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Für den größten Theil der jungen Leute, welche sich drei oder vier Jahre auf der Universität mit ihren Studien beschäftigen, geht diese Zeit gemeiniglich so schnell, und, was das Leben der Gefühle und Empfindungen betrifft, auch so flach und inhaltslos vorüber, daß sich nur wenige von ihnen späterhin besonders ernsthaft an dieselbe erinnern mögen. Lustige Ausgelassenheit und Tollheit einerseits, ein paar sogenannte Freundschaften und die Studien anderseits füllen diese Tage dermaßen, daß sie im Fluge vorbeiziehen, daß sie wohl Kopf und Phantasie beschäftigen, aber das Herz nur sehr selten berühren. Denn, mag man auch sagen und einwenden, was man will, es bleibt ein ziemlich gut begründeter Ausspruch, daß, was unser Inneres treffen und bewegen soll, kaum jemals im Augenblick erscheinen und entschwinden werde; es müsse und wolle vielmehr eine gewisse Dauer, eine Art von Ruhe haben. Und die findet es bei den Musensöhnen nicht gerade häufig. So bleibt also verzweifelt wenig für die Erinnerung zurück.
Ueber die Ausgelassenheit ärgern wir uns später höchstens einmal, denn sie war nicht sein, und wir sind jetzt feine Leute. Die schönen Freundschaften, die wir etwa geschlossen, sind gemeinhin sehr vergänglicher Natur gewesen; zwei oder dreimal schrieb man sich nach der Trennung noch in immer längeren Zwischenräumen, und verlor einander dann aus den Augen und aus dem Gedächtniß. An die Studien denken wir natürlich gar nicht. Wer fest in Amt und Brod sitzt, was sollte der nach der Zeit fragen, wo er mit der Mappe unter dem Arm in die Hörsäle lief, oder daheim mit Verzweiflung die unendlichen Bücherhaufen betrachtete, die er zum Examen noch notwendigerweise durcharbeiten mußte. Das alles ist hin wie der gestrige Tag, und wir denken höchstens wieder daran, wenn auch wir dereinst einen Sohn auf die Universität schicken und ihn dann dieselben Pfade wandeln sehen, auf denen wir selbst früher gesammelt und gestrebt, getollt und – wie wir lächelnd meinen – ziemlich albern und kindisch gejubelt und idealisirt haben.
Indessen passirt es zuweilen, daß auch das Innere eines jungen Menschen getroffen und bewegt wird, daß seine besten und tiefsten Gefühle und Empfindungen an- und aufgeregt werden. Damit ist es dann gewöhnlich ein übel Ding. Was in solchen Jahren das Herz trifft, drückt sich nur zu leicht hinein, was man da fühlt und empfindet, wird schnell nur gar zu tief und heiß, oft vergißt und verwindet man's nie wieder, nach vielen Jahren noch spürt man, wie die gewaltig angeschlagenen Saiten immerfort leise schwingen und zittern. Wer in solchen Jahren einmal das Gewöhnliche verläßt, oder, wenn ihr lieber wollt, von demselben verlassen wird, der sehe sich immerdar vor. Man ist dann noch so jung und frisch, so weich und empfänglich, so reizbar und sorglos. Man träumt das Leben sich kinderleicht, man weiß nichts von seinem Ernst, man hält sich für glücklich und ein Unglück für unmöglich. Wer den Pfad sieht, der sich lockend vor uns öffnet, anmuthig und freundlich in den Busch hineinschlängelt, der ahnt nichts von den Dornenhecken, die ihn weiterhin versperren. Gedankenlos eilt er darauf hin, – wie lange währt's und er kommt langsam, still und traurig, mit schmerzendem Auge und blutendem Herzen zurück. Oder wir laufen die luftige Höhe empor und denken keck und muthig, da geh' es gradeswegs in den Himmel selbst hinein. Aber wir sahen den Abgrund nicht, der uns jäh zurückschreckt oder uns gar schroff hinabreißt. Und nachher können wir uns vielleicht wund und lahm, wie all die Andern, im öden Staube hinschleppen. Oder wir gehen auf ebenem, breitem, zierlichem Wege vorwärts, und hoffen recht stolz, wir seien klug, da müsse man doch sicher und gewiß vortrefflich weiter kommen, ganz nach Wunsch und Willen. Allein da liegt ein Schlagbaum vor uns und es sind wieder die alten Worte: hier passirt man nicht! Und wir haben weder die Münze noch das Zauberwort, welches ihn zu öffnen vermöchte.
Das alles kann uns treffen, wenn wir in so jungen, gedankenlosen und lustigen Jahren da berührt und erregt werden, wo wir noch lange nicht fertig und kampfbereit sind. Und es ist um so übler, da die Jugend hier so wenig wie anderswo ein Maß kennt und will.
O, der ist wahrhaftig der Klügste, der sich um nichts als das Notwendige kümmert, der seine Augen nur gebraucht, um das Allernächste zu sehen, daß er nicht geradezu falle, der seine Arbeit thut, seine Speisen ißt, seinen Wein trinkt, der sich müd ins Bett legt und gähnend wieder aufsteht, der das Leben nimmt wie es kommt, und Gott einen guten Mann sein läßt, von dem auf seinem Grabstein zu lesen ist: »er ward geboren, nahm ein Weib, lebte und starb hoch an Jahren, reich an Kindern, noch mit all seinen Zähnen.« Deren gibt es sicherlich mehr, als wir in unserer oft hypochondrischen Laune für möglich halten, und glücklich ist, wer zu ihrer Zahl gehört. Der ist nie auf die Seitenwege des Lebens gerathen, er folgte stets dem großen Haufen. Der braucht sich an nichts zu erinnern, der hat nichts, was er vergessen möchte und nicht vergessen kann. In dem sind Verstand und Gefühl immer auf das freundschaftlichste und gemüthlichste Hand in Hand gegangen.
Ich aber will euch eine kleine Geschichte aus meinen Studentenjahren erzählen.
Von meiner Studienzeit brachte ich ein Jahr auf einer Universität des westlichen Deutschlands zu, nicht sowohl, wie ich offenherzig gestehe, um dort wirklich eifrig zu arbeiten und fleißig zu sein, als vielmehr, damit ich leichter die anziehendsten Gegenden unseres Vaterlandes kennen lernen und überhaupt in ein etwas weiteres und bewegteres Leben mich hineinfinden könne. So dachte ich keineswegs allein; im Gegentheil treiben es fast alle diejenigen ähnlich, welche aus dem Norden oder Osten kommend sich für einige Zeit unter diesem heiteren Himmel, in dieser sonnigen, anmuthigen Natur aufzuhalten wünschen. Im Sommer besucht man nur die nothwendigsten Collegia, damit das Semester doch überhaupt gerechnet werde, treibt sich lustig umher und benutzt die Ferien auf das fleißigste zu Reisen und Ausflügen in die größtmögliche Ferne, im Winter arbeitet man dann wirklich einigermaßen, im Frühling geht man mit schwerem Herzen auf eine andere, ruhigere Universität, arbeitet und holt nach. Das ist so natürlich, so billig. Einmal im Leben muß der Mensch sich ein wenig gehn lassen, ein bischen gedankenlos sein. Der Ernst und die Gesetztheit kommen doch zeitig genug.
So war auch für mich damals das Jahr der Ausgelassenheit. Eine sehr heitere Umgegend lockte freundlich in's Freie und angenehme, gut gelegene Vergnügungsorte ließen mancherlei kleine Ausflüge vergnüglich und lohnend genug erscheinen. Größere Reisen mußten wir uns natürlich aufsparen. Die Umgebung aber zu besuchen, versäumten wir, zumal der Sommer wundersam klar und schön war, selten oder nie, und es gab. keinen Ort um die Stadt, wo man Nachmittags nicht einen lustigen Kranz von ausgelassenen Schutzbefohlenen der alma mater erblickt hätte.
Dazumal hielt ich mich mit einigen wackeren Gesellen treulich zusammen: wir besuchten oder schwänzten Morgens die gleichen Collegia, aßen Mittags in derselben Restauration und gingen Nachmittags regelmäßig den gleichen Weg, um, wie man das im Studententon nennt, im selben Wirthshaus zu kneipen. Eine halbe Stunde von der Stadt liegt ein kleines Dorf, welches nur aus einigen wenigen, schiefergedeckten Häusern besteht. Gleich am Eingange steht das Wirthshaus »zum Waldhörnchen«; der Garten hinter dem Gebäude zieht sich eine mäßige Höhe hinan, auf der ein Rasenplatz mühsam erhalten wird und ein paar uralte prächtige Linden empor ragen.
Unter den Bäumen sind natürlicherweise Tische und Bänke angebracht; davon hatten wir einen Platz in Beschlag genommen und hielten mit Eifersucht auf den Alleinbesitz dieser Stelle, denn wir genossen dort eine wundervolle Aussicht. Rückwärts und zu beiden Seiten zeigte sich wald- und hügelreiches Land, wo ganz reizende Thäler sich zierlich und üppig zwischen den hier weich und anmuthig steigenden, dort jäh abstürzenden Höhen hinziehen, wo mehr als ein flinker, fischreicher Bach blitzend dahinschießt, wo droben auf manchem hervorspringenden Stein alte Ruinen kühn und finster emporragen. Vorwärts sieht man auf Kornfelder, Weinberge, den schönsten Fluß und eine weite fruchtbare Ebene mit Dörfern und Städten bis zum fernen Gebirg, das im blauen Duft den Horizont begrenzt. War das Wetter einmal zu unfreundlich, um droben und im Freien aushalten zu können, so hatten wir ebenso unsern bestimmten Tisch am Eckfenster in der Gaststube, wo wir die vordere Aussicht vor Augen behielten und alles bemerkten und kritisirten, was auf der ziemlich belebten Straße vorbeizog. Jedermann kannte diese unsere Plätze, lachend nannte man sie die »Fünf-Männer-Tische« und uns selbst »die Fünf.« Das war eine fröhliche Zeit.
Einmal saßen wir mit noch zwei oder drei Bekannten, denen wir hatten Plätze einräumen müssen, gleichfalls an unserm Tisch. Es war der dreiundzwanzigste Juli, ein Sonntag und Musik im Garten. Große Gesellschaft hatte sich eingefunden; denn seiner Nähe bei der Stadt und seiner wirklich wunderschönen Lage wegen war der Ort allgemein beliebt. Das lustigste, munterste Treiben füllte die zwischen Weinhecken hinlaufenden Wege des großen Raumes. Professoren und Bürger mit ihren Familien, Fremde, die auf der Durchreise verweilten, Studierende, Handwerker, Bekannte und Verwandte aus benachbarten Städten und Dörfern, alles drängte sich und trieb bunt durcheinander, docirte und schwatzte, lärmte und lachte, freute sich und sang, jubelte auf dem spärlichen Rasen gelagert, oder an den kleinen, dicht umdrängten Tischen; keiner nahm Anstoß am Andern oder scheute sich ekel oder schüchtern vor seinem Begegnen und freundlichen Begrüßen. Denn in jenen glücklichen Gegenden wußte man, damals wenigstens, noch nichts von den unsinnigen Sitten, die im nördlichen Deutschland gang und gebe sind, nichts von dem albernen Verlangen, immer nur unter seines Gleichen sein zu wollen. Hier saß Professor und Bürger am gleichen Tisch, Kaufmann und Fabrikant schlossen sich nicht aus; alle plauderten ganz gemüthlich, jeder seine miserable Cigarre im Mund und einen Schoppen Achter oder Elfer von dem schönen weißen oder rothen Landwein vor sich. Dann lauschten sie der Musik und betrachteten das junge, lustige, scherzende und sich jagende Volk, dann plauderten sie wieder, dann sprachen und disputirten sie auch ganz ernsthaft, denn Bildung oder Intelligenz – ich weiß nicht recht, welche von beiden, oder ob vielleicht auch beide zusammen – war dort viel bedeutender, und diese Bürger dachten lichter und redeten besser, als bei uns daheim die Gelehrten und sogenannten Gebildeten.
Wir waren inzwischen gleichfalls keineswegs still. Auch wir hatten unsere Gespräche, ernste und leichte, auch wir tranken, lachten, sangen, auch wir beäugelten eifrig unsere Umgebung und die Schaaren der Vorbeiziehenden. Die kurzen Pfeifen im vollen Brand, die Gläser gefüllt, die bunten Kappen auf's Ohr gerückt und die leichten Röcke weit geöffnet, saßen wir da; ein starker Zweig der Linde streckte sich in nicht bedeutender Höhe über unsern Tisch. Auf ihm hatte sich Freund Alsing seiner Gewohnheit nach placirt, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, vor sich auf einem eigens dazu angebrachten Brettchen seinen Schoppen. Da hockte er, lachte und trieb Possen wie besessen und machte uns auf jedes hübsche Gesicht, auf jede besondere oder eigenthümliche Persönlichkeit aufmerksam, deren er ansichtig wurde. Der arme Bursch! Nie sah man einen liebenswürdigeren und gemüthlicheren Tollkopf, nie fand man in einem Menschenkinde ein lebendigeres, üppigeres und kräftigeres Leben, und jetzt ist er auch schon seit manchen Jahren davongegangen auf die große Route und der Rasen grünt über seinem Kopf voll und warm, wie er ihn im Leben gern unter demselben hatte.
Nicht fern von uns hatten sich um andere Tische gleichfalls Studenten gereiht, uns gut bekannt und auch sonst lustige Kumpane. Da trank und sang man hinüber, herüber einander zu, da flogen auch wohl ein paar spöttische Worte hin, denen ein paar derbere folgten. Auch ward vielleicht eine Ausforderung laut und gleichgültig angenommen. Doch das störte nicht, da es zu gewöhnlich war und selbst für die Betheiligten nicht wichtig genug, um das Vergnügen des Augenblicks zu hindern. Heut blieb man noch freundlich, sah sich höchstens mit einem schiefen Blick an: morgen zerschnitt man einander die Gesichter und vertrug sich wieder. Aber das war morgen. Heut war der Lärm groß, wie die Lust.
Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich einige Augenblicke in Gedanken und still war, denn meine Art war das für gewöhnlich durchaus nicht. Ich saß und sah träumerisch in die Ferne, als mir durch eine unerwartete hastige Berührung von oben die Mütze heruntergestoßen wurde. Auffahrend sah ich empor und bemerkte, daß Alsing, der mich so aufgeschreckt, sich tief zu mir niederbeugte. »Schau, schau Franz!« sagte er leise, »sieh dich um, aber hübsch manierlich. Welch ein bildhübsches Kind! Die dort im blauen Kleide mein' ich. Wahrhaftig, Franz, sie verdient wohl, daß du die Mütze vor ihr abgenommen.«
Der ernsthafte Ton, mit welchem er mich anredete, ließ mich hastig auf und herumfahren, ganz gegen seine Ermahnung, und in der That erblickte ich etwas, dem man wohl nachgehen und nachschauen konnte. Gestalt und Gesicht, die wir vor uns sahen, mögen vielleicht schöner, aber kaum anmuthiger und lieblicher gefunden werden. Sie trug ein Kleid aus einfachem und wenig kostbarem Stoff; ein ganz kleiner Strohhut, auf dem Scheitel, wie es damals Mode war, weit zurücktretend, war mit blau und weiß gemustertem Bande nur zur Noth verziert, ein weißes, leichtes Tuch trug sie auf dem Arm. Aber dies Kleid umgab die zierlichste Figur, wo die eckigen Formen der frühen Jugend eben in eine leise Rundung übergingen, Nacken, Hals und Arme waren weiß und von den reinsten Umrissen, und das Hütchen umrahmte ein allerliebstes frisches und munteres Gesicht mit blondem Haar und dunkelblauen, lebhaften, schönen Augen.
Sie ging heiter und lächelnd an der linken Seite einer anständig, ja zierlich gekleideten älteren Frau, deren Rechte im Arm eines zweiten weißgekleideten und ebenso jungen Mädchens ruhte, während zwei jüngere Kinder, ein Knabe und ein kleines Mädchen, jubelnd voransprangen.
»Bei Gott,« sprach ich flüsternd zu Alsing, nachdem ich dies alles mit einem Blick übersehen hatte, »sie ist bildhübsch. Wer mag es nur sein?« – »Ja,« meinte er achselzuckend, »sie kamen wohl von auswärts, denn sonst müßte ich doch wenigstens eine Person aus der Gesellschaft kennen. Siehst du? Sie grüßen auch keinen Menschen, und die Bürger halten doch sonst zusammen wie Verwandte. Aha, – dort setzen sie sich. Sie grüßen den Alten. Er spricht mit ihnen. Die Frau wenigstens kennt ihn. Das muß heraus!« rief er und ließ sich vom Ast auf die Schulter eines andern Freundes herabgleiten, der im Gespräch mit Anderen von unserer Unterhaltung nichts gehört haben mochte und nun höchlich erschreckt und fluchend auffuhr. Lachend begütigte ihn Alsing und flüsterte mir darauf zu: »Ich will hin und treiben, daß endlich der Tanz anfängt. Wenn du die ersten Takte hörst, Franz, so machst du dich zu ihr hin und legst auf die beiden ersten Tänze für dich und mich Beschlag. Hörst du? Ich verlasse mich ganz sicher darauf.« Und somit eilte er, ohne auf die Fragen der verwunderten Freunde zu hören, lachend davon.
Wie er gesagt, geschah es. Wenige Minuten darauf hörten wir die Instrumente des kleinen Orchesters mit energischen Tönen einen muntern Ländler anstimmen, dann wieder pausiren, damit die Tanzlustigen Zeit hätten, sich zu versammeln und die Musikanten inzwischen nicht vergeblich Lungen und Hände anstrengen möchten.
Ich stand auf, ließ mich durch die zechenden Freunde nicht zurückhalten, so sehr sie auch meine plötzliche Tanzlust verspotteten, schlenderte erst, um ihnen aus den Augen zu kommen, einige Augenblicke wie absichtslos umher und näherte mich endlich jenem Tisch, wo sie einen Platz gefunden. Einige Paare verließen bereits den Garten, um sich in den Saal zu begeben; sie sah sich nach ihnen wiederholt um und schien von Lust und Takt heimlich und mächtig bewegt zu werden.
»Schon jetzt tanzen sie!« sagte die ältere Frau, »und ich dachte doch, sie würden erst später anfangen. Das thut mir leid um euch, denn nun werdet ihr nur die Lust empfinden, ohne ihr doch genügen zu können.« – »O ja, es ist recht schlimm!« versetzte die Zierliche mit einem kleinen Seufzer. »Ich möchte mich gar zu gern ein paarmal herumdrehen lassen. Ich weiß nicht, wie's kommt, aber wenn ich die Musik höre, kann ich die Füße kaum still halten.« – »Da müßtest du nicht eine flinke Dirne und so jung sein!« bemerkte die Matrone lachend; »denen geht's immer so, und da ich so war wie du, fühlt' ich's nicht weniger prickeln.«
Ich trat näher und zog artig meine Mütze, denn eben begann das Orchester den wirklichen Tanz. »Wollen Sie diesen Tanz mit mir wagen, Mamsell?« fragte ich. – Sie erröthete, indem sie aufstehend sich verneigte. »O,« meinte sie und sah zur Aeltern lächelnd und verlegen hinüber, »o wenn die Tante es erlauben wollte, – aber wir haben keine Zeit.« – »Nun Lisette,« erwiderte die Tante freundlich, »da der Herr so artig ist und du gar so viele Lust hast, magst du immerhin ein paarmal herumspringen. Aber lange wird's keinenfalls dauern und du mußt immer parat sein, daß du gleich kommen kannst. Erhitz' dich nicht zu sehr.« Lisette versprach, sich in Acht zu nehmen, legte Hut und Tuch der Tante auf den Schooß, trat zu mir, gab mir den Arm, und so eilten wir lustig davon, dem Saale zu.
»Was beeilt Sie denn so sehr?« fragte ich sie. – »Wir sind nur zum Besuch hier,« entgegnete sie, »der Onkel hat uns heut' Morgen hergebracht, ist nach D. weitergefahren, wird aber bald genug zurückkehren und uns dann wieder mit fortnehmen.«
– »Bah!« sagt' ich, »er wird doch nicht so hastig sein, daß er Ihnen das kleine Vergnügen nicht gönnen sollte.« – »Ach!« meinte sie und schüttelte lächelnd das hübsche Köpfchen, »er ist ein gar eigener Mann, der Onkel, der wartet nicht.« – »Um so weniger dürfen wir die knappe Zeit verlieren!« rief ich und tanzte mit ihr lustig über den Rasen in die geöffneten Thüren des Saales hinein.
Als wir nach einigen Minuten dann in der Ecke standen, um auszuruhen, sprach ich: »Sie tanzen so wunderhübsch! Und doch, und trotz Ihrer Lust kommen Sie nicht oft zu diesem Vergnügen. Wie macht sich das?« – »Ach!« entgegnete sie, »das ist nicht anders in einer kleinen Stadt, mein Herr. Die Bälle, die es bei uns gibt, sind entweder in den Familien und nicht für uns, oder sie sind so, daß ein anständiges Bürgermädchen nicht gut hingehen kann. Da sind nur Knechte und Gesellen und Dienstmädchen.« – »Aber,« meinte ich, »warum gehen Sie denn nicht einmal auf's Land, wie hier? Ihre Lust ist doch so groß, wie Sie vorhin draußen sagten, und es prickelt in den Füßchen.« – »Haben Sie das gehört, Sie böser Mensch?« sprach sie erröthend. – »Gewiß!« versetzt' ich. »Aber was thut das?« – »Oh,– nichts!« antwortete sie. »Nur ist es nicht fein, zu horchen, wenn so ein armes Mädchen von sich spricht.« – »Aber du lieber Gott!« rief ich lachend, »ich mußte doch kommen, um Sie zum Tanze abzuholen, und da mußte ich auch nah zu Ihnen hinan treten.« – »Ach, die Herren Studenten wissen sich immer herauszureden!« erwiderte sie lächelnd. »Aber Sie fragten, weßhalb ich nicht einmal auf's Land ginge, zum Tanz? Was denken Sie auch, mein Herr! Man hat daheim immer genug zu thun. Und so gut wie heut wird es uns nicht recht oft im Jahr. Aber sehen Sie!« rief sie dann und deutete durch's Fenster, an dem wir standen, auf die Straße, die vom Hügel herabführend uns sichtbar war, »da kommt der Onkel gewiß und wahrhaftig! O, das ist einmal schade!« – »So kommen Sie geschwind!« rief ich, »gleich soll er Sie nicht haben.« Und hastig tanzten wir fort.
Die Eile hatte Noth gethan. Noch während wir uns drehten, drängte sich der Knabe, den ich vorhin bei ihnen gesehen, durch die Paare, fuhr auf uns zu, und da wir inne hielten, rief er: »Lieschen, du sollst eilen, läßt die Mutter sagen. Der Vater wartet und schilt.« Sie verbeugte sich gegen mich und wollte fort. »O, o!« rief ich, »einmal müssen wir noch vorwärts, Mamsell!« – »Nein, nein!« versetzte sie wie ängstlich, »Sie kennen den Onkel nicht. Ich will der Tante keine Ungelegenheiten machen. Adieu, mein Herr! Ich danke für das Vergnügen.« Und nach einer wiederholten Verbeugung eilte sie mit dem kleinen Boten fort.
Als ich ihr nachkam, denn sie lief, sprang sie bereits in den offenen Wagen, wo die Verwandten schon saßen, nahm Tuch und Hütchen, sah mich, erröthete flüchtig, und der Wagen fuhr davon. Daß sie noch einmal sich umblickte, sah ich, und dann waren sie um die nächste Höhe.
»Wer war das?« fragte ich den Knecht, der den Pferden Wasser gegeben hatte und mit dem Eimer in der Hand noch müßig dastand, und ihnen gleichfalls nachsah. – »Das ist der Traubenwirth aus L.« sagte der Mensch. – »Waren die Frauen und Kinder mit ihm seine Familie?« forschte ich weiter. – »Weiß nicht, Herr Baron,« entgegnete er, – wir wurden nämlich damals dort zu Lande vom Volk alle auf's Gerathewohl geadelt, – »er fährt oft hier vorbei, aber die Frauenzimmer kenn' ich nicht. Ich war noch nicht in L.«
Mißmuthig kehrte ich zurück, mißmuthig forschte ich mit dem ärgerlichen Alsing nach jenem ihnen bekannten alten Mann: wir konnten ihn unter der bunten, sich durcheinander treibenden Menge nicht wieder finden. Einige Tage darauf fuhren wir beide nach L. und kehrten beim Traubenwirth ein, denn wir schwärmten noch immer für das liebenswürdige Kind und waren in jenen köstlichen Jahren, wo man sich zugleich mit dem Freunde und ohne Eifersucht in dasselbe Gesicht vernarren kann. Wir waren nun freilich unter einem Dach mit ihr, wie wir annahmen, allein von den Frauen sahen mir nichts; der Alte bediente uns selbst und sah gar nicht darnach aus, daß er unsere Fragen, und noch dazu Fragen von solcher Art, gutwillig und freundlich aufnehmen und beantworten würde. So fuhren mir denn ziemlich geschlagen Abends wieder zurück. Und die Zeit verging, brachte uns allerlei Neues, Gutes und Uebles, Lustiges und Langweiliges. Von der kleinen Fremden sahen und hörten wir nichts und so vergaßen wir die Geschichte, wie manche andere. Zum Herbst zog Alsing nach Göttingen: zu Ostern wollte ich ihm folgen. Inzwischen machte ich in den Ferien eine Reise durch die Schweiz, kam Mitte October zurück, begann fleißig zu sein und pflegte meiner lustigen, kleinen Liebschaft.
Werdet ihr nicht ganz gerührt durch die Naivetät und Offenherzigkeit meiner Darstellung? Aber ich kann euch nicht helfen, denn das alles gehört zu meiner Geschichte, und wollt ihr das Eine haben, müßt ihr auch das Andere mit in den Kauf nehmen. Seht, glücklich war ich damals gar nicht; allerlei Unannehmlichkeiten und Mißlichkeiten hatten mich betroffen und mich geistig und körperlich tief verstimmt, und um mich so oder so heraus zu reißen, warf ich mich in halber Verzweiflung einem bewegten, ja wilden Gesellschaftsleben in die Arme. Dazu gehört, wenigstens in meinen damaligen Jahren, eine kleine Amour, wie man zu sagen pflegt, und in all' die Aeußerlichkeiten einer solchen hatte ich mich denn auch hineingearbeitet, empfindelt, getändelt, geschwatzt. Uebrigens war sie höchst unschuldiger Natur.