmetterten all' diese feurigen Anreden, Anrufungen und Gegenreden in das Ohr der bestürzten, betäubten Prüflinge: sie wurden mit jeder Secunde bleicher; Schweiß troff von ihrer Stirn, und aller Hände falteten sich zuletzt wie zu einem inbrünstigen Stoßgebet in allgemeiner Todesnoth. Selbst die Hyäne des Schlachtfeldes verlor jetzt die Fassung: sie ließ die Tabaksdose zur Erde fallen und lehnte mit herabhängenden Armen hülflos gegen den Thürpfosten. Einer der Candidaten fiel halbohnmächtig von der Bank; Niemand achtete seiner; Alles hörte selbstverloren auf den wachsenden Lärm in der Folterkammer.
Schon war kein einzelnes Wort mehr zu erkennen, nur ein ungeheurer Wirrwarr fessellos tobender Töne.
34 Dann ward es plötzlich todtenstill in der Kammer. Nach einem kurzen schweigenden Entsetzen that sich die Thür auf, und der Candidat Dinse trat langsam heraus.
Es gab hier Keinen, der nicht allenfalls darauf gefaßt gewesen wäre, ihn blutüberströmt, mit zerfetzten Kleidern, übersät mit ausgerissenen Haarbüscheln zu sehen. Doch nichts dem Aehnliches war zu bemerken.
Christian Dinse schritt ruhig, erhobenen Hauptes mit dem bescheidenen Stolz eines frischbekränzten Siegers. Er lächelte sogar.
»Der ist noch nicht der Mann, die Handschrift A. von ihrem Ehrensitz herabzuzerren!« sagte er mit einer feierlichen Armgebärde zurückdeutend, ergriff seinen Hut, grüßte sehr freundlich, steckte der Hyäne den fälligen Raub zu und verließ die Halle freudigen Trotzes. –
Das hinderte freilich nicht, daß der Schulamtscandidat Dinse durchs Examen gefallen war aus Gründen vollkommener wissenschaftlicher und moralischer Unreife.
Auf dem Heimwege ward er sich dieser trostlosen Thatsache allmählich bewußt; sein Haupt sank tiefer, seine Wangen wurden immer blasser.
Er hatte nicht den Muth, seiner Braut mit einer solchen Kunde selbst unter die Augen zu treten, 35 sondern er machte einstweilen dem Schwager Ludwig eine schriftliche Mittheilung. Dieser war wüthend.
»So ein Lump!« rief er. »So ein Don Quixote! Ruinirt schlechthin seine Zukunft für die schönen Augen der Handschrift A! Narr, Narr, Narr! Der ist drunter durch ein für alle mal. Anna muß den Menschen selbstverständlich aufgeben und selbst ihr Examen machen.«
»Ja, sie muß ihn aufgeben,« seufzte Schwester Hannchen. »Es ist das einzig Vernünftige. Es thut mir leid um den armen Menschen, aber er kann es ja doch nie zu etwas bringen. Und sie ist hübsch genug, sie findet schon noch einen andern Anschluß. Es war doch klug, daß wir die Verlobung nicht gleich veröffentlicht und an die große Glocke gehängt haben. So glättet sich die Sache leichter aus, ohne peinliches Aufsehen.«
Anna faßte das Vorgefallene etwas anders, aber nicht leichter auf. Sie fand sich bitter gekränkt, denn sie vermochte in seinem Benehmen nichts zu sehen, als vor Allem einen Mangel an Liebe. Sie schrieb ihm im ersten Zorn, ihn mit Vorwürfen überhäufend, daß er ihr Glück seinem trotzigen Eigensinn habe opfern können: »Also eine alte Handschrift galt Dir mehr, als unsere Liebe! Und wagst Du das noch Liebe zu nennen?«
36 Nein, er wagte es nicht! Er empfand die ganze ungeheure Lieblosigkeit seiner Handlungsweise, seines Charakters überhaupt; er sah ein, daß er dies Mädchen nie würde glücklich machen können. Er zerknirschte sich immer tiefer und erkannte, daß es eine schändliche Selbstsucht sein würde, das süße Geschöpf noch ferner an sein verlorenes Dasein zu ketten; er las auch aus der Bitterkeit ihres Briefes nicht das heraus, was ein Klügerer darin würde gefunden haben, nämlich den Zorn der heißen Liebe, sondern nur das berechtigte Verlangen, sich von ihm, dem Unwürdigen, Kaltherzigen, zu befreien! Und er schrieb ihr einen feierlichen Entsagungsbrief, in welchem er bekannte, seine Liebe könne freilich wohl nicht die rechte sein, da sie solches Verrathes fähig war. Denn leider könne er sich nicht einmal mit einer bloßen Uebereilung entschuldigen, die man bereuen und bessern könne; er fühle selbst mit Schrecken, das sitze tiefer in seinem Charakter: er habe die wahre Liebe nicht und könne darum auch der Liebe nicht würdig sein.
Da mußte es ihm Anna wohl glauben und ihre Thränen hinunterschlucken, wenn sie zu ihrem Schaden nicht noch den Spott des Schwagers Ludwig einheimsen wollte.
»Sei ganz ruhig,« tröstete dieser, »der geht nicht zu Grunde daran. Der ist schon verheirathet 37 mit der Handschrift A und wird Dich so schnell vergessen, wie Siegfried die Brunhilde. Er wird Dich einfach als eine interpolirte Stelle im Buche seines Lebens bezeichnen und ausstreichen. Du weißt, mit unechten Strophen macht er kurzen Prozeß.«
Das sah Anna ein, weil sie es einsehen mußte; und sie schickte ihm nach schwerem Kampfe seinen Ring zurück.
Als Christian Dinse diese Antwort empfing, schlug er die letzte Seite seiner Nibelungen auf und las:
mit leide was verendet des küniges hôhzît,
als ie die liebe leide ze aller jungiste gît.
»Die Strophe ist echt!« sagte er und weinte nicht weniger als Ritter und Frauen, dazu die edelen Knechte an König Etzel's Hof. –
In dem ausführlichen Zeugnisse, welches ihm nach einigen Tagen von der Königlichen wissenschaftlichen Prüfungskommission zugestellt ward, eröffnete man ihm, daß ihm die Lehrbefähigung für das Deutsche durch alle Klassen aberkannt werden müsse, wohingegen er befugt sein solle, an Gymnasien und Realschulen in den Klassen bis Quarta aufwärts den Unterricht in der Geographie, der Religion, dem Rechnen, dem Französischen und der Naturkunde zu leiten, als in welchen Fächern er 38 immerhin das unentbehrliche Maß von allgemeiner Bildung bekundet habe. Es ward ihm anheimgegeben, sich behufs einer provisorischen Beschäftigung dem Schulkollegium einer preußischen Provinz zur Verfügung zu stellen.
Er that getreulich nach diesem milden Rath, ward in das äußerste Hinterpommern versandt und daselbst am Gymnasium zu Stolpenburg mit einem Gehalt von 425 Thalern (vierhundertfünfundzwanzig) als Hülfslehrer mit vierteljährlicher Kündigungsfrist angestellt. Daß er auf dies Einkommen hin nicht leicht hätte heirathen können, war ihm deutlich; und das gereichte ihm zu einigem Troste.
Er ergab sich in sein Schicksal und fiel schnell einer totalen geistigen Versumpfung anheim. Er fand schlechterdings nicht den Muth, an das Wagniß eines zweiten Examens auch nur zu denken; wozu auch? Für seine Person kam er ganz gut aus mit seinen 425 Thalern, und eine zweite Person gab es für ihn nicht zu versorgen. Gegen die Handschrift A aber, die Nibelungenfrage und die ganze germanistische Wissenschaft, nährte er von Tag zu Tage mehr einen tiefschleichenden Haß; er verschloß alle Bücher, welche von fern daran erinnern konnten, in die tiefsten Fächer seines Schrankes und alle Gedanken daran in die tiefsten Winkel seines Busens.
Dahingegen unterrichtete er seine Sextaner 39 gewissenhaft in der Religion, der Geographie und anderen Nebenfächern und galt für einen recht brauchbaren Pädagogen, nicht geringer zu achten als ein wackerer Elementarlehrer. Daß man einst in wissenschaftlichen Kreisen Hoffnungen auf ihn gesetzt hatte, ahnte dort Niemand. Er selbst hatte aller Wissenschaft abgeschworen.
Aehnlich und anders gestaltete sich das Schicksal seiner weiland Braut.
Anna riß die Liebe tapfer aus ihrem Herzen, nahm alsbald nach dem Unglück die Vorbereitungen zum Lehrerinnenexamen wieder auf und bestand dasselbe dann mit einigem Ruhme; ihr kamen keine wissenschaftlichen Streitfragen in die Quere. Darauf trat sie eine Stellung als Erzieherin in einem guten Hause an.
In dieser Stellung fand sie ziemlich viel Muße zu eigener Beschäftigung. Was sollte sie treiben? Musikalisch war sie nicht über den Hausbedarf, nützliche Handarbeiten wollte Niemand ihrer Gelehrsamkeit anvertrauen, zum Malen oder Modelliren fehlte der Raum, und das Romanschreiben hielt sie für eine Sünde. Mit Unrecht! Aber sie that es.
Da ergriff sie eine stilldämonische Begierde, ein wenig an der berühmten Nibelungenfrage und der altdeutschen Sprache herumzunaschen. Der alte Vers: wie liebe mit leide ze jungest lônen kan 40 summte ihr oft so seltsam, so traurig schön im Ohre und reizte sie unwiderstehlich, da weiter zu forschen, indem er sie zugleich zu belehren schien, daß jene Nibelungensprache nicht eben allzuschwer zu erlernen sein könne.
Sie kaufte sich also die nöthigen Bücher und begann ihre Studien erst mit einem zaghaften Eifer, dann mehr und mehr mit gesammeltem Ernst. Sie las die Nibelungen, die Gudrun, dann die Minnesänger. Hier begann ihre Theilnahme erst ganz zu erwarmen. Da gab es Verse, wie den:
Ez gât mir von me herzen,
daz ich geweine.
Ich und mîn geselle
müezen uns scheiden. . .
und viele ähnliche, welche ganz merkwürdig tief in ihrem Herzen widerhallten.
Doch kehrte sie dazwischen immer wieder zu den Nibelungen zurück, las sie mit den Lachmann'schen Anmerkungen und vertiefte sich in die »Frage«. Natürlich nahm sie von Anfang an leidenschaftlich Partei für die Handschrift A, und es währte nicht lange, so entbrannte sie in heißem sittlichen Zorn gegen jene unselig verblendeten »Gegner«, welche die offenbaren Tugenden derselben durchaus nicht anerkennen und ehren wollten. In gleichem Maße begann sie in der Stille milder zu denken von dem 41 Fehl ihres einstigen Verlobten; die Gegner hatten den armen Menschen doch auch wirklich bis aufs Blut gereizt mit ihrer Halsstarrigkeit und Herzenshärte!
In dieser Zeit geschah es, daß den Schwager Ludwig ein Kollege aus Stolpenburg in Hinterpommern besuchte und ihm zufällig nach vielem andern Wissenswertheren auch von der »gänzlichen Versimpelung« seines früheren Bekannten Christian Dinse erzählte. Nicht ohne Triumph berichtete jener es an Anna weiter.
Die junge Dame war in diesen Jahren nun schon vertraut genug geworden mit dem Geiste der Wissenschaft, um zu empfinden, daß eine solche Vernachlässigung derselben für einen Mann von Dinse's Art nichts Geringeres als den vollen Bankerott der Seele bedeutete; es ergriff sie ein zorniges Mitleid mit jener armen Seele, und sie fragte sich, ob es nicht möglich sei, derselben auf irgend eine Weise neuen Lebenshauch und neue Nahrung zuzuführen. Sie fand eine Möglichkeit.
Sie verfaßte einen Brief an Herrn C. Dinse in Stolpenburg, unterzeichnete ihn mit »Studiosus Geiseler« (sie dachte an Giselher den Jungen im Nibelungenliede) und ließ ihn für einige Groschen von einem Schreiber in dessen Handschrift umsetzen.
Dieser Studiosus Geiseler erklärte, er habe in 42 einem früheren Jahrgang der »Zeitschrift für deutsches Alterthum« einige so vortreffliche Aufsätze von C. Dinse über die Nibelungenfrage entdeckt, daß er nicht umhin könne, dem Verfasser seinen Dank auszusprechen zugleich mit der Bitte um nähere Aufschlüsse über diese und jene Punkte. Und in wie weit er (Dinse) in der Zwischenzeit seine Studien verbreitert und vertieft habe? Ob er nicht etwa mit einem umfassenden Werke über den Gegenstand beschäftigt sei, da er seit Jahren keine Einzelforschungen mehr veröffentlicht habe u. s. f. Die Antwort erbitte er postlagernd.
Dieser Brief war für Dinse ein erster linder Regenschauer nach endloser Dürre, ein Theil seiner Seele begann leise aufzuthauen. Er setzte sich ohne Zaudern hin und gab dem unbekannten Jünglinge eine sehr eingehende Beantwortung seiner Fragen; über seine eigene Unthätigkeit in seiner Wissenschaft glitt er sachte hinweg. Er schämte sich zum ersten Mal seiner geistigen Verkümmerung.
Studiosus Geiseler schrieb sehr bald zurück voll feurigen Dankes und verschärfter Wißbegierde. Der segnende Regen löste die verdörrte Scholle mehr und mehr.
So kam der Briefwechsel in Gang, um nicht mehr abzubrechen; und Dinse ward durch ihn in wunderbarer Weise zu neuen Gedanken angeregt und 43 unablässig zu neuer Forschung angetrieben. Seine Bücher und Manuscripte stiegen ans Tageslicht, seine alte Leidenschaft für die germanistischen Studien erwachte mit der Wucht einer Naturgewalt. Und doch hatte er ursprünglich gar nichts im Sinne, als jenen wackeren Studenten für seinen Eifer zu belohnen und in demselben zu festigen. Und auch als allgemach wieder ein stärkerer Ehrgeiz in ihm erwuchs, war es kein anderer als der, sich in ihm einen Schüler und gleichsam Vertreter heranzubilden, durch den er die Ergebnisse seiner stillen Forscherarbeit in die wissenschaftliche Welt überleiten könnte, ohne selbst mit seinem Namen wieder ans Licht zu treten.
Zu seiner Freude verrieth der Schüler neben dem standhaften Eifer auch viel Gelehrigkeit: Dinse spürte von Brief zu Brief das Wachsen seiner Kenntnisse, seiner Auffassung; es war ihm eine Lust zu sehen, wie er in die tieferen Begriffe und Aufgaben seiner Wissenschaft hineinwuchs. Allerdings zeigte er nicht gerade eine sehr selbständige, schaffende Begabung, sondern mehr einen leicht aufnehmenden Geist und als Besonderheit einen zarten Spürsinn, der etwaige Beweislücken oder Widersprüche merkwürdig klar herauszuwittern und bloßzulegen verstand. Um so besser für den Meister! So konnte sein eigener voll ausschreitender Forschersinn sich 44 desto ungestörter bethätigen, und Jener konnte, als rechter, treuer Jünger geduldig nachwandelnd, die ausgegrabenen Schätze der Erkenntniß sorgsam sichten, ordnen und zusammenfügen.
In so stiller und feuriger Doppelarbeit flossen Jahre dahin, Jahre großen, feinen Glücks, rastloser Seelenruhe für beide Zweckgenossen.
Und eine sonderliche zarte Würze hatte dieses Arbeitsglück nicht allein für den Studiosus Geiseler (der wohl wissen konnte, woher sie duftete), sondern auch für Christian Dinse; hauchte ihm doch aus den Blättern des unbekannten Mitarbeiters öfter und öfter etwas seltsam Bekanntes und doch Verschleiertes entgegen, etwas räthselhaft Aufregendes und feierlich Beruhigendes, etwas wie der süßvertraute Geruch einer unsichtbaren Blume. Woher das kam, er wußte es nicht, er dachte auch nicht darüber nach; und so erkannte er nicht, daß es nur gewissen Ausdrücken und Wendungen entstammen konnte, wie sie jedem Menschen eigenthümlich sind als der wahre Seelenduft; denn solcher steigt nicht in die Nase, wie ein gröberer Riecher entdeckt haben will, sondern auf viel feinerem Wege geradeaus wieder in die Seele selbst.
Außerdem war von persönlichen Verhältnissen unter den Briefschreibern kaum die Rede. Einmal zwar hatte das naseweise Studentchen gewagt, eine 45 dahin zielende Frage zu stellen: da erwiderte Dinse knapp und trocken, er habe ein sehr unglückliches Schicksal gehabt, eine heißgeliebte Braut verloren, nicht ohne eigenes Verschulden, das doch aus innerer Nothwendigkeit hervorgegangen sei; dieses Leid habe er zwar in sich überwunden, aber noch keineswegs verschmerzt, er bitte deshalb, diese Dinge in Zukunft lieber nicht mehr zu berühren. Das hierauf umwendend folgende Antwortschreiben des Studenten stand wissenschaftlich nicht auf der Höhe, litt vielmehr an einer auffallenden Fahrigkeit und Verworrenheit, behandelte gewisse rein textkritische Fragen im Anfang des Nibelungenliedes (Traum der Kriemhild) mit einer ganz räthselhaften und ganz unwissenschaftlichen Gefühligkeit, stellte die vollkommen sinnlose Frage, ob man die beiden Aare, welche im Traum der Kriemhild ihren geliebten Falken zerrissen, nicht als Mitglieder einer Königlichen wissenschaftlichen Prüfungscommission deuten könne? und verstieg sich zuletzt gar zu der aufrührerischen Vermuthung, daß die von Lachmann verworfene Strophe 17 (der Handschrift A) mit dem Verse:
wie liebe mit leide ze jungest lônen kan
nicht doch vielleicht echt sein möge.
Christian Dinse schüttelte ärgerlich den Kopf und wußte mit dem Brief schlechterdings nichts anzufangen; fühlte sich aber hinterher 46 unerklärlicherweise von einer krankhaften Schwermuth ergriffen, die für diesen ganzen Abend ihn geradezu arbeitsunfähig machte. Fürchtete er im Ernst für den Geisteszustand seines Jüngers? Doch es konnte ein Fieberanfall gewesen sein, und der mußte ja vorübergehen.
Er ging vorüber, und es war nicht mehr die Rede davon.
Im Uebrigen bezog Dinse während dieser Jahre ungestört seine 425 Thaler (jährlich) weiter, verwaltete sein Aemtchen in voller Ordnung und empfing in Collegenkreisen bereits hier und da den Ehrentitel des »ewigen Hülfslehrers«.
Die glücklichen Jahre aber waren in der That auch fruchtreife Jahre. Fast unmerklich fügte sich unter den forschenden Händen Stein an Stein, und eines Tages entdeckte Dinse mit freudiger Besinnung, daß er da allgemach ein wohlbegründetes,. wohlgegliedertes Gebäude aufgeführt hatte, welches er in aller Bescheidenheit wohl eine wissenschaftliche That nennen konnte; eine zusammenhängende, tiefgründige Untersuchung über den Ursprung des Nibelungenliedes, sich zuerst eng an Lachmann anschließend, dann selbständig weiter arbeitend, stützend, ausführend, bessernd, abwandelnd; das Ganze ein Buch von ansehnlichem Umfange.
Ja, das Buch war unversehens fertig, wirklich 47 und wahrhaft fertig; das dicke Manuscript lag da vor dem glücklichen Verfasser fast so überraschend, als wäre es wie ein lyrisches Gedicht vom Augenblick geboren und nicht mit unendlichen Mühen und Nachtwachen langsam Stück für Stück emporgearbeitet und ausgerundet.
Es war selbstverständlich, daß er das geschlossene Ganze zunächst dem treuen Mitarbeiter übersandte, wie sonst die Theile, mit der Bitte um eine letzte gründliche Kritik und eine letzte Feile.
Die Ankunft dieses ungeheuren Manuscriptes, für andere Mädchenaugen sicherlich ein Schreckniß, gab für Anna einen Festtag, wie sie lange keinen erlebt hatte. Es ward gar eine feine Wonne, nicht nur zu ahnen und zu glauben, sondern mit eigenem Blicke zu sehen, aus eigenem Verständniß zu wissen, welch' eine geistige Bedeutung diesem Buche innewohnte und wie es ohne Zweifel den Namen des Verfassers mit einem Schlage bekannt und geachtet machen mußte. Und, dachte sie schnell mit praktischem Sinne weiter, schlägt es ein, wie es einschlagen soll und muß, dann ist er ein gemachter Mann trotz aller Examinatoren und anderer Gegner! Dann hat er sich selbst ein neues glänzendes Prüfungszeugniß geschrieben, und unser Staat müßte wahrlich weniger wohl verwaltet sein, als er es erwiesenermaßen ist, wenn er sich eine solche Kraft nicht erhalten und 48 fördern wollte durch eine günstige Anstellung als erster Oberlehrer, Gymnasialdirektor, Prinzenerzieher, Schulrath, Archivrath, vortragender Rath oder was es sonst für auskömmliche Herrlichkeiten gibt. Für solche Stellungen werden freilich immer am liebsten verheirathete oder doch vorläufig verlobte Männer gewählt . . .
Solt du immer herzenlîche zer werlde werden frô,
daz geschiht von mannes minne . . .
Das war ein wunderbares Klingen in ihrer neubeschenkten Seele!
– Um jedoch völlig sicher zu gehen und nichts Thunliches zu versäumen, ersann sie den Plan, das Manuscript zur Begutachtung einem wohlbelobten Professor zu übersenden, der nicht zu den »Gegnern« gehörte und übrigens als ein zwar wohlwollender, aber keineswegs weichherziger oder überhöflicher Beurtheiler genannt wurde.
Nach einigen Wochen schon, schneller, als sie gehofft hatte, kam die Antwort dieses gestrengen Herrn; und sie lautete obendrein auch fast noch günstiger, als sie gehofft hatte: das Buch sei ein ausgezeichnetes Denkmal des Fleißes, Scharfsinnes und kritischen Feinblickes, und es werde wohl nicht zu leugnen sein, daß man von diesem Werke in der Nibelungenfrage eine neue Rechnung beginnen müsse. Insbesondere sei die Festigkeit des Gerüstes, die 49 lückenlose Folgerichtigkeit in der Fügung der Theile hervorzuheben, gegenüber mancher allzukühnen Willkür des genialen Lachmann. Wenn ja etwas getadelt werden solle, so sei es höchstens die allzu glatte Form der sprachlichen Darstellung, die es dem denkfaulen Laien denn doch gar zu bequem mache, in die vornehmen Geheimnisse der Gelehrsamkeit seine fürwitzige Nase zu stecken.
Zu dieser letzten Bemerkung lächelte Fräulein Anna etwas boshaft und vermochte sich fortan zu ihrem eigenen reuevollen Leidwesen den wohlwollenden Professor nicht mehr anders vorzustellen, als mit einem ellenlangen Zopf am Hinterhaupte und einer riesengroßen Perrücke darüber. Zu dem Haupturtheile aber faltete sie inbrünstig dankbar die Hände; und dann that sie dieselben wieder von einander und streichelte das große Manuscript mit einem stillen mütterlichen Stolze. Der Festtag ihres Herzens war zu seiner Mittagshöhe gekommen.
In solcher hochgemuthen Stimmung aber ward sie unversehens auch von einem kleinen Uebermuthe überrumpelt, einer kindischen Lust, dem stolzen Lobe der logischen Folgerichtigkeit zum Trotz irgend ein Häkchen oder Fehlerchen oder Lückchen herauszutifteln – vielleicht, daß ihr weibliches Gemüth sich gegen die anmaßliche Alleinherrschaft der Logik heimlich empörte, oder daß sie es überhaupt für nöthig hielt, 50 einer künftig möglichen Selbstüberhebung des Freundes nach kluger Frauenart gleich im Voraus einen milden Dämpfer aufzusetzen.
Sie witterte also zum Nachtisch noch ein bischen in den wohlbekannten Blättern umher, tastete, wühlte und zerrte; und richtig: ehe ein Stündlein vergangen war, hatte sie an einer nebensächlichen Stelle ein winzig kleines Loch, eine ausgefallene Masche in dem Gewebe der Schlüsse entdeckt und bohrte vergnügt die Nadelspitze ihrer zierlichen Bosheit da hinein. Sie durfte triumphiren, sie hatte als echtes Weib das letzte Wort behalten und der brutalen Logik einen lustigen Possen gespielt.
Das Manuscript kehrte zu seinem Urheber zurück, beschwert mit dem großen Lobe und dem kleinen Tadel und dazu mit der dringenden Mahnung des »Candidaten« Geiseler (Herr Geiseler begann auch Carriere zu machen!), er möge nun schleunigst einen Verleger suchen, der denn mit jener Empfehlung des berühmten Professors nicht schwer werde zu finden sein. Nachher müsse sich dann schon noch manches Andere finden, ein bischen Ruhm, eine bessere Stellung – und vielleicht auch einige Gedanken an ein anderes Glück.
Die Antwort ließ lange auf sich warten. Desto besser! dachte Anna, er berichtet dann gleich über das abgeschlossene Verlagsgeschäft.
Endlich kam der ersehnte Brief; doch sein 51 Inhalt entsprach nicht ganz ihrer Erwartung. Er lautete in seinen wesentlichsten Theilen folgendermaßen:
»Lieber Freund!
— — —
Ihrer Aufforderung, mich ohne Verzug nach einem Verleger umzuthun, konnte ich leider noch nicht sogleich entsprechen. Zwar leugne ich nicht, daß bei so glücklichen Auspicien neben dem großen und echten auch der kleine Ehrgeiz, meinen Namen gedruckt zu sehen, sich wieder gewaltig in mir regte – und vielleicht auch noch in schwankenden Träumen manche feinere Hoffnung: und doch konnte ich bisher nicht zu dem entscheidenden Entschlusse kommen. Die von Ihnen selbst so scharfsinnig angeregte Kleinigkeit hielt mich noch zurück. Daß ich's Ihnen gestehe, dieser kleine Rechenfehler, oder wie Sie's nennen wollen, geht mir ganz merkwürdig im Kopfe herum. Ich mag's so leicht nehmen, wie ich will, es ist und bleibt doch eine Lücke in der Kette meiner Beweise; und es ist nun einmal nicht anders: die beste Kette bleibt werthlos, wenn ihr ein einziges Glied fehlt. Sie werden sagen: »Gut, so muß dies fehlende Glied noch eingefügt, die Lücke zugelöthet werden, das kann so schwer nicht sein!« Doch, ja! Es ist schwer! Für mich wenigstens. Wenn Sie nicht etwa helfend einspringen mit Ihrer sicheren 52 Tasthand – ich habe die Aufgabe noch nicht gelöst, so klein sie aussieht. Und eher kann ich das Manuscript natürlich nicht aus der Hand geben. Mir will nämlich sogar allmählich fast scheinen, die Sache schneide noch etwas tiefer, als Sie selbst erkannt haben; es hängt dieses und jenes daran, was nicht gleich im ersten Augenblick auffiel. Es steht in der That so: die betreffende Lesart von A ist unglaublich schwer mit unseren Thesen in Einklang zu bringen – für sich allein betrachtet, muß sie geradezu für die Priorität des Textes C zu sprechen scheinen (oder B, wenn Sie wollen), man mag sie drehen und deuten, wie man will. Selbstverständlich ist das nur Schein, wer zweifelt daran? Doch eben die Richtigkeit dieses Scheins gilt es aufzuzeigen. Gelingen wird es ja, weil es gelingen muß; nur mag noch einige Zeit darüber hingehen, Wochen vielleicht – allein was thut's? Die Wissenschaft hat Zeit, wie die Natur. Vita brevis, ars longa.« U. s. w. u. s. w.
Freilich! freilich! Die Wissenschaft und die Natur mochten Zeit haben, aber Anna hatte gar keine Zeit! Ars longa, vita brevis.
Mit umwendender Post schrieb sie einen scharfen Mahnbrief, er möge sich doch um des Himmels willen mit solchen Lappalien nicht aufhalten! Schlimmstenfalls könne der Stein des Anstoßes ja 53 noch während des Druckes entfernt werden. »Und selbst wenn nicht, was liegt daran? Wer achtet denn auf solche Winzigkeit? Sie sehen ja, Ihr berühmter und scharfblickender Kritiker hat ganz glatt darüber hinweggelesen: wie sollten sie also die Anderen entdecken? Nur Jemand, der alle Theile Ihres schönen Gebäudes so vollkommen beherrscht wie Sie und ich, konnte dies morsche Steinchen im Winkel entdecken, kein Anderer wird es – verlassen Sie sich darauf!« U. s. w. u. s. w.
Dinse's Antwort ließ wieder warten und fiel dann zu einem Theile beinahe ein wenig grob aus.
Mit dem wahrhaft unwürdigen Vorschlage, die Sache auf sich beruhen zu lassen, möge der geehrte Herr ihn im Interesse eines ferneren friedlichen Einvernehmens gefälligst verschonen. Ob es in der Wissenschaft auf das Erkennen der Wahrheit ankomme, oder auf dialektische Kunststückchen? Und ob jener unglaubliche Vorschlag auf etwas anderes hinauslaufe, als auf eine bewußte Täuschung? Nur noch verschlimmert durch die niedrige Spekulation auf die Unachtsamkeit Anderer? Wie eine so schimpfliche Zumuthung nur einem Freunde habe entschlüpfen können? Und dergleichen zarte Anzüglichkeiten mehr. – Im Gegensatz dazu könne er nicht verhehlen, daß ihm der sonderbare Fall ganz unverschämt zu schaffen mache; derselbe habe wohl ein Dutzend ähnlicher 54 Fälle wie mit Zauberkraft nach sich gezogen. Das kleine Loch habe sich in einen strudelnden Trichter verwandelt, der sich in Wirbeln immer mehr erweitere und einen der scheinbar festesten Steine nach dem anderen in sich hineinreiße. Ihm selbst sei zu Muthe, als wäre er von einem dauernden Schwindel befallen; er verzweifle daran, vor Ablauf mehrerer Monate wieder zur Klarheit und Ordnung zu kommen. Was ihn am meisten verwirre, sei dies: er sei durch die jüngsten seltsamen Wahrnehmungen ganz von selbst dahin gedrängt worden, in der Streitsache Codex A contra C einmal ernstlich die Gegenprobe zu machen, sich selbst künstlich und gewaltsam von vornherein in den gegnerischen Standpunkt hineinzudenken und von dort aus die einzelnen Fragen zu beurtheilen. Und da habe sich allerdings zu seinem Schrecken ergeben, daß eine recht beträchtliche Anzahl von textlichen Varianten und anderen Differenzen gerade so gut zu Gunsten von C wie von A gedeutet werden könne (wenn man einmal jenen einseitigen Standpunkt eingenommen), ja daß es nicht an Thatsachen fehle, welche sich auf diese neue Art schlanker und natürlicher erklären ließen. Kurzum, er fühle sich in einen Strom von Zweifeln gestürzt und wisse nicht, an welches Ufer er schließlich werde getragen werden. U. s. w. u. s. w.
Anna las diesen Brief und war einer 55 Ohnmacht nahe – »Monate!« – Doch ehe sie sich thatlosen Thränen hingab, erfand sie in der Geschwindigkeit noch einen Rettung verheißenden Gedanken.
Candidat Geiseler flehte, vor allen Dingen nur erst das Buch zu veröffentlichen – und dann möge er, Dinse, immerhin sogleich ein zweites Buch hinterherschicken, das alle eigenen Bedenken und Einwürfe gegen das erste in reinlichster Vollständigkeit enthalten könne. So werde seinem Gewissen und seinem Vortheil zugleich Genüge geschehen, und es könne überdies kaum fehlen, daß ein so besonderer Fall schneller und tiefer Selbstkritik um so gerechteres Aufsehen mache in der Welt.
Die Kühnheit dieses Gedankens schien doch Eindruck gemacht zu haben auf Christian Dinse, denn er antwortete diesmal ohne längeres Zögern; leider jedoch keineswegs in erwünschtem Sinne.
»Vor einer Woche vielleicht,« so schrieb er, »würde die Ausführung der Idee trotz ihrer Seltsamkeit vielleicht allenfalls noch denkbar gewesen sein, jetzt aber ist es zu spät! Die Selbstkritik hat schon zu tief in den ursprünglichen Bau hineingefressen und fast schon seine Grundlagen unterwühlt. Wenn ich jetzt noch das Buch herausgeben und ihm die Gegenschrift auf die Fersen schicken wollte, so ist gar kein Zweifel (es ziemt dem Manne, 56 seine eigene Natur zu kennen), diese Gegenschrift würde verdientermaßen so unerhört giftig, so sacksiedegrob, so hausknechtsmäßig ausfallen, daß ich mir nothwendig von Anfang an den bösesten Ruf bereiten müßte schon als Kritiker wegen meiner unschönen Offenheit, noch mehr aber als produzirender Autor wegen meiner bodenlosen Unwissenheit, hirnlos plumpen Gedankenarmuth und widerlich rohen, ja wahrhaft anekelnden Nachlässigkeit und Pflichtversäumniß. – Aus diesen einfachen Gründen ist in der Sache einstweilen weiter nichts zu thun, als abzuwarten und fortzuarbeiten. In wenigen Jahren hoffe ich bestimmt zur Klarheit zu kommen. Denn natürlich bin ich unendlich weit entfernt davon, der Handschrift A ihre Priorität und Superiorität abzuerkennen; vielmehr wird der Kampf gegen die dreisten Anmaßungen ihrer Gegner nach wie vor meine Lebensaufgabe bleiben; es handelt sich eben nur um das Beibringen zwingender Beweise.« U. s. w. u. s. w.
Hätte Fräulein Anna nach der Lesung dieses Schreibens den Verfasser in Person vor sich gehabt, sie wäre im Stande gewesen, sich als Kritikerin durch unschöne Offenheit bei ihm den bösesten Ruf zu bereiten. Sie war einfach wüthend auf den selbstverderberischen Gesellen.
Am nächsten Tage jedoch gewann ein anderes 57 Gefühl in ihr die Oberhand und wurde so stark, daß es binnen Kurzem nach ihrer tapferen Art einen neuen überraschenden Entschluß erzeugte, nicht ohne Anschluß übrigens an ihre gestrige wehrhafte Zornesstimmung.
Sie gedachte geradeswegs nach jenem Stolpenburg zu reisen, dort mit ihrer eigenen leiblichen, weiblichen Gestalt hinter dem Trugbilde des sanften Candidaten Geiseler hervorzutreten und dem Unglücklichen den Kopf zurechtzusetzen.
»Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil,« sagte sie sich selbst ermuthigend, »ich werde ihn also mit seinen eigenen Waffen, nämlich mit beispielloser Grobheit schlagen. Das muß helfen! O, Du Thor! werde ich sprechen. Du ausbündiger Tollkopf, Du überstudirter Selbstquäler, Du Säulenheiliger, Du starrsinniger Schwärmer, Du entsetzlicher Mensch, Du abscheulicher, ungetreuer, sackgrober, einziger, lieber, herrlicher . . . Ei der Tausend, nein, so werde ich bei Leibe nicht fortfahren! Aber das Andere, das wird wirken. Solche Käuze muß man bei den Ohren nehmen und ordentlich abseifen, das hilft und ist das einzige Mittel, ihnen zu helfen.«
Sie setzte ihr Vorhaben durch; nahm unter einem guten Vorwande Urlaub, fuhr in der Richtung auf Hinterpommern und kam Morgens früh in der berühmten Stadt Stolpenburg an.
58 Im Gasthofe händigte sie sogleich dem Hausknecht ein daheim von ihres Abschreibers Hand vorbereitetes Billet ein und befahl ihm, dasselbe dem Herrn Gymnasiallehrer C. Dinse zu überbringen. Besonders aber schärfte sie ihm ein, nichts von ihrer Person zu verrathen, sondern auf Befragen von einem fremden Herrn Namens Geiseler zu reden.
Als der Hausknecht verständnißvoll nickend das Zimmer verließ, überkam sie ein mächtiges Gefühl einer wunderbaren Vorfreude. Welch' ein Gesicht mußte der Jugendfreund machen, wenn er seinen Mitarbeiter in dieser Gestalt erblickte! Vielleicht, daß allein schon die ungeheure Ueberraschung ihn zur Vernunft brachte.
Bebend in zagendem Glücke schritt sie dem Fenster zu, um dem hoffnungbeschwerten Hausknecht nachzublicken. Unterwegs streifte sie an einem Spiegel vorbei, und ihr Blick fiel hinein. Plötzlich zuckte sie zusammen; sie besann sich eine oder zwei Secunden; dann riß sie das Fenster auf und rief den eben ausschreitenden Boten zurück: er solle mit dem Gange warten, bis sie ihn von Neuem verständigen werde – vielleicht sogar bis morgen.
Nun trat sie mit Bewußtsein vor den Spiegel und begann eine ernstliche Musterung.
Nein, sie war gar nicht mehr hübsch, nicht so wie 59 sie früher war! Wenn der Umgang mit der Wissenschaft den Geist nicht mehr verschönte als den Körper, die Wissenschaft wäre längst der allgemeinsten Mißachtung verfallen. Sie sah ein, daß sie ein Weiteres für sich thun müsse.
Ihr graues Kleid saß wohl ordentlich und leidlich sauber, doch ohne jegliche Anmuth; nirgends ein hübscher Ueberfluß, eine Zierlichkeit, sei es nur eine bunte Schleife oder so etwas; das Haar lag auch so glatt an den Schläfen, so »angeklatscht«, so maßlos sittsam, so untadelhaft erzieherisch! Das Gesicht ließ sich noch am ersten ansehen – vorausgesetzt, daß man auf die Reize der allerersten Jugend verzichtete – aber etwas Zierloses lag doch auch darin, etwas Unfrisches, Farbloses, Uebergeistigtes, herb Angestrengtes – ach was, gerade herausgesagt, etwas einfach Eulenhaftes.
Sie schickte den Hausknecht an diesem Tage nicht mehr. Statt dessen begab sie sich selbst auf die Fahrt und machte Besorgungen. Sie besuchte eine Kurz- und Schnittwaarenhandlung, einen Handschuhladen, ein Confectionshaus, eine Schuhmacherwerkstatt, ein Weißwaarengeschäft und sogar ein billiges Schmuckwaarenlager (alle diese waren in dem Städtchen vorhanden), machte eine schöne Fülle von Einkäufen, verweilte mit diesen Schätzen erst stundenlang bei einer Schneiderin, dann bei einer 60 Putzmacherin, dann bei einer Haarkräuslerin und fand dazwischen doch noch Zeit, einen Spaziergang gegen den frischen Wind zu machen, da sie eine andere Art von Schminke mit ihrer wissenschaftlichen Würde nicht vereinbar glaubte.
Gegen den Mittag des anderen Tages that sie nach einem neuen Spaziergange einen letzten Blick in den Spiegel. Sie wandte leicht erröthend die Augen ab und lächelte wunderlich vor sich hin. Sie hatte nun erkannt, welches die wahre Königin der Wissenschaften ist, die einzige, die handgreifliche Wunder thut. Freilich auch, welcher Fülle von Hülfswissenschaften bedient sie sich!
Kurzum, die graue Eule hatte sich in einen farbenschillernden Schmetterling verwandelt. Sie klingelte und schickte den Hausknecht. –
Eine halbe Stunde später trat Christian Dinse herein; taumelte zurück, starrte, ward blaß und roth, neigte das Haupt und kämpfte unter sonderbaren Zuckungen gegen die andringenden Thränen.
Auch Anna blickte ihm stumm und überwältigt entgegen, sie vermochte keinen Schritt und keine Bewegung zu thun; aber sie vermochte seine Gestalt und sein Angesicht mit verklärten Augen zu umfassen und festzuhalten, und sie gestand sich lächelnd, daß ihm die Gelehrsamkeit nichts hatte 61 anhaben können, vielmehr an Schönheit eher etwas zugelegt hatte. Sein schmales Gesicht war feiner, ruhiger und stolzer geworden, selbst seine Gestalt erschien gefestigt durch ein inneres Kraftgefühl, und in seinen Augen glühte eine zurückgehaltene Leidenschaft.
»Ich bin der Candidat Geiseler,« sagte Anna endlich, das lange Schweigen brechend.
Christian Dinse verstand Alles in dem knappen Wort; er stieß einen kurzen Schrei aus, deckte die Hand über beide Augen und sagte dumpf:
»Gestern Abend habe ich mein Manuscript vernichtet.«
»Vernichtet?« stammelte Anna entsetzt, »und gestern Abend?«
»Gestern Abend,« bestätigte er, »verbrannte ich es. Ich habe mich überzeugt, daß der Handschrift C der Vorrang gebührt.«
Sie sank todtenbleich in einen Stuhl zurück. Also wieder durchs Examen gefallen! Zum letzten Mal!
Er trat ein wenig näher.
»Verzeih mir,« sagte er, »ich konnte nicht anders. Ich werde das neue Buch sogleich beginnen. In drei bis vier Jahren muß es fertig sein. Hätte ich mehr Zeit neben den Schulstunden, vielleicht könnte ein Jahr genügen. So aber –«
62 Sie sah mit einem trostlos liebenden Blicke zu ihm auf. Da beugte er sich tiefer hinab und küßte ihre Hände.
»Drei bis vier Jahre,« sagte sie endlich und versuchte zu lächeln, »das ist nicht zu viel. Wir haben warten gelernt, und die Wissenschaft hat Zeit.«
Sie warf einen wehmüthigen Blick nach dem Spiegel; und dann sah sie vor ihren bethränten Augen die knisternden, stiebenden, sich krümmenden Blätter des verbrannten Manuscriptes; und die wandernden Funken formten sich auf den schwarzen Flächen zu Reihen und Buchstaben, und sie las mit klagender Seele die schwermuthvollen Verse:
mit leide was verendet des küniges hôhzît,
als ie diu liebe leide ze aller jungiste gît.
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Es wäre vielleicht das Beste, die Geschichte hier abzubrechen; sie würde dann immerhin tröstlich mit einer Verlobung und einer Hoffnung schließen. Diejenigen aber, welche Christian Dinse den »ewigen Hülfslehrer« von Stolpenburg noch gekannt haben, ob es gleich ihrer nicht mehr viele sind, könnten kommen und uns einer unerlaubten Schönfärberei auf Kosten der Wahrheit bezichtigen.
Denn sie wissen nur zu gut, daß jenes neue Buch niemals beendigt wurde, nicht nach drei Jahren und nicht nach vier und auch nicht nach 63 zehn Jahren; die Bestunterrichteten aber sagen aus: das sei nicht etwa die Schuld seines Geistes, sondern seines Herzens gewesen: er habe es nicht über sich gebracht, etwas Feindseliges gegen die Handschrift A zu unternehmen. Auch sei er in späteren Jahren wieder zu der Ueberzeugung von ihrer Superiorität zurückgekehrt, habe aber auch zu ihren Gunsten nichts mehr zu schreiben gewagt, aus Furcht, ihr zum anderen Male untreu zu werden.
Dieselben Leute erinnern sich auch genau des alterthümlichen Pärchens, das in späterer Zeit täglich die Stadtpromenade von Stolpenburg abwackelte, meist ernst und schweigsam, häufig Hand in Hand.
Die gereifteren Schüler des Gymnasiums nannten ihn den Archäopteryx, eine recht treffende Bezeichnung, welche auch seine Collegen der höheren Gehaltsstufen mit vielem Vergnügen in ihren Wortschatz hinübernahmen. Der alte Bursche in seinem weiten grauen Flügelmantel glich in der That ein wenig diesem urweltlichen Vogel und sah fast aus wie sein eigenes körperliches Abbild in grauen Stein geprägt. Und das gute Mütterchen an seiner Seite sah leider nicht viel besser aus; es bemühte auch weder Putzmacherinnen noch Haarkräuslerinnen mehr.
Nachzutragen ist, daß der Magistrat der Stadt 64 Stolpenburg nach fünfundzwanzigjähriger Dienstzeit Dinse's dessen Gehälter auf 550 Thaler erhöhte, nebst einer persönlichen widerruflichen Zulage von 50 Thalern; nicht lange danach trat er mit Fräulein Anna Gebhart, geprüften Lehrerin, in den Stand der heiligen Ehe. Einige ganz fremde Leute hatten den Muth, über das jugendlose Pärchen am Traualtar zu lächeln; wer aber ein wenig von der Lebensgeschichte der Beiden wußte, fand diesen Muth nicht. 65 66 67