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Ein junger Schiffer, der etliche Jahre lang die südlichen Meere befahren hatte, kehrte in sein Heimathdorf an der Ostsee zurück, um daselbst eine Zeitlang zu verweilen und der Ruhe zu pflegen, obgleich es gerade hoher Sommer war; er hatte in den Jahren genug verdient, um sich das vergönnen zu dürfen. Auch that er wirklich gar nichts in dieser Zeit, weder dass er einmal mit den Fischern, wie ein solcher auch sein Vater war, hinausgefahren wäre, noch 218 dass er auch nur Sonntags an ihren Spielen theilgenommen hätte: vielmehr lag er den ganzen Tag lang in den Dünen oder am Waldesrande umher und blickte träumerisch über das Meer hinaus, als ob er da etwas suche, was doch nicht der Fall war. Er sprach, wenn man ihn fragte, er wisse selbst nicht, was ihn so träge mache, aber es sei nicht anders, er verspüre eine unablässige, starke Sehnsucht, immer nur so hinauszublicken ohne irgend ein Verlangen, und nur so fühle er sich glücklich; bei jeglicher Thätigkeit hingegen verfolge ihn eine quälende, innere Unruhe, die er nicht los werden könne. Da liess man ihn in Frieden und meinte, die südliche Sonne habe ihm wohl ein bischen das Hirn verbrannt, doch das werde sich in der kühlen Ostseeluft mit der Zeit schon wieder geben.
So sass er in dieser Zeit der hellen Nächte an einem Abend, da die Sonne eben untergegangen war, und blickte still über die wandernden Wellen hinweg in das Abendroth. Es hatte Tags über ein starker Wind aus Süden geweht, und die See ging noch hohl; jetzt war die Luft ganz stumm, und ein 219 heisser Dunst lag über dem Sande und dem Wasser. Als die Abendröthe blasser ward und die lichte Dämmerung sich leise vertiefte und mit sanftem Weben ihr schönes Spiel trieb, entdeckte er plötzlich mitten in der See eine kleine Erhebung wie eine einsame Klippe oder Düne, die sonst nicht da gewesen war. Manchmal schoben die Wellen sich davor und verdeckten sie mit ihren Schaumkronen; doch immer wieder trat sie deutlich hervor, und er konnte nicht lange mehr zweifeln, dass sie wirklich vorhanden war.
Und nunmehr glaubte er auch zu erkennen, dass etwas Lebendiges sich darauf bewegte, und wunderbarer Weise sah er trotz der grossen Entfernung bald mit aller Klarheit, dass es eine wunderschöne Frau war, nur mit einem weiten, weissen Schleier bekleidet, der sich in ruhiger Bewegung bald hob und bald senkte.
»Es ist eine Seejungfrau,« dachte er und freute sich; denn es bringt Glück, ein solches Geschöpf mit Augen zu sehen. Allein nun sah er auf einmal mit grosser Verwunderung, dass sie sich frei in die Höhe 220 hob und aufrecht auf dem Festen stand, was die Seemenschen nicht vermögen: denn sie haben statt der Füsse einen Fischschwanz, und auf dem kann man nicht so stehen.
Da ergriff ihn ein heimliches Grauen; er konnte sich nicht denken, dass ein menschliches Weib von den Wellen lebend dahin könne ausgeworfen sein und so geruhsam verweilen. Weil das aber doch immer möglich war, entschloss er sich am Ende, schob ein Boot ins Wasser, das klein genug war für einen einzelnen Mann, und fuhr durch die starke Brandung der Klippe entgegen. Es trieb ihn dazu auch eine heftige Sehnsucht um der Schönheit und Lieblichkeit des fremden Geschöpfes willen und eben darum mochte er sich auch keinen Anderen zur Hilfe herbeirufen.
Jetzt geschah aber etwas Wunderliches: je weiter er sich vom Strande entfernte und je näher er jenem Inselchen kam, desto undeutlicher wurde dessen Bild, und statt der Frau, deren Gestalt und Züge er erst so seltsam genau hatte betrachten können, sah er nur noch etwas wie einen weisslich verschwimmenden Schaum oder Nebel. Betroffen 222 segelte er weiter: doch als er nach seiner Berechnung die Gegend erreichte, wo sich die Klippe befinden musste, entdeckte er keine Spur davon, soviel er auch suchend umher kreuzte, sondern überall nur die leere Weite der wandernden Wellen.
Da kehrte er verwirrt und auch ernstlich betrübt nach dem festen Lande zurück: allein kaum hatte er den Fuss auf den Sand gesetzt, als er, wiederum hinaus blickend, das kleine Eiland und auf ihm die Frau mit dem Schleier abermals mit aller Deutlichkeit erkannte.
In hellem Erstaunen und fast etlichem Zorn über das unbegreifliche Blendwerk, doch mit noch viel grösserer Sehnsucht fuhr er zum andern Mal hinaus, nachdem er sorgfältig noch einmal die Entfernung mit den Augen bemessen hatte. Alles jedoch erging wie zuvor, die Erscheinung verflüchtigte sich mehr und mehr, und zuletzt war sie völlig verschwunden. Und wieder erst vom Lande aus sah er sie von Neuem.
Da wollte er schier verzweifeln über solche Gaukelei; und indem er sich niederwarf in den noch warmen Sand und in der 223 schwülen Nachtluft verworren grübelte, wie er sich nun anstellen solle, ward ihm brennend heiss im Kopfe und in allen Gliedern, und er empfand ein mächtiges Verlangen, in die Fluth zu tauchen und sich darinnen zu kühlen.
Er warf also die Kleider von sich und eilte in die Wellen, die ihm mit ihren Schaummassen prächtig über den Kopf schlugen. Auf einmal verlor er den Boden unter den Füssen und fand ihn nicht wieder und musste schwimmen. Er strebte zum Strande zurück und arbeitete rudernd mit allen seinen Kräften; doch es gelang ihm durchaus nicht. Die Wellen sogen und sogen und trugen ihn immer schneller ins offene Wasser hinaus. Nicht einmal die Brust gelang es ihm dem Ufer entgegenzukehren, sondern immer wieder von Neuem wirbelte eine Welle ihn herum und drehte ihn rückwärts.
Schon wollte ihn die Verzweiflung ergreifen, und fast schickte er sich in seinen Tod: da bemerkte er auf einmal, als eine sehr hohe Welle ihn mit ihrem Schaumkamme emporwarf, in verringerter Entfernung das 224 Eiland vor sich, und zwar jetzt auch noch deutlicher als vom Strande zu erkennen, wie der Nähe das zukommt. Und auch die Gestalt und das Antlitz der Meerfrau war klarer und reizender darauf zu erblicken.
Nun vergass er unverzüglich jeder Noth und Gefahr und lenkte schwimmend mit heissem Eifer gerade darauf zu; und alsobald schnitt er so leicht und mühelos durch die Wellen, als ob er von einem Schiffe gezogen würde. Und noch ehe er es gedacht hatte, sah er dicht vor sich einen rundlichen Dünenhügel aus feinem Sande, der ein wenig über die Fluth ragte; die Frau aber sah er im gleichen Augenblicke wie einen leuchtenden Nebel lautlos ins Meer tauchen. Und als die nächste Welle ihn dort auf den Sand trug, war und blieb sie verschwunden. Er merkte aber zugleich, indem er nun frei ausblickte, dass die kurze Dämmernacht über seinem mühsamen Treiben fast herumgegangen war und die Morgenröthe schon wieder in feurigen Gluthen stand. Und ganz kurze Zeit noch, so kam die Sonne aus dem Meere in ihrer Wärme und Herrlichkeit.
So sass er nun einsam mitten in den 225 Wogen und blickte suchend in der Runde umher und nach dem Lande zurück, von dem er gekommen war: doch das konnte er mit den Blicken nicht mehr finden, auch nicht den feinsten Streifen, und doch war ganz klare Luft jetzt, und er war unmöglich so weit geschwommen, dass ihm die hohen Walddünen aus dem Gesichtskreise konnten gerückt sein. Es war nicht anders, als sei das ganze Land vom Meere verschlungen.
So blieb er verlassen auf dem einsamen Sande zwischen Himmel und Meer wie auf einem verschlagenen Schiffe, und die Wellen wanderten mit stetigem Rauschen an ihm vorüber. Er versuchte, wieder ins Wasser zu tauchen und in seiner Richtung, die die Sonne ihm angab, zurückzuschwimmen; doch es gelang ihm nicht, auch nur ein Kleines von der Sandbank sich zu entfernen; es war, als ob unsichtbare Hände ihn immer wieder zurück zerrten und zwängen. Und ihn überkam ein Entsetzen ob solcher einsamen Gefangenschaft. Er sass nun hülflos Stunde um Stunde und sah nichts Lebendes rings in Nähe und Ferne, weder ein Segel noch eine Möve in der Luft, noch einen Fisch 226 oder auch nur eine Qualle im Wasser; Alles war todtenstill, indessen die Sonne emporstieg zu ihrer leuchtenden Mittagshöhe und sich langsam wieder senkte.
Eines aber war ihm erstaunlich, dass er in aller Länge dieser Zeit weder Hunger noch Durst empfand, auch keine Beschwerde weder Mittags von der Sonnengluth noch Morgens von der Kühle, obwohl er so nackend war; in allen diesen Dingen fühlte er vollkommenes Behagen.
Als die Sonne ein wenig tiefer sank, ward er gewahr, dass in aller Weite das Meer sich beruhigte und kaum leise Wellen noch spielten; ganz in der Nähe um seine Düne herum aber brandeten und brausten die Wogen immer gleichmässig weiter mit aller Gewalt, als ob aus der Tiefe ein wühlender Strudel heraufstiege.
Und die Sonne sank noch tiefer, fast schon zum Untergange: da wurden ihm allmälig unter dem Wasser huschende Gestalten sichtbar wie Robbengethier oder sehr grosse Fische. Die spielten und kollerten in der Fluth voll fröhlichen Uebermuths, schlugen Purzelbäume, jagten und haschten einander, 227 führten taumelnde Tänze auf und zeigten in jeder Bewegung ein unsägliches Wohlbehagen. Bald entdeckte er, dass es in Wahrheit menschliche Geschöpfe waren, Männer, Weiber und Kinder, nur dass sie statt der Beine Fischschwänze hatten; und damit schlugen sie manchmal über dem Wasser in die Luft, dass es klatschte und der Schaum hoch emporspritzte.
Auch mit den Gesichtern kamen sie häufig ganz nahe an die Oberfläche und glotzten ihn an, hüteten sich aber wohl, darüber emporzutauchen, so lange die Sonne am Himmel stand, sondern hielten sich strenge unter dem Wasser. Doch sah er genau, dass sie grünliche Haare hatten wie feine Ranken von Wasserpflanzen, und die Weibchen trugen Muscheln, Bernstein, Seesterne und anderes Gethier reichlich in ihren Haaren.
Und wie er nun sah, dass ihnen Allen so wohl war in dem molligen Wasser, ergriff ihn eine gewaltige Lust, gleichfalls wieder hineinzuspringen und im Bade mit ihnen zu spielen. Doch eben als er's thun wollte, bemerkte er, wie eine der Frauen unter dem 228 Wasser ihm lebhaft zuwinkte, dass er's nicht thun solle; und siehe, da erkannte er, dass es eben jene Frau war, die er gestern schon aus der Ferne vom Ufer her erblickt hatte. Er sah aber auch, dass sie herrliche blonde Haare hatte und nicht grüne wie die Anderen, und die überdeckten beim Schwimmen ihren ganzen Leib, nur die Füsse glänzten weiss darunter hervor, und das waren rechte Menschenfüsse und keine Fischflossen.
Obgleich sein Verlangen, zu ihr da hinabzutauchen, jetzt nur noch grösser geworden war, bändigte er es doch um ihres Abmahnens willen und hielt sich still auf dem Sande.
Gleich danach aber sank die Sonne wieder ins Meer, und augenblicks, als auch ihr oberer Rand verschwunden war, schossen die lustigen Geschöpfe aus dem Wasser heraus, spielten jetzt auch oben in der sonnenlosen Helle und wälzten sich wonniglich auf den Schaumkämmen der Wellen. Nur die Eine, die er am liebsten so gesehen hätte, kam nicht herauf, und er sah ihr Antlitz immer nur wie durch einen fliessenden Schleier. Und als sie doch einmal auftauchte, zeigte sie ihm ihre Züge 229 nicht, sondern blickte abgewendet stumm in das Abendroth und in das goldene Band, das von da über die Wellen herüberfloss.
Als das Abendroth aber wiederum blasser ward und weiter nach Norden herumrückte, fingen die Kinder der Seemenschen an, müde zu werden, und weil sie sehr quarrten, fuhren die Mütter mit ihnen in die Tiefe; die Männer verweilten noch ein wenig und tobten sich aus; und dann folgten sie gleichfalls und verschwanden einer nach dem anderen. Und nun legten sich die Wellen auch hier rings um den Sand, und das Meer war still in Nähe und Weite. Nur das Licht ging nicht zur Ruhe, sondern leuchtete sanft weiter auf dem blinkenden Wasser und dem weissen Sande. Und der Mann sass regungslos und blickte voll Sehnsucht immer in die Tiefe.
Als die Mitternacht da war, vernahm er auf einmal aus dem Wasser einen dunkeln Ton wie ein Stöhnen oder Schluchzen, wie manchmal die Wellen tönend ans Ufer schlagen; und doch war um den Sand keine einzige Welle mehr. Und wieder ergriff ihn eine dunkle Sehnsucht, sich in die 230 Fluth zu werfen und ihrer weichen Kühlung badend zu geniessen. Doch als er hinzutrat und sich schon die Füsse benetzen liess, erhob sich die blonde Meerfrau nahe vor ihm halben Leibes aus dem Wasser und rief mit warnender Gebärde:
»Geh' nicht ins Wasser; heute Nacht würde es Dein Unglück.«
Und er sah mit Erstaunen ihre grosse Schönheit; doch obgleich sie keinen Schleier trug, sah er sie doch wie etwas leise Verhülltes, als ob sie noch unter dem Wasser wäre, oder wie aus etlicher Ferne.
Erschrocken schwieg der Jüngling und blickte ihr fragend entgegen. Da begann sie wieder zu ihm zu reden mit einer lieblichen Stimme, als ob sie sänge:
»Wenn Du vor Sonnenaufgang ins Wasser gehst, wirst Du Dich nicht wieder zurückfinden, denn es ist heute die Sonnwendnacht und die Welt voll Zauber; und Du musst hundert Jahre da unten bleiben, wie es mir geschehen ist, und darfst die Sonne nicht fühlen; nach hundert Jahren erst darf Dich eine Jungfrau erlösen, wenn sich je eine findet, die so gewaltigen Muth hat!«
231 »Und kannst Du denn erlöst werden?« rief er schnell und eifrig, von Mitleid zugleich und süssem Verlangen ergriffen. »Und kannst Du unter Menschen auf dem Lande leben?«
»Ich bin ein menschliches Mädchen,« versetzte sie sanft, »und habe meine Kindheit unter Deinesgleichen verlebt; aber heute sind es hundert Jahre, seit ich im Wasser hause: doch bin ich in dieser Zeit nur um ein Jahr älter geworden, denn die Seemenschen, zu denen ich gesellt bin, leben hundertmal länger und langsamer als die oberen Menschen.«
»Und wie bist Du unter das Wasser gerathen?« fragte er voll Theilnahme, »wer hat Dich so verzaubert?«
Er sah eine Thräne in ihrem Auge schimmern, und sie begann mit trauriger Stimme zu erzählen:
»Als ich ein Ding war von siebzehn Jahren, waren die jungen Burschen mir alle sehr zugethan, und viele wollten mich gern heirathen. Ich aber war wohl freundlich mit ihnen, wenn mir so die Laune stand, doch heirathen mochte ich Keinen, weil 232 ich Keinem so von Herzen gut war. Aber dann kam Einer, der gefiel mir über die Massen, er hiess Klaus Ravenstein und war ein Seefahrer –«
»Grosser Gott,« unterbrach der Jüngling sie überrascht, »so muss das mein Urgrossvater gewesen sein. Mein Vater heisst Klaus, und der heisst so nach seinem Grossvater, der ein Seefahrer war wie ich.«
»Dann ist er's gewesen,« sprach die Jungfrau im Wasser, »ich dachte mir gleich so etwas, als ich Dein Gesicht sah: Du bist ganz sein Ebenbild.«
»Ist das aber merkwürdig!« rief er verwundert.
»Ja, es ist sehr merkwürdig,« bestätigte sie. »Aber merkwürdig ist dies Alles. Also diesem Manne war ich so gut, wie ich's gar nicht sagen kann, ja so sehr gut, dass ich mich selbst dessen schämte. Und weil ich mich so schämte, zeigte ich ihm niemals ein freundliches Gesicht wie allen anderen Burschen, sondern begegnete ihm alle Zeit trotzig und böse. Und wie er mich nur noch feuriger umdrängte, benahm ich mich erst ganz feindselig und musste 233 mich doch in mir mit aller Gewalt gegen ihn stärken, so sauer wurde es mir; aber ich meinte, ich müsste in die Erde sinken vor Scham, sollte ich ihm meine Liebe bekennen, und er dürfte mich küssen: und doch ging dahin wieder mein ganzes Verlangen.
Also sträubte ich mich und rang mit mir selber. Und nun war's in der Sonnwendnacht, die feierten wir mit Tanzen und Spielen. Und ganz um die Mitternacht lief ich hinaus an den Strand in die Kühle, weil mir's im Herzen zu heiss war; aber die Brandung war heftig und trug einen erfrischenden Hauch zum Lande.
Da trat er plötzlich zu mir und redete sehr laut, um das Brausen zu übertönen, dass er mich gar zu lieb hätte und gern mein Mann werden möchte. Ich zitterte gewaltig und wäre ihm gern um den Hals gefallen. Doch ich trotzte noch einmal mit meiner letzten Kraft und rief: »Ich mag im Leben nicht heirathen; ich will meine Freiheit behalten als lediges Mädchen.« Da übermannte ihn ein Zorn über meinen Eigensinn, denn er fühlte gewisslich, wie es um mich stand 234 und dass ich mich nur zierte. »So hast Du wohl Fischblut in den Adern,« rief er ganz grimmig, »und Du thätest besser, mit den Seejungfern herumzuplätschern im kalten Wasser.«
»Ei, das thät' ich auch am liebsten,« antwortete ich, »ach, wie muss es schön sein im kühlen Wasser! Wer doch jetzt gleich so davonschwimmen könnte!« Und ich trat so nahe an das Wasser, dass die Wellen meine Füsse schon überspülten. Denn es hatte mich ein Uebermuth ergriffen, weil er von meinem Fischblut sprach, da es in mir doch so heiss war.
Er aber packte mich scharf an der Hand und suchte mich zurückzuziehen und sprach dazu warnend fast mit etlicher Strenge:
»Frevle nicht, Mädchen! Es ist Sonnwendnacht und die Sonne längst unter. Siehe zu, dass die Nixen nicht Macht gewinnen über Dich.«
Mich ergriff ein tiefes Grauen bei diesen seinen Worten, aber ich wollte mir's nicht merken lassen, dass er so grosse Gewalt hatte über mein Herz mit seiner Rede; und ich riss mich los und lief bis an die Knie 235 ins Wasser hinein und rief sehr laut über die Brandung hin: »Ei, so kommt doch, Seejungfern! Seejungfern, kommt!«
Ich hoffte aber, damit ihn recht zu verängstigen, dass er mir nachkäme und mit Gewalt mich zurückzöge; und ich ahnte, dass ich dann wohl endlich nichts mehr gegen ihn vermögen würde.
Aber da fühlte ich plötzlich, wie die Füsse mir weggerissen wurden mit unwiderstehlicher Kraft, und es zerrte und zog mich mit den Wellen immer weiter in die See hinaus. Ich hörte ihn noch aufschreien und sah, wie er sich in die Brandung mir nachwarf; aber dann vergingen mir die Sinne.
Als ich wieder erwachte, fand ich mich in einer wunderbaren Grotte von schimmerndem Gestein und von Muscheln und unter seltsamen Pflanzen, deren Gleichen ich niemals gesehen hatte, und allerlei Fische und fremdartiges Seegethier schwebte um mich herum. Dass ich unter Wasser war, konnte ich nicht sehen noch fühlen, sondern es war mir ganz so zu Muthe, als wäre ich wie immer in der freien Luft.
Nun aber kamen Seemenschen in grosser 236 Zahl, Männer, Frauen und Kinder, glotzten mich an und befühlten und streichelten mich. Und ein ganz Alter mit einem riesigen Busch Seetang als Bart kam und sagte mir Bescheid: dass ich fortan bei ihnen bleibe als Seejungfrau auf mindestens hundert Jahre; und wenn dann niemand komme und mich erlöse, abermals hundert Jahre und so fort und weiter. »Durch das erste Jahrhundert aber,« sagte er, »musst Du Deine oberseeische Gestalt noch behalten und damit leider etwas schwerfällig bleiben; darnach aber werden Dir Schwimmhäute wachsen zwischen den Fingern und kleine Flossen an den Füssen; und im dritten Jahrhundert werden Deine Beinchen sich mit Schuppen bedecken und im vierten zusammenwachsen zu einem brauchbaren Flossenschwanz: und dann bist Du grossjährig und kannst einen ordentlichen Wassermann heirathen.«
Und als ich weinte und jammerte, tröstete er mich freundlich: »Das ist nur im Anfang, dass Dir Manches nicht gefallen mag; bald wirst Du Dich eingewöhnen und Dich sehr viel wohnlicher fühlen als oben auf dem Lande. Denn hier ist zehnmal mehr Freiheit als dort, 237 Keiner hindert den Andern, und Jeder kann umherschwimmen, wo es ihm beliebt. Und es giebt nichts Verbotenes und giebt kein Eigenthum, das einem Andern gehörte, und es gibt auch keine Arbeit. Darum sind wir Seemenschen so glücklich und immer vergnügt. Auch kennen wir keine Gefahren, denn alle die andere Seebrut respectirt uns; sogar wenn sich einmal ein Haifisch in die Ostsee verirrt, kann er uns nichts anhaben, weil wir unverdaulich sind. Nur eine grosse Gefahr ist, die müssen wir ängstlich meiden, und das gilt nun auch für Dich: wen ein einziger Sonnenstrahl ausserhalb des Wassers trifft, der muss augenblicklich sterben und zergeht zu Schaum, und wir kennen kein Mittel zur Rettung. Andere Krankheiten aber giebt es nicht unter den Nixen.«
Anfangs glaubte ich nicht, dass ich mich je hier würde einleben können, und wäre am liebsten gleich an die Sonne geschwommen und hätte mich tödten lassen. Aber es war Nacht, und als ich hindurch fuhr, gefiel mir das Schwimmen und Wiegen auf den weichen Wellen gar so überaus gut. Und so gewöhnte ich mich immer mehr ins Behagen hinein. 238 Und die Seemenschen sind ein gutherziges Völkchen und leichten, lustigen Sinnes, man verträgt sich mit ihnen gut. Und so wurde ich auch bald lustig und guter Dinge und spielte mit ihnen gern.
So wäre ich wohl ganz glücklich gewesen und würde vielleicht niemals das Verlangen nach Erlösung gespürt haben, wenn nicht doch zweierlei Dinge meine Ruhe getrübt hätten. Zum Ersten: dass ich die Sonnenwärme draussen niemals mehr fühlen sollte, das bekümmerte mich und schuf mir eine tiefe, immerwährende Sehnsucht. Oft wartete ich, im Dünensande hingestreckt, bis zum allerletzten Augenblick, wo die Sonne herauf kommen sollte: doch immer siegte die Furcht und die Liebe zum Leben, und ich fuhr noch schnell in die Tiefe. Aber meine Sehnsucht nach einem Sonnenstrahl ward nur immer grösser.
Und das Andere war dies: nach dem Manne, den ich so heftig geliebt hatte, empfand ich jetzt gar kein Verlangen mehr und auch keine Reue noch irgend ein Bedauern; und auch, als ich nach etlichen Jahren zu wissen bekam, dass er sich ein 239 anderes Mädchen zur Frau genommen habe, blieb ich immer gleich lustig, und auch als er später starb. Ebenso wenig Kummer machte mir die Trennung von Eltern und Freunden, und wie sie Alle starben, vermochte ich nie zu trauern. Weinen konnte ich nie mehr.
Darüber erschrak ich, wenn ich es bedachte, und ich nannte mich manchmal herzlos und grausam. Aber es ist nicht anders: alle diese Seemenschen kennen keinen Schmerz, weder des Körpers noch der Seele; sie bestatten ihre Todten unter Tanz und Spiel und fröhlichen Gesängen: und wenn einer Jungfer ihr Schatz untreu wird, so lacht sie nur schelmisch und nimmt sich einen Anderen, und ebenso vergnügt wechseln die Männer ihre Liebsten. Selbst wenn einmal ein Kind von einem Sonnenstrahl getroffen wird und vorzeitig sterben muss, trägt die Mutter kein Leid darum, sondern wartet geruhsam, bis sie ein neues kriegt.
Ich aber bekam um dieser ewigen Heiterkeit willen, mit der auch ich geschlagen war, ein heimlich Grauen vor mir selbst; mir war immerfort, als sei eine grosse Leere in mir 240 und als sei mir das Beste vom Leben hinweggenommen. Doch ich fühlte diese Leere nur dumpf und verworren, wie man in der schönen Oede des Meeres wohl heimlich etwas vermisst, und doch selber kaum weiss, dass man ein Stückchen Land sucht, sei's auch nur eine Klippe, um das Auge darauf ruhen zu lassen. Also trug ich immer in mir eine dumpfe Qual, wie man wohl im Traume ein Kopfweh fühlt, aber weinen konnte ich doch nicht, sondern immer nur lachen.
Und heute sind hundert Jahre vergangen, seit ich so verzaubert ward. Und heute kann ich erlöst werden zu Sonnenstrahlen und zu warmen Thränen, wenn ein Mann den Muth hat, allem Zauber zu trotzen.«
»Wie sollte ich solchen Muth nicht haben?« rief der Jüngling ergriffen und voll feuriger Sehnsucht, »bin ich doch ein Schiffer und an hundert Gefahren gewöhnt; und noch kann Niemand von mir sagen, ich habe mich gefürchtet. Und jetzt will ich jedes Wagniss mit Freuden unternehmen, nur einmal Dein Antlitz ganz unverschleiert im Sonnenlicht zu erblicken.«
241 »Ja,« sagte die Jungfrau, »ich bin unter den Nixen zehnmal schöner geworden, als ich vordem war.« Und dann that sie einen tiefen Seufzer, als ob eine Furcht sie beschleiche, sprach aber nichts wieder. Da fragte er eifrig:
»Was kann ich thun, dass ich Dich erlöse?«
Sie seufzte noch einmal und sprach:
»Ich muss Dir in drei Gestalten erscheinen, und jedesmal musst Du zugreifen und mich schnell auf den Mund küssen. Und wenn Du nur einmal einen einzigen Augenblick zögerst und auch nur in Deinem Herzen von einer Zagheit befallen wirst, dann ist Alles verloren. Dann muss ich wieder hundert Jahre im Wasser verleben mit leerem Herzen, lachend und ohne die Sonne. Aber auch Du würdest nimmermehr glücklich werden: darum besinne Dich wohl, ehe Du das Wagniss beginnst.«
Der junge Schiffer jedoch wollte von keinem Bedenken wissen, sondern bat nur flehentlich:
»Steige herauf zu mir, in welcher Gestalt es auch sei. Ich kenne mich genug, dass keine Zagheit mich befallen kann.«
242 »So bereite Dich auf Schreckliches!« mahnte sie darauf und tauchte in die Tiefe. Und die Fluth lag über ihr still und glatt wie ein Spiegel.
Doch nicht lange danach geschah ein Rauschen aus der Tiefe, und riesige Wogen wallten auf und zischten und schäumten mit einem mächtigen Strudel; und das Wasser war schlammig und roth gefärbt wie von lauter Blut. Der Schiffer sah es und zagte nicht. Und plötzlich schoss aus dem Strudel ein Haifisch hervor und warf sich auf den Sand und schnappte nach ihm und zeigte in seinem Rachen viele entsetzliche Reihen bluttriefender Zähne.
Der Jüngling umfasste mit beiden Armen das ungeheure Scheusal und hielt es fest und küsste es gerade auf das gierig klappende Maul. Und da war's ihm, als ob er zwei weiche, warme Lippen berühre. Das Unthier aber entschwand ihm aus den Händen, als ob es zerflösse; und der Strudel schloss sich, und die Wellen zerglätteten sich, und war wieder eine herrliche Stille auf dem Wasser. Und der Himmel röthete sich ein wenig kräftiger mehr nach dem 243 Osten zu und verhiess einen klaren und freundlichen Morgen. Der junge Schiffer aber stand in heiterer Siegeslust und wartete des Kommenden.
Da rührte sich das Wasser zum andern Mal noch wilder und schrecklicher, und es war dick und widrig und von scheusslicher Schwärze. Und der Strudel that sich auf wie ein gähnender Riesenrachen und warf ungeheure und heulende Wogen in die Höhe und nach allen Seiten. Und dann kroch aus dem Strudel ein Ungethüm hervor, wie er so grässlich es niemals gesehen hatte, ein Meerpolyp war es mit riesenhaften Fangarmen, jeglicher so dick wie der Mastbaum eines Bootes und mit ekelhaften Saugnäpfen über und über besetzt; dazwischen sass der greuliche Kopf mit stier quellenden Augen, die ihn mordbegierig anglotzten. Und die Fangarme schlenkerten sich von allen Seiten um seinen Leib und sogen sich fest und pressten qualvoll seine Glieder zusammen.
Er aber fürchtete sich auch nicht auf eines Augenblickes Dauer, sondern bewegte den Kopf, den er allein noch zu rühren vermochte, und suchte das grauenhafte 244 Maul dieser Ungestalt und drückte seine Lippen kräftig darauf.
Da empfand er noch süsser eine Wärme und Weiche, und das Schreckbild zerfloss und entglittt in den Strudel. Und die Wellen wurden still und ebneten sich zu einem freundlichen Geplätscher. Den Himmel aber bedeckte ein noch köstlicheres Roth und verkündete das Nahen der siegenden Sonne.
»Nun wird das Furchtbarste kommen, aber ich will es bestehen,« dachte der Jüngling mit herrlicher Zuversicht.
Es erhub sich aber zum dritten Male kein wilder Strudel, keine Sturmwogen brausten auf, sondern einzig ein sanftes Kräuseln spielender Wellen verkündete ein neues Wunder. Und als es auftauchte, war es die Jungfrau aus dem Meere in ihrer eigenen Gestalt, umhüllt von ihrem Blondhaar und von dem geblähten Schleier luftig umweht.
So stieg sie aus dem Wasser und trat auf den Sand und stand vor ihm in ihrer Schönheit und wartete seines Kusses; und sie war nun so wunderschön in dieser Nähe und Klarheit, wie er's noch nimmer zuvor hatte glauben können. Und der Schein der 245 Morgenröthe umspielte die weissen Glieder, von denen das Wasser leise abtropfte, mit einem wunderbaren Schimmer.
Als der Jüngling sie so sah in der überschwenglichen Lieblichkeit, und all' sein Glück schon vollendet schien, und er sie nun küssen sollte, da überfiel ihn jählings eine süsse, bebende Zagheit, dass er im Herzen meinte, es könne ja nicht möglich noch ihm vergönnt sein, ein so begnadetes Geschöpf mit seinen Armen zu berühren und liebend zu empfangen.
Doch indem er in so demüthigem Bangen wenige Sekunden lang zauderte, schaute sie ihn an mit einem jammervollen Blicke, und er sah ihre Lippen sich leise öffnen wie zu einer klagenden Frage: und da kam schon die Besinnung, und er breitete die Arme aus und umschlang ihren holden Leib. Allein eben in dem Augenblick, ehe seine Lippen die ihren berührten, stieg der obere Rand der Sonnenscheibe aus dem Meere herauf und sandte ihren ersten Strahl auf das erschauernde Weib.
Und wohl empfing sie des Mannes Kuss und küsste ihn wieder: doch erlöst werden 246 konnte sie nicht mehr, sondern sie sank ohne Laut leblos aus seinem Arme, und er konnte sie nicht festhalten. Die Wogen schwollen auf und zogen sie in die Tiefe, und er sah nur einen letzten, sterbenden Blick noch voll Liebe auf sich gerichtet.
Und alsbald versank auch der Sand unter seinen Füssen, und das Wasser umspielte seine Kniee und schon seine Brust. Da erblickte er plötzlich in mässiger Ferne den Strand mit den Walddünen und schwamm dort hinüber und erreichte ungefährdet das sichere Ufer. Doch er blieb für immer gestörten Geistes; er redete Dinge, die Niemand verstand und Niemand ihm glauben mochte. Er fuhr nicht mehr zur See und war auch als Fischer nicht zu gebrauchen; er stand ganze Tage hindurch, und besonders in den hellen Nächten am Strande und blickte sehnsüchtig in die Weite hinaus, und Niemand begriff es, wonach er da spähte.