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Über das rußgeschwärzte Gemäuer des inneren Fabrikhofes, der überall die Spuren des englischen Fliegerangriffs aufwies, ragte der blühende Prunus. Frau Helene Martin sah ihn von ihrem Fensterplatz aus, an dem sie ihrer mühsamen Näharbeit für das Putzwäschegeschäft in der Rue Neuve oblag. Die Blütenfülle dieses schlankstämmigen Bäumchens war der einzige Gruß, den der Frühling in die niedrige Erdgeschoßstube hereinsandte. Bei der Beschießung von Lille im vorigen Oktober war hier, in der Nachbarschaft der Wälle, ein großer Teil der Fabrikanlagen in Schutt und Asche gelegt worden. Zwar blieb damals das Grundstück ihres Mannes wie durch ein Wunder verschont; aber die Überfälle der Flieger im Dezember und nach Neujahr, deren Brandbomben wohl dem Arsenal galten, hatten die beiden Lagerschuppen, das Maschinenhaus und die Ställe bei der Pförtnerswohnung zerstört.

Der blinden Vernichtungswut der Engländer war dabei auch das Gärtchen zum Opfer gefallen, das den Stolz Didelots, des einarmigen, schmalbrüstigen Concierge, gebildet hatte. Die beiden Platanen, die viereckig verschnittenen, streckten ihre kahlen, rußgeschwärzten Äste wie anklagend zum Himmel empor; die Gemüsebeete wiesen zwei tiefe Trichter auf; das Buschobst war verbrannt.

Auch die Kletterrosen, deren feines Geästel sich als Netz über die breite Wand des Empfangsgebäudes gespannt hatte, zeigten kein Leben mehr. Als klägliche Reste erinnerten nur das Margueritenbeet und die winzige Wäschewiese mit den blauen und weißen Krokus an die einstige Gartenpracht, die Didelot hier dem poesiearmen Industrieboden der Liller Vorstadt abgerungen hatte. Der große, kugelförmige Prunus mit seinem festlichen Blütenzauber bildete nun schon seit dem Aschermittwoch Helenens Augenweide. Er gab dem von der Kriegsunbill heimgesuchten, düsteren Fabrikgelände einen farbenfreudigen Mittelpunkt, er gab ihrem müden, glaubensarm gewordenen Herzen den Keim einer Hoffnung daran: daß einmal wieder Friede sein würde, daß auch für ihr jetzt totes Leben der Weckruf eines neuen Frühlings kommen müsse.

Als der Gattin eines Deutschen, der sich vor dem Kriege in Frankreich hatte naturalisieren lassen, war ihr die Erlaubnis zur Heimkehr in das verlorene Vaterland verweigert worden. Ihr Vater war tot, mit der Frankfurter Verwandtschaft ihres bei der Besetzung von Lille nach Paris geflüchteten Mannes bestand keine Verbindung mehr, ihr Bankkonto beim Credit du Nord hier war aufgebraucht, die Beitreibungsscheine für die zuerst von den Franzosen, dann von den Deutschen beschlagnahmten landwirtschaftlichen Maschinen hatte sie dem drängenden Bauunternehmer verpfänden müssen: für das im Rohbau steckengebliebene Vorstadthaus, das ihr Mann ihr am Boulevard Madeleine errichten wollte. Aus ihrer Stadtwohnung, in der sie bei der Beschießung von Lille im vorigen Oktober verschüttet worden war, hatte sie nur das nackte Leben gerettet.

Wer sollte ihr helfen? An wen durfte sie sich wenden? Nicht einmal brieflicher Verkehr mit der alten Heimat war ihr möglich. Und ihre Beziehungen hier? Mit ihren Pensionsfreundinnen hatte sie jede Gemeinschaft abgebrochen: Manon Dedonker wandelte leichte Pfade, Geneviève Laroche stand ganz im Bann ihres Vaters, der ein geheimes, gefährliches Spiel gegen die deutsche Militärbehörde trieb. Sie war trostlos vereinsamt. Wenn sich nicht der alte Pförtner ihrer angenommen, ihr das Wohnstübchen seiner verstorbenen Frau angeboten hätte – ihr wäre nur der letzte Weg übriggeblieben: der in den Deulekanal. Didelot hatte ihr auch die Aufträge des Wäschegeschäfts verschafft. Von der kümmerlichen Einnahme bestritt sie nun ihr Leben; und um dem Alten noch einen Anteil davon zukommen lassen zu können, mußte sie sehr, sehr fleißig sein.

Überall begann hier schon die Not. Die Zufuhr zur Stadt war knapp. Da sie im Operationsgebiet lag, blieb der Spionagegefahr halber der ganze Verkehr aufs äußerste beschränkt. Der Ausschuß, der mit spanisch-amerikanischer Hilfe sich der Ernährung der eingeschlossenen Franzosen angenommen hatte, meisterte seine schwere Aufgabe nur unvollkommen. Etwas Reis, etwas Dörrgemüse, etwas Kaffee, genau zugemessenes Brot bildete die einförmige Kost.

Aber noch schlimmer als diese äußeren Einschränkungen war für Helene die innere Vereinsamung. Rundum hauste Gesindel. Sie wagte sich nur selten ins Freie, und die zum Teil in Trümmern liegenden Straßen und Gassen des Fabrikviertels durcheilte sie dann klopfenden Herzens, stets in der Furcht, von dem erbitterten Volk, das hier zwischen dem Rand der Großstadt und den alten Festungswällen sein lichtscheues Wesen trieb, auf ihre deutsche Abkunft angesprochen zu werden. Ihre Jugend lehnte sich gegen dies graue Gefangenendasein auf. Aber die Furcht schlug immer wieder alle Wünsche nieder.

Eine kleine Lebensfreude bot ihr da abends die Begegnung mit den Nachbarn: Frau Babin und ihren beiden Töchtern. Wenn die drei mädchenschlanken Persönchen von ihrer Tagesarbeit aus der Stadt zurückkamen, pünktlich um halb acht, dann hörte sie die hellen Stimmen, die wie Vogelgezwitscher dem Ohr schmeichelten, immer schon in dem Augenblick, wo das Kleeblatt in die Rue Trochu einbog.

Wie Schwestern wirkten sie: alle drei gleich groß, mit demselben feinen, blassen Gesichtchen, derselben edel geformten Nase, dem aschblonden Haar, den dunklen, seltsam geraden, wie künstlich aufgesetzten Augenbrauen, den veilchenblauen, kindhaft-gläubigen und doch wieder verschmitzten Augen – und alle drei in demselben dünnen, knapp-anliegenden, der vorigen Sommermode angehörenden Jackenkleid. Frau Babin war eine der seltenen Französinnen, die in dem großen Kriegsunglück ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen wußten. Von ihrem Mann, dem Oberst, durch die Kriegsereignisse getrennt, aus ihrem hübschen kleinen Landgütchen bei Lesquin durch die Granaten ihrer eigenen Landsleute vertrieben, hatte sie sich im Oktober mit ihren Töchtern zu ihrem Vetter Challier geflüchtet, dem ehemaligen Prokuristen der Martinschen Fabrik. Sie war nicht die Frau, Almosen anzunehmen: seit fünf Monaten arbeitete sie nun schon Schulter an Schulter mit ihren beiden Töchtern im Photographischen Atelier von Bérisal & Co. am Boulevard de la Liberté. Der Weg dahin war weit, die Arbeitszeit lang, der Verdienst schmal. Aber wenn man die drei hübschen Wesen so daherkommen sah, eng aneinandergeschmiegt, zärtlich plaudernd, mit ihren süßen Stimmchen lachend, dann ahnte niemand, wie schwer die Hand des Schicksals auf ihren schmalen Schultern lastete.

Yvonne, die Sechzehnjährige, schleppte zuweilen den linken Fuß ein wenig nach. An solchen Tagen nahmen Mutter und Schwester sie in die Mitte, und dann merkte man es kaum. Aber Challier hatte es Helene einmal verraten: hier herrschte viel Knochentuberkulose, man sah wie in kaum einer anderen Großstadt wieder so zahlreiche stelzfüßige Männer, Frauen und Kinder, und schon vor Jahren hatte der Arzt um Yvonne Sorge gehabt …

Helene mußte ihnen heute ihren Prunus zeigen. Gerade jetzt fiel ein letzter Strahl der Abendsonne ins Gärtchen und beleuchtete das Bäumchen. Die Stadtbeschießung hatte in die Brandmauer der benachbarten Chemischen Fabrik eine vielzackige Lücke gerissen; die ward der Üppigkeit des Blütenwunders nun zur Gnade. Selbst Didelot, der spuckend draußen stand und durch die Hornbrille, die er bis auf die Nasenspitze vorgeschoben hatte, das »Bulletin de Lille« studierte, meinte, sie seien »so schön wie künstlich gemacht«, die Mandelblüten; das bildete bei ihm den Gipfel der Bewunderung.

Frau Babin, Leonie und Yvonne entfalteten natürlich eine reicher gestufte Begeisterung. Sie sprachen alle drei auf einmal – alle drei entsannen sich eines Palmsonntags in Lesquin, wo über Nacht die vier wilden Obstbäumchen am Teich aufgeblüht waren …

Das war jetzt drei Jahre her, ach, niemand hätte damals daran gedacht, daß man einmal ein langes halbes Jahr in solch einem Kriege stehen würde. Monsieur Babin hatte damals gerade seine Berufung als Major zur Kriegsschule nach Rouen erhalten … Wo Madame Martin damals gewesen sei?

Helene Martin hatte die schweren, seidigen Wimpern gesenkt. Wenn die so wie ein Vorhang über ihren braunen, schönen, jungen Augen ruhten, dann wirkte ihr blasses Gesicht so bitter leidend. Yvonne hatte bei ihr eingehängt und schaukelte sich leicht mit ihr hin und her. Sie sagte immerzu: » Magnifique, magnifique!« und starrte das Bäumchen an; aber ihre Mutter fühlte wohl heraus, daß sie sich nur wieder die Schmerzen im linken Fuß nicht anmerken lassen wollte.

»Jetzt vor drei Jahren?« wiederholte Helene und lächelte wehmütig. »Ach, da lebte ich mit George in Saus und Braus in Brüssel. Wir hatten die Reise gemacht nach Südamerika und nach Japan … In Kioto das Kirschblütenfest, o, das sind Erinnerungen … Und nun ist man schon glücklich, das kleine Bäumchen hier zu haben, nicht?«

»Sie haben heute bei Armentières nicht so viel geschossen wie vorgestern nacht,« sagte Frau Babin. »Es muß ja auch einmal zu Ende gehn. Bérisal hat wieder einen ›Matin‹ bekommen: Joffre plant eine große Frühjahrsoffensive. Damit kommt von Tag zu Tag der Sieg näher. Aber die Tage dehnen sich leider mit Frühjahrsbeginn.«

»Stehn Sie nun wieder besser mit Bérisal?« fragte die junge Frau ihren Besuch voll aufrichtiger Teilnahme. Frau Babin hatte in den letzten Wochen manche Träne bei ihr geweint.

»Gar nicht,« erwiderte Yvonne an Stelle der Mutter, »und das ist vielleicht das beste. Man darf nur nicht zeigen, daß man Furcht vor ihm hat.«

Trotzdem es ziemlich kühl war, setzten sie sich auf Didelots Steinbank, alle vier eng zusammengedrückt, um sich gegenseitig zu wärmen. Da wurden dann noch rasch die Tagessorgen offenherzig besprochen. Bérisal hatte erst der hübschen Frau Babin, dann ihrer ältesten Tochter nachgestellt. Sie waren beide von seinen Vertraulichkeiten überrascht worden, hatten in ihrer Notlage auch nicht gleich den rechten Abstand zu schaffen gewußt. Yvonnes köstliche Frechheit war ihre Retterin gewesen; nein, was hatte Yvonne lachen können, wenn der verwitterte, eitle Patron seine Huldigungen anbringen wollte.

»Wie ein verliebter Kater sind Sie, Monsieur Bérisal!« hatte sie zu ihm gesagt. Und sie machte seine süßliche Art nach. Er hatte jetzt ein gefügiges Empfangsfräulein bei sich und ließ sie in Ruhe; aber unangenehm scharf konnte er werden, wenn sie sich im Atelier nicht aufmerksam genug gegen seine neue Kundschaft zeigten.

Hauptsächlich deutsche Soldaten waren's, die sich bei ihm aufnehmen ließen. Leonie konnte den Leder- und Schweißgeruch nicht vertragen, den die meisten Feldgrauen hinterließen; vielleicht verriet das ihre Miene zu deutlich.

Auch Frau Babin zog die Augenbrauen hoch und war sehr unnahbar, verstand einfach nicht, wenn so ein gewöhnlicher Soldat in seinem schlechten Französisch Ausstellungen an seinen Bildern machte.

Und Yvonne – nun, die platzte ja immer gleich heraus, wenn einer sich versprach.

Heute hatte Bérisal zu Frau Babin gesagt: wenn es ihr nicht mehr paßte, bei ihm zu arbeiten – bitte, er konnte jeden Tag Ersatz finden. Platten, Säuren, Papier, es ward sowieso immer schwieriger, noch neue Stoffe hereinzubekommen. Die Kunden, die ja nie lange in Lille blieben, waren ungeduldig, man müsse sie also vertrösten, sich gut mit ihnen stellen, statt sie zu reizen … Was man sich dabei im stillen dächte und wünschte, das ginge niemand etwas an; aber klug sein hieße es jetzt, solang die unglückliche Stadt in Ketten lag.

»Und er hofft ja selbst,« sagte Léonie, »daß das nicht mehr so lange dauern wird.«

Schon seit Wochen hatten sie verabredet, einmal einen gemeinsamen Spaziergang zu machen. Aus der Stadt heraus durfte man nicht ohne Verkehrsschein, an allen Toren der inneren Festungswälle standen Landsturmposten, auch bei den Durchgängen am Deulekanal, der die Stadt von der Zitadelle schied. Aber die Trambahnfahrt nach Roubaix und Tourcoing war freigegeben. Helene sollte ihnen einmal draußen an dem neuen Boulevard Madeleine ihr Landhaus zeigen.

»Es ist nur bis zum Rohbau gediehen,« sagte Helene müde lächelnd, »ich bin seit Wochen nicht mehr dort gewesen, und Antoine sagt, jetzt hätte sich die Wache einer Fliegerabwehrbatterie dort eingerichtet, es sei nicht zum Wiedererkennen.«

Léonie wechselte mit Mutter und Schwester einen Blick, sich vorbeugend, und preßte dann Helenens Arm noch etwas fester.

»Antoine –! Nun sagen Sie nur, Frau Martin, ist Ihnen nicht auch angst vor dem Mann? Wir sprachen noch auf dem Herweg von ihm. Wenn er mit seinen tückischen kleinen Tollkirschenaugen einen so von der Seite mustert … Und die Person, mit der er's hält … Weißt du,« wandte sie sich an Yvonne, »das war die mit dem winzigen belgischen Hütchen am vorigen Freitag, um die Herr Bérisal sich so bemüht hat.«

Das Gesicht der Frau Babin sah jetzt abgespannt und alt aus.

»So viel Schmutz schwemmt der Krieg an einen heran,« sagte sie traurig und strich über die Schulter der Jüngsten.

Helene berichtete, woher sie Antoine kannte. Beim Vater ihrer Freundin Manon Dedonker, dem Notar Leon Ducat am Boulevard Vauban, war Antoine Schofför gewesen. Aus Furcht, von den Deutschen aufgegriffen und nach Deutschland verschleppt zu werden, da er im dienstpflichtigen Alter stand, hielt er sich seit Beginn der deutschen Herrschaft hier verborgen. Es ging ihm schlecht. Von Haus zu Haus hatte er sich als Schlosser, als Mechaniker angeboten; aber nirgends wagte man ihn anzustellen, weil die Deutschen über alle Arbeitskräfte Listen führten. Heute wollte er Manon aufsuchen.

Helene seufzte.

»Da werde ich nun hören, wie's ihr die Zeit über ergangen ist. Aber es graut mir vor jeder Begegnung mit ihm. Er hat einen Haß auf die ganze Welt – wenigstens auf alle, denen es besser geht als ihm.«

Léonie wußte von Didelot, daß Antoine sich von seiner Freundin Adèle unterstützen ließ. Solange sie Geld habe, sei alles gut, aber wenn sie dann wieder in die Bar müsse, um zu verdienen, gerate er immer ganz aus dem Häuschen.

»Dann ist er eifersüchtig, wißt ihr!«

Sie schraken zusammen, denn man hörte in der Küche sprechen. Didelot hatte Besuch bekommen.

Helene lauschte.

»Antoine –!« sagte sie stockend und erblaßte.

Sofort erhoben sich die drei Damen. Das kleine Sonnenfeuerwerk in der Prunuskugel war auch schon erloschen, und es wurde empfindlich kühl. Wie eine zwitschernde Vogelschar verließ der Besuch den Fabrikhof. Helene trat in die Pförtnerswohnung und entzündete in ihrem halbdunklen Zimmer die Petroleumlampe. Das Herz klopfte ihr. Nebenan, in der Küche, in der Didelot wohnte, weilte Antoine. Er sprach laut und erregt. Natürlich würde er mit ihr reden wollen. Es war besser, sie ging gleich hinein, als daß er wie neulich anklopfte und bei ihr eintrat. Wenn er seine Freundin in der Bar wußte und seine Eifersucht in Absinth ertränkte, den er sich trotz der Strafbestimmungen der Deutschen noch immer zu verschaffen wußte, dann mußte man alles vermeiden, um ihn zu reizen.

Der ehemalige herrschaftliche Schofför steckte in einem blauleinenen Arbeitsanzug, die schwarze Schildmütze hatte er zurückgeschoben, so daß die dichten, schwarzen Haarbüschel ihm in die niedere Stirn hingen. Er rauchte eine Zigarette, war aber schon beschäftigt, eine neue zu drehen. Unter Rauchen, Spucken und Räuspern berichtete er.

»… und ich soll Sie auch grüßen, Frau Martin. Und sie hätte Ihnen alles vergeben, läßt sie Ihnen sagen. Und wenn Sie Geld brauchten, könnten Sie's haben. Und sie würde ihre Freundin Geneviève Laroche zu Ihnen schicken. Und warum Sie sich hier in der Fabrik vergraben hätten? Sie könnten es doch viel besser haben. Und gelacht hat sie, lustig war sie …«

»Antoine!« Ganz bleich vor Schreck sah sie den kleinen schwarzen Franzosen an. »Sie hatten mir doch versprochen, nichts zu verraten –?!«

»Es kam halt so.« Er spie an Didelot vorbei im Bogen aus. »O, wir hatten eine sehr spannende Unterhaltung. Eine feine Frau, eine schöne Frau. Ja, die weiß die Feste zu feiern, wie sie fallen. Ich erzählte schon Herrn Didelot. Was, Alterchen?«

Der Einarmige klopfte seine Pfeife aus und stopfte sie neu, indem er sie zwischen die Knie klemmte. »Sie hätten die hundert Francs nehmen sollen, Antoine, das wäre klüger gewesen, statt sich zu verzürnen.«

»Pah, hundert Francs. Damals, als sie's noch mit ihrem Vetter hielt, dem Major, da war ich's doch, der ihnen im Keller die Regimentskasse eingemauert hat. Vierzigtausend waren darin. Mich mit hundert abspeisen? Sie hätte die Kasse Laroche gegeben, der braucht das Geld für Unterstützungen. Und großmütig: ich sollte auch auf die Liste kommen, wie alle französischen Soldaten, die sich hier noch verborgen hielten. Da bekäme ich neun Francs die Woche. Sie hätte ihr Konto bei der Bank aufgebraucht. Ja, aber Champagner trinken sie dort. Und elegante deutsche Offiziere liegen bei ihr im Quartier. Und da wird nicht gespart. Die kleine Liddy ist auch nicht geizig mit dem, was sie hat. Bande –! Dreitausend hab' ich verlangt. Ja, da machte sie Augen.«

»Vielleicht hat sie's wirklich nicht,« sagte Helene, schwer atmend. »Sie sagten doch, Antoine, Sie wollten ihr nur ins Gewissen reden, weil so viel Schlechtes über sie umläuft.«

Der Schwarzäugige warf seinen Zigarettenstummel in die Ecke.

»Eine Kanaille ist sie. Das sind nun die Führer der Stadt. Ihr Vater auf und davon, sobald es hier brenzlig wurde. Und sie – charmiert mit jedem erstbesten Boche. Wenn ihr Mann das wüßte. Ja, der sitzt drin in Deutschland im belgischen Gefangenenlager und kann sie nicht überraschen. So gibt es hier viele. Aber ich hab' ihr gesagt, ich sorge dafür, daß sie auf die schwarze Liste kommt. Sobald der Krieg aus ist, wird abgerechnet. Ja, das hab' ich ihr gesagt. Und das saß. Wie ein Peitschenhieb. Ei, ist sie da aufgefahren. Die Wut –! Ja, und da hat sie sich in ihrer wahren Gestalt gezeigt, die – die …«

Rasch fiel Helene ein: »Sie müssen nicht schelten, Antoine. Wir sind alle so unglücklich. Schelten macht es nur häßlicher.«

Er sog an der frisch gedrehten Zigarette. »Die Wahrheit hab' ich ihr endlich einmal sagen müssen. Ah, das hat wohl getan. Und ihre hundert Francs – auf die pfeife ich. Dreitausend – unter dem nicht.«

Didelot machte ein bekümmertes Gesicht und sagte zu Frau Martin: »Sie hat ihm gedroht, bös gedroht.«

»Gedroht? Womit?«

Antoine lachte. »Nun, womit wohl? Da lebt doch wieder ein hübscher, junger deutscher Offizier in ihrem Haus. Dem wird sie mich anzeigen, hat sie gesagt, wenn ich mich noch einmal bei ihr sehn lasse. Und dann würden sie mich holen und abführen. Und sie würden nun alle vor das Feldgericht gestellt, die dienstpflichtigen Franzosen, die sich noch hier in Lille verborgen halten. Ob ich nicht die Bekanntmachung des Gouverneurs gelesen hätte? Zweimal sei Frist gegeben worden, sich zu melden. Die letzte sei nun verstrichen. Und da würde ich die Kugeln pfeifen hören. Ein Pflänzchen, wie? Ja, das war einmal meine gnädige Herrin. Die schöne Frau Manon. Die elegante Frau Manon. Und wie ich immer schweigen oder lügen mußte, he, wenn ich sie im Auto fuhr und wir einen Umweg machten … Davon hat ihr Vater nie erfahren, ihr Mann erst recht nicht … Und jetzt hundert Francs!«

»Also sind Sie im Zorn von ihr gegangen?« fragte Helene stockend.

»Gegangen? Bewahre. Gejagt hat sie mich. Auf die Tür ist sie losgefahren, wo der Deutsche war. Da hieß es Fersengeld geben. Nicht den Sou in der Tasche, nicht den Sou. Aber ich kaufe sie mir noch. Die Boches werden einmal die Stadt räumen – so oder so – und dann kommt der Tag des Gerichts. Sie ist schon reichlich lang, die schwarze Liste.« Er patschte dem Pförtner aufs Knie. »Alterchen, wie ist das nun mit einem Erfrischungsschluck? Die Flämin im Estaminet drüben soll noch einen ganzen Schrank voll verborgen haben vor den deutschen Spürhunden. Aber mich läßt sie ja nicht mehr ein. Alle haben sie Furcht vor mir, die feigen Hunde.«

Helene hielt schon die ganze Zeit über einen Fünf-Francs-Schein in der Linken. Sie wußte nicht, ob sie's wagen sollte, ihm das Geld anzubieten. Endlich faßte sie Mut. »Antoine, wenn Fräulein Laroche wirklich einmal herkommen sollte – bitte, bitte, nicht ausplaudern, wo ich bin.«

Er zuckte die Achseln. »Wenn Didelot nicht schwatzt –!« Natürlich hatte er den Liller Stadtschein in ihrer Hand schon bemerkt. »Nur geliehen!« sagte er mit Nachdruck, indem er ihr das Papier abnahm.

»Nur geliehen!« beeilte sie sich zu versichern.

Pfeifend ging er. An der Tür entsann er sich seiner herrschaftlichen Erziehung und wünschte Guten Abend. Draußen pfiff er weiter. Quer über die Straße ging er auf das Estaminet los.

» C'est la guerre,« sagte Didelot und sog an seiner erloschenen Holzpfeife. »Er war ein so vornehmer Mensch, der Antoine. And er liebt Fräulein Adèle. Oh, wie liebt er sie. Nie wird er sich mit einer andern einlassen. Aber es schmerzt ihn, wenn sie in die Bar muß. Ist es ein Wunder? Er hatte gehofft, seine frühere Herrin würde ihm aus der Patsche helfen. Daher nun seine Wut.« Und er schloß mit der ewigen Formel: » C'est la guerre.«

Noch ein Stündchen saß Helene dann, nachdem sie ihren Abendtee genommen, bei der Arbeit. Es war spinnwebfeine Putzwäsche, so reich verziert, wie sie keine Deutsche tragen würde. Und wohl keine Liller Bürgerin. Sie durfte bei der Arbeit ihre Gedanken nicht schweifen lassen zu denen, die sie tragen würden.

Wie grausam häßlich war ihr Leben geworden!

Nachdem sie die weißschirmige Lampe gelöscht hatte, öffnete sie das Fenster, um den Rauch abziehen zu lassen. Das Rollen und Grollen der schweren Batterien hatte draußen wieder eingesetzt. Es mußte in der Richtung von Ypern sein. Alle Tage erwarteten die Franzosen große Entscheidungen. Das ging so immer von Mund zu Mund. Sie hörte aber kaum mehr hin, wenn hier die Frauen in den kleinen Kramlädchen, in denen sie ihre Besorgungen machte, die Wissenden spielten und weissagten. Sie waren von so beneidenswerter Hoffnungssicherheit – wie die Kinder waren sie. Hoffnungsleer, mit müd gearbeiteten Augen, suchte Helene ihr Lager auf. Noch lange lauschte sie dem Rollen und Grollen draußen.

 

Geneviève Laroche ließ sich so leicht nicht abspeisen. Der alte Didelot hatte einen harten Stand. Das Fräulein sagte ihm auf den Kopf zu, daß Frau Martin bei ihm wohne. Antoine Bergerat, der Schofför, hatte es ihrer Freundin Manon Dedonker verraten. Sie war auch schon in dem Wäschegeschäft in der Rue Neuve gewesen, in dem Helene jeden Mittwochmorgen ihre Arbeit ablieferte. Sie hatten ja alle angenommen, daß Helene Martin längst nach Deutschland zurückgekehrt sei. Ein Offizier, ein Jugendfreund von ihr, habe ihr doch den Reisepaß verschaffen wollen. Ob der sich in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal hier habe blicken lassen? Ihr könne er's ruhig sagen, sie meine es gut mit Frau Martin. Und auch ihr Vater. Er liege heute mit Fieber zu Bett, sonst wäre er gleich mitgekommen, um nach Helene zu sehen. Das sei ja unverantwortlich, daß sie sich so vergraben habe …

So war Geneviève in die Pförtnerswohnung und in Helenens kleine Stube gekommen. Ganz erschüttert sah sie sich um. Das rot gestrichene Tannenholzbett der verstorbenen Frau Didelot, ein kleiner Petroleumherd, ein Kleiderrechen mit einem Vorhang von Kattun, eine Kommode, ein Waschständer, der Arbeitstisch mit der Handnähmaschine – und an den Wänden die Bilder aus Didelotschem Besitz, die Helenens Taktgefühl nicht zu entfernen wagte.

Hier hauste die Erbin von Millionen, die verwöhnte Tochter des Kommerzienrats Kampff, der bei seinem Tod eine Firma von Weltruf hinterlassen hatte, hier hauste die junge Frau des »smarten« George Martin, dem die schönsten Perlen, das rascheste Auto, die kostbarsten Orchideen, die prächtigste Villa noch eben gut genug für sie hatten scheinen wollen. Geneviève, trotzdem sie früher als freiwillige Helferin des Roten Kreuzes, später im Dienst des Geheimen Hilfsausschusses ihres Vaters schon Tausende von Gängen in Armenwohnungen und Krankenstuben hinter sich hatte, konnte doch kaum hinwegkommen über die krasse Vorstellung, daß Helene hier Zuflucht gesucht hatte, ihre Freundin Helene, die sie in der Pension in Dinant wegen ihrer vornehmen Haltung, wegen ihrer schönen Erscheinung, wegen ihres gewinnenden Wesens alle, alle so leidenschaftlich angeschwärmt hatten.

Didelot war durch das Elend stumpf geworden, auch durch die Untätigkeit. Früher hatte ihn die Aufsicht hier aus dem großen Fabrikanwesen dauernd in Atem gehalten. Nach Kriegsausbruch war er lange Zeit hindurch ganz allein in der Fabrik gewesen. Da hatte er täglich einen Angriff des Gesindels, das bei den Wällen hauste, befürchten müssen.

Es hieß, die Fabrik sei deutscher Besitz. Es hing an einem Haar, daß geplündert und verwüstet wurde. Besonders damals, als die Deutschen Brüssel und Antwerpen einnahmen. Aber die Besitzerin hatte nachgewiesen, daß ihr Mann französischer Bürger war; der Wachtmeister von der Porte de Valenciennes hatte es selbst am Fabriktor mit großen Buchstaben angeschrieben. Von da an ließen sie das Grundstück in Ruhe. Später hatte eine deutsche Militärbehörde alle Vorräte an landwirtschaftlichen Maschinen abgeholt. And die englischen Flieger hatten dann noch die leeren Schuppen in Trümmerstätten verwandelt.

Seitdem gab es nichts zu befürchten, nichts zu verwalten mehr. Didelot mußte zufrieden sein, daß ihm Frau Martin die kleine Miete zahlte. Von der Mairie bekam er wöchentlich eine Anweisung an die spanisch-amerikanische Lebensmittelverteilung. Vor dem Verhungern war man geschützt. And » c'est la guerre« – damit tröstete er sich wie Millionen andere in dem vom Feind besetzten Land.

Mit Leuten seines Schlages wußte Geneviève gut zu sprechen. Sie war ein tapferer Mensch. Ihr Vater, der glühende Patriot, gab ihr Tag für Tag ein Beispiel. Er war durch den Krieg von seinen Weingütern in der Champagne abgeschnitten – Gott mochte wissen, wie es auf denen aussah –, auch mit seinen Zweiggeschäften in Arras und Armentières hatte er keine Verbindung mehr, – aber alles, was er hier an Geldmitteln flüssig machen konnte, opferte er der Sache Frankreichs. Da galt es, Unglücklichen zu helfen, besonders den hungernden Soldaten, die sich seit der Einnahme der Stadt verborgen hielten, noch immer auf die Vertreibung der Deutschen hoffend, oder denen man Mittel und Wege wies, heimlich über die holländische Grenze zu entkommen, um drüben dem Vaterlande ihre Dienste wieder widmen zu können.

Der Einarmige stand an dem kalten Ofen und sog an der erloschenen Pfeife. Ab und zu warf er einen scheuen Blick nach der Tür oder durchs Fenster. Dann musterte er wieder das ernste junge Ding, das ihn nach dem und jenem der Schützlinge ihres Vaters fragte. Solche Französinnen gab es hier nicht in seinem Bereich. Die Weiber klagten nur, die Mädchen beklatschten einander. Eine trug es der andern nach, wenn sie's mit einem Deutschen hielt. Aber wenn sie hübsch genug waren und Geld brauchten – und sie hatten ja keinen Verdienst sonst mehr –, dann sträubten sie sich nicht allzu ernstlich.

So lange dauerte der Krieg jetzt schon – im vorigen Sommer hatte es geheißen, im Oktober spätestens ständen die Verbündeten in Berlin – wo steckten die tapferen Poilus, nach denen sie sich sehnten? Die Jugend, die Einsamkeit und die Not trieb die armen Dinger den Boches in die Arme – was halfen da die schwarzen Listen!

Nun wußte Geneviève genau Bescheid über Helenens Umgebung. Und ihr Entschluß stand fest: sie mußte sie hier wegholen. Jetzt würde Helene die ihr gebotene Hand auch wohl dankbar ergreifen. Die deutsche Heimat, in die sie hatte zurückfinden wollen, stieß sie von sich. Sie mußte endlich einsehen: sie gehörte dem Lande, das ihr Mann jetzt Heimat nannte, dessen Schutz er genoß, drüben, jenseits der Schützengräben. Es galt den letzten Rest dieser unfruchtbaren Gefühle zu überwinden. Ach, wenn nur erst ihr Vater mit Helene reden konnte, er verstand es, zu Herzen zu sprechen, die Lauen aufzurütteln. Eine Frau wie Helene, die von ihren ehemaligen Landsleuten so mitleidslos ins Elend gestoßen worden war, mußte den heiligen Haß in sich erwachen fühlen. Und diesen heiligen Haß galt es zu schüren – um ihn für die große Sache auszunutzen.

Seit Wochen zum erstenmal hatte sich Helene heute einen arbeitsfreien Sonntag gegönnt. Sie war mit Frau Babin und deren beiden Töchtern nach Tisch spazierengegangen. Wenn es Yvonne, nicht zu sehr anstrengte, wollten sie bis zum Boulevard Madeleine. Vielleicht nahmen sie auch die Straßenbahn, die nach Roubaix führte, bis zu dem Bauplatz, auf dem sich der Rohbau des Martinschen Landhauses befand. Didelot konnte nicht sagen, wann die Damen zurückkehren würden. Vor Dunkelwerden wohl kaum.

Geneviève hatte ihrem Vater versprochen, Helene auf alle Fälle sofort mitzubringen. Er lag daheim in der Inkermanstraße im Billardzimmer auf dem Diwan, hatte fiebrige Augen und heiße Hände. Von dem Augenblick an, da er erfuhr, Helene Martin weile noch in Lille, hatte es ihm keine Ruhe mehr gelassen. Es hatte Genevièves ganzer Überredungskunst bedurft, ihn davon zurückzuhalten, daß er sie begleitete. Mama und die Geschwister waren schon wieder sehr, sehr eifersüchtig auf Helene. Sie alle wußten, wie tief die Neigung zu der schönen jungen Frau in seinem Herzen wurzelte, wie schwer er damals gelitten hatte, als sie unter dem Einfluß ihres Jugendfreundes, des jungen deutschen Offiziers, sich entschlossen hatte, Lille zu verlassen.

»Ich gebe zu Hause nur Bescheid und komme dann gleich wieder zurück,« sagte sie zu Didelot. Sie steckte ihm einen Liller Stadtschein zu. »Und wenn Sie's gut meinen mit Frau Martin, wirklich gut, dann helfen Sie mir, sie wegzubringen von hier. Papa gibt Ihnen, was Sie von ihr bekommen haben. Er ist ja herzensgut. Und er schickt gewiß auch Tabak. Ja, soll ich's ihm sagen? Ich werde öfter nach Ihnen sehn, wenn ich in die Gegend komme. Draußen in der Rue Roiselle hausen ein paar arme Teufel, die vom Ausschuß Unterstützung haben. Warum hat Antoine sich nie gemeldet? Mußte er da am Boulevard Vauban so eine häßliche Szene machen?«

Der Pförtner hob seufzend die Schultern. »Neun Francs die Woche – es hält schwer, damit auszukommen, Fräulein Laroche. Alles ist so teuer geworden. Fleisch schon gar nicht mehr zu haben.«

»Es ist ja nur für den Übergang. Papa hat jetzt tüchtige Agenten an der Hand. Ebenezer Drachman richtet den Dienst an der holländischen Grenze ein. Jede Woche bringen sie einen Schub hinüber.« Sie sah ihn strahlend an. »Vorgestern war es der hundertste.«

»Alles Leute vom fünften und achten Territorialregiment? Die damals vor den Deutschen geflüchtet sind?«

»Hauptsächlich. Aber es sind ja noch immer Hunderte versteckt. Auch von den Dreiundvierzigern. Sie wagen sich bloß nicht ans Licht – vertrauen selbst den nächsten Bekannten nicht mehr. Es gibt ja auch leider so viele Liller, die ihre Landsleute um ein Trinkgeld an die Deutschen verraten würden. Darum heißt es: vorsichtig arbeiten!«

»Und Sie haben gar keine Furcht, Fräulein Laroche, daß irgendein schlechter Kerl Sie einmal angeben könnte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Feind. So wenig wie Papa je einen Feind hatte.«

»Wären nur alle Franzosen so wie Sie und Ihr Vater.« Hüstelnd klopfte er die kalte Pfeife aus. »Der Krieg hat hier viele, viele schlecht gemacht, Männer und Frauen. Ich glaube nicht mehr daran, daß Frankreich sich je wieder erholt von diesen Schlägen.«

»Didelot –!« Sie rief es in hellem Zorn. Ein paar Augenblicke suchte sie nach Worten. Aber dann schüttelte sie den Kopf und sagte lächelnd: »Sie werden ja bald einmal Papa sehen und hören, Didelot. Der wird Ihnen schon den Kopf zurechtsetzen. Und das Herz.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um, und ein Lächeln huschte über ihr ernstes Gesicht. »Und den Tabak werde ich nicht vergessen.«

Auch als Geneviève zum zweitenmal kam, war Helene von ihrem Sonntagsausflug noch nicht zurückgekehrt. Das war dem Alten ganz unbegreiflich. Es war schon weit über acht Uhr – um Neun aber war Zapfenstreich für die gesamte Bevölkerung. Vielleicht war Frau Martin noch mit den Babins nach der Rue Trochu gegangen. Didelot hätte die junge Dame gern noch dahin begleitet, aber in der Dunkelheit, die hier herrschte, wagte er den nächtlichen Ausflug nicht: wer nach Zapfenstreich einer Patrouille der Deutschen begegnete der mußte zur Wache mit.

Geneviève wartete, wartete. Zehn Minuten vor Neun mußte sie's aufgeben, die Freundin heute noch zu sprechen. Und nun galt es einen Eilmarsch, um noch vor dem neunten Glockenschlag die Rue Inkerman zu gewinnen. Unweit des Hauses befand sich die Post. Der deutsche Wachtposten, der dort an der Ecke stand, würde sie nicht ohne weiteres vorbeilassen. Sie hielten sich an den Buchstaben ihrer Befehle, diese starrköpfigen Landsturmleute aus Göttingen und Kiel.

Das Abendkonzert der Engländer bei Armentières hatte wieder eingesetzt: Geschützdonner rollte, der Regen kündende Westwind trug zuweilen sogar das Prasseln des Maschinengewehrfeuers herüber. Die Gasse, die zur Fabrik führte, lag tot und schwarz da. Nur durch den roten Vorhang des Estaminetfensters drüben drang ein Lichtschimmer auf die Straße.

Didelot faßte es nicht, daß die stille, ängstliche, vergrämte junge Frau, die hier nun schon seit Monaten nur der Arbeit lebte, es wagte, das strenge Gebot der Deutschen zu übertreten. Es schlug von der Hospitalkapelle bei der Porte de Douai schon zehn Uhr, als hastige Schritte sich näherten. Der Alte tastete sich in den Fabrikhof und öffnete vorsichtig die Nebenpforte. »Madame –?!«

Ja, sie war's. Bleich und doch erregt, noch atemlos von der Hast, wohl auch von der Angst, unterwegs von einer Patrouille angehalten zu werden, huschte sie herein.

»Gottlob!« stieß sie aus, als sie in der Pförtnerwohnung war.

Sie ging in ihr Zimmer, legte Hut und Jacke ab und setzte sich im Dunkeln auf die Bettstatt. Inzwischen hatte der Einarmige das Fabriktor und die Haustür geschlossen. Mit der Laterne kam er an die Schwelle ihrer Stube und fragte, ob er ihr die Lampe anzünden sollte.

»Nein, nein, danke.« Dann entsann sie sich, daß er ihrethalben länger als sonst aufgeblieben war, und gab eine kurze Erklärung. Yvonne Babin war unterwegs ohnmächtig geworden; der Spaziergang hatte die Kleine zu stark angegriffen; sie hatten Mühe gehabt, sie nach Hause zu bringen; und Challier hatte noch einen Arzt herbeigeholt.

Didelot seufzte. Er hätte jetzt wohl wieder sein übliches: » C'est la guerre« angebracht. Aber etwas Unerwartetes geschah. Die stille, gelassene, sonst immer so unverdrossene junge Frau ließ sich plötzlich zur Seite sinken, schlug mit dem Kopf aufs Bett und schluchzte – schluchzte so herzzerbrechend, so hingegeben einem tiefen, schweren Leid, daß der Einarmige seine Formel vergaß. Durch seinen Sinn flog etwas wie die Erinnerung an eine Zeit, über die ein Menschenalter hingegangen war, an Frühlingswanderungen in der jung erwachenden Natur Flanderns. Bekümmert, mitleidig und voll Verstehens sagte er: » C'est le printemps, madame!«

Eine Antwort kam nicht. Die junge Frau weinte noch immer. Allmählich klang es etwas ruhiger, leiser. Didelot machte einen Gang durch die Küchenstube. Dann zog er die Wanduhr auf. Darauf wartete er ein Weilchen stillgeduldig. Da das leise Weinen aber nicht aufhörte, schlürfte er auf der knarrenden, sandbestreuten Diele zur Tür, harrte hier abermals einer Weisung, die nicht kam, einer Erklärung, die er nicht erwarten konnte, einer Gelegenheit, über den Besuch von Fräulein Laroche zu sprechen. Sie weinte, weinte … Da zog er denn endlich so geräuschlos, als das verquollene Holz es zuließ, die Tür ins Schloß, nahm die Laterne auf und begann seinen seit so vielen Jahren gewohnten Rundgang durch die zerstörte Fabrik, in der es nichts mehr zu bewachen gab …

 

Die Fliegerabwehrbatterie bei Madeleine war neu aufgestellt. Theo West, der Fliegerleutnant, der kürzlich Staffelführer geworden war, kam auf einer Autofahrt vom Oberkommando der Armee dort vorbei, ließ halten und machte dem Batterieführer seinen Besuch. »Ich hab' sie bisher immer nur aus der Vogelschau gesehen,« sagte er zu dem bayerischen Landsturmoberleutnant, »da drängt's einen doch, ihr einmal so ganz gemütlich die Vorderflosse zu drücken, der aufmerksam-freundlichen Revolverkanone.«

Der fünfzigjährige Batterieführer war daheim Professor der Mathematik. Der Krieg hatte ihn wieder jung gemacht. Nachdem er in den ersten Monaten eine Feldbatterie im Bewegungskrieg geführt hatte, erschien ihm diese neue Tätigkeit wegen der Erprobung all der wissenschaftlichen Berechnungen besonders anregend. Weit vor der Stadt gelegen, einsam, ohne Anlehnung an die Gärten und Landhäuser der reichen Industrievorstadt, bot die Batteriestellung für einen Weltmenschen wenig; aber der weißhaarige Oberleutnant brauchte weder Geselligkeit noch Naturschönheit, noch Ablenkung, der Dienst und seine Mathematik füllten ihn vollkommen aus. Übrigens hatten sich's seine Leute hier leidlich bequem gemacht. Ein erst im Rohbau fertiggestellter, großzügig angelegter Landhausbau diente ihnen als Quartier. Aus verlassenen Häusern in der näheren und weiteren Nachbarschaft war allmählich alles herbeigeschafft worden, was dazu dienen konnte, den Winter erträglich zu machen. Mit einigem Stolz zeigte er dem jungen Flieger, dessen Name in der Armee schon so rühmlich bekannt war, die Anlage. Vom Batterieplatz hatte man kaum zweihundert Schritt bis zum »Kasino«, das in dem wohl als Musiksaal gedachten, baulich am weitesten vorgeschrittenen Erdgeschoßraum des Landhauses eingerichtet war. Die kalkweißen Wände wiesen flott hingezeichnete Spottbilder auf.

»An Talenten ist kein Mangel in der Batterie,« sagte der Bayer, »einer meiner Geschützführer ist Dekorationsmaler am Münchner Hoftheater, der Fernsprecher ist Redakteur vom ›Simpel‹, der Schreiber ist einer von der Sternwarte, und der Zugführer – schauen S', das ist der, den s' da mit der Klampen abgemalt haben – der hat noch im vorigen Sommer in Bayreuth am ersten Pult mitgegeigt. Die einzige Entschuldigung für so viel Talent – hat unser Kronprinz neulich gesagt und hat gelacht – ist die, daß die Batterie auch gut schießen kann. Wir sind doch hier seine Leibbatterie. Aber das obere Stockwerk müssen S' sich noch anschauen, Herr Kamerad. Ich hab' den Zugang vernageln lassen, weil's schad drum wär', wenn mein Kanoniervolk mit den tranigen Kommißstiefeln da herumtrampeln sollt' … Parkett, spiegelblank alles, und eingebaute Möbel, Kirschholz mit Thujaeinlage, geschliffene Kristallscheiben, echtes Material, ein ganz vornehmer Geschmack, muß man schon sagen.«

Der Flieger lachte. »In neuen Villen hier in Frankreich sonst eine Seltenheit. Mein Gott, was für elenden Kitsch hab' ich hier schon auf Schlössern und in Großstadt-Häusern gesehen! Was nicht Louis ist oder Empire – das ist rettungslos ödester Fabrikreinfall.«

»'s ist auch kein Eingeborener, der sich das Schloß hat dahersetzen wollen, sondern ein Zugereister. Scheint mir so eine Art internationaler Großmogul. Auch englischer Einfluß dabei. Großartige Badezimmeranlagen. So was kann man hier in Lille lange suchen. Auf zweihundert Häuser eine Badewanne – und da funktioniert todsicher der Badeofen nicht. Wenn ich den Mann von der Mairie recht verstanden hab', ist's ein Schwiegersohn von dem Kommerzienrat Kampff, wissen S', dem Begründer der deutschen Kampff-Werke … Landwirtschaftliche Maschinen und so ein Zeugs.«

Theo West, der sich nur mit geringer Aufmerksamkeit in dem halbfertigen Hause umgesehn hatte, blickte nun überrascht auf.

»Kampff – Kampff-Werke … Ist seine Tochter etwa eine Frau Martin? Helene Martin?«

Der Professor zuckte die Achsel. »Vor einer Viertelstunde war ein halbes Schock Weiber hier. Ich hab' grad geschlafen, mein Bursche hat mir's erst hernach gesagt, er hat mich nicht wecken wollen. Ja, dabei sei auch die Besitzerin gewesen. Sie hätten sich einmal ein bißl im Haus umsehn mögen … Mein Wachtmeister ist aber sehr scharf, der duldet so was nicht und hat sie abblitzen lassen. Ohne meine Einwilligung dürft' kein Fremder die Stellung betreten. Da könnte ja sonstwer kommen und herumschnüffeln.«

»Ausgeschlossen, daß die Besitzerin dabei war,« sagte der Flieger. »Die ist längst in Deutschland, die Frau Martin. Ich sprach noch gestern abend mit meinem Bruder über sie. Er hat sie seinerzeit kennengelernt. Ei, das sollte mich doch wundern … Hat Ihr Wachtmeister sie wirklich selbst gesprochen?«

»Auf eine Zigarettenlänge müssen S' jetzt eh' schon ins Kasino eintreten, Herr Kamerad. Ein Kirsch gefällig? Es hat auch Cordial Médoc. Was, Alkoholgegner sind S'? Ja, ja, die Herren Flieger … Ich lass' den Niemayer 'rüberkommen, er kann ja mal Meldung erstatten.«

Während sie in den lustig ausgestatteten Kneipraum eintraten, berichtete Theo West, was ihm im Gedächtnis haften geblieben war. Frau Martin war bei der Beschießung von Lille im vorigen Oktober in ihrem Wohnhaus am Boulevard de la Liberté verschüttet worden; sein Bruder, der die Pionierarbeiten leitete, hatte bei ihrer Befreiung mitgewirkt und sich hernach mit ihr angefreundet. Es hatte sich ergeben, daß sie Jugendfreunde waren: Frau Martins Onkel, der Organist Karl Maria Kampff in Wohlfahrtsweier bei Durlach, war der Musiklehrer der vier Gebrüder West in Gottesaue gewesen.

»Ich erinnere mich ganz deutlich, mein Bruder hatte sich noch ins Zeug gelegt dafür, daß die junge Frau den Reisepaß nach Deutschland bekam. Sie hatte keine Mittel mehr – war ganz abgebrannt – ihr Mann in Paris …«

»Da kommt Niemayer, der hat sie ja gesehn.«

Der Wachtmeister war der Meinung, daß die vier Frauenspersonen heute nachmittag bloß so aus Neugierde – vielleicht auch um die Batteriestellung auszukundschaften – sich hier hatten eindrängen wollen. »Man hat doch seine Menschenkenntnis,« sagte er, überlegen schmunzelnd, »und von den vieren sah mir keine nach Schloßherrin aus. Ich hab' ihnen gesagt, sie sollten in einer Stunde wiederkommen, wenn der Herr Batterieführer da sei, hab' ich gesagt. Na, und da zogen s' auch gleich weiter. Auf Roubaix zu sind sie. Bis jetzt haben s' sich noch nicht wieder blicken lassen.«

»Das muß ich dem Hans erzählen!« Theo West schüttelte ungläubig den Kopf. »Mein Bruder sagte noch gestern, soundso oft habe er den Versuch gemacht, irgendeine Nachricht über sie zu bekommen … Freilich hält's ja schwer, mit der Heimat in Verbindung zu bleiben, wenn einer so herumgewirbelt wird wie der.«

»Er ist Pionier? Hans West – warten S' einmal, den hab' ich auch schon kennengelernt. Wo ich mit meiner Batterie draußen gelegen hab'. Ja, ein Oberleutnant West war's, der da an der Stellung mitgearbeitet hat. Grüßen S' ihn doch, wann Sie ihn sehen!«

»Er ist heute auf dem Flugplatz. Endlich hat er einmal ein ruhigeres Pöstchen. Er soll in Lille den Hauptmann bei der Fortifikation vertreten, der erkrankt ist. Natürlich hofft er zum Frühjahr nach Rußland zu kommen. Er will ja immer dabei sein, wenn wo was los ist … Haben Sie schönsten Dank für die Führung, Herr Professor. Wenn ich morgen früh aufsteige, zu den Engländern hinüber, dann ist mir's eine innige Beruhigung, die Batterie hier in so sicheren Händen zu wissen. Ich guck' auch einmal herunter.«

»Ich kann nicht garantieren, daß ich Sie von hier unten aus erkenn',« meinte der Professor. »Also, wann ich nicht gleich hurra schrei', dann dürfen S' mir nicht gram sein.«

Sie lachten, mit Händedruck verabschiedeten sie sich, und Theo West bestieg sein Auto wieder.

Kaum eine halbe Stunde später hielt das eisengraue kleine Gefährt abermals vor der Batteriestellung. Diesmal entstieg ihm Theos Bruder, der Pionier.

Und zwischen dem Rohbau und dem gegen Sicht von oben durch Tannenreisig geschützten Wachtraum begegnete er den vier Damen aus Lille, die von dem Mathematik-Professor und seinem Wachtmeister soeben einem eingehenden Verhör unterzogen wurden.

Hans West kam bestürzt – erst noch unsicher, dann in wachsender Erregung – auf Helene zu. Beide Hände hielt er ihr hin. Sein Ton war herzlich, als er sie begrüßte. Und in starker Bewegung sah er sie an, fast erschüttert. Es war nicht mehr die junge schöne Frau. Sie trug die Merkmale des Leidens, des Entbehrens. Indem sie jetzt die Lider senkte – vielleicht aus Scheu vor den andern –, warfen ihre schweren, langen Wimpern noch tiefere Schatten in ihr blasses und schmales Gesicht.

»Frau Martin – Sie noch hier in Lille?! – Ja, warum haben Sie mir denn niemals Nachricht gegeben? … Und wie geht es Ihnen jetzt? Gesundheitlich? Und wie haben Sie den langen gräßlichen Winter hier überstanden? … Das sind Bekannte von Ihnen? Wollen Sie mich vorstellen? … Ist es wahr, das sollte hier Ihr Haus werden? … Ich faßte es gar nicht, als mir mein Bruder sagte, Sie seien nicht in Deutschland … Herr Professor, ja, denken Sie …«

Die Unterhaltung des Wachtmeisters Niemayer mit den drei Begleiterinnen der jungen Frau war weniger lebhaft, auch weniger liebenswürdig abgelaufen. Frau Babin blieb sehr gemessen, fast hoheitsvoll. Sie hatte links Léonie, rechts Yvonne an den Arm genommen. Mit der Miene einer Fürstin blickte sie über den Wachtmeister hinweg, keine seiner Fragen beantwortete sie, bis endlich der Batterieführer, der noch von der stürmischen Begrüßung der jungen Villenbesitzerin durch den Bruder des Fliegers ganz verdutzt war, das Wort an sie richtete. Der Professor sprach ein grammatikalisch richtiges, aber sehr umständliches Französisch. Die drei Damen blickten einander fragend an, zum Zeichen, daß sie nicht verstanden; alle drei zogen die Augenbrauen hoch; sie sahen dadurch einander verblüffend ähnlich.

Es kam endlich so etwas wie eine Vorstellung zustande. Aber die drei Französinnen blieben Eis. Frau Babin setzte auch eine auffallend fremde Miene auf, als sie Helene vorschlug, sie würden einstweilen vorangehen.

Helene merkte gar nicht, daß Vorwurf aus dem Ton klang. Sie war viel zu stark bewegt von dem unvermuteten Wiedersehn. Nach ihrem Unfall bei der Beschießung von Lille hatte sich Hans West in so herzlich-freundschaftlicher Weise ihrer angenommen. Er war für sie ein Stück der Heimat geworden, die sie durch ihre Ehe mit dem weltbürgerlichen Flüchtling verloren hatte.

»Ich konnte Ihnen ja keine Nachricht geben,« sagte sie mit einem melancholischen Lächeln. »Die Herren aus dem Paßamt hatten gewechselt. Keiner nahm sich meiner an. Und es hieß nur immer wieder: es sei allen Heeresangehörigen streng verboten, irgendwelche Nachrichten zu vermitteln. Da mußt' ich mich denn bescheiden.«

»Und Sie wohnen nun wieder bei Ihren Freunden? In der Inkermanstraße? Oder am Boulevard Vauban?«

»Ach nein, nein. Ich hab' sie seitdem nicht mehr gesehen.«

»Seitdem nicht mehr gesehen?« Er zog die Stirn in Falten. »Aber wie haben Sie dann gelebt? Wovon? Wo? Wer hat Ihnen geholfen? Ist denn keiner, keiner dagewesen, der mir auch nur ein Wort hätte sagen können, einen kleinen Wink geben? … Frau Martin, ich habe ja so oft den Versuch gemacht … Auch in Magdeburg, auf den Kampffschen Werken, hat niemand etwas von Ihnen gewußt. Ich schrieb nach Mainz, nach Düsseldorf. Immer vergeblich. Sie seien in Paris, hieß es. Über die Schweiz habe Ihr Mann einmal den Versuch gemacht, mit seinen Frankfurter Verwandten in Beziehung zu kommen. Das war alles, was sie erfahren hatten. Ach, Sie müssen mir ja so viel, so viel erzählen …«

Frau Babin hatte mit ihren beiden Töchtern inzwischen den Ausgang erreicht. Überflüssigerweise begleitete der Professor die Damen bis zum Tor. Es war ein stolz-herablassender Blick, mit dem sie sich von dem Deutschen verabschiedeten.

Erst als Helene allein mit dem jungen Offizier war, entsann sie sich der seltsamen Art der drei. Einen Augenblick ward sie unsicher. Sie mußte ihren Freundinnen doch wohl den Zusammenhang erklären … Und dabei huschte ihr's durch den Sinn, daß Frau Babin ihr auf dem Herweg gestanden hatte, daß sie kein Geld bei sich trug, und die Vorstellung ängstigte sie, die drei müßten den endlos langen Weg bis zum Tor und durch die ganze, große Stadt bis zum anderen Ende von Lille zu Fuß zurücklegen … Aber Léonie oder Yvonne, so beruhigte sie sich, waren doch wohl sicher im Besitz der paar Sous … Wie ausgewischt war dann gleich wieder diese kleine Sorge: Hans West hatte sie ins Haus geführt, und im Eingang zu dem Kasinoraum beugte er sich auf ihre Hand und küßte sie und sprach in so warmem, herzlichem Ton zu ihr.

»So glücklich bin ich, Frau Martin, so glücklich, daß ich Sie hab' wiedersehn dürfen!«

Seit Monaten die ersten deutschen Worte. Ihr war ganz wunderlich zumute. Es kam ihr vor, als würde sie aus einer Gefangenenzelle freigelassen. Der einzige Umgang mit gebildeten Menschen, den sie seit einem Vierteljahr hatte, war der mit Frau Babin und deren Töchtern, allenfalls mit Challier oder Dubois, dem Bauunternehmer. Sie hatte sich in ihrer Verbannung schon ganz unters Pack gestoßen geglaubt. Nun fühlte sie sich seelisch gestreichelt, da sie wieder ihre Muttersprache hören und sprechen durfte. Und es tat so wohl, wieder einmal einen lichten Raum mit weiß gedeckten Tischen, hellen Vorhängen und Blumen zu sehen.

Der Professor war stolz, daß das Kasino heute Damenbesuch aufzuweisen hatte. Er ließ Kaffee besorgen. Das war doch einmal ein Erlebnis; er konnte seiner Frau schreiben, daß er die Besitzerin des Schlößchens hier in ihren eigenen Räumen empfangen hatte. Seine Frau würde natürlich eifersüchtig sein. Eine Französin! Wenn er nun gar schrieb, daß sie kaum dreiundzwanzig Jahre zählte, eine vollendet schöne Pariser Figur hatte und seidenweiche lange Wimpern … Nein, das wollte er lieber doch nicht schreiben. Aber es war auch wieder nicht nötig, zu verraten, daß sie »eigentlich« eine Deutsche war. Denn – wie er seine Frau kannte – verminderte das in ihren Augen das Prickelnde des Abenteuers ihres Mannes, auf das sie im Grunde doch stolz war.

In dem Augenblick, in dem der Bursche des Batterieführers das Kaffeegeschirr hereinbrachte, ging die Alarmklingel. Der Bursche, der gleichzeitig Munitionsträger war, stellte seine klirrende Last hastig hin – und kaum zwanzig Sekunden darauf machte der erste Schuß der Abwehrkanone das ganze Gebäude zittern.

Helene Martin fuhr die ersten paar Male wohl stark zusammen; aber rasch gewöhnte sich ihr Ohr an die Erschütterung. Es war ja so ein ganz absonderliches Erlebnis, eine Rückkehr in Kreise, die ihr schon so weltenfern erschienen waren. In der Gesellschaft der Franzosen, die so schwer unter der deutschen Herrschaft litten, hatte die dem Deutschen innewohnende Mischung von Taktgefühl, Schwäche, Mitleid, Verständnis und Gutmütigkeit sie immer wieder davon abgehalten, die Gerechtigkeit der Maßnahmen ihrer ehemaligen Landsleute zu verteidigen, zu erklären. Ihr Schweigen zu den Anklagen war aber mehr und mehr als Billigung aufgefaßt worden. Sie hatte die Gewaltherrschaft ja allerdings selbst so grausam einschneidend empfunden. Hier aber fühlte sie sich wieder einmal geborgen. Ja, das Bewußtsein, daß deutsche Geschütze es waren, die den am Himmel auftauchenden Feind vertrieben, war ihr eine gute Beruhigung. Sie blickte durch das Rundfenster – ach, hier hatte George nach einem Entwurf von Baily Scott einen lauschigen Blumenerker herzaubern wollen – und mit Spannung sah sie den zerberstenden weißen Schneeballen nach, die dicht bei der schwarzen Fliege in die blaßrote Luft hineingesetzt wurden von der Abwehrbatterie des bayerischen Professors.

»Ein paar Wochen wird mein Kommando wohl dauern,« sagte der Oberleutnant. »Jetzt freu' ich mich darüber. Als es hieß, ich komme wieder zum Gouvernement, da wollte mir's gar nicht passen. Was sollte ich in Lille? Aber nun bleibt mir doch die Genugtuung: ich kann ein bißchen für Sie sorgen. Sie haben mir doch Ihre Freundschaft erhalten, wie?«

Wie sie am Fenster stand, im vollen Lichte, hatte ihre Erscheinung etwas geradezu Rührendes. Auch das unmoderne, schon stark abgetragene Kleid wirkte da mit. Bei seiner Durchfahrt durch Brüssel hatte er die eleganten Belgierinnen in ihrer neuesten Frühjahrsmode auf den Boulevards gesehen: sie trugen kurze, flotte, weite Röcke. Helene ging noch in demselben dunkeln, knappgearbeiteten, schlichten Gewand, in dem er sie im Oktober getroffen hatte. Als der Flieger droben am blauen Himmel entschwunden war, wandte sie sich um. Die Hände, an denen sie schwarze Zwirnhandschuhe trug, verschränkte sie im Rücken, sich auf das Fensterbrett stützend.

»Ich bin ein müder, vergrämter Mensch geworden, lieber Freund,« sagte sie, »und meine Wege sind jetzt so ganz, ganz andere, daß es für Sie kaum mehr irgendeine Verbindung zu Ihrer alten Jugendbekannten gibt. Ich habe mich auch gefreut, Sie wiederzusehen, herzlich gefreut; aber das Wiedersehen ist zugleich ein Lebewohlsagen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich suche Sie auf. So leicht werden Sie mich nicht los. Ich muß sehen, wie Sie leben.«

»Nein, das sollen Sie nicht. Ich will es nicht. Unter keinen Umständen.«

Ihr Ton machte ihn unruhig. »Hat Ihre Umgebung das Licht zu scheuen, Frau Martin? Wo leben Sie?«

Sie sah ihn starr und ernst an, fast streng. Dann stieß sie aus: »Im Elend. Irgendwo. Bei den Wällen.«

»Etwa – auf dem Fabrikhof?« Er entsann sich der unheimlichen Gegend im Südosten der Stadt, wo die Beschießung Hunderte von Häusern in Trümmerstätten verwandelt hatte. Da er ihr Schweigen für Zustimmung nehmen mußte, fuhr er fort: »Aber das ist doch kein Aufenthalt für Sie! Um Gottes willen! Mit Ihren früheren Freunden haben Sie sich erzürnt? Warum? Ihr Deutschtum hat Sie auseinandergebracht. Aber wovon haben Sie gelebt?«

Sie wehrte sich innerlich noch. Doch dann sagte sie es ihm: »Ich habe Wäsche genäht. Für ein Geschäft. So – jetzt wissen Sie alles. Und es wird Ihnen daraus klar werden, daß ich bis zum Ende dieses grauenvollen Krieges in meiner Verbannung bleiben muß.«

»Nein, Frau Martin, den Grund sehe ich nicht ein.«

»Ich will keine Almosen. Ich muß jetzt abwarten, wie mein Mann sein Schicksal gestaltet hat. Das seine – und damit das meine.«

»Sie haben nichts mehr von ihm gehört?«

»Nichts mehr. Ich weiß nur, daß er im Oktober in Paris gewesen sein muß.«

»Sie wissen mehr, Frau Martin. In Ihren Augen steht ein so tiefer Schmerz … Haben Sie doch Zutrauen zu mir!«

Helene seufzte. »Ich fürchte für ihn …«

»Sie lieben ihn noch?«

Eine ganze Weile schwieg sie. Tränen waren ihr in die Augen getreten. Sie rannen einzeln über ihre Wangen. Sie hob die Hand nicht, um sie wegzuwischen. »Ich nehme an, daß ich wohl Nachricht von ihm hätte, wenn sie ihn wieder in ein Gefangenenlager gebracht hätten – etwa, weil sie die Naturalisation so kurz vor dem Krieg nicht anerkennen wollten.« Immer zögernder sprach sie. »Aber weil ich keine Nachricht von ihm habe, so muß ich wohl glauben – oder fürchten …«

»Sprechen Sie doch, Frau Martin! Was fürchten Sie?«

»Daß George ins französische Heer eingetreten ist, um – Schwierigkeiten auszuweichen.«

»O – das wäre!« Mit großen Augen sah er sie an. »Arme Frau!«

Der Professor kam von seinem Dienst zurück. Ein paar Schrapnelle hatten ausgezeichnet gelegen.

»Beim fünften Schuß waren wir auf fünfzig Meter heran, aber da bog er aus, der Schweinekerl …«

Verlegen lachend unterbrach er sich.

»Verzeihung, man kommt so ganz in den rauhen Kriegston hinein, wenn man so lang ohne Damen ist. Aber das festliche Ereignis heut muß gebührend gewürdigt werden … Jesses, nun hat das Kamel von Ordonnanz noch nicht einmal den Kaffee serviert? Ei, den soll ja gleich das heilige Gewitter …«

Helene hatte ihr Taschentuch gezogen und ihre Augen getrocknet. Abwehrend dankte sie. Nein, es sei ihr unmöglich, länger zu bleiben. Sie müsse ihren Freundinnen nach. Jetzt werde es auch schon dunkel und ihr Weg sei noch weit.

Der Batterieführer erhob noch lebhafteren Widerspruch als der Gast. Der erbot sich natürlich, sie zu begleiten; aber das schlug sie von vornherein aus. Man konnte ja nicht wissen, daß sie deutscher Abkunft war; den Französinnen aber, die sich hier an der Seite von deutschen Heeresangehörigen zeigten, denen erging es schlimm; der Haß sei ja unausrottbar.

»Aber es ist doch ausgeschlossen, Frau Martin,« sagte Hans West mit erregter Stimme, »daß ich mich mit dieser kurzen Begegnung zufrieden gebe.«

»Wenn ich Sie nun bitte?«

»Sie müssen mir gestatten, daß ich Sie aufsuche.«

»Das schadet mir dann in dem Kreis, in dem ich nun einmal zu leben gezwungen bin.«

»Dann werden Sie diesen Kreis verlassen, Frau Martin. Glauben Sie denn, wir deutschen Barbaren werden nicht Mittel und Wege finden, um einer Landsmännin zu helfen?«

»Ich bin Ihre Landsmännin nicht mehr, lieber Freund. Ihre Behörde hat mir darum rundweg den Paß nach Deutschland verweigert. Ich muß mein Schicksal nun schon tragen.« Sie reichte ihm die Hand. »Aber ich danke Ihnen für den guten Willen.«

»Frau Helene –!«

Sie duldete nicht, daß er sie vors Haus begleitete, gar daß er sie im Auto nach Hause fuhr, wie er ihr vorschlug.

Der Mathematiker war enttäuscht von dem kurzen Besuch. Und noch mehr davon, daß der junge Pionier sich nun auch nicht länger halten lassen wollte. Es hätte ihn doch interessiert, mehr zu hören über die Besitzerin seines »Schattohs«. Er gab dem Kameraden das Geleite bis ans Auto. Knatternd machte das kehrt und fuhr dann nach dem Flugplatz zurück.

Auf allen Teilen des breiten Boulevards herrschte noch starker Verkehr. Die Mitte gehörte dem Militär. Autos, Motorräder, Feldpostwagen, Proviantkolonnen – Staubwolken mit sich reißend, strebten sie nordwärts und südwärts. Überfüllt, noch auf den Trittbrettern besetzt von Feldgrauen, sausten die hellgelben Wagen der Straßenbahnen von Roubaix und Tourcoing vorbei. Auf den verschiedenen Fußwegen zog abgespanntes Sonntagsvolk vom Nachmittagsspaziergang mit müde trippelnden Kindern der Stadt zu …

Helene fand erst auf der Grand' Place eine Möglichkeit, mit einer der Straßenbahnen, die zu den jenseitigen Toren fuhren, mitzukommen. Alle Wagen waren überfüllt. Das Trüpplein ihrer Nachbarinnen hatte sie unterwegs nirgends mehr gesehen. Natürlich wollte sie sie noch aufsuchen, um ihnen Aufschluß über die Begegnung mit dem deutschen Offizier zu geben.

Aber das ward dann noch ein ängstlich-erregtes Warten vor dem Haus, in dem Frau Babin wohnte. Sie hatte das aus zwei Stuben und Küche bestehende Erdgeschoß des schmalen Torgebäudes der stillstehenden Brauerei in der Rue Trochu inne. Challier hatte ihnen die Wohnung verschafft. Niemand öffnete, als Helene klingelte. Kinder, die im Tordurchgang spielten, behaupteten, die Damen seien noch nicht heimgekehrt.

Im Dämmerlicht sah Helene die drei dann endlich ankommen. Es war ein jammervolles Bild. Yvonnes leidender Fuß versagte den Dienst. Sie ward von Mutter und Schwester halb gestützt, halb geschleppt.

Und Helenens Befürchtung traf zu: Sie hatten den ganzen Weg laufen müssen, weil sie das Fahrgeld nicht mehr besaßen.

Eine unheimliche Stimmung herrschte in dem engen Raum. Leise stöhnend streckte sich Yvonne im Bett der Mutter. Sie besaßen nur das eine. Die Töchter schliefen sonst auf einer Matratze, die sie abends aus dem Verschlag bei der Küche herauszogen. Die Lampe qualmte. Nur ein Rest Öl war noch da. Challier, den Léonie herbeigerufen hatte, brachte dann noch eine Kerze. Er ging schließlich, um einen Arzt zu holen.

Helene fand keine Gelegenheit, mit einer von ihnen über ihre eigenen Angelegenheiten zu sprechen. Frau Babin hatte wieder ihre eisige Unnahbarkeit. Und Helene empfand wohl die stumme Anklage heraus: Ihr maßen sie die Schuld daran bei, daß Yvonne über ihre Kräfte angestrengt worden war, denn sie hatten sich auf ihr Mitkommen verlassen.

Als der Arzt kam, schickte er die Damen aus dem engen Schlafzimmer. Während der Untersuchung, bei der man Yvonne manchmal in ihrem silberhellen Kinderton aufschluchzen hörte, trat Helene zu Frau Babin, an die sich Léonie eng anklammerte. Sie suchte nach der Rechten der schwergeprüften Frau. »So innig leid tut mir's, Frau Babin,« sagte sie.

Aber sie erschrak über sich selbst: sie hatte deutsch gesprochen.

In nervöser Abwehr löste Frau Babin ihre kalten Finger aus Helenens Hand. Und im Halbdunkel sah Helene unter den vier steifen, geraden, dunklen Brauen die vier wie im Haß sie anstarrenden Augen.

»Wir verstehen uns wohl nicht mehr,« sagte Frau Babin tonlos.

Mutter und Tochter hatten die freie Hand zurückgezogen. Sie wollten keine Gemeinschaft mehr mit einer Frau, die die Freundin von einem dieser Hunnen war.

In tiefer, innerer Zerrissenheit trennte sich Helene endlich von ihnen. So inniges Mitleid mit Yvonne erfüllte sie – und ihrer Mutter und Schwester war sie kaum gram, weil sie ihren Stolz und ihre Anklage verstand … Aber da regte sich nun wieder diese lang vergessene Sehnsucht in ihr … Und es ward ihr so schmerzlich klar, daß sie kein Vaterland mehr besaß, keine Heimat.

 

Nun saß Helene wieder bei ihren alten französischen Freunden in der Inkermanstraße. Aber sie empfand: sie waren einander fremd geworden.

Laroche sprach gekränkt. Die Gefühle, die er für die Freundin seiner Tochter gehegt, waren seltsam gemischt zwischen väterlicher Besorgnis und jähen Wallungen, die den trotz kinderreicher Ehe unbefriedigten Fünfzigjährigen überfallen konnten.

So herzlich hatte er sich damals der verlassenen jungen Frau angenommen – ihr plötzliches Verschwinden mußte er sich wie eine mißtrauische Absage auslegen. Gewiß war damals die Freundschaft mit dem jungen deutschen Offizier schuld gewesen an dem ihm sonst unerklärlichen Bruch. Lange, lange hatte die Eifersucht an ihm gezehrt.

In Laroche glühte ein jugendliches Feuer, das ihn auch auf dem Gebiet der Politik schon oft in heiße Kämpfe gedrängt hatte. Er konnte nicht wie so viele Liller der besseren Kreise lau der Fremdherrschaft zusehen; es drängte ihn, den Landsleuten zu helfen. Seine tapfere älteste Tochter unterstützte ihn bei seiner unermüdlichen Werbetätigkeit. Noch so viel Flüchtlinge lebten hier in der Verborgenheit: Soldaten, die sich bei der Einnahme der Stadt der Gefangenschaft entzogen hatten und in ihren armseligen Verstecken nun bittere Not litten.

Laroche war reich, seine Weingüter brachten große Erträge, aber seine Großhandlungen in Armentières und Arras lagen jenseits der Schützengräben und waren für ihn unerreichbar. So konnte er den Unglücklichen nicht in genügendem Maße helfen.

Zum Glück hatte er die Kasse des Territorialregiments, das zuletzt auf der Zitadelle gelegen, für die Unterstützung mit verwenden können; die Zuwendungen der anderen vermögenden Bürger, an die er sich gewandt, blieben in sehr bescheidenem Rahmen. Er lebte nur seiner vaterländischen Pflicht. Seine nach zahlreichen Wochenbetten immer kränkliche, immer wehleidige Frau, die ihm auch geistig nicht ebenbürtig war, machte kaum Forderungen an ihn geltend. Sie brauchte ihn nur, um ihm vorzuklagen, wie sich von Tag zu Tag die wirtschaftlichen Verhältnisse schwieriger gestalteten – Hammelfleisch gab es schon gar nicht mehr, Eier waren kaum zu bekommen, Butter kostete bereits acht Francs, und es war dabei ein Drittel Wasser.

Die fünfzehnjährige Berthe, die dreizehnjährige Louise, die zehnjährige Madeleine, auch der neunjährige Benjamin hatten bis jetzt unter der mager gewordenen Verpflegung noch nicht sichtbar gelitten; aber die Jüngste, die nervenschwache Fleurette, war nur noch ein Schatten von ehedem.

Helene hatte sie alle wiedergesehn, die Blondköpfe, die so gar nichts Französisches besaßen, und über deren lustige Apfelgesichter sie sich früher immer so herzlich gefreut hatte.

Jetzt lag selbst über den Kindern diese trübe, dumpfe Unfreiheit. Auch sie fühlten sich durch die Herrschaft der Deutschen beengt. Es gab keine Spaziergänge mehr ins äußere Zitadellenwäldchen, keine Autofahrten zu den Schlössern der verwandten Fabrikbesitzer im Dreistädtebezirk, keine Picknicks in den Gärten der befreundeten Familien in Lambersart. Und alles, was deutsch war oder mit Deutschen irgendwie Beziehung hatte, war ihnen zum mindesten verdrießlich. Sie entsannen sich immerhin viel fröhlicher Begegnungen mit »Tante Helene«, der ihr Vater so ritterlich huldigte, und sie waren gut erzogen genug, um den Besuch artig zu begrüßen.

Frau Laroche hatte wieder ihre Migräne, sie lag mit verschwollenen Augen zu Bett und konnte sich nicht zeigen; aber Helene müsse unter allen Umständen zu ihr hinauf, drängte Geneviève, sonst wäre Ma schwer gekränkt.

»Und meine Frau wird Ihnen auch zureden, Helene,« sagte Laroche, indem er die Hände der blassen jungen Frau in die seinen nahm und durch Streicheln und Pätscheln zu wärmen suchte, »sie wird Ihnen klarmachen, daß Sie sich an Ihrer Jugend, an Ihrem ganzen Leben versündigen, wenn Sie da draußen in dem entsetzlichen Viertel bleiben. Was ist das für ein Stolz, keine Hilfe in Anspruch zu nehmen. In diesen Zeiten. Wo der furchtbare Krieg in alle Daseinsverhältnisse so tief einschneidet, daß ein Millionär zeitweise kaum seinen Barbier bezahlen kann. Wird es Ihr Mann Ihnen danken, wenn er erfährt, daß Sie wie eine arme kleine Näherin für Geschäfte gearbeitet haben, nur um sich keinen Kredit geben zu lassen? Was hat uns um Ihr Vertrauen, um Ihre Zuneigung gebracht? Geneviève ist kein weicher Mensch. Aber als sie damals hörte, Sie wollten nach Deutschland, wie hat sie da geweint. Und mir ist es in jenen Tagen so weh ums Herz gewesen – ach, Helene, damals bin ich alt geworden.«

Helene mußte nun doch beschämt lächeln. Sie sah den Vater ihrer Freundin voll an. Er war nicht alt. Seine schönen, klugen, ausdrucksvollen Augen hatte sie immer gern gehabt. Auch seine Gesichtszüge waren jung, sie waren durchgeistigt, innerlich geadelt. Freilich fiel ihr auf, daß sein Haar in den letzten paar Monaten grau geworden war.

Das Schicksal der Stadt, das Schicksal seines Vaterlandes zehrte an ihm. Sie mußte ihn schon um seiner Überzeugung willen achten. Aber heute verstand sie doch nicht mehr, daß sie in den Zeiten des Glücks – vor dem Kriege – seine Huldigung, die doch nicht nur rein väterlich war, in ihrem übermütigen Siegesbewußtsein so selbstverständlich hingenommen, vielleicht sogar ermutigt hatte …

Sie sah eine schwere Pflicht vor sich. Es galt heute, ganz offen zu sein.

Seit dem Sonntagsausflug mit Babins, der den für Yvonne verhängnisvollen Abschluß gefunden hatte, war ihr ja nicht nur von Geneviève und ihrem Vater zugesetzt worden, aus ihrer selbstgewählten Verbannung herauszutreten; auch Hans West ruhte nicht, täglich hatte er sie aufgesucht, Und immer lockender hatte die Stimme getönt, die ihr neue Lebensmöglichkeiten im deutschen Kreise schilderte.

»Sie sind gut zu mir, Laroche,« sagte sie, indem sie ihre Hände nach einem festen Druck den seinen entzog, »ich habe auch nie daran gezweifelt. Aber die Gastfreundschaft – so, wie Sie mir sie anbieten – kann ich nicht annehmen. Ich kann nicht mehr müßig sein. Ich würde mich unsagbar unglücklich fühlen, wenn ich hier nur so als wohlbehütete, gutgepflegte Nichtstuerin leben sollte. Die Arbeit ist das, was mir über die innere Zerrissenheit hinweggeholfen hat, über diese Zeit sonst unerträglichen Wartens.«

Die Kinder waren wieder gegangen. Geneviève saß an Laroches Schreibtisch und ordnete in den Listen. Laroche hatte seinen Arm in den der jungen Freundin gelegt und wanderte langsam mit ihr um das Billard, das mitten in dem großen Arbeitsraum stand. Ab und zu blieb er stehen und schob, ohne sie loszulassen, mit der linken Hand Bälle, sehr geschickt. Und sie griff unwillkürlich mit in das Zufallsspiel ein.

»Sie könnten Geneviève helfen, wenn Sie wollten,« sagte er. »Sie kann es so kaum mehr bewältigen.«

Für eine Sekunde schloß sie die Augen, wie in einem Schmerz. Dann legte sie die Hand auf die Elfenbeinkugel, rollte sie langsam über das grüne Feld und erwiderte: »Es würde mich nur wieder in innere Zwiste führen.«

Eine Weile ging das Spiel weiter. Plötzlich fing er beide Kugeln mit der linken Hand ab und preßte Helene mit dem rechten Arm leicht an sich. »West ist bei Ihnen gewesen? Ihr Freund?«

»Ja. Sie wußten? Woher?«

»Glauben Sie, daß es mich nicht genug bewegt hätte, um Ihnen nachzuspüren?«

»Ach – lieber Freund!«

Helene seufzte und entzog ihm ihren Arm. Dabei wandte sie sich nach Geneviève um.

»Was mag man dort wieder alles erzählt haben. Ich erfahre ja das wenigste. Didelot ist Kavalier. Wirklich, ich hatte nie geahnt, daß so viel Zartheit in einem ehemaligen Fabrikarbeiter wohnen kann. Und welch schweren, schweren Stand er schon immer hatte. Sie mögen mich sonst dort alle nicht. Was mich hielt, war die Freundschaft mit den Babins. Die geht nun auch so langsam in die Brüche.«

»Wie steht's um die Kleine?« fragte Geneviève, von ihrer Rechenarbeit aufblickend.

»Broussart hat sie gestern untersucht. Es müsse wohl amputiert werden, meint er. Furchtbar.«

Auch Geneviève seufzte. »So ein hübsches, junges Ding.«

»Frau Babin schob es nur auf die Übermüdung neulich. Als ob alle Schuld mich treffen sollte. Aber er hat ihr alles ausführlich dargelegt: Knochentuberkulose, die Liller Krankheit. Ja, wenn man die Kleine noch tüchtig pflegen könnte, dann ginge es wohl eine Weile besser … Aber Hoffnung hat er gar nicht.«

»Und wenn Sie nun auch noch Babins verloren haben, Helene?« fragte Laroche und begann wieder die Bälle zu schieben, die mit leisem Klack gegeneinander rollten.

»Hans West hat mir einen Vorschlag gemacht, über den ich nun schon seit Tagen sinne und sinne … Er ist ein alter Jugendfreund von mir – das heißt: ich war ein eckiges Pensionsmädel, als er schon ein junger Kriegsschüler war … Er ist bis zum heutigen Tage mein ehrlicher Freund geblieben – und doch weiß ich nicht, ob es das rechte für mich ist.«

In Laroches Augen blitzte es wieder.

»Er will Sie natürlich ganz auf die andere Seite hinüberziehen. Es täte mir aber weh, Helene, wenn es ihm gelänge.«

»So ist es nicht,« sagte Helene.

Wie verträumt, suchend, griff ihre Hand nach dem Ball. Sie umklammerte die Kugel, konnte sich aber nicht entschließen, sie ins Rollen zu bringen.

»Es wäre ein Amt, in dem ich auch der Stadt helfen könnte. Nur ein kleiner, bescheidener Posten. Als eine Art Dolmetscherin. Aber ich könnte da auch die Wünsche – die Sorgen und die Hoffnungen – mancher Liller Bürger verdolmetschen.«

Nun sah er sie erwartungsvoll an. Auch Geneviève hatte wieder den Kopf gehoben. »Eine Anstellung bei der Mairie?«

»Bei der Kommandantur. Die Quartierkommission will eine Dame anstellen, die hier Bescheid weiß und zwischen der Militärbehörde und der Stadt vermittelt.«

Eine Weile schwiegen sie, Laroche hatte sich tief auf das grüne Feld gebeugt, den linken Ellbogen aufstützend und die Stirn in die Hand lehnend. Während er mit der Rechten die Bälle laufen ließ, überlegte er.

Geneviève hatte die Feder hingelegt und kam näher. Aus ihren hellgrauen, dunkelbewimperten Augen musterte sie die Freundin überrascht.

»Das wäre –!«

Und erwartungsvoll wandte sie sich an ihren Vater.

»Was sagst du dazu?«

Laroches Blicke folgten aufmerksam den Kugeln.

»O, ich meine: Die Aufgabe ist gut und würdig. Eine Stelle, von der aus viel getan werden kann. Härten vermindern, Verständigung herbeiführen … Mit ihrem Takt, mit ihrem feinen Herzen würde Helene das Amt in gutem Sinne verwalten.«

Helene atmete tief auf.

»Es ist mir ordentlich eine Erleichterung, daß Sie das auch so auffassen. So – wie ich es mir dachte. Frau Babin hat mir gleich die Freundschaft aufgekündigt, als ich ihr davon sagte. Nicht einmal mehr eintreten ließ sie mich bei Yvonne. Und – ich hatte die Kleine doch so lieb.«

Laroche hielt ihr die Hand hin. »Nehmen Sie den Antrag an, Helene! Sie können in dem Amt Gutes stiften. Und ziehen Sie hierher! Zu uns. Fleurette schläft jetzt bei meiner Frau. Benjamin hat das Bodenstübchen. Das Kinderzimmer im zweiten Stock steht leer. Sie schlafen Tür an Tür mit Geneviève. Und morgens bringen Sie uns den Sonnenschein zum Frühstück herunter. Die Kinder werden wieder fröhlich mit Ihnen. Und ich auch. Es ist oft schon sehr, sehr trübe hier gewesen. Überlegen Sie nicht lange. Sagen Sie zu. Dort – und hier.«

Auch Geneviève sprach auf sie ein. Sie hatte ja nie eine andere Meinung als ihr Vater.

Helene hatte es kaum erwartet gehabt, daß ihre guten Absichten so richtig und so rasch verstanden werden würden. Die Vorstellung, aus dem Armeleutegeruch endlich wieder in behaglich-bürgerliche Verhältnisse zu kommen, machte sie glücklich; sie hatte ja so schwer gelitten unter dem Aufenthalt in dem trostlosen Quartier.

»Ich – bin Ihnen sehr, sehr dankbar, lieber Freund,« sagte sie. »Jetzt fühl' ich's, daß Sie's gut mit mir meinen.«

»Daran haben Sie also doch einmal gezweifelt, Helene?« fragte er lächelnd.

Berthe, der stupsnasige Backfisch, kam hereingesaust.

»Ma ist schon so ungeduldig – Tante Helene soll sofort kommen, sofort, sonst hat Ma gleich wieder ihre Migräne.«

»Das ist eine Drohung – aber auch ein Versprechen,« meinte Laroche.

Und Geneviève erklärte: »Für Ma bist du interessanter als jedes neue Theaterstück, hat sie erst gestern gesagt. Und da die Musen nun schweigen, bist du deines Erfolges ganz sicher. – Ma war nämlich manchmal sehr, sehr eifersüchtig.«

»Ach, sprich doch nicht davon, Geneviève,« wehrte Laroche … »Ich alter Mann!«

Geneviève hatte den Schalk im Nacken. »O, nicht auf dich eifersüchtig, Papa. Auf Monsieur West.«

Nun lachten sie alle drei.

 

Die ersten paar Tage saß Helene in dem zugigen Vorraum des großen Bankhauses, das jetzt für die deutsche Kommandantur eingerichtet war. An den Schaltern drängten sich die Feldgrauen und die Liller und Lillerinnen. Hier bekamen die Unteroffiziere und Mannschaften, die sich auf dem Durchmarsch befanden, ihre Quartierzettel, hier die Offiziere, dort war ein Schalter eingerichtet für Heeresangehörige mit längerem Kommando, da gab es eine Wechselstelle für Liller Stadtscheine, das Notgeld, eine Auskunftsstelle, Meldestellen, Prüfungsstellen für Beitreibungsscheine. Es war ein ewiges Hin und Her. Der Hauptmann, der vorübergehend das Einquartierungswesen in Gemeinschaft mit der Mairie zu verwalten hatte, mußte dem größten Sturm standhalten; an ihn gelangten tausend Wünsche, Bitten und Beschwerden. Der Fernsprecher schwieg nie. Immer wieder kam der Hauptmann aus seinem engen Geschäftszimmer in den noch engeren Glaskasten des Lichthofs, um mit dem Unteroffizier, dem Schreiber, der Ordonnanz zu verhandeln und der Dolmetscherin seine Entscheidung zu diktieren.

Schließlich erschien es ihm bequemer, ihr einen Platz in seinem Arbeitszimmer anweisen zu lassen. Und nach abermals ein paar Tagen merkte er heraus, daß er es mit einer gebildeten Frau zu tun hatte. Im Drang der Geschäfte hatte er sich um die Lillerin, die da mit der Mairie vermitteln sollte, nicht weiter gekümmert. Einer der Adjutanten klärte ihn nun auf: soweit er selbst über sie von Oberleutnant West unterrichtet worden war, der sich für ihre Anstellung eingesetzt hatte.

Ihre Tätigkeit bestand hauptsächlich darin, Schriftstücke zu übersetzen und die Liller zu empfangen, die der Einquartierungskommission ihre Schmerzen mündlich vortragen wollten. Bei solchen Empfängen ging ihr rasch der krasse Gegensatz zwischen den Deutschen und den Franzosen auf. Mit unendlichem Wortschwall überschütteten die Einheimischen die Empfangsdame, verschwendeten Höflichkeitsworte in kleiner und kleinster Münze, begannen zunächst von allen möglichen Dingen zu reden, die mit der Sache gar nicht zusammenhingen, und kamen immer erst auf Umwegen auf den Zweck ihres Besuches zurück. Ganz anders der Hauptmann: klipp und klar, in wenig Worten, wollte er unterrichtet sein. Und seine Entscheidung fiel ebenso kurz und fest und unumstößlich. Höflichkeitsumschweife gab es bei ihm nicht. »Sie müssen sich noch mehr der militärisch kurzen Ausdrucksweise befleißigen, Frau Martin, wir haben hier keine Zeit, mit den Leuten ein großes Theater aufzuführen.« Unter den unzähligen Lillern und Lillerinnen, mit denen sie im Verlauf ihres Dienstes in Berührung kam, befanden sich nur wenige, die ihr persönlich bekannt waren. Einmal schickte die hübsche, kleine Frau Gal ihre Karte herein. Das war die junge Gattin eines Universitätslehrers, der im Felde stand. Sie hatte früher von einem Vetter Laroches, dem jungen Arzt Broussart, öfter von ihr gehört. Er schwärmte für ihr tizianblondes Haar. Seitdem sie Strohwitwe war, hatte sich die Freundschaft der beiden noch vertieft. Broussart, dessen ärztliche Tätigkeit nur gering war, saß fast den ganzen Tag bei ihr. Sie malte und musizierte, und Broussart galt für einen Schöngeist. Helene hatte die vielseitige kleine Frau vor dem Kriege nur selten gesehen, seit der Mobilmachung überhaupt nicht mehr. Aber nun kam sie mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, umarmte sie, küßte sie links und rechts auf die Wange und war von einer bezaubernden Herzlichkeit. Mit inniger Teilnahme erkundigte sie sich nach dem Unfall, den Frau Martin bei der Beschießung von Lille erlitten hatte; von Broussart wußte sie, daß sie damals unter den Trümmern des Hauses verschüttet worden war. In ihrer aufgeregten Art klang es, als ob ihr soeben selbst das größte Unglück widerfahren sei. Der Hauptmann trat daher in die Tür und musterte sie mit einem kurzen Blick.

Endlich kam Frau Gal auf den Zweck ihres Besuchs zu sprechen. Man habe in ihrem Hause drei Offiziere mit ihren Burschen einquartiert, die Herren kämen abends um Elf oder Zwölf nach Hause, unterhielten sich dann noch, und schon um sechs Uhr früh stellten sich auf der Treppe die Burschen aus den Mansarden ein und wichsten die Stiefel ihrer Herren. Das ertrügen ihre Nerven nicht, die sowieso schon unter dem ewigen Geschieße litten; sie könne weder malen noch singen noch Klavier spielen, wenn sie keine Nachtruhe mehr fände.

Der Hauptmann lachte dröhnend, als ihm Frau Martin den Inhalt des so dramatisch geführten Gespräches wiedergab. »Wenn es hier Nerven zu schonen gibt, dann sind mir die der deutschen Herren unbedingt die wichtigeren,« sagte er. »Und mir schwant: die unglückliche Einquartierung leidet mehr unter der jungen Hausherrin. Heiliger Brahma, war das ein Wasserfall!« Das Gesuch ward natürlich abgelehnt. »Und künftighin, Frau Martin, wenn die Leute mit gar zu dummen Anliegen kommen: kurzerhand rausschmeißen. Fertig.«

Helene mußte anerkennen, daß der Hauptmann in vielen anderen Fällen eine gerechte Rücksicht walten ließ. Wohnungen, in denen alte Leute, Kranke, kinderreiche Familien lebten, blieben von Einquartierung frei. Viele Häuser waren verschlossen, die Besitzer entflohen. Auch sie waren zunächst noch nicht belegt worden. Bis dem Hauptmann hinterbracht wurde – von Franzosen, die sich darüber ärgerten, daß es ihren Nachbarn besser gehn sollte als ihnen –, daß zahlreiche Besitzer ihre Häuser zugemacht hatten und zu Bekannten gezogen waren. Die Mairie wurde sofort benachrichtigt, im Umsehen meldeten sich darauf die Besitzer, käseweiß vor Angst, und der Hauptmann sorgte dafür, daß sie von nun an häufig in die Lage kamen, Gastfreundschaft üben zu müssen. Fortgesetzt wechselten jetzt die Truppen an der Front und in der Etappe. Nachdem man die paar Wintermonate hindurch von größeren Kampfhandlungen hier in Flandern gar nichts mehr gehört hatte, schien mit dem Eintritt der besseren Jahreszeit da und dort ein großer Schlag geplant zu sein. Der häufige Truppendurchzug ließe darauf schließen, meinte Laroche.

Das war für Helene immer das peinlich-unsichere Gefühl im Verkehr mit Laroche: daß er in seiner lebhaften Art sie über hundert Dinge ausfragte, die zu ihrem Dienst gehörten, und daß sie nie wußte, wie weit sie in ihren Antworten gehn durfte – und welchen Gebrauch er davon machen würde.

Die Begegnung mit der kleinen Frau Gal hatte sie schnell wieder vergessen, aber Dr. Broussart paßte sie einmal, als sie vom Dienst kam, an der Sperre der kleinen Straße ab, in der sich der Eingang der Kommandantur befand. Er begleitete sie auf ihrem Weg durch die mächtigen Torbogen der Mairie bis zum Republikplatz. Der größte Teil dieses Viertels war im vorigen Herbst in Trümmer geschossen worden. In der einsinkenden Dämmerung sah sich das Bild der Ruinen mit den verkohlten Bäumen, die in den vernichteten Gärtchen standen, ganz gespenstisch an.

»Ist es Ihnen nicht ängstlich, abends hier allein zu gehen?« fragte er die junge Frau.

»Man begegnet fast keiner Menschenseele. Ab und zu einem biederen Landsturmmann. Die tun mir nichts.«

»Und Sie fürchten auch nicht, daß Einwohner ein Attentat auf Sie ausüben könnten, weil Sie in deutsche Dienste getreten sind?«

Sie zuckte die Achsel. »Ich helfe ihnen doch – versuche zu erklären und zu vermitteln, um beiden Teilen gerecht zu werden.«

»Gerecht. Hm. Frau Gal fand, Sie hätten sich ihrer Angelegenheit ruhig etwas wärmer annehmen können. Der Kapitän hat den Antrag rundweg abgeschlagen?«

»Rundweg. Und hat stürmisch dabei gelacht. Wenn Frau Gal während des Krieges weder zum Malen noch zum Musizieren käme, so wäre das weiter nicht tragisch zu nehmen.«

Verstimmt ging er neben ihr weiter. »Sie haben eben doch keine Ahnung von Kultur, die Deutschen. Trinken, schlafen, Blechmusik machen, das füllt ihr Leben hier in der Etappe aus.«

»Ich habe es in anderem Lichte gesehen, Broussart. Ich habe hier Männer kennengelernt, die die höchste Achtung verdienen.«

»Hüten Sie sich, Frau Martin, sich von den Boches einfangen zu lassen.«

»Einfangen?«

»Ihr Mann ist französischer Soldat. Die Lillerinnen, die sich während des Krieges mit Deutschen einlassen, kommen auf die schwarze Liste. Sie ist – leider – schon sehr groß. Aber die Vernichtung all der gebrandmarkten Frauen – in gesellschaftlicher, moralischer und wirtschaftlicher Hinsicht – ist unabwendbar.«

Er sagte es in fast drohendem Ton. Sie blickte ihn ernst und würdig an. »Ich verwehre es Ihnen, Broussart, in mein Leben und mein Leiden Einblick zu nehmen. Das trage ich ganz allein. Und Rechenschaft lege ich niemand ab als nur mir selbst.«

Eine Weile blieb es wieder still zwischen ihnen. Dann begann er allerlei von den freiwilligen Helferinnen im Militärhospital zu erzählen und von neuem steigerte sich dabei seine Erregung. Am schlimmsten habe es Frau Manon Dedonker getrieben. Die stehe jetzt auf der schwarzen Liste obenan.

Helene blieb gelassen. »Es hat eine Zeit gegeben, wo mir Manon wirklich nahestand. Wir waren in Dinant die besten Freundinnen. Wir zwei und Geneviève. Aber Manons Wege sind in andere Richtung gegangen.«

»Ja, wahrhaftig, wählerisch war sie nicht. Seitdem ihr Mann in deutscher Kriegsgefangenschaft steckt, ist sie nun schon in dritter Hand.«

»Ach, Broussart, warum erzählen Sie mir das alles? Sie ahnen nicht, wie es mich quält.«

»Glauben Sie, mich begeistert es? Sie hätten unsere hübschen Liller Pflänzchen bei der Krankenpflege mit erleben sollen. Bei den armen Piou-Pious wollten sie nicht bleiben. Und das Getue und Gekichere immer. Auch Frau Manon ist ja nur deswegen zum Roten Kreuz gekommen, weil sie Bekanntschaften machen wollte. Da ist ein kleiner Erbprinz aus … Weiß der Teufel, woher, man kann doch nicht all die Hunnenstaaten behalten … Ja, und an den hat sie sich herangemacht, es war schamlos. Die anderen Schwestern, die eifersüchtig waren, haben es angezeigt, und die Folge ist nun, daß alle französischen Schwestern entlassen worden sind.« Er lachte kurz und trocken auf. »Die Krankenpflege hat darunter ja nicht gelitten, aber es ist beschämend für die Liller Damenwelt. Wo bleibt die Treue, die unsere Kämpfer von ihren Frauen verlangen können!«

Nun konnte Helene doch nicht länger stumm zuhören. »Wie urteilt Frau Gal darüber?«

»Frau Gal?« Er war stehngeblieben. Groß sah er sie an. »Frau Gal ist Patriotin. Sie würde sich doch nie mit einem Boche abgeben? Wo ihr Mann irgendwo im Elsaß für das Vaterland kämpft.«

»Und – Sie selbst, Broussart, der Sie der glühendste Patriot sind, verehren Sie Frau Gal vielleicht nicht doch leidenschaftlicher, als es ihrem Mann dort irgendwo im Elsaß lieb sein würde, wenn er's wüßte?«

Er wich mit seinem Blick aus und ging weiter. »Es handelt sich darum, daß es in Lille leider so viele Damen bester Kreise gibt, die in ihrem Kriegs-Strohwitwentum vergessen, was sie Frankreich schuldig sind.«

»Und sich – ihrer Frauenwürde.«

Ihre Stimme klang herb und stolz. Er wußte zunächst nichts zu erwidern.

Als sie in der Rue Inkerman an Laroches Haus ankamen, sagte er achselzuckend: »Man ist Patriot. Natürlich. Aber doch kein Philister.«

An diesem Abend war es Helene fast unerträglich, Laroche mit anhören zu müssen. Er brachte wieder aus dem Café Boulevard allerlei aufregende Nachrichten. Die deutsche Soldatenzeitung, die jetzt im Hause des »Echo du Nord« gedruckt wurde, hatte soeben Sonderblätter an allen Ecken der Stadt anschlagen lassen: von einem großen deutschen Sieg über die Russen. Laroches Zuträger freilich waren genau darüber unterrichtet, daß diese Nachrichten erlogen seien und daß die Befreiung von Lille bestimmt zu Ostern zu erwarten sei. Der Geschützdonner, den man in den letzten Tagen wieder so nervenaufpeitschend scharf gehört habe, bedeute den Anfang eines neuen französischen und englischen Siegeslaufes: die Deutschen hätten ihre Linien hier in ganz Flandern bereits um zwei Kilometer zurückverlegen müssen. Ein Erfolg der weittragenden neuen Hundertzwanzig-Millimeter-Geschütze. Das Verhältnis bei den letzten Kämpfen im Stellungskrieg sei glänzend: ein toter Franzose auf zehn tote Deutsche.

»Wie ist die Stimmung der Leute in der Kommandantur?« fragte er Helene. »Lassen sie sich die Enttäuschung anmerken, oder heucheln sie noch immer ihr altes Siegesbewußtsein?«

»Was soll ich darauf erwidern, lieber Freund?« sagte Helene matt. »Gewiß, sie sehnen sich alle danach, heimzukommen. Aber zuvor – wollen sie siegen.«

Sie speisten nun immer zu dritt. Frau Laroche aß schon um sechs Uhr mit den Kindern und ging dann in ihr Schlafzimmer. Ihre Vorbereitungen zur Nacht, vor allem das Haarfärben, erforderten lange Zeit. Sie fühlte sich am behaglichsten in der Nachtjacke. Wenn die Erschütterungen des Kanonendonners zu stark wurden, stopfte sie sich dicke Wattepfropfen in die Ohren und legte sich frühzeitig ins Bett. Sie war zufrieden, wenn ihr Mann, bevor er schlafen ging, ihr väterlich Gutenacht sagte. Gern fühlte sie sich wegen ihrer Kränklichkeit und Schwächlichkeit als Kind behandelt und gehätschelt. Auf die älteste Tochter, die sie in allem vertrat, konnte sie sich ja blindlings verlassen. Die Anwesenheit von Helene beruhigte sie auch darüber, daß ihr Mann in geistiger Hinsicht irgend etwas entbehrte. Mit ihr konnte er politisieren – was ihr selber so furchtbar langweilig war – und die Schwärmerei für Helene war nun doch einmal sein Johannistrieb. Es war ihr so alles ganz bequem.

Hans West, der immer einmal auf ein paar Minuten sein Auto halten ließ und bei Helene vorsprach – in der Inkermanstraße oder in der Kommandantur – hielt es für geraten, daß sie die Beziehungen zu ihrem französischen Umgang abbrach. Vielleicht fände sie bei den deutschen Schwestern Anschluß. Er hatte ihr versprochen, mit dem Obergeneralarzt des Gouvernements oder einem der Delegierten Rücksprache zu nehmen. Heute empfand sie's wieder einmal recht quälend, daß sie zwischen den Nationen stand. Von beiden Seiten ward ihr selbst das beschränkte Vertrauen nur wie ein Almosen.

Als sie am andern Morgen das Badezimmer verließ, lief ihr die stupsnasige Berthe in den Weg. Atemlos kam die vom Erdgeschoß heraufgestürmt und brachte die Botschaft: im Musikzimmer wartete der deutsche Offizier auf sie, vor dem Hause ratterte sein Kraftwagen, und er hatte den ganzen Arm voller Blumen, und Benjamin sagte, er wagte sich nicht hinaus, zur Schule, weil sie in der Nachbarschaft aus allen Fenstern heraussähen, die Tür beobachteten und ihn hernach fragten, was das Militär bei ihnen wollte.

Sie trat bei Geneviève ein, die noch an ihrem Putztisch saß; Berthe folgte, die Nachricht wiederholend.

Geneviève schob den Vorhang ein wenig zur Seite. Ja, richtig, überall standen sie wieder auf der Lauer. »Sie haben jetzt so gar keine Abwechslung, die armen Tierchen,« sagte sie mitleidig, »da ist es für sie natürlich ein Ereignis und ein Gesprächsstoff, wenn irgendwo ein Auto vorfährt. Die Maschine des Herrn West macht aber auch wirklich einen unverhältnismäßig starken Lärm.«

Berthe nickte strahlend. »Weil sie kein Benzin mehr haben, sagt Benjamin. Der weiß es von Antoine Bergerat.«

Helene horchte auf. »War Antoine hier?« fragte sie Geneviève.

»Er hat sich seine Unterstützung geholt. Und ich hab' ihn ein paar Schlösser nachsehen lassen, um ihm etwas zu verdienen zu geben.«

»Aber wenn er nun dabei einem Deutschen in die Arme liefe –!«

Lächelnd meinte Geneviève, indem sie ihren Kammkasten zuklappte: »Hier fühlt er sich sicher. Du bist ja unser Aushängeschild für die Deutschen. Nicht?«

Helene erwiderte nicht. Nein, diese ewigen Unaufrichtigkeiten waren nicht mehr zu ertragen. Ernstgestimmt verfügte sie sich ins Erdgeschoß.

»Nur Guten Morgen wollt' ich Ihnen sagen,« begrüßte sie der Pionier in dem feierlichen Empfangssalon, in dem die zahlreichen Polstersessel immer mit einem Leinwandbezug versehen waren und ebensowenig zum Verweilen einluden wie der niegeheizte Marmorkamin mit der unaufgezogenen Standuhr, den blumenleeren Vasen und den kerzenlosen Prunkleuchtern. Er hatte die Blumen von dem Marmortisch unter dem mächtigen venezianischen Spiegel wieder aufgenommen. »Ein paar Frühlingsboten aus Frelinghien. Ich war die Nacht draußen an der Front. Consentius hatte mich eingeladen. Denken Sie: zwischen den Batterien haben sie da Gemüse und Blumen gepflanzt. Die Osterglocken und Schneeglöckchen sind die erste Ernte. Ich wollte noch abends zurück, aber das Feuer war zu stark. Und eben, wie ich in mein Quartier komme, liegt ein Telegramm da: ich hab' den zweiten Stern. Das mußt' ich Ihnen doch gleich melden, nicht?«

»Hauptmann sind Sie geworden?« Sie streckte ihm beide Hände entgegen. »Ja, ist das nicht abenteuerlich früh? So jung an Jahren?«

Er lachte. »Es war für mich höchste Zeit, sonst wäre mir am Ende Theo, der Frechdachs, noch zuvorgekommen. Diese Flieger haben ja ein Geschwindtempo, daß man fast atemlos wird.«

Platz nehmen wollte er nicht, es lag noch zu viel Arbeit für den Vormittag vor ihm. Aber mit seiner frischen Art brachte er ihr in den paar Minuten doch wieder so viel Lebensmut …

»Und ein Unterkommen hab' ich für Sie auch schon aufgestöbert. Der Obergeneralarzt hat mich an die Bahnhofskommandantur gewiesen. Die deutschen Städte errichten überall im besetzten Gebiet Verpflegungsstätten. Voraussichtlich trifft in den nächsten Tagen eine kleine Abordnung aus Frankfurt hier ein: Zivilärzte mit Schwestern vom Vaterländischen Hilfsverein, Pflegerinnen und Wirtschaftspersonal. Dort finden Sie gewiß netten Anschluß. Es sind gebildete deutsche Frauen dabei. Sobald ich Näheres weiß, melde ich mich wieder. Vom Sieg in Rußland haben Sie gehört?«

Sie atmete tief auf. »Die Nachricht ist wirklich wahr?«

»Amtlicher Bericht.«

Die wundervolle Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der jeder Deutsche der amtlichen Darstellung Glauben schenkte, machte ihr doch immer wieder Eindruck. »Und wann wird das Morden enden?« fragte sie. »Hat es denn einen Sinn, daß hochentwickelte Völker sich so zerfleischen?«

»Wir haben ja den Krieg nicht gewollt.« Er nahm seine Mütze wieder auf. »Solange Sie noch hier bei den Franzosen sind, können Sie's ihnen nicht oft und eindringlich genug predigen: Frankreich besorgt nur Englands Geschäfte.« Lachend brach er ab. »Aber ich war nicht gekommen, um Politik zu machen – nur um Ihnen recht herzlich Guten Morgen zu sagen.«

Hin und her riß es sie; in ihrem Dienst bei der Kommandantur dieses sichere, gelassene Siegesbewußtsein, diese Ordnung, diese fast philiströse Genauigkeit, diese strenge Aufsicht über alle Heeresangehörigen, die hier denselben peinlich beobachteten Gesetzen und Regeln unterworfen waren wie in irgendeiner kleinen deutschen Garnison – und bei den Franzosen dieser in alter Heftigkeit weiterwuchernde, fast hysterische Haß. Helene wich schon jedem Gespräch mit Laroche über die allgemeine Lage ängstlich aus. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten entstanden dadurch oft Lücken in der Unterhaltung. Wenn nicht der Kern in Laroche so achtungswert gewesen wäre, hätte sie die Gastfreundschaft auch nicht einen Tag länger in Anspruch nehmen wollen. Ungeduldig wartete sie auf nähere Nachricht von Hans West über die neue Verpflegungsstätte aus dem Nordbahnhof.

In einen seltsamen Gewissenskampf geriet sie da einmal auf dem Amt, als sie Zeuge einer kurzen Verhandlung zwischen einem vorübergehend hier einquartierten höheren Kommandeur und dem Leiter der Quartierkommission ward. Sie war in dem kleinen Geschäftszimmer mit Übersetzungsarbeiten beschäftigt, als dem Hauptmann der Brigadier gemeldet wurde. Der General wollte nicht erst eintreten, war sehr beeilt, die kurze Unterredung spielte sich zwischen Tür und Angel ab. Helene hörte dabei aber die Nummer des Hauses am Boulevard Vauban nennen, das Manon Dedonker bewohnte. Unwillkürlich hob sie den Kopf von der Arbeit auf.

»… Bitte, bitte, keine Umstände, mein lieber Herr Hauptmann, ich weiß, Sie haben hier kein leichtes Arbeiten. Ich wollte auch keine Beschwerde anbringen. Nein, alles über Erwarten gut. Famoser Stall, luftig und sauber, meine Gäule tadellos untergekommen. Und der Unteroffizier und die Burschen wie in einem Schweizer Hotel.«

»Und Exzellenz selbst?«

»Vorzüglich. Badezimmer, elektrisches Licht, Schlemmerbett, alles da. Meine Herren können auch nicht klagen. Aber hören Sie mal, was ist das für eine Person, der da unser Palazzo gehört?«

Der Hauptmann hatte in die Kartothek gegriffen. »Das ist eine Frau Dedonker. Ihr Mann ist Belgier. Direktor einer Zuckerfabrik, jetzt kriegsgefangen in Deutschland. Sie ist die Tochter eines gewissen Herrn Ducat. Léon Ducat: Notar, maßlos reicher Herr, Stütze der Stadt. Er soll aber bei Beginn der Belagerung nach Paris und mit der französischen Regierung auch gleich noch weiter nach Bordeaux geflohen sein.«

»Also um das junge Frauchen handelt sich's. Ich bin kein Moralfatzke, bewahr' mich der Himmel. Aber es liegt hier doch der Kommandanturbefehl vor, daß die Bevölkerung mit Zapfenstreich die Straße räumt, nicht wahr? Na, aber die junge Hausfrau sucht abends, wie ich höre, eine Bar auf und kommt erst morgens wieder heim. Hören Sie, das paßt mir nicht. Hernach gibt's womöglich noch Gequassel darüber. Anzapfungen. Ich will wegen der kurzen Zeit, die wir noch hier in Ruhe liegen, nicht das Quartier wechseln. So wichtig ist die ganze Geschichte ja überhaupt nicht. Aber lassen Sie der Dame doch mal einen leisen Wink geben, daß sie's einem in ihrem Hause nicht unmöglich machen soll! Schon der Burschen halber.«

»Zu Befehl, Exzellenz.«

»Um Gottes willen, mein lieber Herr Hauptmann, das soll kein Befehl sein. Bloß nahelegen wollt' ich Ihnen die Sache. Ich kam eben hier vorbei – sonst hätt' ich mir's überhaupt verkniffen. Denn wenn unsereiner, der über Sechzig ist, moralische Anwandlungen kriegt, dann ist's besser, er macht sich damit nicht allzu mausig.« Er lachte und ging.

Helene ward gleich darauf ins Geschäftszimmer gerufen, wo der als Maschinenschreiber tätige Landsturmgefreite saß. Sie bekam den Auftrag, eine Anzahl Briefe zu übersetzen. Während der Hauptmann die Mappe durchblätterte, um ihr die Schriftstücke zu bezeichnen, diktierte er dem Soldaten eine kurze Meldung an die Militärpolizei: »Nach hier eingelaufener Anzeige verstößt die Quartierinhaberin Frau Dedonker, geb. Ducat, Boulevard Vauban, gegen Kommandanturbefehl vom Fünften vorigen Monats betreffend Zapfenstreich. Zeuge hat in Erfahrung gebracht, daß die qu. Dedonker nächtlicherweile in Bars verkehrt. Gelegentliche Hausrevision erscheint geboten.«

Als Helene an diesem Abend heimkam, war sie so still und gedrückt, daß es Geneviève und deren Vater auffallen mußte. Sie drangen beide in sie, ihr Herz auszuschütten. Sie kämpfte lange mit sich. Erst als sie mit Geneviève allein war, enthüllte sie ihr, was der Zufall ihr da verraten hatte. »Sich vorzustellen, daß man einmal so innig befreundet war, sich liebgehabt hat, und jetzt solch ein tiefer Fall –!«

Geneviève hatte die Brauen zusammengezogen. Ein paar Sekunden überlegte sie. Dann sah sie nach der Uhr. »Ich gehe zu ihr. Wir haben uns ja lange nicht mehr gesprochen. Aber den Triumph gönne ich den Boches nicht. Ich werde sie warnen.«

 

Anderen Tags erschien Frau Manon in der Inkermanstraße, jung, frisch, fröhlich, in einem neuen, hübschen Frühjahrskleid, mit dem hier noch gar nicht gesehenen kurzen und weiten Rock und dem auffallend kleinen Hütchen, das sich der Frisur anschmiegte wie eine belgische Soldatenmütze. Die »Apfelgesichter«, wie sie, Helenens Kosewort aufnehmend, die Kinderschar Laroches begrüßte, waren entzückt, sie wiederzusehen. Natürlich hatte sie eine weiße Pappschachtel von Delespaul & Havez mit, die ein paar Pfund Konfekt enthielt. Und für Mama Laroche brachte sie einen Strauß Narzissen.

Helene und Geneviève befanden sich gerade auf ihrem gewohnten kleinen Spaziergang, den sie nach dem Kaffee unternahmen. Um drei Uhr mußte Helene wieder auf der Kommandantur sein; auch Geneviève konnte sich keine längere Mittagspause gestatten, denn die Arbeiten, die sie für ihren Vater zu leisten hatte, wurden immer umfangreicher. Als sie heimkehrten, klang das ganze Haus von Lachen wider. Alle Kinder waren im. Schlafzimmer von Mama Laroche versammelt. Manon erzählte in ihrer lebhaften, drolligen Art allerlei Geschichtchen von ihrer Einquartierung. Sie ahmte das Französisch einzelner Offiziere und Mannschaften nach, gab zweideutig wirkende Fehler in der Satzbildung oder in der Aussprache wieder, sie schilderte ein paar Begegnungen, die sie beobachtet hatte, eine Art Liebeswerbung eines Ulanenwachtmeisters, der sich in ihre Zofe verschossen hatte. Liddy, die kleine Belgierin, war ein Teufel; sie behexte sie alle. »Noch ein paar tausend solcher kleinen Satans – und wir hätten den Krieg gewonnen!« sagte sie.

Man lachte, man bog sich, dazwischen wurden die Schokoladeherrlichkeiten geknabbert, die Narzissen wanderten von Hand zu Hand, die Kinder drängten sich, auf den Lehnen von Manons Polsterstuhl zu sitzen, Benjamin mußte das Spottgedicht von der deutschen Wachtparade aufsagen, das sie einander in der Schule beibrachten, in den Zwischenpausen, und Fleurette nahm die Gelegenheit der allgemeinen guten Stimmung wahr, um rasch aus den Halbschuhen zu schlüpfen und zu Ma ins Bett zu huschen. Da kuschelte sie sich bettelnd an die Mutter an. Wenn Geneviève zu Hause war, duldete sie's nicht.

So wirkte denn die Ankunft der zwei zuerst etwas störend, mindestens dämpfend. Selbst Frau Laroche machte kein Hehl daraus. »Ach, liebe Manon, es ist gar kein Leben mehr hier bei uns. Der dumme Krieg. Auch mein Mann hat nur noch diese abscheuliche Politik im Kopf. Wann haben wir zuletzt gelacht? So wie heut? Ich erinnere mich nicht. Und es gibt keine Eier mehr, keinen Schinken, keine Sahne. Fleurette solle man die Nerven mit Fett polstern, sagt der Arzt. Ja, wie kann man das machen? Fleisch? Geflügel? Die Tauben sind alle abgeschossen. Auf dem Markt kein einziges Täubchen mehr zu haben. Die deutsche Behörde hat Angst vor den Brieftauben, heißt es. Aber warum bekommt man keine Enten mehr? Sind das etwa Briefenten?«

Das belustigte sie nun alle wieder. Und Mama Laroche, die fühlte, wie gut gelaunt sie war, fuhr in dieser Tonart fort. Benjamin ward von der allgemeinen Fröhlichkeit so zur Ausgelassenheit hingerissen, daß er auf das Fußende des mächtigen Doppelbetts kletterte, um sich als »Seiltänzer« auf dem schmalen, geschweiften Rand bewundern zu lassen. Wenn er schwankte, kreischte Fleurette angstvoll; darüber mußten sie sich dann alle wieder ausschütten vor Lachen.

Sie waren schließlich ganz matt, als Geneviève heraufkam. Aber sie empfanden es wie eine Verbannung, daß Tante Manon mit der Ältesten hinuntergehen sollte. Auch Mama Laroche fühlte sich schwer geschädigt. Natürlich stürmten die Apfelgesichter hernach wieder alle ins Erdgeschoß mit.

Angèle hatte noch einmal Kaffee machen müssen. Im Musikzimmer wurde er aufgetragen. Geneviève mußte sich erst wieder mit ernstem Gesicht in dem anstoßenden Gartensaal, in dem sich alle fünf Blondköpfe versammelt hatten, zeigen, damit sie eine Weile ungestört blieben.

Der Besuch hatte an dem ungeheizten Kamin Platz genommen und musterte zwischen langsamen, genießerischen Zügen aus der Zigarette die beiden Freundinnen. Geneviève wirkte nicht besonders fein; man hätte sie für eine Operettensängerin halten können, weil ihr Blond so unnatürlich aussah: wie auf dem Theater. Dabei war sie doch ein so ernster, unwirklich weltabgewandter Mensch. Und Helene hatte nach Manons Meinung stark eingelegt. Sie war in der Pension unstreitig die Schönste gewesen; ihre wundervolle, schlanke, biegsame Figur, die gewinnende Art ihres Lächelns, die leicht verschleierten, feuchten, braunen Augen mit den langen, dunklen, seidenweichen Wimpern … Die »Pariserin« hatte sie in Dinant geheißen, die größte Anerkennung, die es für eine Französin gab. Aber Helenens Formen waren jetzt überschlank, ihre Gesichtszüge zu sehr durchgeistigt … Dieser Mund hat noch wenig geküßt, dachte Manon mitleidig.

»Ach, Kinder, was für einen Zweck hat denn dieses ganze Leben,« sagte sie, auf Genevièves Vorhaltung von gestern abend zurückkommend, »wenn wir das Schönste und Herrlichste ausschalten, was uns die Natur geschenkt hat. Ich hab' dich so oft innig bedauert, Geneviève. Deine Jugend geht hin – und du hast keine Liebe.« Da es in den Augen des ernsten Mädchens aufblitzte, streckte sie abwehrend die Hand aus und lachte. »Nein, Süße, deine Schwärmerei für den kleinen Vetter rechne ich nicht. Du hast immer nur platonisch geliebt. Platonisch ist furchtbar. Denn es ist unnatürlich.«

»Ja, liebe Manon, darin werden wir uns wohl nie verstehen. Solange dieser entsetzliche Krieg dauert, schweigt in mir alles.«

»Weil noch nie etwas in dir gesprochen hat.« Manon warf ihren Zigarettenrest in die Schale. »Aber in mir schreit es. Ja, ja, ja. Andere haben vielleicht nicht den Mut, es einzugestehen. Aber ich sage es ganz offen. Ein Leben ohne Liebe« … Und sie trällerte ihr Lieblingsliedchen: › Ninon, Ninon, que fais-tu de la vie …

Helene saß in Mama Laroches moosgrünem Plüschsessel. Sie hatte die Hände zu den Schläfen gehoben. War es denn möglich, daß eine Frau von Geschmack, von guter Abkunft, bester Erziehung, eine Frau, auf die man in der ganzen Stadt sah, und die auch der Feind für eine Verkörperung der guten Liller Bürgerkreise halten mußte, sich so aller Würde begab? Seitdem Manon von ihrem Gatten getrennt war, hatte sie keine Herrschaft mehr über ihre Sinne und ihren Ruf. Ihrem Vetter André Ducat, dem leichtsinnigen Major, hatte sie gehört. Sie machte kein Hehl daraus. Leidenschaftlich habe sie ihn geliebt, sagte sie. Aber nach seiner Flucht war sie in eine Gesellschaft geraten, in der ihr der rettungslose Untergang drohte: aus Langerweile hatte sie einmal die Einladung der blonden Lou angenommen, sie in die Bar der Nitouche zu begleiten. Da waren junge deutsche Offiziere, es wurde Klavier gespielt, Champagner getrunken und getanzt, und es war nach vielen, vielen entsetzlich öden Wochen endlich einmal wieder ein Abend, an dem man lachen, angeregt plaudern, singen, vergessen konnte …

»Lou?« fragte Helene tonlos. »Das ist die Freundin, die der junge Bertrand hatte, der Fabrikantensohn?«

»Sie war ihm treu – sie hatten einander lieb – und wahrscheinlich hätte er sie geheiratet. Der Tod hat sie getrennt. Sie hat die wundervollen Perlen von ihm geerbt. Aber auch Witwen müssen doch nicht ihr ganzes Leben vertrauern. Einmal erwacht doch alles wieder.«

Geneviève stampfte mit dem Fuß auf. So zornig hatte noch keine der beiden sie je gesehn. »Aber daß ihr's dort mit Deutschen haltet – o, das werde ich euch nie vergeben, nie, nie, nie!«

»Mit wem kann man's sonst halten, Geneviève?« fragte Manon und lachte, indem sie sich eine frische Zigarette ansteckte. »Es sind ja bald nur noch Knaben unter Sechzehn und Greise über Fünfundfünfzig hier; alle andern schaffen sie doch fort. Und man muß Unterschiede machen. Es gibt unter den deutschen Offizieren schöne Menschen. Und Leute von Benehmen. Fast wie Engländer, sag' ich dir. Da ist der junge Prinz …«

»Ich will gar nichts von ihm hören, Manon. Ach, wenn Papa das alles wüßte. Traurig, traurig.«

»Sie sollen doch lieber dafür sorgen, unsere Patrioten, daß wir bald wieder Frieden haben … Ihr müßt sie sprechen hören, die Deutschen. Sie sind gar nicht die schrecklichen Barbaren. Waren in Paris, lieben Paris, viele sprechen tadellos Französisch, singen und spielen und tanzen brillant. Und unsere gemeinsamen Feinde sind nur die Engländer.«

»Manon!« Ganz entsetzt sah Geneviève die Freundin an. »Und das hörst du dir an?« Sie wandte sich an Helene: »Was sagst du? Ist es nicht furchtbar?«

Manon machte eine überlegen abwehrende Bewegung. »Helene brauchst du gar nicht erst als Richterin anzurufen. Ihr Herz hat doch auch schon längst gesprochen. Helene, ist's nicht so? Der Pionier, was? … Nun, und ihr eigener Mann kämpft drüben gegen die Deutschen mit. Ich weiß mehr, als ihr ahnt.«

Helene hatte sich kerzengrade aufgerichtet.

»Du weißt etwas – von George?«

»Allerhand. Er hat wohl nur die Wahl gehabt, entweder wieder ins Gefangenenlager abgeschoben zu werden oder ins Heer einzutreten – und da ist er Soldat geworden. Lou hat Nachricht. Sie hat ihre Beziehungen nach drüben. George ist seit Weihnachten auf dem Flugplatz Ducerne. Zuerst war er nur Kraftfahrer, im Februar hat seine Ausbildung als Flugzeugführer in Ducerne begonnen. Ich hätte dir's längst gesagt, Helene, wenn du nicht so spurlos verschwunden gewesen wärst.«

»Woher weiß das Lou? Manon, um Gottes willen, sag' doch!«

»Woher? Woher?« Manon hob die Achsel und blies den Rauch in leichten Ringen in die Luft. »Das wird sie mir nicht sagen. Aber ich weiß, daß ihre Nachrichten zuverlässig sind. Sie hat auch schon allerlei nette Dinge von hier nach Paris berichtet. Gewisse anspruchsvolle Herren hier in der Verwaltung werden sich wundern, zu erfahren, wie man drüben über sie urteilt.«

Geneviève schüttelte den Kopf. »Wie traurig ist das alles. Jetzt müßten doch alle, alle innig zusammenhalten … Wie können wir denn siegen, wenn wir den Kampf ins eigene Lager tragen?«

»Du bist ja immer eine so kluge Politikerin gewesen, Geneviève. Ich habe dich oft angestaunt. Aber freilich ebenso oft bedauert. Mit eurer Politik werdet ihr den Sieg doch nicht erringen.«

»Warte nur die Offensive im Mai ab, Manon! Dann werden sie aus dem Lande verjagt werden, alle, alle …«

»Vielleicht dein Glück, daß du daran noch glaubst, Geneviève. Und du, Helene, schweigst? Du sprichst mit deinem Freund doch auch darüber? Und hörst doch, wie sie untereinander sprechen, die Deutschen, nicht? Hast du je einen gehört, der nicht siegesgewiß wäre?«

Helene stand am Fenster. Sie war in namenloser Erregung. Lou hatte Nachricht von ihrem Mann! Woher? Auf welchem Wege? Und wußte sie noch mehr?

»Höre, Manon,« sagte sie stockend, »ich muß Lou sprechen … Verschaffe mir eine Möglichkeit.«

»Antworte doch erst einmal, Helene! Geneviève glaubt mir sonst nicht.«

»Ach, Manon, hier geht es nicht ums Rechthabern Wenn du ahntest, was ich durchgemacht habe, seitdem wir uns zuletzt gesehn haben, würdest du Mitleid haben.«

»Mitleid hab' ich mit euch beiden. Mit dir wie mit Geneviève. Ihr vernichtet euch selbst die allerschönsten Jahre. Mit eurer dummen Politik. Laßt die doch die Männer unter sich abmachen! Es gibt in jedem Lande Kluge und Dumme – Lustige und Langweilige – Gesunde und Kranke – Schöne und Häßliche – Junge und Alte. Und wenn einer lustig, gesund und schön und jung ist und mich lieb hat, dann – dann brauchte er noch nicht einmal besonders klug zu sein, er genügte mir auch so. Sein Patriotismus gibt mir jedenfalls nichts, gar nichts.«

Geneviève geriet ganz außer Fassung. »Manon, du sollst nicht so sprechen, ich dulde es nicht.«

»Ach, Süße, vielleicht muß man schon Fünfundzwanzig sein wie ich, um das Leben zu begreifen. In meinen Jahren hält man eben das Glück fest.«

»Was nennst du Glück?«

»Etwas – das du noch nicht kennst, kleine Geneviève.«

»Und das ich also abwarten kann!«

»Du Eiszapfen. Nun ja, vielleicht. Aber es wird länger dauern, als du jetzt denkst. Die Engländer wollen ja zehn Jahre Krieg machen. Und die Deutschen richten sich auch schon darauf ein.«

»In sechs Wochen sind die Deutschen zum Rhein zurückgejagt – und von Osten her peitschen die Russen sie nach Berlin zurück.«

»Erzählt ihr euch die Märchen immer noch?« Manon zerdrückte ihre Zigarette in der Marmorschale. »Ihr müßtet nur hören, wie sie darüber lachen, die Deutschen. In Paris und London erzählt man sich, sie hätten die Hungersnot in Berlin. Und ihr solltet die Kisten und Kasten und Säcke und Pakete voll Schinken und Speck und Würste und Schokolade und Honigkuchen sehen … So viel wie jetzt haben die Pariser Zeitungen nie gelogen. Im Frieden habe ich ihre Skandalgeschichten ja immer gern gelesen. Aber jetzt … Ja und das ist unsere gerechte Strafe, daß wir nun hier dafür das entsetzliche ›Bulletin de Lille‹ lesen müssen.«

Sie standen jetzt alle drei. An der Glastür, die zum Gartensaal führte, preßten sich die Nasen von Louise, Fleurette und Madeleine. Aber sie wagten doch nicht hereinzukommen, die Apfelgesichter, weil die Unterhaltung hier so ernst und so stürmisch geworden war.

»Besuche mich doch einmal, Helene,« sagte Manon, ihre Handschuhe aufstreifend. »Oder – wenn dir das zu gefährlich ist – können wir uns irgendwo einmal treffen. Ich benachrichtige dann Lou. Sie ist sehr gerissen und kann dir helfen, davon sei nur überzeugt. Ja und dir, meine liebe Geneviève, will ich also nur wünschen, daß der Krieg nicht so verläuft, wie's alle voraussehn, die nicht zum Komitee Laroche gehören. Denn dauert er wirklich noch zehn Jahre – dann kann es dir schließlich gleichgültig sein, wer Sieger geblieben ist. Betrogen wärst du dann um deine ganze Jugend. Und dein kleiner Vetter hätte längst eine andere Flamme – falls er überhaupt noch lebte.«

Sie ließ einen Duft zurück, den die Blondköpfe gierig einatmeten. Auch der Zigarettengeruch war etwas Seltenes. Weil Ma so empfindlich dagegen war, rauchte der Vater zu Hause nur hinten im Billardzimmer. Geneviève öffnete ein Fenster. Sie erstickte fast in ihrem ohnmächtigen Zorn, daß Manon sie so überlegen spöttisch abgefertigt hatte.

Helene mußte sich jetzt beeilen, aufs Amt zu kommen. Der Hauptmann begann den Dienst mit dem Glockenschlag und verlangte von allen seinen Leuten dieselbe Pünktlichkeit.

Bei ihren Übersetzungsarbeiten war sie heute sehr zerstreut. Die Begegnung mit Manon Dedonker, die Nachricht über ihren Mann hatte alles in ihr aufgepeitscht. Die Vorstellung, George könnte die Treulosigkeit gegen sein altes Vaterland so weit treiben, daß er die Waffen gegen Deutschland ergriff!

Als es zu dunkeln begann und in den einzelnen Geschäftszimmern der Kommandantur nach und nach die elektrischen Birnen aufflammten, ward dem Hauptmann Besuch gemeldet: Hans West. Helene fühlte wohl heraus, daß er lediglich ihrethalben kam. Die Quartierangelegenheit, die er zur Sprache brachte, diente nur als Vorwand.

»Ich muß aus dem schrecklichen Hotel hier heraus! Das ist ja ein Marterkasten gegenüber dem einfachsten Unterstand! Ist's nicht möglich, daß Sie mir irgendwo an der Weichbildgrenze ein winziges Landhäuschen anweisen? Oberleutnant Consentius möchte mit mir ziehen.«

»Können Sie's bequemer haben als im Hotel? Bad, elektrisches Licht, zwei Schritt zum Speisesaal, Lesezimmer, Billard, alles da, abends fahren Sie mit dem Fahrstuhl unmittelbar vom Kneiptisch ins Schlafzimmer …«

»Ja, wenn ich's bequem haben wollte. Aber will ich's denn? Ich gebe Ihnen das Billard und den Fahrstuhl und den Kneiptisch widerspruchslos hin für das winzigste Bauerngärtchen.«

»Den ganzen Tag treiben Sie sich draußen im Freien herum – das genügt Ihnen also noch nicht?«

»Draußen sehe ich Stacheldraht, Schanzarbeiter, Laufroste, Sandkuhlen, Lehmlöcher, Bretterhaufen … Ich möchte ein paar Beete mit Goldlack bepflanzen – vielleicht auch mit Radieschen – aber etwas wachsen sehen möcht' ich, so recht nahe, damit man doch immer mal wieder das ewige Morden vergißt.«

Der Hauptmann lachte über den jungen Kameraden und versprach, in der Kartothek drüben Umschau zu halten.

So blieb Helene allein mit ihm. Er hatte sich auf dem Stuhl neben ihrem Schreibtisch niedergelassen, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände überm Knie verschlungen. Die Frühjahrssonne hatte ihn tüchtig verbrannt. Das Weiße seiner jungen, lustigen Augen, die weißen Zähne hoben sich leuchtend gegen das braune Gesicht ab.

»Wird es Ihnen nicht einsam werden, wenn Sie abends die Kameraden nicht mehr haben?« fragte Helene.

»Ich hab' mir ein Cello angeschafft. Will wieder üben. Consentius spielt wunderschön Klavier. Bei schlechtem Wetter wird in den Freistunden musiziert. Und sonst wird Unkraut gerupft, geharkt, gepflanzt, gejätet … Wirklich, es ist trostlos, wie man in unserm Kriegshandwerk der Natur entfremdet wird. Bruderleben sagte das gestern auch. Drum haben sich die Leutchen auf ihrem Flugplatz eine große Gemüsezucht angelegt. Die Franzosen rissen die Augen auf, sagt er. Ob es denn möglich sei, daß wir daran dächten, die Ernte noch hier abzuwarten? Tatsächlich hoffen sie ja noch immer von einem Tag auf den andern, daß die Engländer hier in Lille einziehen … Aber Sie gefallen mir heute gar nicht, Frau Martin, ganz stubenblaß sehen Sie aus und leidend.«

Es war ein hilfloser Blick, der ihn traf, als sie die Augen zu ihm aufschlug. »Sie sind ein guter Freund,« sagte sie stockend, »meinen es so ehrlich mit mir – aber mir ist manchmal so verzweiflungsvoll elend zumute, daß ich wünschte, Ihre Pioniere hätten mich damals aus dem zusammengeschossenen Hause nicht ausgegraben.«

Der junge Hauptmann zog die Brauen zusammen und zeigte rasch nach dem großen Diplomatenschreibtisch, der dem älteren Kameraden gehörte … »Sie haben zu klagen? Hier?«

»Bewahre, bewahre. Es sind nur Stimmungen. Ich kann eben darüber nicht hinaus, daß mein Mann …« Seufzend brach sie ab. »Nein, es ist zu grausam quälend!«

Eine Weile sah er sie prüfend an. »Sie können die Trennung von ihm noch immer nicht überwinden?« Es war, als ob eine Blutwelle, die über seine Stirn huschte, Eifersucht verriet. »So tief wurzelt Frauenliebe?«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Die Liebe zu meinem Mann ist längst erloschen,« sagte sie tonlos. »Ich habe oft daran gedacht, wie es sein würde, wenn wir uns nach dem Krieg wiedersehen. Ob es wohl möglich wäre, daß eine langvergessene Zärtlichkeit wieder erwachen könnte – wenn eine so böse Zeit dazwischen liegt, in der alles fehlte, worauf sich die Liebe einer Frau stützen will: Bewunderung, Stolz und Achtung.«

»Ich kann Sie verstehen, Frau Martin,« sagte Hans West. »Jeder Deutsche muß Sie in diesem inneren Kampfe verstehen. Ein Mann, der in dieser Not seinem Vaterlande nicht beigesprungen ist, der – – ist für uns Soldaten erledigt.«

Tief atmete Helene aus. »Und darum – darum werde ich mich lossagen von ihm – innerlich und äußerlich – falls es wahr sein sollte, daß er im französischen Heer kämpft. Das ist mein unverbrüchlicher Entschluß.«

Er hätte in dieser Stunde wohl endlich den Mut gefunden, ihr zu gestehen, daß ihr Bild seit einem halben Jahr ihn nicht mehr verließ, und wie ihr Schicksal ihn bewegte … Aber der ältere Kamerad kam zurück, und er konnte hernach, als er sich verabschiedete, ihr nur durch den festen Händedruck verraten, daß er noch so viel auf dem Herzen hatte.

»Es ist natürlich kein Rittergut, lieber West, in das ich Sie da einsetzen könnte,« sagte der Hauptmann, »aber es scheint sich für ein Barbarenschlößchen ganz gut zu eignen. Draußen zwischen Saint André und Lambersart liegt's, ein kleines Landhaus mit einem kleinen Garten. Sogar ein Wintergarten ist dabei. Aber keine Garage, auch kein Stall. Ihre Fortbewegungsmittel müßten Sie also anderswo unterbringen. Der Gärtner wohnt jetzt dort allein. Monsieur, Madame und Bébé sind im vorigen Herbst ausgerückt.« Er zeigte verschiedene Listen und Pläne. »Im Ernst: ein winziges Büdchen. Im ganzen vier Zimmer. Aber eine Veranda, die an den Garten stößt. Auf der werden Sie wohl immer Ihre Erdbeerbowlen schlürfen, wie?«

»Wenn mein Kommando hier noch so lange dauern sollte, daß ich die Erdbeeren von Lambersart erlebe –!«

»Gut, und dann laden Sie mich mal ein. Für den Sekt komme ich auf. Erdbeeren und Radieschen stiften Sie.«

»Consentius liefert die Musik und die Witze. Er erzählt Ihnen, wenn er aufgelegt ist, so viel, daß Sie das Kasino ein halbes Jahr davon ernähren können.«

Als er ging, brachte gerade die Ordonnanz ein Briefchen herein. Fragend sah der Feldgraue seinen Chef an. »Das ist hier abgegeben worden. Von einer Französin. Für Madame – für Frau Martin.«

»Also liefern Sie's ab. – Es wird doch hoffentlich keine Handgranate darin sein?« setzte er scherzend hinzu.

Helene hatte das Briefchen geöffnet. Hans West sah noch, wie sie die Farbe wechselte.

Und im Oberlichtsaal, den er durchqueren mußte, um zur Straße zu gelangen, begegnete er der kecken, kleinen Zofe, die ihm von einem früheren Besuch am Boulevard Vauban her bekannt war. Die Kleine erwartete wohl Antwort von Helene auf das Schreiben, das sie überbracht hatte.

Er verließ die Kommandantur nachdenklich, fast verstimmt. Nie wollte es ihm gelingen, zu einem ganz offenen Gedankenaustausch mit der jungen Frau zu kommen, die er tiefer und leidenschaftlicher liebte, als er sich bisher selbst hatte eingestehen wollen. Und nicht nur die Eifersucht auf ihren Gatten war es, was ihn quälte, sondern auch das ungewisse Gefühl, daß sie noch tagaus tagein mit Franzosen zusammen war, mitten unter ihnen lebte …

Inzwischen hatte Helene der kleinen Belgierin Bescheid gegeben. Manon schrieb ihr: »Wenn Du Lou sprechen willst, so tritt nachher, etwa um sieben Uhr, auf einen Augenblick ins Café de la Paix ein. Ich habe mich eben mit Lou verabredet, sie dort zu treffen.«

Nach einem kurzen Kampf war Helene entschlossen, die Gelegenheit wahrzunehmen.

»Ja, es ist gut, ich komme,« sagte sie. Und Liddy zog lächelnd ab.

Lächelnd streifte die kleine Zofe auch an dem jungen, braunen Pionierhauptmann vorbei und warf ihm einen koketten Blick zu.

Hans West hatte die Hände in die Taschen seines Paletots gesteckt und blickte trotzig an ihr vorbei – wie an so vielen dieser leichtfertigen jungen Lillerinnen, die mit Beginn des Abends ihre Wanderungen durch die Rue Nationale aufzunehmen gewohnt waren, auf der die Feldgrauen spazieren gingen.

Das Auftauchen der kecken kleinen Zofe hatte ihn aufs neue beunruhigt. Helene muß diesen Kreis auf alle Fälle verlassen, sagte er zu sich. Ich werde es von ihr verlangen … Und es tat ihm wohl, diesen Vorsatz gefaßt zu haben.

 

Zweimal ging Helene an dem hellerleuchteten Café vorüber, ohne den Mut zum Eintreten zu finden. Aber als sie das zweite Mal an dem Schaufenster daneben stehenblieb, in dem noch die kümmerlichen Reste der vorigen Herbstmode ausgestellt waren, hefteten sich zwei junge Leutnants an ihre Fersen. Sie hatten zerdrückte Mützen, lehmbraun gefärbte Überzieher und mit dicker Kruste bedeckte Stiefel; offenbar kamen sie unmittelbar aus dem Schützengraben und wollten hier einen Urlaubsabend verjubeln. Helene warf ihnen einen so entsetzt flehenden Blick zu, daß sie ordentlich zurückprallten.

»Nee, Söhning, du täuschst dir,« sagte der eine im Weitergehen lachend zum andern. »Wenn die ein Abenteuer sucht, dann kann sich's höchstens um Selbstmord handeln. Schockschwerebrett, hat die 'nen Blick am Leibe. Wenn sie alle so sind, die Weibchen von Lille …«

»Nee, Selbstmordgedanken hat die nicht – da biegt sie eben ins Café de la Paix ein.«

»Wollen wir nachsteigen?«

»Ach, das ist so ein stockfranzösisches Lokal. Lauter Liller. Die Damen fürchterlich geschminkt. Und die Herren spucken den Boden voll. Hier daneben ist das Bellevue, da gibt's wenigstens einen Tropfen Münchener.«

Helene hatte noch in der Tür gezögert. Sie hörte zwischen den Reden der jungen Leutnants ihr Herz schlagen.

Ein langer, schmaler Raum. Links und rechts an den Wänden Spiegel, auch an der schmalen Querwand, wo die Anrichte stand. Zwei lange Reihen schmaler Marmortische, unter denen weißer Sand gestreut war, der über die Spuren des Ausspuckens und der weggeworfenen Streichhölzer und Zigarettenreste hinwegtäuschen sollte. Schmale rote Samtbänke zogen sich an den Wänden hin. Sonst gab es nur kleine Wiener Rohrstühle. Der Hauptverkehr hatte jetzt schon abgeebbt. Um sieben Uhr war Essensstunde. Aber an mehreren Tischen war noch eine eifrige Unterhaltung im Gange. Es befanden sich nur Liller in dem Café, keine einzige Uniform. Helene bemerkte, daß sie von ihrem Eintritt an den Mittelpunkt aller Gespräche bildete. Hinten an dem Tisch bei der Anrichte erhob sich sogar einer der Gäste und trat neben die Büfettmamsell, mit ihr flüsternd und auf den Neuankömmling mit den Blicken weisend.

Manon Dedonker saß mit einer Dame in Trauer links am zweiten Tisch. Beide erhoben sich und es gab das bei den Franzosen in jeder Lebenslage zunächst übliche sehr angeregte Höflichkeitsgespräch, das sich in Nichtigkeiten hinzog, bis der ölig frisierte, mit einem schon recht schmutzigen Mundtuch wedelnde Kellner das Teeglas gebracht hatte.

Die Dame in Trauer war die rote Lou. Sie trug das kleidsame Trauergewand, seitdem sie den Tod ihres Freundes erfahren hatte, des jungen Bernard, des Fabrikbesitzerssohns. Sie hatte Frau Martin öfters bei der gemeinsamen Schneiderin getroffen. Lou – ihren Zunamen erfuhr Helene auch jetzt nicht – begann zunächst über verschiedene Kundinnen der vielgeplagten Madame Luthin loszuziehen. Wie gerade die reichsten Damen sich benähmen, das sei unerhört. Und dann erzählte sie von ihrem Hauswirt. Sie begleitete ihre Reden mit lebhaften Handbewegungen.

»… Also früher, wenn er mir begegnete, gedienert und den Hof gemacht, so daß seine Frau immer ganz blau vor Eifersucht geworden ist. Zu Neujahr haben alle Leute reichlich ihre Geschenke bekommen, sie waren Feuer und Flamme für mich. Und zu Monsieur Gervieu sagt' ich: ›Sie müssen mir die Miete stunden.‹ Er ganz einverstanden. O, gewiß, nach dem Kriege würde ich ja alles bezahlen. Nicht wahr, er ist doch noch nie um seine Miete gekommen? Aber seitdem sie mich das erstemal mit einem Deutschen gesehen haben, da sind sie wie umgewandelt. Alle. Bis auf den Concierge. Wohnung gekündigt – das wäre noch das wenigste. Aber überall, wo ich Kredit hatte, haben sie gewühlt. Im Delikatessengeschäft, beim Handschuhmacher, im Wäschemagazin. Und der Claire, meiner Köchin, haben sie gedroht, sie käme auch auf die schwarze Liste, wenn sie bei mir bliebe. Natürlich ist sie aus Angst davongelaufen.«

»Nun denk' nur, Helene!«

Manon versuchte immer wieder den Draht zwischen den beiden so grundverschiedenen Menschen zu spannen. Aber Helene sah die rotblonde Witwe mit dem sinnlichen Mund und der gespielten Vornehmheit ganz ratlos an. Sie wußte gar nicht, wie sie's fertig bringen sollte, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln.

»Sie haben auch darunter zu leiden gehabt?« fragte Lou, mit dem Löffel an dem Stückchen Kuchen mäkelig herumtastend, um dann mit emporgezogenen Augenbrauen den Teller mitleidsvoll zurückzuschieben. »Ach ja – man muß sich in diesem Kriege an vielerlei gewöhnen.«

»Nicht wahr, Helene,« fiel Manon eifrig ein, wohl mehr aus Gutmütigkeit denn aus eigener Teilnahme, »von dem Tage an, wo dein Freund, der Pionieroffizier, aufgetaucht ist, haben sie dir das Leben auch nach jeder Richtung hin erschweren wollen? Ach, und wenn ich erst erzählen sollte. Sie verraten hier die eigenen Landsleute an die deutsche Militärpolizei. Ja, und das nennen sie dann patriotisch. Ich habe schon Szenen gehabt …«

»Nicht so laut, Manon,« sagte Lou, sich vorbeugend, indem sie das rechte Auge ein wenig zusammenkniff, »drüben bei Madame Duresne lauscht man wieder einmal angespannt.«

Manon beugte sich vor. Nun hielten sie beide den Mund dicht über ihren Gläsern und sprachen nur noch flüsternd. Und auch Helene mußte, um ein Wort zu verstehen, sich vorbeugen.

»Erzähle doch mal, Lou, was du von George weißt,« sagte Manon, indem sie gleichzeitig Helene mit dem Ellbogen berührte, um ihr verstehn zu geben, daß sie selbstverständlich noch auf ihre Kosten kommen würde.

Die blonde Witwe seufzte. »Bernard war gut befreundet mit George Martin. Hat Monsieur Martin Ihnen nie erzählt? O, Madame, wenn Bernard noch lebte! Sie hätten dabei sein müssen, wie seine Mutter mich immer angefleht hat …«

»Ach, davon ein andermal, Lou,« schnitt Manon ihr die Rede ab. »Jetzt sage, was du gehört hast. Weißt du ganz bestimmt, daß George Martin auf dem Flugplatz Ducerne ist?«

Lou sah sich um. Dann stützte sie beide Ellbogen auf. Indem sie so an ihrem Teeglas nippte, sagte sie flüsternd: »Delorme hat mir's gesagt. Den haben sie vor vierzehn Tagen draußen hinter Tourcoing abgesetzt.«

»Der Flieger?« fragte Manon eifrig und blinzelte Helene zu.

»Beobachter war er. Ja, sie machen jetzt verwegene Versuche. Aber Delorme sagt: sie haben sich's leichter gedacht, wieder zurückzukommen. Und – er ist froh, daß er hierbleiben kann. Ihm haben sie drüben ja bös mitgespielt. Der kann Geschichten erzählen. Es ist toll, toll, toll!«

»Er ist vom Flugplatz Ducerne herübergeflogen? Und glatt gelandet?«

»Glatt gelandet. Das Flugzeug mit dem Führer zurück. Und kaum beschossen. Die haben hier so viel Dreistigkeit wohl gar nicht vermutet. Delorme hatte seine bestimmten Aufträge. Natürlich brauchen sie dafür Leute, die hier genau Bescheid wissen. Also ganz sicher, daß George Martin einmal herübergeschickt wird, wenn er erst Führer geworden ist.« Wieder sah sie sich nach den Nachbartischen um. »Aber Delorme meint: wenn er George Martin wäre, dann wüßte er, was er zu tun hätte. Er weiß doch, wie sie ihm zugesetzt haben. Und höchstwahrscheinlich hätte George Martin sich nur deshalb zu den Fliegern gemeldet, weil er da die beste Gelegenheit finden könnte, wieder nach Lille zu kommen.«

Helene empfand es zunächst nur als ganz minderwertiges Geklatsch. Aber ihre Vorstellungswelt nahm es dann doch auf. Und ihr Herz klopfte.

Zu der sensationslüsternen, selbstbewußten, gehässig-absprechenden Art der roten Lou gehörte der ständige Wechsel der Gesprächsstoffe. Sie konnte nie lange bei einer Person, einem Schicksal bleiben. Längst sprach sie über dritte, vierte, den anderen kaum dem Namen nach bekannte Liller. Vor allem war sie erbost auf die gesamte städtische Beamtenschaft. Auf dem Bauch lägen die vor der deutschen Behörde – aber gewissenlos und hinterlistig seien sie gegen die eigenen Bürger.

Helene fühlte wieder die leichte Berührung von Manons Ellbogen; die sollte sie wohl beschwichtigen, falls sie etwa Anstoß nahm an Lous durchgängerischer Art. Aber Helene war in ihren Gedanken weitab von all dem Stadtklatsch, den die ihr widerliche Person vorbrachte. Sie lauerte nur auf die Gelegenheit, endlich in ernsterer Form festzustellen, was die rote Lou nun eigentlich wußte. Und vielleicht verriet sie ihre Ungeduld zu deutlich. Manons Freundin hatte von der Angelegenheit sehr bald genug. Plötzlich brach sie ab, rückte zurück und sprach laut über Nachrichten, die man ihr aus Brüssel gebracht hätte. Dort sei ein richtiges Großstadtleben wieder im Gange, in den Konditoreien drängten sich die Damen nachmittags, und abends gebe es Theater und Variétés und in den Restaurants dasselbe glänzende Treiben, genau wie vor einem Jahre, man merke dort kaum, daß Krieg sei … »Dagegen dieses puritanische, philiströse, gräßliche Gefangenendasein, das wir hier in Lille zu führen gezwungen werden!« … Sie begann mit ihrem Stuhl zu schaukeln und wendete sich lachend an den Kaffeehausbesitzer: »Ist es wahr, daß sie die schwarze Amélie von den ›Bouffes Lilloises‹ nach Frankreich abgeschoben haben, die Boches? O, sie hat es schlimm getrieben. Sie sei gefährlicher als eine verlorene Schlacht, hat der alte deutsche Arzt gesagt, der aus Bayern, Sie wissen.«

Die Unterhaltung wurde jetzt allgemein. Lous Ton, ihre Darstellungsweise, die Ansichten, die sie äußerte – alles hatte gewechselt.

Beklommen saß Helene noch eine Weile dabei.

O, so gemein war das alles!

Manon hatte sich eine Zigarette angezündet. Der Stadtklatsch schien ihr Spaß zu machen. »Sei doch nicht so steif, Helene,« flüsterte sie ihr zu.

Helene bereute schon tief, daß sie hergekommen war. Und sie faßte es nicht, daß Manon sich in diesem Kreise wohl fühlte. Welchen Klassen die Herren, die hier saßen, angehörten, das konnte sie so genau nicht entscheiden. Die lässige Kaffeehausart der Liller, die den Hut aufbehielten, nur etwas aus der Stirn schoben und mit dem Spazierstock oder dem Regenschirm in dem weißen Sand malten, war ihnen allen gemeinsam. Aber Frauen von Geschmack waren es keinesfalls, die hier versammelt waren. Ein paar ausgeputzte Verkäuferinnen, geschminkte, verblühte Geschäftsfrauen, verlassene Liebschaften entflohener oder zum Kriegsdienst eingezogener Fabrikantensöhne, Künstlerinnen dritten Ranges, die einen armseligen Theaterprinzessinnenzauber noch festzuhalten glaubten … Und Dirnengesichter …

»Entsetzlich!« stieß Helene plötzlich aus. Sie hatte deutsch gesprochen. In der Umgebung hob man die Augenbrauen.

»Ich dachte, es würde dich interessieren, etwas über George zu hören,« sagte Manon, ohne die Zigarette aus dem Munde zu nehmen, verärgert … »Wenn du schon anderweit in festen Händen bist, dann brauchtest du ja gar nicht erst zu kommen.«

Die rote Lou schaukelte auf ihrem Stuhl und trällerte. Plötzlich rückte sie näher an Helene heran und sagte, das rechte Auge zusammenkneifend: »Wenn alles glatt geht, werde ich Ihren Mann ja sehn. Was soll ich ihm sagen?«

»Sie – werden ihn – sehn?«

»Ruhe doch. Ich muß sehr bitten. Das ist natürlich ganz vertraulich.«

Manon ermutigte die ehemalige Pensionsfreundin wieder durch eine heimliche Berührung mit dem Knie. »Tatsache, Helene. Lou kommt nach Frankreich. Na, was meinst du? Soll sie George grüßen?«

Helene kämpfte mit sich. »Was ich ihm zu sagen hatte, das – das würde das Fräulein wohl kaum ausrichten.« Bitter, todernst hatte sie es herausgebracht.

»Ich? Warum nicht? Wortgetreu. Vergnügen würde mir's machen. Ja, so bin ich.«

»Ich hätte meinem Mann nur das eine zu sagen, daß – daß …«

»Bitte. Scheuen Sie sich doch nicht!«

»Daß es zwischen uns aus ist – ganz aus – daß ich mich von ihm lossage, wenn es wahr ist, daß er drüben kämpft.«

»Es ist wahr.«

»Und daß ich dann von ihm verlange … Sie sagen selbst, es gibt Wege genug … Gut, sein Leben müßte er einsetzen, um herüberzukommen!« Ein paar Sekunden lang hatte das Blut ihre Wangen gefärbt. Jetzt ward sie wieder ganz bleich. Sie senkte die Lider. Ein Sturm ging durch sie hin. Sie schämte sich schon wieder, so aus sich herausgegangen zu sein vor diesem minderwertigen Geschöpf.

Aber die rote Lou klopfte lebhaft erfreut auf die Marmorplatte und sagte: »Vorzüglich. O, geben Sie acht, das wird er erfahren. Das ist mir eine Genugtuung. Sie haben das keiner Dummen gesagt. Ich habe verstanden.«

Helene saß ganz zusammengesunken da. »Ob Sie mich ganz verstehen können, das weiß ich natürlich nicht. Aber – ich wäre tief in Ihrer Schuld.«

Die rote Lou lachte. »Es geschieht nicht, um Ihnen einen Gefallen zu erweisen. Sie brauchen gar nicht dankbar zu sein. Nein – einen Tort will ich denen antun, der ganzen verlogenen Gesellschaft …«

Eine Gruppe am Nebentisch brach auf. Auch Manon erhob sich. »Du bist eine rechte Törin, Helene,« sagte sie halblaut, »dich so zu quälen. Wenn du wüßtest, wie alt das macht. Das Leben genießen. Weißt du, was morgen kommt?«

Schwatzen, Stühlerücken, das Scharren auf dem Sande, wortreiche Höflichkeiten. Die Kaffeehausbesuche ersetzten diesem Ausschritt der Liller Bevölkerung die Geselligkeit, das Theater. Um neun Uhr war Zapfenstreich, da durfte sich ja sowieso kein Einwohner mehr auf der Straße blicken lassen.

Das Rollen und Grollen des Artilleriekampfes zwischen Armentières und Wytschaete, der nur selten schwieg, machte die Scheiben klirren. Beim Hinaustreten auf die Straße hörte man sogar das Maschinengewehrfeuer, das der Westwind von der Front herübertrug. Noch viele Feldgraue belebten die Grand' Place. Vor dem Café Bellevue und drüben am Fuß der Säule mit der Siegesgöttin standen viele Autos und Wagen, die ihre Herren noch in der Nacht zur Stellung zurückbringen sollten. In der Rue Nationale huschten auf Stöckelschuhen geschminkte Abendschönheiten mit lockenden Blicken.

Helene fröstelte es.

»Ist sie nicht furchtbar, die Stadt?« sagte sie, mehr zu sich als zu Manon, die neben ihr das Café verließ.

Aber Manon lachte. »Man kann sie tanzen lassen, wenn man will. Ja, Helene. Aber freilich: man muß wollen.«

Nachdem sie sich von Manon getrennt hatte, ging sie rasch, wie gehetzt, durch die nächste stille Querstraße nach Hause. Die Straßenbahn verkehrte nicht mehr. Unheimlich war der Weg durch den Teil der Ruinenstadt, den sie bis zum Republikplatz zu durchmessen hatte. Hart dröhnend klangen die Einschläge durch die einbrechende Nacht. Die Außenforts an der Westfront schienen wieder unter schwerem Feuer zu liegen.

Einen Menschen hätte sie nun haben mögen, dem sie sich anvertrauen konnte. So viel Schmerzliches, Verirrtes quälte ihre Seele. Und im Kreise der Laroches durfte sie ja nie gestehn, was sie bewegte.

Sie hatte keine Heimat.

 

Manchmal sah Helene, wenn sie morgens zum Dienst ging, Frau Babin und Léonie. In ihren dünnen, knappen, vorjährigen Fähnchen huschten sie da immer so schnell über den Republikplatz, daß sie ihnen kaum hätte nachkommen können. Offenbar wollten sie ihr auch keine Gelegenheit geben, sie anzusprechen. Yvonne war nie dabei. Sie sorgte sich um die Kleine und bat Laroches Vetter Broussart, eine Auskunft über die Kranke einzuholen. Die lautete dann sehr betrüblich. »Rumélin hat keine Hoffnung mehr,« sagte er. »Erst hat man ihr den Fuß abnehmen müssen, letzte Woche das Bein. Knochentuberkulose.«

Wie ein Schlag traf das die junge Frau. Die Vorstellung, das fröhliche, junge Geschöpf gleich den entsetzlichen Weibern der Armut, denen man hier in den Vorstädten auf Schritt und Tritt begegnete, stelzfüßig einherkommen zu sehen, peinigte sie so, daß sie sich lange gar nicht beruhigen konnte.

Broussart meinte, Frau Babins Starrköpfigkeit habe den schlimmen Ausgang beschleunigt. Es sei ja nie mit ihr zu reden gewesen. »Das junge Ding hätte Pflege gebraucht. Wie haben die armen Weiberchen aber gelebt? Ein bißchen Kaffee, ein bißchen Reis, ein paar Kartoffeln, das bißchen Brot, das nichts ausgibt … Und Arbeit, Arbeit, nicht genügend Schlaf, immerzu in der Werkstatt … Ja, sie sind verteufelt stolz gewesen, die Damen. Wunderschön. Nur rächt sich's nun nach dem langen Winter. Der Körper der Kleinen war wie von Wachs. Gar kein bißchen Halt mehr. Vielleicht wäre auch mit der kräftigsten Ernährung nichts mehr auszurichten gewesen. Das Leiden ist ja so heimtückisch. Aber so löscht sie aus, die Kleine, wie ein dünnes Wachslichtchen.«

»Mein Gott, mein Gott, gab's denn niemand, der ihr hätte helfen können?«

»Frau Babin hat ja sogar die städtische Unterstützung zurückgewiesen. Sie wollte keine Almosen. Man kann sie bedauern, gewiß, aber man muß sie doch auch bewundern. Wenn alle Französinnen so stolz dächten … Nun, sie bilden in unserer lieben Stadt Lille eine arg verschwindende Minderheit, die Märtyrerinnen des Vaterlandes.«

Ein paar Tage darauf wagte Helene in ihrer Freistunde wieder einmal einen Besuch bei den Damen. Mehrmals war sie vergeblich dagewesen: Frau Babin hatte sich stets vor ihr verleugnen lassen. Heute fand Helene Einlaß. Aber sie kam in ein Trauerhaus. Die kleine Yvonne war in der Nacht gestorben.

In dem tiefen, aufrichtigen Schmerz kam es zu einer Art Versöhnung – aber Helene fühlte sich dann bei der Beerdigungsfeierlichkeit doch wieder so fremd wie kaum je zuvor in diesem Kreis. Die Bestattung gestaltete sich zu einem fast prunkvollen Fest, das zu der Bescheidenheit der Lebensumstände der Babins in gar keinem Verhältnis stand. Die ganze Front des Brauereieingangs war mit schwarzem Tuch ausgeschlagen, der Hausflur, in dem weiß bemalt der Sarg aufgestellt war, durch schwarzes Tuch mit silbernen Fransen zu einer Kapelle von düsterer Pracht umgestaltet. Zu Häupten der Entschlafenen brannte ein Kandelaber mit sechzehn großen, schweren Kerzen. Pflanzenkübel waren aufgestellt. Weihrauch schwängerte die Luft.

Auf der Straße standen Gruppen Volks, die alle Vorgänge scheu-gefesselt beobachteten. Neben der Haustür war, wie es die Liller Sitte will, ein Tischchen mit einer Schale zur Aufnahme der Beileidskarten aufgestellt. Alle, die mit der Toten auch nur je ein Wort gewechselt hatten, fanden sich ein. Viele brachten nur ein Zettelchen, auf dem der Name unbehilflich geschrieben war. Andere suchten im kleinen Buchbinderlädchen lange, um eine besonders schöne und beziehungsreiche Beileidskarte mit Engeln und Palmzweigen herauszufinden. Wieder andere, die im Besitz gedruckter Besuchskarten waren, nahmen diese einzige Gelegenheit, davon Gebrauch zu machen, mit einer gewissen Genugtuung wahr. In dem engen, düsteren Raum, durch den der Hausverkehr nach wie vor stattfinden mußte, drängten sich den ganzen Tag schluchzende Frauen und Mädchen und ängstlich-neugierige Kinder um den offenen Sarg. Der leise Verwesungsgeruch mischte sich mit Düften der Küchen, des Hofes und den starken Parfüms der Damen. Frau Babin und Léonie hielten hier vom frühen Morgen an die Totenwache. Sie waren von der seelischen Erregung, vom Blumenduft, vom Fasten und von dem fortgesetzten Danksagen selbst schon ganz unirdisch. Als der Sarg geschlossen wurde, verfiel Frau Babin in Schreikrämpfe. Und gerade als Helene, von Geneviève begleitet, eintraf, hatte sich der inzwischen auf Hunderte angewachsenen Trauergemeinde die größte Erregung bemächtigt. Alles drängte zum Eingang, wollte Zeuge sein: auch Léonie war drinnen am Sarg ohnmächtig zusammengebrochen!

So ward der größte Schmerzenstag dieser drei stillen Frauen, die so ängstlich die Menge gemieden hatten, zu einem öffentlichen Schaustück für die volkreiche Vorstadt.

Challier hatte noch seine Beziehungen da und dort. Entfernte Bekannte, die noch immer in leidlichen Verhältnissen lebten, ließen sich's etwas kosten, mieteten eine Trauerkutsche und nahmen an dem Leichenzug im Wagen teil. Frau Babin aber wollte sich's ebensowenig wie Léonie nehmen lassen, dem Sarg zu Fuß zu folgen. Schwankend schritt sie zwischen den Geistlichen hinter der unter Blumen verschwindenden Bahre her.

Der Zug ging durch die halbe Stadt. Und das Trauergefolge wuchs und wuchs. Wer den Zug sah und nichts zu tun hatte, der blieb stehen, grüßte feierlich den unbekannten Toten und schloß sich dann an, irgendwen aus dem Gefolge fragend, wer es sei, den man mit solchen Ehren bestattete. Eine Beisetzung bedeutete in dieser schweren Zeit, die keine Feste, keine Feiern kannte, ein Ereignis, das doch das Einerlei unterbrach. Wenigstens gelangte man dabei einmal durch die sonst von den deutschen Landstürmern so scharf bewachten Tore aus der Stadt hinaus … Von Patrouillen geleitet, durfte der Trauerzug zum Friedhof und zurück, ohne daß für jeden im Gefolge ein Passierschein ausgefertigt war.

Aber der Vorfrühlingsausflug der Gelegenheitstrauernden fand einen jähen Abschluß. Bei der Rückkehr vom Friedhof ging es zweimal zischend über die Vorstadt-Häuser hinweg – mit mächtigem Getöse schlug es am Südbahnhof ein – und dann hagelten die Schläge in rascher Folge in nächster Nähe … Eine englische Granate fuhr in das Eckhaus, neben dem die Straßenbahnwagen hielten, die schon vollbesetzt waren. Kreischen, Schreien, Jammern, Heulen: ein nervenaufpeitschendes Durcheinander entstand. Und in wilder Flucht jagten die Hunderte durchs Tor, die Sperrposten überrennend.

Eine größere Anzahl Leidtragender war schwer verletzt. Noch stundenlang fuhren die Sanitätswagen durch die Vorstadt.

Das Geschützfeuer hielt den ganzen Abend und die Nacht hindurch an. Kaum einer, der die Augen zutun konnte.

Auch Helene fand keinen Schlaf. Die Scheiben klirrten ununterbrochen, die Abschüsse und Einschläge waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Geneviève kam früh gegen ein Uhr im Nachthemd in ihre Tür. »Schläfst du, Helene? Nein? Dann mach' ich's wie Fleurette bei Ma und komme zu dir.«

Sie lagen dann in Helenens Bett und lauschten, oft den Atem anhaltend, dem Rollen und Heulen, Krachen und Grollen draußen.

»Papa sagt, was wir hier hören, das ist das Sperrfeuer der Deutschen. Draußen tobt eine Schlacht. Die Engländer haben bei Ypern angegriffen und die Unsern bei Armentières. Die Dreiundvierziger stehen im Kampf. Dabei ist Roger.« Geneviève atmete schwer. »Wenn er überhaupt noch lebt. Das weiß man ja nicht.«

Helene hatte nun wieder solches Mitleid mit dem ernsten jungen Ding. »Arme, liebe Kleine.«

Nur selten war Geneviève einer vertraulichen Aussprache zugänglich. Aber nun tat ihr's wohl, gestreichelt zu werden. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. »Kein Volk hat es so schwer wie wir. Die Deutschen haben ihre Verlustlisten. Und in London erfahren sie's alle, wenn ihren Lieben hier in Flandern ein Unglück zustößt. Aber in Paris verschweigen sie's. Und hier in Lille sitzen wir nun gar wie im Gefängnis. Vielleicht ist Roger schon lange tot.«

Sie weinte sich einmal gründlich aus in den Armen der Freundin. Helene hatte gar nicht geahnt, daß in der arbeitseifrigen, fanatischen Kleinen so viel Zärtlichkeit lebte.

Als ein furchtbarer Krach die Häuser in den Grundfesten erzittern machte, schreckten sie wieder beide empor.

»Das muß in der Zitadelle eingeschlagen haben,« sagte Geneviève und holte tief Atem. »Vielleicht liegt nun die nächste Lage schon hier bei der Post.«

»Ach, weißt du, Kind,« versuchte Helene zu trösten, obwohl auch sie ihren Herzschlag stark beschleunigt fühlte, »ich sage mir: wenn ein Gewitter über der Stadt steht, braucht ja auch nicht jeder Blitz in das Haus einzuschlagen, in dem gerade ich bin.« Und sie bemühte sich zu lächeln.

Nach einer Weile begann Geneviève wieder: »Papa sagt, wenn alles gut geht, dann werden sie morgen abend hier sein.«

»Wer?« fragte Helene verwirrt, mit großen Augen ins Dunkle starrend.

»Nun, die Dreiundvierziger. Sie gehören zur Sturmtruppe. Und Inder haben sie. Sie sind viel, viel stärker als die Deutschen hier. Die Befestigungen, die sie hier angelegt haben, die kennen die Unsern ja ganz genau. Die Arbeiter bringen doch immer die Zeichnungen. Und Ebenezer Drachman schafft sie über Holland zu den Unsern. Da wissen sie, wo die Batterien der Deutschen stehn. Das ist viel wert, sagt Papa.«

Helene konnte nicht länger neben ihr liegenbleiben. »So, so, so,« sagte sie schwer atmend. Sie bedeckte die Augen mit den Händen. Ein Schauer ging über sie hin.

Die Erregung hatte Geneviève mitteilsam gemacht. »Weißt du, mich wollen sie's ja nie hören lassen. Aber man nimmt doch dies und das auf. Und alle sind sie doch nicht so verschwiegen wie Drachman. Im Café Boulevard, oben im ersten Stock, da haben sie ihre Zusammenkünfte, bevor sie über die Grenze geschmuggelt werden. Und man gibt ihnen dort Spazierstöcke, die hohl sind. Und darin stecken die Nachrichten und die Zeichnungen.« Geneviève hatte sich nun auch wieder erhoben. »Ich glaube, heute wacht Papa gewiß die ganze Nacht. Zwei Meilen von hier tobt der Kampf von Graben zu Graben. Wenn die Unsern durchkämen … Ach, Helene, dann käme Roger her! Und Angèles Bräutigam ist auch dabei – und so viele, so viele – Brüder, Verlobte, Söhne, Freunde, Bekannte … Das wäre ein Freudentag, nicht? … Helene, denke doch nur, und du hättest dann bald auch George wieder!«

Helene saß an ihrem Putztisch, ganz in sich zusammengeduckt, und lauschte. Wieder zischte und heulte und krachte es. Die Scheiben klirrten.

»Ich schlüpfe hinunter zu Papa!« sagte Geneviève plötzlich. »Es wird ihn freuen. Meinst du nicht? Warum antwortest du nicht, Helene? Soll ich nicht zu Papa?«

»Ja, geh' nur, Geneviève.«

Lange blieb dann Helene sitzen und lauschte dem noch immer sich verstärkenden Toben des Kampfes. Eiskalt geworden, suchte sie endlich wieder das Bett auf. Sie hatte Mitgefühl mit Geneviève. Zum erstenmal war ihr diese weibliche Regung in dem herben Mädchenherzen nahegegangen. Aber all die geheimnisvollen Enthüllungen über den Spionagedienst, den dieses Haus der französischen Sache leistete, erfüllten sie mit wachsendem Grauen. Sie dachte an Hans West – dachte an das gute Vertrauen, das er ihr entgegenbrachte. Er wußte, daß sie deutsch fühlte. Und hier lauerte der Verrat an allen Ecken und Enden.

Als es dämmerte, gingen Türen im Haus. Helene schreckte aus dem Halbschlaf empor. Gewiß verließ Laroche jetzt die Wohnung. Irgendwo bekam er Nachrichten. Es gab ja noch so viele feindliche Kanäle, die selbst Geneviève nicht kannte. Ob er tatsächlich der bestimmten Hoffnung lebte, daß heute die deutschen Linien durchbrochen wurden – daß Lille wieder in die Hände der Franzosen und Engländer gelangte?

Dann gäbe es auch für sie ein Wiedersehn mit George, meinte Geneviève … Wünschte sie selbst es denn?

Sie war ganz irre an sich geworden.

Angèle, die Köchin, und alle Apfelgesichter sprachen am Morgen von nichts anderem als der Hoffnung, die alle Liller bewegte. Der Geschützdonner, der jetzt die ganze Stadt, alle Türen, alle Möbel, alle Fenster zittern und klirren und beben machte, entschied über das Kriegsschicksal des ganzen Dreistädtebezirks.

Als Helene zum Amt ging, bemerkte sie's wohl: die Mienen der Franzosen waren verändert. Die Dienstboten, die die Messingschilder und die Türgriffe an den Haustüren blank rieben – für manche fast die einzige Tagesbeschäftigung im häuslichen Dienst – und dabei ihr Schwatzstündchen abhielten, die Ausrufer von Kohle, Gemüse, dem Bulletin, Knoblauch, Lumpen, Sand, die Ladenmädchen, die Polizisten der Mairie, die Geschäftsleute, die Schulkinder, die Handwerker – sie alle, alle, alle hatten ein bestimmtes freudiges Leuchten in Auge und Miene. Und wie überlegen sie tuschelten über die Landsturmablösung bei der Post, die sich noch so harmlos friedensmäßig gebärdete! Wie sie einander wissend, schadenfreudig zublinzelten, als da ein paar Motorfahrer pfeifend durch die Straßen sausten! »Aha, es ist doch schon Gefahr im Verzug!« Und irgendwoher kam ein von einem Pionier geführter ratternder Dampfkraftwagen an. Zufällig sah Helene, daß er nur große Papierrollen beförderte, wohl für die deutsche Soldatenzeitung – aber der Lärm und die Bewegung bildete für die Liller eine Art neuen Trostes: »O, sie ziehen schon um!« Auf dem ganzen Weg waren alle Franzosengesichter hell, alle Augen gläubig. Mit Sturmeseile hatte sich das Gerücht verbreitet: »Heut abend sind die Unsern da!«

Aber auf der Kommandantur ging der Dienst genau so trocken und regelrecht seinen Weg wie alle Tage. Nur der Schreiber, der im Nebenzimmer arbeitete, sagte zum Unteroffizier, als der Hauptmann draußen war: »Das waren wohl unsere U-Batterien heute nacht?«

Gelassen erwiderte Krause: »Ja, sie haben sich wieder mal blutige Nasen holen wollen, die Franzosen.«

Über die Kämpfe, die da draußen tobten – das Schießen nahm kein Ende –, wurde sonst überhaupt nicht gesprochen. Jeder tat hier seinen Dienst, in der Überzeugung, daß sie ihn draußen ebenso selbstverständlich verrichteten.

»Haben sie nicht alle schwere Angst auf der Kommandantur?« fragte Berthe, die, aus der Schule kommend, mit Helene an der Haustür zusammentraf. »Denk' nur, Tante, wir haben heute nachmittag frei. Mademoiselle sagt, länger als bis zum Abend könnten sich die Deutschen hier nicht halten.«

Benjamin brachte eine Nachricht, die der Mutter und Angele Gesprächsstoff gab. Der Offizier der Kommandantur, der im Nachbarhaus wohnte, hatte sich heute früh aus der deutschen Marketenderei in der Alten Börse zwei Kisten Wein bringen lassen. Ob der wohl glaubte, daß er noch selbst den Wein hier in Lille austrinken würde?

Laroche kam nicht zu Tisch. Sie beunruhigten sich sehr. Geneviève hatte Mühe, allerlei Möglichkeiten zu ersinnen, die ihn abgehalten haben könnten, denn Mama Laroche war durch das Schießen wieder um ihre Nachtruhe gekommen und krankhaft gereizt. Gewiß hatte ihr Mann einem der Barbaren einmal gründlich die Wahrheit gesagt – er war ja solch ein Heißsporn trotz seiner fünfzig Jahre –, und die grausamen Hunnen hatten ihn verhaftet –! Anderthalb Stunden warteten Geneviève und Helene mit dem Essen auf den Hausherrn. Endlich setzten sie sich zu Tisch. Es war für Helene schon höchste Zeit, sie mußte sich beeilen, um pünktlich zum Nachmittagsdienst zu kommen.

Gerade sollte Angèle noch den Kaffee hereinbringen, da hörte man die Haustür gehen, hörte eilige Schritte, eine fremde Stimme – Helene glaubte ein paar englische Worte verstanden zu haben – und dann fiel die Tür zum Billardzimmer ins Schloß – und Benjamin kam gleich darauf und berichtete: Papa sei da, mit einem fremden, großen Herrn, aber er habe ihn gleich weggeschickt, und niemand dürfe ins Billardzimmer hinüberkommen als Geneviève.

Geneviève hatte gleich rasch ihr Mundtuch zusammengelegt. Ohne ein Wort zu sagen, entschwand sie.

Benjamin meinte, es müsse ein Engländer sein, den der Papa da mitgebracht habe. Er sei einen Kopf größer als Papa. Und » oh yes« habe er von ihm ganz deutlich gehört.

Die Aufregung innerhalb der Bürgerschaft war noch gestiegen. Berthe, die von Ma den Auftrag hatte, Kuchen in der Konditorei der Rue Léon Gambetta zu besorgen, brachte von da die Nachricht: die Damen vom Geschäft wüßten ganz genau, daß die Engländer im Anmarsch auf Lille seien, und am Vormittag hätten über Haubourdin Luftkämpfe stattgefunden, und zwei Kirschtorten und eine Brioche, die von deutschen Offizieren bestellt waren, seien heute mittag nicht abgeholt worden; höchstwahrscheinlich befinde sich die deutsche Besatzung schon auf der Flucht!

Aber die Haltung des Militärs wies noch immer keinerlei Veränderung auf. Auf ihrem Weg zum Amt begegnete Helene genau denselben Ablösungstrupps wie stets um diese Stunde. Die Posten standen an denselben Stellen. Nur die Stimmung der Franzosen schien zur Fieberhitze zu steigen. Auch die bisher Vorsichtigeren wagten sich mit ihrer Meinung hervor. Ein feldgrauer Radfahrer blieb in der Rue Béthune im Straßenbahngleise stecken, stürzte und überkugelte sich … Und strahlend sprangen die Weiber aus den Läden, den Estaminets, den Budiken … Und es gab ein großes triumphierendes Lachen … Das hätten sie noch gestern nicht gewagt.

Im Oberlichtsaal der Kommandantur herrschte heute allerdings noch stärkerer Betrieb als sonst. Eine Anzahl Feldgendarmen war in Reih, und Glied angetreten. Ein junger Reiteroffizier, der von einer Verwundung her noch den Arm schonte, unterwies hier in kurzen Worten seine Leute. Flüchtig griff er jetzt mit der Linken an die Mütze und verließ die Halle.

»Das ist wohl das Kommando zum Empfang der Dreiundvierziger?« fragte einer der Adjutanten, der gerade durch die Halle kam, den Kavalleristen.

»Nein, das steht schon ausgeruht auf dem Nordbahnhof empfangsbereit. Die hier schick' ich zum Fliegerfang hinaus.«

Der Adjutant lachte. »Fliegerfang is jut!«

Der Dienst rollte sich zunächst ab wie immer. Aber gegen vier Uhr hatte der Hauptmann ein Telephongespräch mit einer anderen Dienststelle, das Helene doch in seltsame Unruhe brachte. Sie konnte freilich nur Bruchstücke hören.

»… das freut mich, daß der Wachthabende von Exzellenz nicht bestraft wird. Es ist ein Unteroffizier meiner alten Kompagnie. Wenn der selbständig den Befehl gegeben hat, das Flugzeug zu beschießen, weil er's sicher als ein feindliches erkannt hat, so ist ihm das doch hoch anzurechnen: Entschlußfähigkeit auch der unteren Führer! … Einer der Abgeschossenen ist also noch am Leben? So? Im Feldlazarett? … Na, und der andere? … Ja, eine Gendarmeriestreife ist auch schon von hier aus unterwegs …«

Dann ging das Gespräch auf ein anderes Gebiet über. Der Hauptmann lachte ein paarmal.

»Na, Krause, nun kommen sie also doch nach Lille, die Dreiundvierziger!« rief er, nachdem er den Schallbecher angehängt hatte, dem Unteroffizier zu, der im Nebenzimmer Quartierzettel ausschrieb und unterstempelte. »Aber freilich anders, als sie sich's gedacht haben.«

Unteroffizier Krause nahm stramme Haltung an. »Jawohl, Herr Hauptmann, der Wachtmeister Hansen sagt, über vierhundert Gefangene seiend!«

Der Hauptmann griff nach seinem Seitengewehrkoppel und der Mütze. »Den Siegeseinzug müßt' man sich doch eigentlich ansehn.« Er setzte die Mütze auf. »Zwanzig Minuten Feuerpause!« rief er in den Saal, nickte Helene zu und ging.

Ein paar Schalter wurden geschlossen.

Auch Helene machte von der Dienstunterbrechung Gebrauch.

Als sie zur Grand' Place gelangte, sah sie die aller Beschreibung spottende Aufregung: einzeln und in Trupps, hier in Scharen, dort paarweise, Mütter mit Säuglingen, Männer, Mädchen, Halbwüchsige, alles eilte, lief, hastete, raste über den Platz … Greise, Stelzfüßige, Dämchen auf Stöckelschuhen suchten mitzukommen, wurden mitgerissen … Hier stürzten Aufwärter in weißen Schürzen aus den Estaminets, Zeitungsjungen, Mairiebeamte, Herren und Damen und Kinder, Köchinnen und Verkäufer … Es war, als ob drüben in der zum Bahnhof führenden Rue Faidherbe ein Riesenvakuumreiniger aufgestellt sei, der alles, was beweglich war, mit unwiderstehlicher Gewalt anzog und in sich einsog.

»Die Dreiundvierziger –!«

Niemand rief es, aber es ging von Mund zu Mund. Auf allen Lippen stand es. Und Schmerz wechselte mit Freude, Jubel mit Enttäuschung. Denn schon wußte man: sie kamen nicht, wie noch vor ein paar Stunden fest erwartet, als Sieger, sondern als Gefangene der Deutschen.

Alle Fenster, die nach der Straße und nach dem Platz führten, füllten sich. Das Rauschen der eiligen Schritte von Lausenden drang vom Steinpflaster bis in die stillsten Winkel der Innenhöfe und schreckte bequeme Mittagsschläferinnen auf. An den Fenstern des Friseurs neben dem Zeitungshaus erschienen Herren in weißen Frisiermänteln, einer sogar eingeseift, daneben die Barbiere mit Scheren oder Pinsel. Man fragte, zeigte, reckte die Hälse.

Jetzt bog ein Reiter um die Ecke der Rue Faidherbe. Ihm folgten vier Landsturmleute mit aufgepflanztem Seitengewehr. Und dahinter wie ein langes, langes, blaues Band über rotem Grunde: französische Uniformen. Zu vier und vier marschierten sie, müde, ohne Richtung, ohne Tritt, verstaubt, verschwitzt, mit gelben Gesichtern, Leichtverwundete dazwischen mit seltsam abstechenden blütenweißen Verbänden. Sie alle waffenlos. Viele ohne Käppi. Gefangene. Hauptsächlich waren's Dreiundvierziger: das Lieblingsregiment der Liller. Der endlose Zug wurde auf beiden Seiten von Landsturmleuten begleitet, die das Seitengewehr aufgepflanzt hatten. Ab und zu ritt auch ein Ulan mit Lanze nebenher.

Mütter und Väter erkannten ihre Söhne, Schwestern den Bruder, Frauen ihre Männer, Bräute den Verlobten, Freunde den Freund … Fast jeder aber hatte einen Bekannten darunter …

Grimmig, trotzig blickten die einen der Gefangenen, beschämt, vergrämt die andern. Wieder andere winkten. Sie erkannten ihre Vaterstadt aber alle kaum mehr. Wo war die breite Rue Faidherbe mit den glänzenden Geschäften, den lustigen Kaffeehäusern, den Kinos und Basaren! Wo war die stolze Empfangsstraße, die vom Bahnhof zum Markt führte? Man zog hier zwischen zwei grauenvollen Trümmerfeldern entlang. Die Neubauten des Theaters, der Börse waren ja unversehrt. Aber durch ein kreisrundes Granatloch im Obergeschoß der Hauptwache schien der blaue Himmel. Und das verhaßte grelle Schwarz-Weiß-Rot prangte daneben am Tor des »Echo du Nord«: eine deutsche Zeitung hatte sich hier aufgetan! Und überall, auf dem ganzen Leidenswege, deutsche Plakate, deutsche Posten, deutsche Geschäfte!

Der Barbier an der Grand' Place wollte sich vom Fenster aus einem Bekannten unter den Gefangenen bemerkbar machen. In dem Wirrwarr reichte die Stimme nicht aus. Er klatschte heftig in die Hände. Und das steckte an; das Gefühl fürs Theatralische löste in vielen Lillern sofort das Bedürfnis aus, den Einzug der unglücklichen Landsleute in einen Triumph zu verwandeln. Der Applaus dröhnte bald über den ganzen Platz. Lebehochrufe auf die braven Dreiundvierziger wurden laut. Und in dem allgemeinen Geschrei verstiegen sich einzelne zu lauten Verwünschungen gegen die Deutschen. Ein baumlanger, dicker Wollagent, der vor dem Café de la Paix immer eine Art offener Börse betrieb, sprang aus die Stufen am Sockel der Siegessäule und schrie, bis er vor Anstrengung blaurot im Gesicht war: » Vive la France! Vive la France!«

Ein Soldat der Militärpolizei nahm ihn am Arm und führte ihn in beschleunigter Gangart weg. Er sträubte sich, schrie und schrie. Andere nahmen den Ruf auf. Wie ein Rausch war es, der sie plötzlich erfaßte.

Und die ungeheure Volksmasse, die den Fug der Gefangenen auf beiden Seiten begleitete, machte den Versuch, in die Reihen einzudringen. Aus den Bäckerläden, den Fleischerläden, den Fruchtläden stürzten Frauen und Mädchen herbei und stopften den armen Piou-Pious wahllos kleine Geschenke in die Hand … Die Landsturmleute ließen es zunächst geschehen; sie freuten sich über das gute Liller Herz. Aber die Gutmütigkeit wurde sofort als Schwäche empfunden. Rücksichtslos wollten nun die Männer die Marschordnung umstoßen, vielleicht sogar mit Gewalt den und jenen der alten Freunde befreien. Es kam zu scharfen Gegenmaßnahmen. Die Ulanen gaben ihren Pferden die Sporen und sprengten heran.

Helene stockte der Atem vor Aufregung. Sie hatte sie ausziehen sehen, die Dreiundvierziger. Das war heute vor sieben Monaten. Welch grauenvolle Dramen hatten sich inzwischen abgespielt! Und wieviel stilles Herzeleid war seitdem erduldet worden! Sie sah da eben ein junges Ding, das sich hinter einem Landsturmmann mit einem jähen Aufschrei in den Fug hineinwarf … »Roger! Roger!« schrie sie. Und »Geneviève!« klangt zurück.

Schon hatte der Feldgraue die heftig Widerstrebende am Arm gefaßt und riß sie aus der Reihe heraus. Aber Herren und Damen mischten sich ein. Es wogte hin und her.

Helene erkannte Geneviève – die stille, ernste Geneviève, die sich da wie eine Rasende gebärdete.

Ein Ulanenwachtmeister machte dem Ringen ein kurzes Ende, er ritt mitten in die Gruppe hinein und teilte sie. Ein junger Bursch ward von einem Soldaten der Militärpolizei abgeführt. Aber Geneviève lief weiter mit dem Zuge mit. In ihren Augen standen die Tränen. Sie wußte dem gefangenen Vetter auch gar nichts zu sagen in ihrer Erregung. Sie rief nur immer wieder seinen Namen: »Roger! Roger!«

In Staub gehüllt von der hin und her hastenden Volksmenge, die den Zug begleitete, aus den Häusern hinzustürzte, Gaben brachte, Koseworts zurief oder Verwünschungen gegen den Krieg, ging es die Rue Rationale entlang über den Boulevard de la Liberté zur Zitadelle. Die Begleitschar wuchs, das Geschrei verstärkte sich, die Leidenschaften nahmen immer widersetzlichere Formen an.

Helene hatte Geneviève folgen wollen, um ihr zuzusprechen, sie zu beruhigen, aber sie kam gegen das Gewühl nicht an. Und rasch hatte sie die Freundin aus den Augen verloren. Unter Herzklopfen blieb sie an der nächsten Ecke stehen.

Dem Zuge folgte ein unabsehbarer Troß von Männern, Frauen, Kindern aller Stände. Immer wieder tönten herausfordernde Rufe aus der Schar. Aber dicht vor dem Sommergarten griff ein Aufgebot der deutschen Militärpolizei ein und schnitt den ungestüm Nachdrängenden den Weg ab. Die Haltung der Soldaten war so sicher und ruhig-entschlossen, daß den Aufgeregten der Mut rasch entschwand. Sobald sie sich nicht mehr gegenseitig durch ihr Geschrei anfeuerten, sahen sie die Nutzlosigkeit ihrer Auflehnung ein. Ein paar besonders Lärmsüchtige wurden festgenommen und nach der Wache gebracht. Kleinlaut wichen darauf die andern zurück – verkrümelten sich in die Seitenstraßen.

Aber auf dem Marsfeld, beim Einmarsch der Kriegsgefangenen in die Zitadelle, kam es dann doch wieder zu erregten Szenen. Helene hörte die erste Schilderung davon im Geschäftszimmer auf der Kommandantur. Unteroffizier Krause berichtete dem Hauptmann.

»Die waren ja ganz rabiat. Wachtmeister Hansen hat sie aber rasch kirre gekriegt. Seine Ulanen haben erst im Trab angesetzt, Volte rechts, um den ganzen Zug herum, dann angaloppiert – da spritzten sie auseinander. Es hätte das größte Unheil entstehen können: die paar gutmütigen Landstürmerchen und die tausend fanatischen Liller.«

»Sicher gibt's eine empfindliche Strafe für die Bürgerschaft. Der Gouverneur läßt nicht mit sich spaßen.«

»Es muß sie ja freilich wahnsinnig enttäuscht haben, die armen Luder. Seit Wochen, ach, seit Monaten geht nun schon das Gerede: Anfang März sind die Deutschen aus Lille hinausgejagt, und die Franzosen ziehen wieder ein! Und da kommen sie heute, die Dreiundvierziger, richtig einmarschiert in Reih' und Glied – aber als Kriegsgefangene! Sie haben schon das allertraurigste Los gezogen in diesem Kriege, die Liller!«

Helene mußte alle Willenskraft aufbieten, um in der seelischen Verfassung, in der sie sich befand, ihre Dienstarbeiten richtig und gewissenhaft zu erledigen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Geneviève. Sie hatte so tiefes Mitleid mit ihr und mit dem armen kleinen Rocher. Das war wohl das deutsche Erbe. Denn im deutschen Gemüt gab es keinen Haß gegen den Besiegten, der wehrlos war. Als Lille noch den Franzosen gehörte und die ersten deutschen Kriegsgefangenen eingebracht worden waren, hatte man sie bespien, hatte ihnen die Achselstücke, die Kreuze, die Knöpfe abgerissen … Ach, nicht daran denken! sagte sie sich, gewaltsam den häßlichen Bildern wehrend.

Als sie nach Dienstschluß heimkam, war Geneviève noch nicht da. Die Apfelgesichter ängstigten sich um ihre Vizemama. Mama Laroche hatte ihre Nervenzustände. Da war nun ein Fremder ins Haus gekommen, ihr Mann gab ihr keine Auskunft, niemand wußte, was für eine Bewandtnis es mit ihm hatte, es wurde ein großes Geheimnis daraus gemacht, aber schon kamen sie aus den Nachbarhäusern und fragten, wer der Fremde sei … Und an den Ecken sei soeben eine Bekanntmachung des Gouverneurs angeklebt worden …

In ihrer erregten Stimmung hatte sich Helene gar nicht weiter umgesehen. Benjamin gab ihr Bescheid. Er hatte den Anschlag genau gelesen.

Im ersten Morgengrauen war heute früh ein Flugzeug hinter der deutschen Linie beschossen worden. Bei ziemlich trübem Himmel war es sehr niedrig geflogen. Es war stark beschädigt und hatte bei Haubourdin landen müssen. Als die Bahnschutzwache zur Landungsstelle gelangte, fand sie in den Trümmern des Flugzeugs den schwerverwundeten, vernehmungsunfähigen Flugzeugführer – aber der Beobachtungsoffizier war entkommen. Nach den aufgefundenen Papieren war der Flüchtling ein Engländer. Schwere Strafe wurde demjenigen angedroht, der dem feindlichen Flieger Unterschlupf oder Unterstützung gewährte.

Es gab keine Möglichkeit mehr, bei den Bekannten nach Genevièves Verbleib anzufragen. Da für die gesamte Zivilbevölkerung der Zapfenstreich auf neun Uhr festgesetzt war, gerieten sie mehr und mehr in Sorge um die »Vizemama«. Auch Laroche selbst zeigte sich sehr beunruhigt. Angele berichtete, daß er einen Gast hatte. Sie sollte eine Mahlzeit richten. Aber in all diesen Angelegenheiten bestimmte doch immer Mademoiselle Geneviève …

Helene war eine unbestimmte Angst an den Gliedern emporgekrochen. Sie konnte kaum schlucken. Als sie in ihr Zimmer hinaufstieg, fühlte sie eine seltsame Mattigkeit in den Kniekehlen. Der Aufenthalt in diesem Hause war ihr unheimlich geworden. Sie mußte erfahren, wer der geheimnisvolle Fremde war.

Mit Berthe, mit Louise und Madeleine, die lustig, aber artig wie alle Abende in den langen weißen Nachtkitteln zu ihr hereinkamen und ihr die beiden knallenden Gutenachtküsse links und rechts auf die Backe gaben, konnte sie heute nicht sprechen und scherzen wie sonst. Sie schoben es wohl auf Genevièves Ausbleiben. Louise bat: »Wenn sie kommt, muß sie uns noch Gute Nacht sagen, bitte, bitte, bitte!« Und Berthe meinte, Ma schlafe ja doch nicht ein, bevor Geneviève nicht bei ihr gewesen sei und ihr die Pillen gegeben, die Kissen gerückt, den Siphon zurechtgestellt und Bescheid gegeben habe.

Aus dem Billardzimmer kam keine Kunde. Angèle hatte einen dunkelroten Kopf, als Helene sie fragte, ob Monsieur Laroche einen Gast für die Nacht habe, oder ob sich's nur um einen Besuch zum Abendessen handle. O, sie wisse gar nichts – gar nichts.

Es schlug eben neun Uhr, als Geneviève ankam, atemlos, erschöpft. Sie suchte sogleich ihren Vater im Anbau auf. Aus dem Billardzimmer huschte sie dann zu ihrer Mutter. Doch hier blieb sie nur ein paar Minuten. Helene hörte sie gleich darauf nebenan eintreten.

Berthe kam bloßfüßig über den Gang und öffnete die Tür. »Geneviève,« bettelte sie, »kommst du nicht, uns Gute Nacht sagen?«

Die Antwort schien sie nicht zu befriedigen. Schmollend zog sie sich zurück.

Endlich entschloß sich Helene, zu der Freundin zu gehen.

Geneviève kniete in dem niedrigen Betstuhl. Sie war in Tränen ausgelöst.

Als Helene eintrat, erhob sie sich und gebrauchte das Taschentuch, zeigte der Freundin das Gesicht aber nicht. Es war übrigens ziemlich dunkel hier; nur die Gaslaterne, die vor dem Haus brannte, sandte ihren Schein herein.

»Was geht vor, Geneviève?« fragte Helene. »Um Gottes willen. Sag' doch!«

Lange schwieg Geneviève. Aber Helene sah, sie wurde von Schluchzen geschüttelt.

»Geneviève – ich hab' dich gesehn – dich mit Roger – es hat mir so innig leid getan. Ich versteh' dich, Geneviève. Glaube mir. Aber hier im Hause ist so etwas Furchtbares, Geheimnisvolles, das mich um euch alle zittern macht … Geneviève, hab' doch Vertrauen zu mir …«

Endlich fand Geneviève die Kraft, sich aufzuraffen. »Ja, Helene, der heutige Tag bringt uns beiden ein Wiedersehn mit dem, den wir liebhaben. Aber anders, als wir's erwartet haben. Roger – gefangen. Und George …«

»George –? Du hast Nachricht?«

Geneviève nickte. Sie zeigte nach dem Billardzimmer hinüber. »Der Gast, den Papa hatte –«

»Wer ist es, Geneviève?«

»Papa hat ihn fortgeschickt. Es wäre zu gefährlich gewesen … Drachman hat ihn zu Antoine gebracht. Es war Mapplebak.«

»Mapplebak?«

»Der Flieger. Ja. Der Engländer. Der Beobachter in dem Flugzeug, das sie heute früh bei Haubourdin abgeschossen haben.«

»Um – Gottes – willen –!« Ganz entgeistert starrte Helene die Freundin an.

Geneviève lächelte müde und verbittert. »Um wen bangt dir's, Helene? Mir ist jetzt alles gleich, alles. Und für dich … Nun, ja, Helene, ich muß es dir sagen. Es ist ebenso traurig für dich – wie für mich das Wiedersehn mit Roger. Mapplebaks Flugzeugführer war George.«

»Der – der – abgeschossen ist?«

»Er liegt draußen im Feldlazarett Haubourdin. Ein Schuß durch den Hals, sagt Mapplebak. Aber nicht lebensgefährlich.«

»Geneviève –!« Sie schrie es nicht. Aber es klang, als ob ihre Stimme zerrisse.

Die kleine Vizemama hatte sich aufs Bett geworfen. Schluchzend vergrub sie ihr Antlitz ins Kissen.

»Gib mir doch Auskunft, Geneviève. Ich bitte dich, liebe, liebe Liebste …«

»Ich weiß doch nichts. Ach, Helene, ich bin so traurig. Roger gefangen –!«

Eine schwere, trübe Nacht brach für sie beide an.

Von der Ypern-Front grollte wieder der Donner in ihr Weinen.

 

Benjamin kam morgens, vom Weg zur Schule, noch einmal zurückgelaufen, atemlos, und berichtete, an allen Ecken seien in der Nacht schwefelgelbe Plakate angeschlagen worden, auf denen der Gouverneur der Einwohnerschaft von Lille die Strafe für den Aufruhr beim Durchmarsch der Kriegsgefangenen verkündigte – eine halbe Million Francs habe die Stadt als Buße zu zahlen, und vom heutigen Tage an dürfe sich kein Franzose nach sechs Uhr abends mehr auf der Straße zeigen!

Sie glaubten es nicht. Laroche verließ das Haus barhäuptig und ging zur Post hinüber, wo sich an der Ecke neben dem schwarz-weiß-roten Schilderhaus die Menge staute und den Anschlag las.

Die Apfelgesichter warteten, erregt durcheinanderschwatzend, in der offenen Haustür. Berthe lief dann zu Geneviève und zu Helene hinauf und teilte ihnen mit, was der Vater gesagt hatte: zum Abend sei gewiß die Schlacht in den Straßen da!

Ma weinte. Sie sorgte sich um ihren Mann. Er würde sich unter keinen Umständen fügen, und dann nähmen sie ihn fest, die Hunnen!

Bleich und übernächtig, hin und her gerissen zwischen widerstreitenden Empfindungen, fand sich Helene um neun Uhr auf dem Amt ein. Sie nahm die erste Gelegenheit, da sie sich mit dem Unteroffizier allein sah, wahr, um ihn zu bitten, Hauptmann West anzurufen und bei ihm anzufragen, ob er's nicht ermöglichen könne, sie noch heute auf dem Amt aufzusuchen.

Kurz vor ein Uhr hörte sie das kreischende Geräusch der Hupe seines Kraftwagens, das sie schon herauskannte. Das Personal machte Mittagspause.

Mit klingendem Spiel zog draußen die Wache auf. »Wem Gott will rechte Gunst erweisen« – spielte die Kapelle. Die zum Essen gehenden Mannschaften summten die Marschmelodie in den Schreibzimmern und in der Halle mit. In der schmalen Straße pfiffen sie einzelne Soldaten, auch ein paar Liller Kinder, die mit der Zeit die Märsche der Landsturmkapelle kennengelernt hatten.

So versöhnlich, so harmlos, so hoffnungsfreudig klang es, trotzdem die Fenster dazwischen vom Geschützdonner klirrten …

Hans West kam in lehmbespritzten Stiefeln. Er war den ganzen Vormittag beim Stellungsausbau beschäftigt gewesen. Erst vor zwanzig Minuten hatte ihn Helenens Bitte, sie aufzusuchen, draußen am Fernsprecher in der Wasserburg erreicht.

Die Halle war jetzt ganz leer, alle Schalter waren geschlossen. Die Schritte des Ankömmlings hallten scharf durch die Mittagsstille. Helene hatte ihm entgegengehn wollen, aber ein plötzlicher Krampf packte sie an und machte ihr's unmöglich; sie ließ sich wieder auf ihren Schreibtischplatz sinken, preßte den Kopf zwischen die Hände und weinte.

So fand er sie.

Sie raffte sich endlich zusammen und streckte ihm die Rechte hin; die Linke ließ sie aber noch vor den Augen. Teils schämte sie sich ihrer Tränen – teils bangte ihr vor seinem forschenden Blick. Denn die ganze Wahrheit konnte und durfte sie ihm ja doch nicht sagen.

»Es ist so gut von Ihnen, daß Sie gekommen sind.«

Er lächelte gutmütig. »Soll ich wieder mal Pionierarbeit verrichten? Dämme aufführen gegen Überschwemmung mit Tränenfluten?«

Sie ging auf seinen Ton ein.

»Eine Brücke bauen, lieber Freund. Eine Brücke über die unnatürliche Grenze, die durch mein Leben geht.«

Nun ließ sie auch die linke Hand sinken, wandte sich ihm zu und sah ihn flehend an.

»Ich bin ja in solcher Zerrüttung – weiß mir gar keinen Ausweg mehr. Mein Mann soll draußen liegen – in einem Feldlazarett in Haubourdin – verwundet – gefangen …«

Er hatte Mütze und Handschuhe auf den Schreibtisch gelegt und sich einen Stuhl herangezogen. Ihre beiden Hände erfassend, ließ er sich dicht bei ihr nieder.

»Ruhe, Ruhe, um Gottes willen. Ihr Mann verwundet – gefangen … Nein, nein, nein, weinen dürfen Sie nicht … Sie müssen mir der Reihe nach alles sagen …«

»Ich weiß nicht mehr als nur eben das Gerücht. Aber Sie können sich vorstellen, wie mich das überfallen hat. Ich war ganz ahnungslos … Er sei der Führer des Flugzeugs gewesen, das sie bei Haubourdin abgeschossen haben.«

»Ich hab' nur eben an der Porte Saint André die Bekanntmachung gelesen. Ganz flüchtig. Auf Mapplebak wird gefahndet, nicht? Sagen Sie doch: Was wissen Sie Näheres?«

Es quälte sie namenlos, sich nun nicht alles von der Seele wälzen zu können. Wieder trieb es ihr die Tränen in die Augen und in die Kehle. Sie vermochte kaum zu sprechen.

»Nur – was die Leute einander erzählen …«

»Hier auf der Kommandantur?«

»Ja. Hier. Und was in der Menge gesprochen worden ist, die sich da vor den Anschlägen an den Ecken zusammenfindet.«

»Liebe – liebste Frau Martin – was hier in der Stadt zusammengefabelt wird, das wird doch hoffentlich jetzt nicht mehr imstande sein, Sie so zu erregen.«

In ihrer Qual – in ihrer Scham, nicht alles sagen zu dürfen – schlang sie die Hände ineinander, preßte ihre Finger, dann zog sie das Taschentuch und ballte es nervös zusammen. Wieder mußte sie seinem forschenden Blick ausweichen. »Wenn er es ist, dann wäre doch die Möglichkeit, daß er die Absicht gehabt hat …«

»Reden Sie doch. Haben Sie denn kein Vertrauen zu mir?«

»Ach – lieber Freund – darum bat ich Sie doch herzukommen. Und jetzt – ich flehe Sie an, West, helfen Sie mir! Ich muß ihn sehen, ihn sprechen.«

Ein Weilchen blieb es still zwischen ihnen. Er blickte ernst zu Boden, die Augenbrauen fest zusammenziehend. »Ich dachte – er wäre Ihrem Herzen längst entfremdet, Frau Helene,« sagte er endlich.

Stumm nickte sie. Dann wandte sie ihr Antlitz von ihm ab. »Aber es ist meine letzte Hoffnung … Vielleicht ist endlich der Deutsche in ihm wiedererwacht … Vielleicht war es für ihn eine Flucht in die Heimat!«

Nun verstand er. Er erhob sich und durchmaß den Raum ein paarmal. Tief aufatmend blieb er vor ihr stehen. »Wie der Bericht es darstellt, hat es ja freilich eher den Anschein, als ob das Flugzeug sich im Morgennebel verirrt hätte und durch das Feuer der Unsern zu einer Notlandung gezwungen worden wäre … Und es ist tatsächlich der Name Ihres Mannes genannt worden? Das wäre allerdings eine überraschende Wendung …« Wieder nahm er die Wanderung auf. Mehr und mehr gewann die Erregung die Herrschaft über ihn. Es war doch wohl etwas wie Eifersucht dabei. »Und er sei verwundet, heißt es? Schwer?«

Sie hob die Schulter, matt seufzend. »Ein Schuß durch den Hals.«

»Ich werde gleich draußen anfragen. Warum haben Sie sich noch nicht mit dem Lazarett verbinden lassen?«

»Man würde mir wohl kaum Auskunft gegeben haben.« Bitter lächelte sie. »Einer Französin.«

Nach kurzem Besinnen griff er nach seiner Mütze. »Aber Sie sollen ihn natürlich sehen. Dafür werde ich schon sorgen.«

»Ich kann die Stadt nicht ohne weiteres verlassen. Es bedarf eines Ausweises. Ach, es ist alles so schwer für mich.«

»Ich helfe Ihnen. Mein Gott, einen Besuch im Lazarett wird Ihnen doch kein Mensch verwehren.«

Auch sie war aufgestanden. »Sie tun ein gutes Werk.«

Mit etwas Selbstspott sagte er: »Ja, es ist furchtbar rührend von mir. Selbstlos. Nicht?«

In einer ihr selbst unerklärlichen Anwandlung erfaßte sie seine beiden Hände. Es drängte sie so aus tiefster Seele, jetzt ganz offen zu ihm zu sein. Und so unglücklich war sie, daß sie trotz allem ein Geheimnis vor ihm hüten mußte. Aber weshalb es sie an das Krankenlager ihres Mannes trieb, das sollte er ihr nachfühlen. Sie wollte George innerlich vor sich retten. Vielleicht mehr um ihres eigenen Stolzes willen. Nur fand sie nun doch die rechten Worte nicht.

»Kommen Sie gleich mit mir, Frau Martin,« sagte er nach kurzem Schweigen. »Es sind ja nur ein paar Schritt zum Paßamt. Vielleicht treffen wir noch einen der Herren.«

Aussicht war kaum vorhanden. Wie hier im Kommandanturgebäude, so mochten auch drüben in der Mairie, wo die Paßangelegenheiten bearbeitet wurden, die Geschäftsräume der Mittagspause halber verlassen sein. Aber sie machten wenigstens den Versuch.

»Von ein bis drei Uhr geschlossen!« verkündete ein Anschlag am linken Tor des Innenhofes im Stadthaus.

Hans West überlegte. »Ich suche drüben im Kasino Anschluß zu bekommen. Irgendwer wird mir ja Auskunft geben können. Dann bringe ich Ihnen Nachricht. Gehen Sie jetzt ruhig nach Hause.« Er reichte ihr die Hand. »Und werden Sie wieder Herrin über Ihre Nerven. Das ist jetzt das notwendigste.«

Sie fuhr sich mit dem Taschentuch rasch über die Augen. »Ich quäle Sie so mit meinen Angelegenheiten. Es ist lieb und groß von Ihnen, daß Sie mir beistehen.«

»Lieb und groß. Hm. Vielleicht …« Er lächelte trüb, fast schmerzlich. »Auf Wiedersehn!« brach er hastig ab.

Dann sah er ihr noch nach. Sie schlug die Richtung nach dem Republikplatz ein. Ihr Gang war nicht so stolz und bewußt wie sonst. Die Sorge drückte sie nieder. Ob da wirklich noch eine tiefe, unausrottbare Neigung mitsprach, fragte er sich. Und er preßte trotzig die Lippen aufeinander.

Dem Schofför, der mit dem feldgrauen Auto bis zum Eingang der Mairie gefolgt war, rief er kurz zu: »Warten!« Dann bog er rasch in die zum Kasino führende schmale Straße ein.

»Hallo – Hans, mein Sohn!«

Ein vom Kasino kommender zweiter Kraftwagen stoppte. Theo saß darin. Und neben ihm Hauptmann Hölderlin vom Paßamt – eben der, den er suchte.

»Grad komm' ich vom Essen bei euch, Hans. Ich dachte, dich hier im Kasino zu finden. Dieweil bist du längst im eigenen Schattohschloß draußen in Lambersart untergekrochen. Menschenkind, und das erfährt unsereins nur so ganz durch Zufall?«

»Ich wollte dich längst mal einladen, Theo. Weißt du auch, daß ich mit Consentius zusammen wohne? Den kennst du doch? Von Masuren her, nicht? … Grüß Gott, Hölderlin! Ich war eben drüben bei Ihnen, wollte Sie sprechen – gewissermaßen amtlich.«

»Ich hab' heute schon um halb ein Uhr mein Lädchen zugemacht. Ihr Bruder hat mich eingeladen, mit hinauszukommen auf den Flugplatz.«

»Steig' ein, Hans, und komm' mit! Sehr interessant. Wir haben den Engländer abmontiert.«

»Das Flugzeug,« erklärte Hölderlin, »das unsere Landstürmer gestern abgeschossen haben, draußen bei Haubourdin.«

Hans West war an das ratternde Gefährt herangetreten, den Fuß auf das Trittbrett aufstellend. Es machte einen solchen Lärm, daß der Flieger-Oberleutnant dem Führer entsetzt zurief:

»Stellen Sie doch einen Augenblick ab, Warnke, man kann ja keine Sterbenssilbe verstehen!«

Dann hatte er wieder eine Unmenge Fragen an den Bruder. Warum er so gar nichts von sich hören lasse? Ob er jetzt eben ein Halbstündchen für ihn übrig habe? Er könne auch draußen auf dem Flugplatz Mittag essen, wenn er wolle. Er müsse sich aber rasch entscheiden, denn um ein Uhr vierzig habe sich Exzellenz angesagt.

»Die haben nämlich ganz eigenartige Zerstörungswerkzeuge mitgehabt, die Burschen. Ja, in dem abgeschossenen Flugzeug. Das muß dich als Pionier doch mächtig interessieren. Etwa nicht? Sie hatten es sicher auf ein Munitionslager abgesehen. Der Führer ist ein Franzose, den haben sie gottlob geklappt. Aber der Engländer kraucht noch irgendwo hier herum. Du hast wohl den Aufruf ans Volk gelesen, wie?«

»Eben um die Sache handelt sicher um den Franzosen, der da abgeschossen ist.«

»Aber so sei doch nicht ungemütlich, Hans, mein Sohn. Steig' ein, wir erzählen uns unterwegs … Ist das Auto an der Mairie das deinige? Das kann uns folgen.«

»Nein, Theo, es ist mir unmöglich. Ich habe einen Auftrag übernommen, den ich ausführen muß, und zwar sofort. Und deswegen ist mir's von Wichtigkeit, daß ich gerade noch Hölderlin erwischt habe …«

Der Hauptmann lachte. »Für Kommißgeschäfte bin ich in der Mittagspause nicht zu haben, West. Um drei Uhr setz, ich mich wieder in den Schwitzkasten, dann in Gottes Namen. Aber bis dahin bin ich Urlauber, Freiherr, Naturschlemmer.«

»Und eine Grimasse schneidest du, Menschenskind,« sagte der Flieger, »man kann sich ja vor dir graulen.«

»Wenn mir nun doch wirklich so viel daran liegt … Also in zwei Worten … Du entsinnst dich doch der Frau Martin, weißt du, der unglücklichen Frau, die bei der Beschießung im Oktober mit verschüttet worden ist?«

Theo drohte ihm leicht mit den Augen. Das helle Grau blitzte seltsam aus dem braunen Gesicht. »O ja! Und in Madeleine bei dem Mathematik-Professor hab' ich sie neulich ja wiedergesehn, deine schöne Lillerin.«

Auch Hölderlin hob die Brauen. »Ach, die hübsche Dolmetscherin, die sich die Quartierkommission angebändigt hat?« Er schmunzelte. »Gar kein schlechter Geschmack.«

»Also folgendes liegt vor,« sagte Hans: »Der Flugzeugführer, der bei Haubourdin abgeschossen worden ist, der ist ihr Mann, er liegt verwundet dort im Lazarett, und Frau Martin hat mich gebeten, ihr dazu zu verhelfen, daß sie aus der Stadt hinaus darf, um ihren Mann im Lazarett von Haubourdin aufzusuchen.«

»Ausgeschlossen,« sagte Hölderlin sofort. »Von hier aus nicht zu machen. Der Mann muß zuerst vom Oberkommando vernommen werden. Ich bitte Sie, der ist doch Kriegsgefangener. Da sind unter Umständen wichtige Nachrichten herauszuholen. Nein, nein, ohne Zustimmung des Armee-Oberkommandos ganz undenkbar. Und selbst wenn ich ihr einen Passierschein dahin geben wollte – die im Lazarett würden sich schwer hüten, eine Französin hereinzulassen.«

»Eine Französin. Mein Gott …«

Theo hatte den Bruder immer verwunderter, immer verstörter angesehen. »Nun sag' mal, Bruderleben, was für eine schreckliche Leidenschaft ist da in dich gefahren! Diese Frau Martin –!«

»Ach, Theo, ich bitte dich,« unterbrach ihn Hans unwirsch, »das ist hier überhaupt keine Leidenschaft, hier kommt lediglich ein Freundschaftsdienst in Frage. Du hast Frau Martin ja doch auch noch als Mädchen gekannt, die Nichte von Karl Maria … Wir sind nämlich alte Jugendfreunde,« erklärte er Hölderlin.

Die beiden Herren im Wagen wechselten Blicke. Hans West, der sie bemerkte, wurde darüber rot. Der Hauptmann vom Paßamt hob die Schulter. »In allem Ernst, lieber West, ich käme in Teufels Garküche, es läßt sich nicht machen, beim besten Willen nicht.«

»Auch wenn sich's um eine unglückliche Frau handelt, eine Deutsche, die ganz zweifelsfrei ist, ganz unantastbar, in jeder Hinsicht?«

»Na, Hans, mein Sohn,« sagte der Flieger etwas ärgerlich, »jetzt will ich dir denn doch mal sagen, daß deine Beurteilung zum mindesten auffallend milde ist. Ich habe Frau Martin vor einiger Zeit im Café de la Paix in Gesellschaft von zwei andern Lillerinnen gesehen – na, und ich kann dir nur versichern, die haben ihr in meinen Augen ein verdeibelt schlechtes Relief gegeben.« Er wandte sich an Hölderlin. »Kennen Sie die rote Lou? Ja, die aus der Bar der Nitouche. And die Freundin von der kleinen Durchlaucht war auch dabei.«

»Die Manon? Ja, sagen Sie nur, es heißt, die geht jetzt auch schon in die Bar? Und es ist eine steinreiche Frau, nicht wahr, die nicht etwa von der Not gezwungen wird …«

»Leventin hat vorgestern einen Abend dort bei der Nitouche mitgemacht. Er sagt: einmal und nicht wieder. Echte, rechte Kokottenwirtschaft.«

»Und der Prinz immer dabei?«

»Gott – der arme kleine Kerl hat im bösesten Schlamassel gesteckt. Blutjung, wie er ist, lebenslustig, dabei zum erstenmal so richtig vogelfrei, hat er eine diebische Freude an all der Ausgelassenheit … In ein paar Tagen kommt er wieder hinaus, da will er halt jetzt noch in vollen Zügen genießen und ist nicht wählerisch … Aber wie ich dich kenne, Hans, mein Sohn, da wundert's mich doch, daß du dich mit dem Kreis weiter einlassen willst.«

Hans West fühlte, daß seine Hände eiskalt wurden. »Ich weiß, Theo,« sagte er stockend, gewissermaßen suchend, »daß du keinem Klatsch nachgehst, also – kann da nur ein schauderhaftes Mißverständnis vorliegen.«

»Nee, Kronensohn, Mißverständnis ist ausgeschlossen. Optische Täuschung gibt's für mich nicht. Ich bin im ganzen ein dummes Luder. Nee, nee, das habt ihr zu Hause ja immer gesagt. Einziges Talent ist mein gutes Auge. So war's auf Jagd – und so ist's jetzt bei der Fliegerei. Und was mir in den Gesichtswinkel kommt, das erfasse ich. Also kannst du mir glauben. Aber jetzt entscheide dich, Alterchen, steigt ein und komm' mit oder laß uns kurz und schmerzlos scheiden! Exzellenz verträgt alles – nur das Warten nicht. Und ich möchte keinen Anranzer kriegen wegen Frau Martin.«

Der Pionier verließ das Trittbrett. »Fahr' zu, Theo! Wir sprechen noch darüber.«

Hölderlin lachte.

»Macht er nicht Funkelaugen, als ob er Sie fordern wollte, West?« fragte er den Flieger.

Theo klopfte dem Bruder auf die Schulter. »Ich sage bloß: Hände weg! – Menschenskind –!«

Inzwischen hatte der Fahrer angekurbelt.

Hans West blieb noch ein paar Augenblicke ganz benommen stehen. Die Mattigkeit, die ihn überfiel, mochte ja auch vom Hunger kommen. Aber er wäre jetzt nicht imstande gewesen, an Essen zu denken. Er mußte erst Helene sprechen.

Im Begriff, Warnke anzurufen, seinen Fahrer, fiel ihm ein, daß der gleich ihm seit früh sieben Uhr unterwegs war. »Fahren Sie heim, Warnke, futtern!« rief er ihm zu.

»Und der Herr Hauptmann?«

»Gleichgültig. Los.«

Den Kopf etwas vorbeugend, mit dem Blick auf dem holperigen Pflaster der zerschossenen Straße, die zum Republikplatz führte, machte er sich auf den Weg.

In der Mittagsstunde war die Stadt sonst immer wie ausgefegt. Alle Geschäfte schlossen um diese Zeit. Aber heute gab's an den Ecken, an denen das schwefelgelbe Plakat klebte, starke Ansammlungen. Erregt besprachen die Liller die scharfe Maßnahme des Gouverneurs: daß zur Strafe für den gestrigen Aufruhr der Zapfenstreich auf sechs Uhr abends festgesetzt ward. Daneben verblaßte ganz der Eindruck, den die auch vom nächtlichen Regen schon etwas verwaschene Bekanntmachung über den englischen Flieger Mapplebak hervorgerufen hatte. In dicken Klumpen drängten sie sich und redeten sich in immer stärkere Erregung. Aber bei der Annäherung einer deutschen Uniform ward es still in den Gruppen. Hans West bemerkte indessen doch die haßerfüllten Blicke, die ihn beim Vorübergehen streiften.

Auch Angèle, die ihm öffnete, als er in der Rue Inkerman klingelte, sah ihn fast entsetzt an. War es nur Unerzogenheit oder bewußte Unhöflichkeit – sie machte sofort wieder kehrt, lief zum Kücheneingang, ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen … Und dann hub drinnen im Hause, auf den Treppen, ein hastiges Laufen an, man hörte gedämpftes Rufen, zischendes Sprechen …

Hans West war in den Hausflur eingetreten und wartete.

Endlich kam Helene in die Treppenhaustür, bat um Entschuldigung für das Mädchen, das ihn nicht hatte eintreten lassen, und öffnete die Glastür zum Musikzimmer.

Seltsam unsicher trat er ein.

Nach der Bauweise der meisten Liller Häuser war auch das von Laroche von jener ungemütlichen, glaskastenartigen Unabgeschlossenheit, die alle drei Erdgeschoßräume durch hohe Glastüren mit dem Treppenhaus verband. Man fühlte sich immerzu beobachtet. Die zahlreichen Spiegel verstärkten noch dies Gefühl. Bei einem zufälligen Blick in den Salviatispiegel über dem Marmorkamin entdeckte Hans West auch die eifrig die Köpfe zusammensteckende Gruppe der Apfelgesichter in der an den Gartensaal anstoßenden Küche, deren Tür wie immer offen stand.

»Ich muß allein mit Ihnen sprechen, Frau Martin,« sagte er, die Brauen zusammenziehend, als sie ihn bat, am Kamin Platz zu nehmen.

Sie sah ihm sofort an, daß er ihr keinen guten Bescheid brachte. Mit einem müden Achselzucken wies sie nach der Küche.

»Ach, die Kinder –!« sagte sie. »Sie verstehen ja nicht Deutsch. Es ist diese begreifliche Aufregung heute – wohl in allen Liller Häusern – die Strafe des Gouverneurs schneidet hart in das häusliche Leben … Aber wie seltsam sehen Sie mich an? Warum setzen Sie sich nicht?«

»Frau Martin – ich glaubte, Sie wußten, daß ich es gut mit Ihnen meine – und ich war fest davon überzeugt, daß Sie mir in allem vertrauen, daß Sie offen und ehrlich zu mir sind, aber da erfahre ich nun, daß Sie Geheimnisse vor mir haben. Das hat mich verletzt.«

Sie glaubte schon alles verraten. Das Zimmer mit den Spiegeln drehte sich um sie. Sie griff in die Luft. Leicht aufstöhnend ließ sie sich aus den nächsten Sessel sinken.

»Ach, lieber Herr West – ach, wenn ich Ihnen wirklich offen beichten dürfte, auch das letzte, glauben Sie mir, ich wäre glücklicher. Denn wie es mich peinigt, das kann ich Ihnen kaum schildern.«

»Was hat Sie dazu treiben können, die Gesellschaft von Frau Dedonker und diesem Barmädchen aufzusuchen?«

Da sie ihn überrascht ansah, fuhr er abwehrend fort:

»Eine bessere Bezeichnung verdient sie nicht. Sie geht von Hand zu Hand. Frau Dedonkers Ruf ist nicht viel besser. Theo hat Sie neulich mit den beiden Personen im Café de la Paix gesehen. Ich war entsetzt, als ich's hörte.«

Sie war schon halb erlöst, daß es sich um nichts anderes als um diese Begegnung handelte, nicht um das Geheimnis, das seit gestern das ganze Haus Laroche in Atem hielt. Bittend faltete sie die Hände und sah ihn mit einem matten, unsicheren Lächeln an. »Und haben Sie sich nicht gesagt, daß es mich doch sicher eine schwere Überwindung gekostet hat?«

Er nahm endlich Platz, legte seine Mütze mit den Handschuhen auf den nächsten Stuhl und ergriff ihre Hände, sie festhaltend.

»Wollen Sie Vertrauen zu mir haben?«

Sie nickte stumm.

»Sind Sie öfter mit den Damen beisammen gewesen?«

»Nur das eine Mal. Ich werde Ihnen erklären, wie es gekommen ist.«

»Aber das Urteil über Sie ist dadurch bei manchen getrübt. Und – was mir am meisten leid tut – auch das Urteil meines Bruders.«

Er schilderte ihr mit wenig Worten die Begegnung, beschönigte dabei nichts.

Sie hatte den Kopf gesenkt, tiefbeschämt. »Sie wissen ja, daß Manon eine Pensionsfreundin von mir und Geneviève ist. Nun traf ich sie wieder einmal hier im Hause. Sie hatte Nachrichten von meinem Mann. Lou hatte sie ihr gegeben. Und da trieb es mich natürlich, sie zu sprechen. Manon brachte uns zusammen.«

»Die rote Lou? Von der haben Sie Nachrichten?« Er sah ihr forschend in die Augen. »Woher kann die sie haben?«

»Das weiß ich nicht. Aber sie behauptete das alles mit solcher Bestimmtheit … George sei als Schüler auf den Flugplatz Ducerne gekommen. Er habe drüben ins Heer eintreten müssen, ein anderer Ausweg sei ihm nicht geblieben, weil sie ihn sonst sicher wieder ins Gefangenenlager abgeschoben hätten … Und ich sagte mir: Hier ist vielleicht eine Möglichkeit, ihm ein Wort zukommen zu lassen, eine Mahnung … Sie können sich doch denken, wie es mich gequält hat. Sich vorzustellen: er kämpft drüben. Da hätte ich doch jede Hand benutzt, um ihm eine Botschaft zukommen zu lassen. Die letzte! Daß ich ihn aus der Liste der Lebenden ausstreiche, wenn er nicht die allernächste Möglichkeit wahrnimmt, um hier zu landen.«

»Glauben Sie denn im Ernst daran, daß irgendwer jetzt noch Gelegenheit finden sollte, mit denen da drüben in Verbindung zu kommen?«

»Es gibt noch solche Gelegenheiten, ganz gewiß.«

»Dann wäre es Pflicht, die deutsche Behörde darauf hinzulenken.«

»Meine heiligste Pflicht war die: in meinem Mann das Gewissen zu wecken. Wenigstens griff ich nach dem Schimmer der Hoffnung, daß mein Wort ihn erreichen könnte.« Sie atmete tief auf. »Vielleicht hat es ihn erreicht. Und hat ihm die Kraft gegeben, sein Leben einzusetzen. Denn feige war er nicht. Nur irregeleitet.«

Es riß ihn hin und her. Die Vorstellung, daß es tatsächlich noch Beziehungen irgendwelcher Art über den Schützengraben hinweg geben sollte, hatte für ihn etwas gar zu Abenteuerliches. Er wollte annehmen, daß sich Helene nur von der französischen Flunkerei habe betören lassen. Aber zugleich machte der Offizier in ihm Forderungen geltend. Unklarheiten vertrugen sich nicht mit seiner dienstlichen Anschauung.

»Ich will Ihnen ja wünschen, daß Ihr Ruf Ihren Mann erreicht hat,« sagte er. »Aber freilich – glauben kann ich's nicht. Denn unsere Aufsichtsbehörden sind doch, gottlob, hellhörig und scharfsichtig genug.«

Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Er hatte ihre Hände zwischen die seinen genommen. Das aufgeregte Hin und Her im Hause hatte sich allmählich gelegt. Im anstoßenden Gartensaal weilte niemand mehr. Auch das Treppenhaus war leer.

»Ich muß Sie von hier wegbringen, Frau Helene,« sagte er endlich.

Es klang so sorgenerfüllt, daß sie sich ganz schlecht vorkam. »Sie wissen ja, daß ich keine Heimat mehr habe. Dort draußen wollten sie mich auch nicht mehr dulden.«

»Mir ist bange um Sie, Helene.«

Ihr Herz schlug. Es schlug ihm zu. Sie hätte sich am liebsten in seine Arme geworfen, sich da ausgeweint. »Ich weiß, daß Sie's gut mit mir meinen. Ach, wahrhaftig, ich fühle es doch. Wer hat mir denn in all der Not geholfen?«

»Aber nun – treibt Sie's zu Ihrem Mann?

Sie preßte fest die Lippen zusammen. »Nur klar sehen will ich,« sagte sie endlich. »Ich will ohne Groll an ihn denken können.« Und nach einem tiefen, schweren Seufzer schloß sie:

»Ohne Verachtung.«

Noch immer hielt er ihre Hände. Etwas ungeschickt streichelte er sie. »Ich helfe Ihnen. Sie sollen einen Freund haben, auf den Sie sich verlassen können. In jeder Lebenslage. Ich habe Sie lieb, Helene. Wirklich lieb. Das darf ich Ihnen doch sagen. Sie haben es ja wohl auch schon gemerkt?«

Sie löste ihre Hände aus den seinen und preßte sie gegen ihre Augen. Sie mußte wieder weinen. Aber diesmal waren es Tränen der Rührung. Indem sie ihr Taschentüchlein zog und sich die Augen betupfte, glitt ein hellerer Schein über ihr blasses Gesicht. »Es ist mir nur so fremd geworden,« sagte sie und versuchte zwischen den Tränen zu lächeln, »daß ein Mensch so lieb und gut zu mir spricht.«

Für eine Sekunde riß er sie an sich und küßte sie auf die Stirn, ins Haar. Aber er gab sie sofort wieder frei und erhob sich, wie erschrocken über sich selbst.

Nach Atem ringend blieb er stehen.

Draußen gingen wieder Türen. Die Apfelgesichter kamen heimlich schwatzend, aufgeregt flüsternd aus dem Billardzimmer herüber.

»Ich werde nach Haubourdin fahren,« sagte er, bemüht, seiner Stimme wieder die ruhige Gelassenheit und Sicherheit zu geben. »Will mich im Feldlazarett erkundigen. Und Sie bekommen dann noch heute Nachricht.«

Sie war von dem Ausbruch seiner Zärtlichkeit noch so überrascht und verwirrt, daß sie ihm nicht zu erwidern vermochte. Die Augen hielt sie mit dem Tuch bedeckt. Aber sie nickte lebhaft.

Er nahm seine Mütze auf und ging zur Tür. »Auf Wiedersehn,« sagte er leise. Seine Stimme zitterte noch immer.

Wieder nickte sie, ohne aufzublicken.

 

Durch volkreiche Vorstädte, an zerschossenen Fabriken und Lagerhöfen vorbei, gelangte Hans West mit der Straßenbahn nach Haubourdin. In einer Mittelschule war das Lazarett untergekommen. Der Chefarzt war nicht zugegen; der Wachthabende wies den Hauptmann an den Stellvertreter, einen landsturmpflichtigen Professor aus Göttingen. Als Hans West den Name hörte, war er freudig überrascht.

»Professor Dr. Butlar? Seit wann ist der Herr hier?«

Er sei erst Anfang der Woche für den Stabsarzt herkommandiert worden, der nach dem Osten gekommen sei, sagte der Wachthabende.

Ein Sanitätsgefreiter begleitete den Besuch über den Schulhof in das Mittelgebäude.

In dem Lehrerkollegiumszimmer neben der Aula, die als Hauptverbandssaal diente, hatte sich der Professor häuslich eingerichtet. Häuslich – aber nicht eben gemütlich. Der unheimlich große Tisch, der den meisten Raum des Zimmers beanspruchte, machte jeden Versuch der Wohnlichkeit unmöglich. Ein Teil des Tisches diente zum Schreiben. Daneben deutete ein verbrauchtes Tischtuch mit einem Kaffeegeschirr die Speisegelegenheit an. Weiterhin kam ein geöffneter Handkoffer – eine Waschschüssel mit Seifennapf – schließlich kleine Stöße von Wäsche, Büchern, Schriftstücken, Zigarrenkisten, Flaschen …

»West? Hans West? Ja, etwa der Intimus vom Fritz Consentius? Heil und Sieg! Aber das nenn' ich eine Überraschung! Nein, kommen Sie lieber hier rechts vorbei, da ist mein Empfangssalon – dort drüben, das Feldbett, stellt mein keusches Schlafgemach vor … Ich bin in all der Hetze noch gar nicht zum Auspacken gekommen. Der Oberstabsarzt ist zum Kursus wegen der Typhusgeschichte, ich hab' mich Hals über Kopf hier in die Geschäfte stürzen müssen … Vom Kommiß hab' ich natürlich noch keine Ahnung, Sie können sich denken, wie ich da auf Schritt und Tritt anecke. Muß ich Sie eigentlich anreden: Herr Hauptmann haben –? Oder darf ich gleich ganz unmilitärisch fragen: Hätten Sie nicht grad Zeit und Lust, Kaffee mit mir zu trinken?«

Hans West kannte ein Bild des Professors, das er bei Consentius gesehen hatte. So recht das Bild eines gemütlichen, etwas altmodischen, trotzdem vertrauenerweckenden Gelehrten war es. Goldene Brille, rotblonder Vollbart, gute, lustige, blaue Augen. Da die Schwester von Fritz Consentius, die ihren Dr. med. gemacht hatte und ein Jahr lang Assistentin von Professor Butlar gewesen war, in hohen Tönen sein Loblied sang, so mußte schon etwas an ihm sein.

»Na, Fritze wird Augen machen, wenn ich ihm erzähle, daß ich Sie hier getroffen habe, Herr Professor. Daß Sie sich so clam-heimlich in seiner allernächsten Nähe angesiedelt und noch keinen Sterbenslaut von sich gegeben haben!«

»Ach, Herr Hauptmann, Sterbenslaute – die hört man hier so ununterbrochen, daß man gar nicht zum Leben und Lebenwollen kommt. Es gibt heillos viel zu tun. Aber das ist jetzt mein Kaffeeviertelstündchen, in dem ich Krieg und Kommiß und Verbandwatte und Rizinus vergessen will. Ich hab' dem Unteroffizier gesagt, das muß ihm heilig sein.«

»Kaffee. Wunderschön. Aber wenn Sie zufällig noch einen Teller warme Suppe hätten, nähm' ich ihn noch lieber.«

»Was, Sie haben noch nicht gegessen? Sie können sogar noch mehr kriegen als einen Teller Suppe. Rindfleisch mit Nudeln hat's heute gegeben. Ich sage Ihnen: bei Pfordte in Hamburg nicht besser.« Er klingelte am Telephon und machte in der Küche eine Bestellung. »Und von dem weißen Bordeaux ein halbes Fläschchen, wissen Sie, dem weißgekapselten!«

Hans West kam nicht so rasch, wie er gerne wollte, auf den Zweck seines Besuchs zu sprechen. Der Professor hatte zu viel Fragen. Auch das Schicksal von Fräulein Consentius beschäftigte ihn lebhaft.

»Fritz hat wohl auch noch keine bestimmte Nachricht von seiner Schwester? Ja, die Feldpost nimmt oft seltsame Wege. Also die Stadt Frankfurt richtet auf dem Nordbahnhof eine Erfrischungsstätte ein, nicht wahr? Ich hatte mich erst dorthin gemeldet, und es war alles im besten Zuge, Fräulein Consentius war auch bereit, als Schwester mitzukommen, sie war in meiner Klinik Operationsschwester, vorzügliche Kraft, aber da heißt es nun wieder, nein, Lille ist Durchgangsstation, lediglich für Verpflegung, da schicken sie nur Verpflegungsdamen hin, die ausgebildeten Kräfte werden anderweit gebraucht, und so weiß ich bis zur Stunde noch nicht, wo wir schließlich landen werden. Die Leiterin der Station wird eine Frankfurter Dame. Sobald sie eintrifft, suche ich sie auf dem Bahnhof auf, denn da ist nun ein ganz seltsames Zusammentreffen … Holla, hier kommt Ihr Essen! – Hören Sie mal, Baldumeit, daß Sie bloß ein Weinglas bringen … Na ja, am Tage trinke ich sonst natürlich nichts, aber jetzt mache ich doch selbstverständlich eine Ausnahme.«

Es tat dem jungen Hauptmann wohl, ein paar Löffel Suppe zu essen. Aber zum rechten Genuß der Mahlzeit kam er doch nicht. Er hatte den Hunger schon übergangen. Auch die verschiedentlichen Erregungen beeinträchtigten ihn. Und es kam hinzu, daß der gemütlich-lebhafte Professor, im Bestreben, ihn gut zu verpflegen, ihm keine rechte Ruhe ließ. Ganz aus aber war's mit seiner Aufnahmefähigkeit, als Butlar den Namen der Frankfurter Dame nannte, die als Leiterin der Erfrischungsstätte hier erwartet wurde … »Ja, denken Sie, Herr Hauptmann, also das ist ein eigentümliches Zusammentreffen: die Witwe eines schwerreichen Japan-Importeurs, sehr wohltätige Frau soll es sein, intelligent, unternehmend, viel gereist, spricht fließend Französisch, eine Frau Martin, und nun haben wir da seit gestern den französischen Flieger hier, den sie abgeschossen haben, dicht bei Haubourdin, nicht wahr, und dabei kommt es heraus, daß das der Stiefsohn von dieser Frau Martin aus Frankfurt ist. Haben Sie Worte?«

So waren sie nun endlich bei der Angelegenheit, die den Hauptmann so tiefinnerlich aufgewühlt hatte. Er legte sofort Messer und Gabel hin, rückte mit dem Stuhl zurück und wandte sich dem Professor überrascht aufhorchend zu.

»Wegen Martin bin ich hier!« sagte er.

»Sie kennen ihn?«

Hans West berichtete mit ein paar Sätzen. Er überhastete sich dabei. Seiner Darstellung konnte der Professor nicht recht folgen. Es gab erst wieder Rückfragen. Der Verwundete, der drüben lag, sei ein Franzose, kein Deutscher.

»Haben Sie ihn gesprochen?« fragte der Hauptmann, bemüht, seine Erregung zu verbergen.

Der Professor hob mitleidig die Achseln. »Sprechen? Ausgeschlossen. Es ist ein schwerer Fall. Schuß durch den Hals. Wirbelsäule gestreift. Anzeichen von Lähmung. Auch das Gehör hat gelitten. Er sollte natürlich vernommen werden, aber ich wußte ja gleich: das war ganz aussichtslos. Was man in Erfahrung über ihn gebracht hat, weiß man lediglich aus den beschlagnahmten Papieren. Haben Sie den Mann schon früher gekannt?«

»Nie. Ich hatte gehofft, ihn sprechen zu können – um seiner Frau, die eine Jugendbekannte von mir ist, ein Wort zu sagen. Aber sehen möchte ich ihn, wenn das erlaubt ist.«

»Er liegt im Saal D. Lauter Schwerverwundete. Ein Stück Mensch in Verbandgaze und Leinen. Einer wie der andere. Wir machen ja keine Unterschiede, ob Freund oder Feind. Es sind bloß Fälle. Und man hat den Ehrgeiz, möglichst viel durchzubringen. Drüben bei den Franzosen soll's anders sein. Schaudervoll, was man so hört. Wir können hernach einmal hinübergehen. Ja, sagen Sie, Herr Hauptmann, und die Frau von ihm ist also hier in Lille, selbst eine Deutsche? Eine Kampff? Von den berühmten Kampff-Werken? Nun bitt' ich Sie, hätte so ein Mensch es nötig gehabt, sich drüben naturalisieren zu lassen? Ach, heiliger deutscher Michel, wann wirst du endlich klug werden! Aber ich habe Sie unterbrochen …«

Er unterbrach ihn noch oft. Auch auf dem Rundgang durch das Lazarett. Die vielen neuen Eindrücke, die neue Verantwortung, das ehrliche Streben, mitzuhelfen, dabei das Gefühl des Zivilisten, der sich oft unverständlichen militärischen Formen gegenübersah, nötigten ihm immer wieder Stoßseufzer ab, Erklärungen, Beschwerden, Einwände.

Im Saal D lagen vierundvierzig Schwerverwundete. Die Betten waren blütenweiß. Nur die Wolldecken, die aus einheimischen Kasernen stammten, zeigten das Hechtgrau der französischen Ausrüstung mit den groß eingewebten Buchstaben R F. Einer sah aus wie der andere. Daß der einen Schnurrbart trug, jener keinen, merkte man kaum. Wachsbleiche oder fast grünliche Gesichter blickten aus den Verbänden, die Lippen waren schmal, der Leidenszug stand auf jedem Antlitz. Lautlos gingen die Schwestern mit dem Fiebermesser von Bett zu Bett. Sprachen sie mit einem der Sanitäter, die mit gröberer Arbeit beschäftigt waren, so geschah es im Flüsterton.

»Es ist hier zunächst festzustellen,« erläuterte der Professor dem Besuch, »wer transportfähig ist. Da Kampfhandlungen zu erwarten sind, muß Platz geschaffen werden. Wer die Reise verträgt, wird nach Deutschland gebracht. Martin werden wir wohl nach dem Festungslazarett abschieben müssen. Dort sind bessere Einrichtungen, auch Spezialisten für Einzelfälle. Aber viel Hoffnung haben wir nicht. Längere Reise würde er keinesfalls vertragen.«

Nun standen sie vor George Martins Bett. Eine Tafel nannte seine Personalien, wie sie sein französisches Soldbuch, seine Erkennungsmarke und die im Flugapparat und in seinen Kleidern aufgefundenen Papiere aufgewiesen hatten. Dabei befanden sich die Vermerke über Fieber und andere ärztliche Beobachtungen.

Seltsam waren die Gefühle, die Hans West beherrschten, während er neben dem regungslosen, wachsbleichen, wie eine Mumie verpackten Verwundeten stand. Ein eifersüchtiger Haß hatte ihn auf diesem Wege begleitet – und nun sank alles von ihm ab, was feindselig gewesen war – nur Mitleid beherrschte ihn.

Der Kranke schlug einmal die Augen auf und bewegte die trocknen Lippen.

Schon hatte es die Schwester bemerkt, kam herzu und gab ihm mit dem Glasröhrchen ein paar Tropfen zu trinken.

Wie Dank ging es im matten Leuchten über die Züge des Hilflosen.

Als sie wieder auf dem Gang waren, auf dem noch all die hetzerischen Lehrmittel der Franzosen hingen – die Landkarte Europas mit den französischen Farben von Elsaß-Lothringen, flammende Ausrufe » Tu seras soldat!«, sagte Hans West: »Hol' mich der Deibel, ich hab' ja auch schon manches Schlamassel mitgemacht bei unsern Sturmangriffen und dabei die Piou-Pious wahrhaftig nicht geschont, aber ich begreife nicht, daß es da drüben Ärzte gibt, für die nicht eben Mensch Mensch ist. So eine Wut hab' ich auf den Kerl gehabt, den Martin, und jetzt empfinde ich nichts als Mitleid. Es ist eine Affenschande.«

Der Professor lachte. »So ist's recht. Das ist so wieder mal echt deutsch.«

»Also verkehrt?«

»Nö. Wir müssen wohl so sein. Heldentum ist doch nicht bloß blindwütige Schlächterei. Die Stillen und die Feinen, die nur dann rauh und groß werden, wenn das Schicksal es verlangt, die sind mir die wertvolleren. Eben weil sie die deutschesten sind.«

Hans West war es eine Wohltat, diesen Landsturmarzt kennengelernt zu haben. Und es freute ihn, daß der Mann voraussichtlich der Schwager seines Freundes Fritz Consentius werden würde. Er nahm ihm das Versprechen ab, daß er sie baldigst in ihrem »Schattohschloß« besuchte. Und dann kamen sie aus die »Verpflegungsstätte Frankfurt« zu sprechen. Es war anzunehmen, daß Frau Martin nächster Tage aus Frankfurt hier eintraf. Den Professor drängte es, die Berufung von Fräulein Consentius bei ihr durchzusetzen. Und Hans West band ihm auf die Seele, dabei ihrer tiefunglücklichen, vereinsamten, aller Mittel entblößten Stieftochter nicht zu vergessen.

»Mit dem Obergeneralarzt hab' ich über den Fall schon gesprochen – aber seine Dienstgewalt reicht hier nicht aus, nur der gute Wille kann helfen. Ich weiß nicht, wie Frau Martin mit der Frau ihres Stiefsohnes steht: immerhin muß doch schon das rein weibliche Mitgefühl sie packen. Zunächst handelt sich's darum, daß Frau Martin ihr so bald als möglich ein Asyl in der Verpflegungsstätte gibt. Ich halte es für ungerecht, sie als Französin zu behandeln. Sie leidet darunter, und es ist doch auch unnatürlich, sie in der stockfranzösischen Umgebung zu belassen, wenn eine nahe Anverwandte von ihr hier eine so einflußreiche Stellung bekommt.«

»Keine Sorge, lieber Herr Hauptmann. Der Frankfurter Dame werde ich energisch zu Leibe rücken. Ich bin nämlich nur vor Feldwebeln schüchtern. Bei Exzellenzen, Wohltätigkeitsdamen und Regierungspräsidenten kann ich von einer märchenhaften Unverschämtheit sein. Sie werden sich wundern.«

Hans West sah nach seiner Armbanduhr. Es war höchste Zeit, daß er sich nach dem »Geschäftszimmer der Abschnitte« begab, um die schriftlichen Arbeiten des Tages zu erledigen. »Wann kommen Sie zu uns, Herr Professor? Consentius wird natürlich ein kleines Fest rüsten wollen.«

Der Professor lachte. »Hauptsache, daß uns dabei Zeit bleibt, ein bißchen Musik zu machen, Fritz hat ja geschwärmt von Ihrem Cellospiel. Ich bringe dann meine Bratsche mit. Haben Sie Noten?«

»Ein halber Koffer Kammermusik steht noch unausgepackt da. Man ist nie so recht zur Sammlung gekommen, weil die Brummbässe draußen sich immer so mausig machen.«

»An die Paukenbegleitung hab' ich mich inzwischen gewöhnt. Na, und Sie als Frontsoldaten stört es ja gewiß nicht. Ich freue mich darauf, mal für ein paar Abendstunden aus dem Lysolgeruch herauszukommen und Beethovenluft zu atmen.«

»An Beethoven haben wir uns noch nicht gewagt. Höchstens Haydn.«

»Na, ich bringe einen famosen Boccherini mit. Der ist vom Blatt zu spielen.«

»Consentius ist ja ein geschworener Feind der Katzelmacher. Aber Boccherini ist doch wohl achtzehntes Jahrhundert, also für seine Landsleute von heute nicht mehr verantwortlich.«

»Grüßen Sie mir den Fritz recht herzlich. Und natürlich – den Doktor.«

Der Doktor – das war Fräulein Ella Consentius.

Später als sonst traf Hans West auf seiner Dienststelle ein. Es warteten schon Ordonnanzen mit Umläufen, Befehlsempfänger, die Postordonnanz, Bürovorsteher, Unteroffiziere, Pionierparkverwalter auf ihn – es ward fünf Uhr, bis er endlich die Möglichkeit fand, sich mit der Quartierkommission in Verbindung zu setzen, um Helene an den Fernsprecher rufen zu lassen.

»Ich war in Haubourdin, habe Ihren Mann gesehen, liegt im Saal D, ist zurzeit nicht bei Bewußtsein, aber Lebensgefahr besteht nicht, voraussichtlich wird er nach dem Gouvernementslazarett übergeführt, und dann wird sich kaum eine Schwierigkeit ergeben, daß Sie ihn aufsuchen.«

Er hörte das schwere Seufzen im Fernsprecher. Sie dankte ihm, daß er sich die Mühe gegeben hatte. Sie sprach förmlich, korrekt, offenbar sprach sie in Gegenwart anderer.

Eine Weile blieb es still. Er wartete auf irgendein persönliches Wort.

»Ich möchte mit Ihnen reden, Frau Martin. Aber nicht aus dem Amt. Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie nach Dienstschluß in der Inkermanstraße aufsuche?«

Fast erschrocken lehnte sie ab. »Nein – nein, bitte, heute nicht.«

»Grund?« fragte er, die Augenbrauen zusammen pressend.

»Ach – mein Gott – können Sie sich's nicht denken? Die Erbitterung hier in allen Häusern. Bedenken Sie, was das für die Liller bedeutet: um sechs Uhr daheim sein. Das können sie hier den Deutschen wohl am allerschwersten vergeben.«

»Und Sie selbst, Frau Martin? Müssen Sie auch schon so früh das Amt verlassen?«

»Ich habe eine vom Gouvernement abgestempelte Armbinde bekommen. Und eine Bescheinigung darüber, daß ich im Dienste der Militärbehörde stehe. Denn ich muß doch meine Amtsstunden einhalten. Aber in den Liller Kreisen wird man es mich sicher schwer empfinden lassen. Und wenn ich da heute gar noch den Besuch eines deutschen Offiziers empfangen wollte … Unmöglich.«

»Sie müssen aus diesen unklaren Verhältnissen heraus. Ich habe mit Professor Butlar vereinbart, daß Sie auf dem Nordbahnhof unterkommen. Frau Kommerzienrat Martin richtet dort die Verpflegungsstätte der Stadt Frankfurt ein: die Stiefmutter Ihres Mannes.«

Er konnte den Eindruck, den die Mitteilung auf sie ausübte, nicht mehr feststellen. Sie wurden getrennt.

Es blieb ein unbefriedigtes Gefühl in ihm zurück. Noch zweimal versuchte er Verbindung zu bekommen. Die Leitung blieb besetzt.

Als er sich wieder in den Wust der schriftlichen Arbeiten versenkt hatte, kam Besuch: Consentius wollte ihm den Vorschlag machen, den Abend im Gouvernementskasino zu verleben. Vom Flugplatz aus hatte Theo angeklingelt und gemeldet, daß Exzellenz nach der Besichtigung den Wunsch geäußert habe, ihn dort zu sehen. Also ein Anlaß, daß man sich mal wieder traf und gründlicher aussprach, als es bei der eiligen Begegnung heute mittag möglich gewesen sei.

Hans West wußte sofort: sein Bruder sorgte sich um ihn. Vielmehr, er gönnte der »Französin« nicht seine Anteilnahme.

»Gut. Einverstanden. Und um ganz in der Familie zu bleiben, können wir ja auch noch Butlar dazu einladen, den Professor.«

Der Oberleutnant war äußerst überrascht, von dem zukünftigen Schwager zu hören. Hans West mußte ihm die Begegnung draußen in Haubourdin mit allen Einzelheiten schildern. Natürlich freute sich Consentius herzlich über die Aussicht, daß seine Schwester nun doch noch hier in nächster Nähe unterkommen sollte.

Consentius war ein langaufgeschossener Mensch mit rotem Gesicht, hellblondem Haar und überraschend dunklen Augen. Nach den Bildern, die Hans West von seiner Schwester gesehen hatte, besaß sie dieselben Augen, dasselbe Haar; aber ihre Figur hatte nicht das Eckige und Ungelenke von Fritz, sie war schlank, biegsam, schön gewachsen.

»Und Butlar hat dir gefallen?« fragte der Oberleutnant lebhaft. »Eine Schönheit ist er ja gerade nicht. Aber fabelhaft guter Kerl. Tatsächlich.«

»Ich werde mich hüten, ihn nicht nett zu finden. Du sagst es deiner Schwester wieder – und gleich wäre ich unten durch bei ihr.«

»Bist du nicht bald mit deinen Unterschriften fertig, Hans? Es wird jetzt nämlich riesig spannend da draußen.« Auf einen fragenden Blick hin erläuterte der Oberleutnant: »Es ist gleich sechs Uhr. Die Liller scheinen es wieder auf eine Kraftprobe ankommen lassen zu wollen. In den Straßen wimmelt es.«

Hans West zuckte die Achseln. »Echt französisch. Sie halten es für eine Tat, sich gegen eine deutsche Maßregel unter allen Umständen aufzulehnen. Vielleicht würden sie sich in der ersten flammenden Begeisterung sogar totschießen lassen. Aber das ist von uns aus gar nicht beabsichtigt. Die Ungehorsamen werden nur festgenommen und haben die Nacht auf der Polizeiwache zu verbringen. Bis morgen früh ist die Begeisterung der Besseren dann sicherlich erloschen, und sie haben nur den Wunsch, nach Hause zu gehen, um sich die Zähne zu putzen und Kaffee zu trinken.«

Der Oberleutnant lachte. »Grad' sprach ich den Polizeihauptmann; der ist derselben Ansicht. Aber da schlägt es schon Sechs … Menschenskind, jetzt leg' doch die Feder endlich hin und komm' mit … Was ist nur los mit dir, Hans? Du hast ja so seltsam nach innen blickende Augen?«

»Hab' ich? Wirklich?« Hans West atmete tief auf. »Ich bin in einer so schweren Unruhe. Wie noch nie. So gar nicht soldatisch ist das … Wie? Du wirst mich auslachen. Aber vielleicht erzähle ich dir …« Jäh brach er ab. »Doch jetzt laß uns endlich gehen, Volksstudien machen.« Er warf die Feder hin und stand auf.

Consentius maß ihn mit prüfendem Blick. So ganz anders war er als sonst. Unmerklich nickte er. Er hatte eine Anspielung des Fliegers wohl verstanden. Schade um den Jungen, dachte er, er ist verliebt!

 

Ein blendend erleuchteter Hotelsaal mit weißer Täfelung und zahlreichen Spiegeln. Nach Dienstalter und Rang geordnet eine militärische Gesellschaft von einem halben Hundert Köpfen. Die breiten Tische waren in Hufeisenform aufgestellt. Am Mitteltisch saßen die Exzellenzen. An den Enden, wo die Brüder West Platz gefunden hatten, ging es am lebhaftesten zu. Hier war der kleine Prinz Aemil der Mittelpunkt. Er hatte eine reizende Art, auf die Neckereien von Theo West einzugehen. Manchmal erhob sich ein stürmisches Gelächter, so daß die alten Herren von der Tafelmitte fragend herüberschauten. Das Mahl war kriegsmäßig einfach, es bestand nur aus Suppe und einem Gang; aber der Weinkeller bot noch allerhand Überraschungen, und die Durchlaucht sprach sich begeistert für den sonst von allen Herren verschmähten herben Veuve Cliquot aus. Die Leuchter mit den brennenden Kerzen waren schon aufgestellt – das Zeichen, daß geraucht werden durfte –; da und dort lichtete sich auch schon die Tafel, und einzelne Herren verfügten sich in ihre Hotelzimmer, um zu schreiben, oder in die unteren Säle, in denen Billard, Klavier, Zeitung und Biertische harrten; aber der Kreis um den Prinzen blieb seßhaft.

Hans West machte immer wieder den Versuch, sich in die allgemein angeregte Stimmung einzufühlen. Er saß zwischen Theo und dem Prinzen, und über seinen Kopf hinweg gingen die meisten der lustigen Reden. Aber es gab ihm jedesmal einen Stich, wenn Theo eine seiner Anspielungen auf die »lustige Witwe« vom Boulevard Vauban anbrachte, etwa im Gegensatz zu der »herben«, die in den Gläsern vor ihnen perlte. Immerzu fürchtete er, daß nun auch Helenens Name fallen würde, daß irgendeiner der Kameraden sich daran erinnern würde, daß er sie in Gesellschaft der vielgenannten Frau Manon oder gar der roten Lou gesehen hätte. Ihm gegenüber saßen Consentius und der Professor. Sie hatten einander unendlich viel zu erzählen und beteiligten sich nicht an dem ausgelassenen Hin und Her. Aber es wollte dem Hauptmann doch so vorkommen, als streifte ihn öfters ein forschender Blick aus den Augen seines Freundes.

Während der Mahlzeit wurde der Polizeihauptmann zweimal an den Fernsprecher gerufen. Er gab dem Gouverneur darauf Bericht über die Meldungen, die von den verschiedenen Wachen eingelaufen waren. Von den hundertdreißigtausend Seelen, die Lille noch immer beherbergte, hatte sich nur eine verschwindende Minderheit gegen das Gebot des frühzeitigen Zapfenstreiches aufzulehnen gewagt. Etwa sechshundert Personen beiderlei Geschlechts waren aufgegriffen worden, weil sie sich noch nach sechs Uhr auf der Straße gezeigt hatten.

»Sie bleiben eben einfach die Nacht auf der Wache, die Leutchen bekommen bei der Entlassung ihre Polizeistrafe zudiktiert, und morgen abend um Sechs werden es keine hundert mehr sein, die sich der Unbequemlichkeit aussetzen.«

Einer wiederholte dem andern, was der Gouverneur gesagt hatte. Und Consentius kam auf Hans Wests Äußerung zurück, die seiner Meinung nach das Wesen der Liller ausgezeichnet widerspiegelte: »Viele Liller wären gewiß Franzosen genug, um den Märtyrertod auf sich zu nehmen; mit einer schönen Phrase auf den Lippen sich zu opfern, dazu finden sich immer ein paar Theaterhelden. Aber bloß ein Nachtquartier auf der Wache und eine Polizeistrafe – das ist ihnen doch nicht heroisch genug. Im Grunde sind sie Kinder.«

Theo West war anderer Meinung. Er unterbrach sein lustiges Geplänkel mit dem Prinzen und berichtete über seine Beobachtungen bei der Bergung des abgeschossenen Flugzeugs. Sein junges, bartloses, gebräuntes Gesicht ward ernst, seine grauen Augen blitzten. »Ich bin überzeugt, daß sie hier ein stark ausgebildetes Spionagewesen unterhalten. Sie halten fest zusammen, wenn es gilt, uns zu schädigen. Kinder sind sie in der Hinsicht durchaus nicht. Wir dürfen ihre Absichten nicht unterschätzen. Auch ihre Mittel nicht. Es laufen von hier nach Frankreich hinüber noch zahlreiche Fäden. Wir haben in dem Flugzeug doch ein paar Zeichnungen aufgefunden, die haarscharf die Lage unseres Flugplatzes bezeichnen, die Richtungspunkte, die wahrzunehmen sind, um zu unseren Munitionslagern zu finden. Die Sprengmunition, die das Pärchen da mit sich führte, hätte genügt, um das ganze Stadtviertel in die Luft fliegen zu lassen, das an die Wälle bei den Lagern grenzt. Wenn es ihnen gelungen wäre, so weit zu kommen … Und ist es nicht geradezu abenteuerlich, daß der Engländer Mapplebak trotz aller Strafandrohungen, trotz der schärfsten Aufsicht, die nur erdenklich ist, spurlos entwischen konnte, also inmitten der Bevölkerung doch ohne weiteres Schutz und Aufnahme und Deckung gefunden hat? … Es ist anzunehmen, daß mehr als nur einer, der sich etwa als Märtyrer opfern wollte, um sein Versteck weiß. Leute der verschiedensten Rangklassen müssen es sein – vielleicht Menschen, die sich vordem spinnefeind waren. Aber im Nu haben sie jetzt einen geheimen Ring geschlossen. Gegen uns. Gegen den Feind. Von ihrem Standpunkt aus eine vaterländische Tat. Gewiß. Aber hüten wir uns, sie als harmlos anzusehen. Es ist unser Erbübel, daß wir dem Feind gegenüber immer gleich ritterlich empfinden wollen. Wir sind zu gutmütig, wir dummen Ludersch.«

Ein weiterer Kreis hatte zugehört. Ein Kamerad rief Theo West zu: »Unsere deutschen Flieger gelten für die allergutmütigsten, West!«

Theo nickte. »Viele sind es noch. Leider. Ich habe mir's abgewöhnt.«

Es war Hans West, als habe sein Bruder ihn während seiner Ausführungen mehrmals mit seinem scharf beobachtenden Jägerblick gestreift. Ein Groll stieg in ihm auf. Theo war kühl und selbstsicher, irgendwelche Leidenschaft gab es für ihn nicht, nie hatten Wein, Weib oder Würfel ihn auch nur um Haaresbreite von dem Weg ablenken können, den er für den richtigen hielt. Aber Theo nahm sich auch niemals die Mühe, zu prüfen, ob die Pfade, die andere schritten, nicht ebenso zum Ziel führten. Dem Mangel an Leidenschaft gesellte sich der Mangel an Herz, vielleicht an seelischer Kraft. Theo war klug und doch beschränkt. Immerhin ist er in seiner bewußten, unnahbaren Ruhe glücklicher, als ich es je sein kann, sagte sich Hans. Und wieder erfaßte ihn diese seltsam peinigende Unsicherheit im Gedanken an Helene.

Nach dem Essen herrschte in den unteren Sälen eine anregende Geselligkeit. Vor den Karten, die eine der Wände bedeckten, staute sich eine Gruppe und folgte den Ausführungen eines Generalstäblers, der die Kriegslage erörterte. Der Prinz mußte bei den Exzellenzen Platz nehmen. Mit seiner bescheidenen, liebenswürdigen Art, die im Gegensatz stand zu seinem trotzigen Knabenmund und seiner dunklen Stimme, eroberte er sich auch in den ruhigeren und sachlicheren Gesprächen der älteren Herren alle Herzen. Der Landsturmarzt wurde gebeten, Klavier zu spielen, wies aber darauf hin, daß Hans West und Consentius im Vierhändigspiel ganz Meisterliches leisteten, und so bedrängte man das musikalische Paar; die einen wollten das »Meistersinger«-Vorspiel, die andern einen Operettenwalzer. Da Hans West durchaus nicht in Stimmung war, um zu musizieren, mußte sich Consentius opfern. Er spielte Chopin, aber die allgemeine Unterhaltung war doch schon so lebhaft, daß sein Spiel kaum durchdrang.

Als die Exzellenzen aufgebrochen waren, kam Consentius zu seinem Quartiergenossen und sagte: »Du, Hanning, das Jungvolk will heut abend noch abenteuern, sie haben eine Verschwörung angezettelt, auch den Professor mitzulotsen, was tun, soll ich das Auto kommen lassen, damit wir uns spanisch drücken?«

Der Prinz hatte seine Hand auf die Schulter des Oberleutnants gelegt. »Ha, Verbrecher! Spanisch drücken? Wehe Ihnen! Ich habe die eidliche Zusicherung, daß Sie mir alle bis zwei Uhr dreißig Gesellschaft leisten! Hier herrscht Meuterei, Theo!« rief er dem Flieger zu.

Theo West lachte. »Nee, Durchläuchting, bei den beiden biederen Landbewohnern werden Sie kein Glück haben. Bar ist mir ja auch scheußlich, nach dem, was Leventin erzählt hat … Ich schlage vor, wir bleiben hier, bis uns die Oberordonnanz wegen Ruhestörung an die Luft setzt, und bringen Sie dann im Triumph bis zu Ihrer Residenz.«

»Ich habe das Auto auf halb drei Uhr nach der Grand' Place bestellt. Nach dem Quartier kehre ich überhaupt nicht mehr zurück. Mitgefangen, mitgehangen. Kinder, seid doch keine Spielverderber – morgen früh um Sieben hab' ich mich im Hauptquartier zu melden. Ich bestehe auf meinem Schein, daß durchgebummelt wird.«

Der Kreis, der bereit war, noch mit in die Bar der Nitouche hinüberzukommen, war sehr zusammengeschmolzen. Nur die jüngsten Herren befanden sich darunter. Allgemeinen Jubel erweckte es, als Butlar erklärte: natürlich nehme er an dem Bummel teil. Er zog seine goldene Brille ab und rieb sie. »Ja, das könnte euch so passen, hernach auszuposaunen, ich sei ein Jubelgreis, ein versteinerter Patriarch, der auf Räder gesetzt werden muß, wenn er in Bewegung kommen soll.«

Auch Consentius mußte in das Lachen mit einstimmen.

»Der Professor will sich hier mit aller Gewalt den Ruf der Lasterhaftigkeit anschminken, weil er durch so viel Jahrzehnte Tugend belastet ist.«

»Na ja, wenn es später mal bekannt würde, ich bin in Lille gewesen und habe meine dienstfreien Abende immer nur mit Fritze Consentius verlebt, der über meine Philistermoral gewacht hat – meine Studenten verlören ja alles Vertrauen zu mir!«

Still war die Stadt, dunkel, tot. Man hörte da und dort den Schritt eines Postens, einer Patrouille. Dann rollte draußen dumpf grollend eine Salve der Batterien von Armentières. Wieder ward es still. Die Fenster klirrten noch nach. Darauf unterbrach nichts mehr als der sporenklirrende Tritt der Offiziere die nächtliche Stille. Degen oder Säbel hatte keiner mehr. Sie trugen am Ledergurt, der die silberne Feldbinde rasch verdrängt hatte, die Ledertasche mit dem Armeerevolver, höchstens ein Mannschaftsseitengewehr mit dem Portepee.

In einer schmalen Straße gab einer der jungen Herren am geschlossenen Rolladen eines Cafés ein Zeichen mit dem Knopf des Reitstocks. Nach einer Weile ward vorsichtig geöffnet. Getuschel, Lachen. Und aus dem Innern des Hauses drangen die Töne eines Grammophons, das die helle, dabei fette Stimme eines atemlos hastig schnarrenden französischen Coupletsängers wiedergab.

»Um Himmels willen – Konservenmusik!« sagte einer aus der kleinen Schar schaudernd.

Hans war mit seinem Freunde an der Ecke stehengeblieben. »Du bist wie ausgewechselt, Hanning. Hast du noch Post gekriegt? Was ist los? Bist mit dem Alten aneinandergeraten? Er hat dir doch so nett zugetrunken bei Tisch. Oder was ist sonst?«

»Du – ich möchte da nicht mit – ich verstehe auch Theo nicht – er hat solche Sachen sonst nie mitgemacht.«

Fritz zuckte die Achsel. »Etwa der Professor? Das soll so mal forsch sein. Er findet es selbstverständlich auch unter aller Kanone.«

»Und fürchtet nicht, daß deine Schwester eifersüchtig wird?«

»Eifersüchtig? Ella? Auf so was? Ach, du – dazu ist sie doch gottlob zu eingebildet. Das hier ist doch für einen Menschen von Geschmack bloß etwas, das man sich ansieht wie ein Aquarium oder wie eine wilde Völkerschar, ein Kino, ein Panoptikum.« Er sah in dem flackernden Laternenlicht das düstere, sorgenvolle Gesicht seines Kameraden. Ein Donnerschlag, dem eine lang sich hinziehende Geschützsalve folgte, machte den Boden erzittern. Ein paar Augenblicke setzte das Licht aus, vielleicht vom Luftdruck. Sie mußten nun beide der Kameraden gedenken, die wenige Kilometer von hier im Kampf standen. »Wollen wir uns doch lieber drücken, Hanning? Mein Gott, kein Mensch wird uns vermissen …«

In dem hellen Rahmen der offenen Bartür erschien soeben die schlanke Gestalt Theos. Er hielt die Hände schützend vor die Augen. »Hans –?!« In seinem raschen Schritt kam er auf die kleine Gruppe zu. »Wo steckt ihr denn? Vorwärts, keine Müdigkeit vorgeschützt, auf Befehl Seiner Durchlaucht wird, bis zwei Uhr dreißig fabelhafter Unfug getrieben … Du, Hannemann, es wird dich übrigens interessieren: sie ist richtig da, die lustige Witib. Ja, die Freundin von deiner ›Frau Helene‹. Das ist ganz gesund für dich, Junge, das Persönchen mal hier so mitzuerleben, in Freiheit dressiert.«

»Ach – Theo – du weißt nicht, wie mich das quält.«

»Selbstredend weiß ich das, Kronensohn. Eben darum bin ich noch mal zurückgekommen, um dich hereinzuholen.«

»Macht dir's etwa Vergnügen?«

»Nee. Dir wird es auch keins machen. Soll's auch gar nicht. Aber: C'est la guerre.«

Consentius lachte. »Gemütsmensch. Ich lasse mich köpfen, wenn Bruder Theo heute keinen Schwips hat.«

»Es wäre der erste. Immerhin Verpflichtung für euch zwei beide, mindestens Vorwand, mir beizustehn. Nicht? Also bitte.«

Sie mußten mitkommen. Der Flieger gab ihnen übermütig seine Arme und führte sie hinein.

Der erste Raum, in dem sich die Bar mit dem hohen Marmortisch, den hohen Drehstühlen und den Regalen mit den unzähligen Likörflaschen befand, lag im Halbdunkel. Aber aus den anschließenden kleinen Salons schlug ihnen eine Flut von Licht entgegen. Und mit dem Licht die Welle heißer Luft, aufregender Parfüms. Und Lachen, Musik, lärmendes Durcheinander. Sektpfropfen knallten. Beim Tanzen schien im Mittelraum ein Paar gegen einen Tisch gestoßen zu sein. Ein Aufkreischen. Klirrend fielen Gläser zu Boden, gingen in Scherben. Ein silbernes Tablett schlug auf …

In dem gelben Zimmerchen am weitesten links befand sich das Klavier, Ohne die Mütze abzunehmen, hatte sich der Professor dort niedergelassen und spielte zum Tanze auf. Der Prinz tanzte Tango mit einer auffallend schönen Person, die sich in leidenschaftlicher Weise dem Rhythmus hingab.

»Das ist sie – Manon!« sagte einer der jungen Herren zu Consentius.

In dem Mittelraum drehten sich die Paare. Die Herren beherrschten den fremden Tanz nicht, sie wirbelten ihre Tänzerinnen im raschen Walzertempo mit sich herum. Im Zimmer rechts saß die Nitouche, eine überlange Zigarette in einer langen Spitze rauchend, auf der Lehne eines Sofas und klimperte auf einer Gitarre, bemüht, der Musik zu folgen, die das Grammophon spielte, und die ein paar der jungen Herren mitträllerten.

»Entsetzlich!« sagte Consentius, von den widerstreitenden Melodien gequält. »Und eine Luft zum Umkommen.«

Ein Fliegerleutnant von Theos Staffel, der den jungen Pionierhauptmann kannte, kam auf die Neuankömmlinge zu. »Das ist wieder 'mal Betrieb heute!« rief er lachend. »Nein, Ihr Professor ist ja überwältigend! Ich hatte keine Ahnung, daß in dem solch ein Teufel steckt! Geben Sie acht, die Nitouche macht ihm ein Engagementsanerbieten. Hundert Francs den Abend, das schlägt sie glatt heraus! … Ums Himmels willen, treten Sie nicht dort ein, da ist die Manon mit der Durchlaucht. Die ist ja so wahnsinnig verknallt, daß man einfach Luft bleibt. Aber hier bei der Nitouche ist's lustig. Solange sie nüchtern ist, kann man sich übrigens ganz vorzüglich mit ihr unterhalten … Bloß nicht über Politik reden, Kinder …«

Eine seltsam gemischte Gesellschaft war es. Consentius brachte dies und das über die Anwesenden in Erfahrung und berichtete dem Freunde, der auf dem Sofa unterkam. Ernst und anscheinend teilnahmlos blieb Hans West hier sitzen – durch die beiden Verbindungstüren behielt er aber unausgesetzt Manon Dedonker im Auge.

Endlich schwieg die Musik. Es wurde geträllert, gelacht, geschwatzt. Überall trank man Sekt. Die Nitouche, eine hellblond gefärbte Barschönheit, die eine gewisse hochmütige Unnahbarkeit spielte, wußte mit flinken Verständigungsblicken die beiden bedienenden jungen Dinger zu lenken. Die Tänzerinnen des Mittelsalons wohnten im Hause; es waren Angehörige des Theaterchors, der Variétébühnen, die seit der Eroberung von Lille ihrer Berufstätigkeit entzogen waren. Unter den übrigen weiblichen Gästen befanden sich einige, deren »Roman« man erzählte. Die eine oder andere sei die Freundin eines einflußreichen Beamten, eines großen Fabrikanten, eines hohen Offiziers gewesen – es hieß sogar, die Frau –, daneben wieder Verkäuferinnen, die ihr kleines, schlecht bezahltes Tagesamt nur der Behörde halber beibehielten … Not und Leichtsinn hatten sie zur Nitouche geführt. Immerhin verkehrten hier Herren, die noch das Spiel mitmachten, als ob sie Damen der Gesellschaft seien. Wenn sie aber hier den Anschluß verloren, so galt es, eine Stufe tiefer hinabzusteigen, in die Bars zweiten, dritten Ranges. Sie alle endeten wohl in den dunkeln Häusern an den Wällen oder in schmierigen Estaminets oder in den Lazaretten. Und die deutsche Behörde hatte schon viele von ihnen über die Schweiz nach Frankreich abgeschoben, weil sie mit ihren Krankheiten eine Gefahr für die Truppe bildeten.

»Grauenvoll!« stieß Hans West aus und setzte sich im Sofa steif zurück. Mit einem kurzen Blick verständigte er sich mit Consentius: sie wollten die erste Möglichkeit wahrnehmen, um wegzukommen.

Von der Anstrengung des Klavierpaukens schwitzend, kam der Professor aus dem Musikzimmer und warf seine Mütze auf die Polsterbank. »Es ist jetzt achtzehn Jahre her, daß ich den letzten Walzer gespielt habe. Dafür mußte der Krieg kommen.« Verdutzt sah er die ernsten Mienen des Paares. »Also, Moralpredigten werden nicht gehalten, das mache ich zur Bedingung. Und überhaupt habe ich einen Riesendurst und verlange als Honorar für mein wunderschönes Spiel die Einladung zu einer Flasche Sekt.«

Zwei junge Herren, begleitet von ihren hübschen, aber stark geschminkten Tänzerinnen, die in leichten, hellen Seidenkleidern steckten, bestürmten den Landsturm-Professor, noch einen Walzer zu spielen. Die lebhaften jungen Damen drängten sich an ihn, legten ihre Arme auf seine Schultern, es sah sich an, als wäre er ihnen als guter Onkel schon lange bekannt. Er ließ das Kleingewehrfeuer der französischen Beredsamkeit, wohlig schnurrend wie ein Kater, über sich ergehen. »Ich verstehe kein Wort,« sagte er lachend, indem er mächtig an seiner Zigarre sog, »aber es hat etwas ungemein Bestrickendes.«

Am Nebentisch gab es ein Gespräch, das Hans West verfolgen mußte, ob er wollte oder nicht. Ein Dragonerleutnant war im Begriff, seine Rechnung zu begleichen, und die Nitouche beschwor ihn, ordentlich gekränkt, doch nicht schon aufzubrechen. Er behielt die Zigarette zwischen den Zähnen und sagte: die einzige, die nett sei und wirklich gut tanzen könne, Fräulein Adèle, sei heute nicht da, und nur ihretwegen sei er gekommen. Die Nitouche erging sich in herben Anklagen. Adèle sei verlobt, ihr Bräutigam sei ein infamer Deutschenfresser, er verfolge das arme Ding mit grausamen Vorwürfen, sie habe schon solche Angst, herzukommen. Und mit flinken Augenweisungen suchte sie Ersatz heranzuschaffen.

»Gehen wir!« sagte West zu seinem Freunde. Der Aufenthalt wurde ihm immer unerträglicher.

Consentius erhob sich. Aber der Prinz, der im dritten Raum saß, hatte es bemerkt und kam sofort herüber. In seiner knabenhaft vertraulichen Art hängte er bei dem Oberleutnant ein und flüsterte ihm zu: »Tut mir doch die einzige Liebe an und bleibt noch ein bißchen!« Er lachte verstohlen. »Ich weiß sonst gar nicht, wie ich mich da drüben freilotsen soll.«

Jetzt erhob sich auch Hans West. »Das ist also Frau Manon –?«

»Keine Namen nennen!« mahnte der Prinz, flüchtig zurückblickend. »Sie kennen sie? Woher?«

»Ja – das war ein ganz anderer Kreis, in dem ich sie gesehen habe. Ich muß sagen, ich war entsetzt, sie hier zu finden.«

Der Prinz steckte sich eine Zigarette an. »Es ist tatsächlich eine sehr, sehr nette Person. Übrigens ganz gebildet. Und so drollig dabei … Sie tut, als wäre sie wahnsinnig in einen verliebt. Ich hab' noch gar nicht den Mut gehabt, ihr zu beichten, daß ich in einer Stunde abgondle … Mir ist es ein Rätsel, daß sie die Bar besucht. Hat es gar nicht nötig. Ihr Vater ist ein reicher Rechtsanwalt. Ich hab' ihr eine Brillantbrosche schenken wollen, sie hat's aber nicht angenommen … Helft mir doch, Kinder, laßt mich nicht allein! Mitgefangen, mitgehangen. Und man macht dabei doch seine Studien …«

Es trieb Hans West nun doch wieder mit hinüberzukommen. Während der Professor sich richtig beschwatzen ließ, noch einmal zum Tanze aufzuspielen, und dann im Mittelraum ein Drehen und Schwingen und Walzen der erhitzten Paare anhub, daß die Engigkeit wirbelnd erfüllt war von der hellen Seide, dem Feldgrau und dem blonden Haar, ließ sich Hans West an dem Marmortischchen nieder, hinter dem sich Frau Manon Dedonker auf ihrem gelben Plüschsesselchen schaukelte: die Arme im Nacken, siegesgewiß, eine Zigarette zwischen den Lippen.

Hans fühlte, daß Theo, der nebenan in der Bar kühl überlegen und sachlich mit einem der Herren über Motorantrieb sprach, ihn beobachtete. Er bemühte sich darum, die Lage ebenso kühl zu beherrschen. Aber das Herz klopfte ihm doch. »Wir kennen uns bereits,« sagte er, als der Prinz eine Art Vorstellung versuchte – natürlich, ohne irgendeinen Namen zu nennen. »Es war in Templeuve, wenn ich mich recht entsinne.«

Sie hatte heiße Augen – vom Tanz, vom Wein. Etwas überrascht musterte sie ihn. »Tatsächlich. Sie sind befreundet mit Helene. Gewiß, ich erinnere mich wohl. Was macht Helene?«

Der Prinz war froh, für ein paar Augenblicke freizukommen. Er ging drinnen von einem Tisch zum andern, sprach aber überall nur mit den Herren, weil er wußte, daß Manons heimliche Blicke ihn eifersüchtig verfolgten.

»Es geht Frau Helene nicht gut – sie macht sich Sorgen um ihren Mann.«

Manon lächelte und kippte weiter. »Ach, George! Er war ein eleganter Mensch. Haben Sie ihn gesehen? Ja, ich weiß, er liegt in Haubourdin. Zu dumm, solch ein Krieg. Die hübschesten Männer werden totgeschossen, und nur die alten Scharteken bleiben am Leben, um die es nicht schade wäre.«

»Erzählen Sie mir doch ein bißchen von Frau Helene.«

»Sie sind wahnsinnig verliebt in sie, nicht? Ach, Sie werden rot, wie nett. Warum leugnen? Ich freue mich doch darüber. Sie hat so wenig vom Leben gehabt. Übrigens – Laroche ist fabelhaft eifersüchtig auf Sie. O, ich weiß alles. Glauben Sie, man kann mir Komödie vorspielen? Die Wut von Laroche, daß Helene bei der deutschen Militärbehörde Anstellung genommen hat. Ja, Laroche – das ist doch der Heilige der Liller. Sie vergöttern ihn. Der soll sie von dem ganzen Elend befreien.« Sie lachte. »Und heute abend hat er wie alle andern um sechs Uhr brav daheim sein müssen. Zu Bett geschickt wie ein unartiges Kind. O, das wird er euch Deutschen nie vergeben!«

Sie trank in geschwinden kleinen Zügen, dazwischen immer wieder an der Zigarette ziehend. Aber sie sprach fast abwesend, hörte kaum hin auf das, was sie sagte. Ihre Augen hingen an der jungen, feinen Gestalt des Prinzen. Sie wartete immer, daß er hersah, damit sie ihm mit den Lippen einen hauchartigen Kuß zuwerfen konnte.

»Ich kenne Frau Helene seit vielen Jahren. Aus unserer Kinderzeit. Ich weiß darum auch, daß sie in den Kreis, in dem sie jetzt ist, gar nicht gehört. Sie ist ein viel zu ehrlicher Mensch.«

Manon zog ihr silbernes Zigarettendöschen und hielt es ihm hin. »Legen Sie doch diesen greulichen Zigarrenrest fort. Bitte. Nicht wahr, Sie sind auch ein guter Freund von Aemil? O, ich liebe ihn. Sagen Sie mir, ist es wahr, daß sie ihn in Deutschland verheiraten wollen?«

»Ich will nicht von Aemil sprechen, nur von Helene.«

»Gut. Ich sage Ihnen alles, was Sie von Helene wissen wollen. And dann antworten Sie mir. Abgemacht? … Aber wie aufdringlich sich die kleine schwarze Jeanne da drin benimmt … Sie sagt, sie sei Künstlerin. Im Sommertheater hat sie in den Volkslustspielen die Konditorjungen gespielt. Der Beine wegen. Aber haben Sie ihre Zähne gesehen? Abscheulich. Wie die Rue Faidherbe nach der Beschießung.«

»Wie kam das eigentlich, daß Sie Helene mit der roten Lou zusammenbrachten?« fragte West, mit nervösen Fingern an der Zigarette drehend, die ihm Manon angeboten hatte.

»Das war die reine Gutmütigkeit von mir. Lou ist nach Frankreich gekommen. Die hat eine Menge Aufträge mitgenommen. Ach, was glauben Sie wohl, wieviel Beziehungen es noch von hier nach drüben gibt. Allein vom Hause Laroche.« Sie hob kokett beide Arme empor und lachte. »Um Gottes willen, ich will nichts gesagt haben, Geneviève und Helene kratzen mir ja sonst die Augen aus.«

Er hatte seinen Stuhl dicht an den Tisch herangerückt und den Kopf aufgestützt. Fast verschlang er sie mit seinen Blicken. Sie legte sich's gewohnheitsmäßig als Huldigung aus. Trotzdem sie mit brennender Eifersucht jede Bewegung des Prinzen verfolgte, gab sie sich doch dem Bewußtsein hin, daß sie's nur eine winzige Willensregung kosten würde, um auch Helenens Anbeter zu ihren Füßen zu zwingen.

»Helene wird ja jetzt zu wählen haben,« sagte er, so ruhig, als es ihm möglich war, »zwischen den beiden Parteien.«

Was er damit meinte, verstand sie nicht so ganz. »Ach, George kommt wohl nicht mehr in Betracht. Sie sollen ihn ja schaudervoll zugerichtet haben. – Freuen Sie sich doch.« Sie berührte leicht seinen Ellbogen.

»Wie steht sie mit Laroche?« fragte er. Er erschrak selbst darüber, daß er das fragte. Er fand auch seine Stimme dabei so fremd und trocken und gequält.

Manon schaukelte weiter, passte die kleinen Wölkchen in die Luft und drohte mit den Augen dem Prinzen, der jetzt drinnen beim Professor am Klavier stand. »Mit Laroche? Mein Gott, er ist über Fünfzig. Der ist Ihnen als Mann nicht gefährlich. Nur … Ach, was geht das mich an … Aber glauben Sie denn, man lebt wochenlang im Hause Laroche, ohne das und jenes zu sehen, was … Wenn Sie sagen, daß sie so furchtbar ehrlich ist …«

»So sprechen Sie doch den Satz zu Ende. Es ist ja ungemütlich –!«

Sie lachte. »Im Hause Laroche muß auch Helene ein Auge zudrücken, so ab und zu, meine ich. Darum darf sie nicht gar zu streng gegen mich sein. Das können Sie ihr getrost wiedersagen … Aber jetzt bin ich an der Reihe zu fragen …«

Es kam nicht mehr dazu. Der Professor legte sich in die Tasten, spielte den rhythmisch zwingenden Auftakt von »Hoffmanns Erzählungen«, ging aber rasch in die Barcarole über, und der hier neuerdings erst bekannt gewordene schwermütige Walzer löste das allgemeine Tanzverlangen aus. Auch Manon warf ihre Zigarette fort und stürmte davon, geradewegs dem Prinzen in die Arme, an dessen Brust sie sich warf, sofort dem Tanz hingegeben, fast brünstig.

Alles summte und sang mit.

Hans West war aufgestanden. Er bemerkte, daß Theo nebenan im Begriff war, sein Koppel mit dem winzigen Dolchmesser umzuschnallen. »Du gehst?« fragte er, noch ganz tonlos vor Erregung.

»Keinen Aufstand, Hannemann. Mein Bedarf ist gedeckt. Freut mich, daß dir's Spaß gemacht hat, auch mal so 'nen Unsinn mitzumachen.«

»Warst du öfters hier?«

»Heute das zweitemal. Wohl auch das letztemal. Bloß dir zuliebe.«

»Hm. Mir zuliebe?«

»Oder zuleide.« Er setzte die Mütze auf. »Weil du mir zu schade dafür wärst, Hanning, daß sie dich einfangen.«

»Wer?« Scharf stieß er das aus.

Theo zuckte die Achsel. »Sagen wir: deine Gefühle.« Er hielt ihm die Hand hin. »Also deswegen keine Feindschaft nicht. Was, Hanning? Ich bin nun mal solch ein Rauhbein.«

»Ja, das bist du. Ach, Theo –!«

»Na –?«

»Bleib' noch ein Weilchen! Ich möchte noch ein paar Worte mit dem Professor reden.«

»Nee, du; Durchläuchting drückt sich jetzt; ich habe versprochen mitzukommen … Haltet ihr sie mal hier fest, die kleine Frau, sonst passiert noch ein Unglück. Wo ist denn Consentius? … Richtig, nu hat er sich den Stabsarzt gelangt und läßt sich von dem fachsimpeln … Ihr seid mir schon nette Hühner. Wenn wir nicht die paar jungen Dachse da drinnen hätten, die wenigstens ordentlich das Tanzbein schwingen, dann hättet ihr euch ebensogut im Missionskränzchen festschwatzen können. Und du alter Erzphilister willst abenteuern!«

Die Nitouche, der es nicht entgangen war, daß eine Reihe der Gäste an Aufbruch dachte, hatte Wink gegeben, Champagner zu bringen. Die beiden Aufwärterinnen kamen mit großen Servierbrettern, auf denen eine Anzahl Gläser stand, durch den Tanzraum. Die tanzenden Paare stießen dagegen an, es gab Klirren, Kreischen, Lachen. Der Professor brach sein Spiel ab. Er hatte mächtigen Durst und übernahm sofort das Amt des Mundschenks.

Während des allgemeinen Durcheinanders entschwand Theo mit dem Prinzen und seinem Begleiter. Die Nitouche, die niemals Stille eintreten lassen wollte, stellte das Grammophon ein. Man hörte das heisere Rascheln der Platte. Darauf schwang sich Carusos sieghafter Tenor durch die heißen, raucherfüllten Räume. Man stritt, ob es »Tosca« oder »Bohème« sei.

Hans West war in den dritten Raum gegangen, in dem sich Manon mit der kleinen Schauspielerin in einer heftigen Auseinandersetzung befand. Sie machte der Schwarzäugigen eine Eifersuchtsszene. Jeanne beteuerte gestenreich ihre Unschuld.

»Ich muß Sie noch etwas fragen,« unterbrach er das Gespräch, fast gereizt, weil sie beide, vom Tanzen, vom Wein überhitzt, ganz maßlos wurden.

Manon gab ihm die Hand, preßte sie, warf ihm auch einen flammenden Blick zu – aber trotzdem fuhr sie fort, die Nebenbuhlerin mit Vorwürfen zu überschütten. Dabei redete sie sich in einen Gefühlsüberschwang, der ihre Tränen löste. »Es ist schlecht von Ihnen, Jeanne, schlecht, schlecht. Sie lieben ihn nicht. Ich liebe ihn. Und das weiß er. Ihnen ist jeder recht. Wer stört Sie hier? Niemand. Ein Wort von mir, und Nitouche gibt Ihnen den Abschied. Das wissen Sie. Ich bin sehr gutmütig, sehr. Aber Sie dürfen mich nicht reizen. Ich habe Ihnen so viel schöne Sachen geschenkt …«

»Lassen Sie das doch! Mein Gott!« Hans West hatte aufgestampft, ihr unwillig seine Hand entzogen.

»Was wollen Sie von mir? Was gehen Sie mich an? Lassen Sie mich in Ruhe! Was liegt mir an Ihrer Helene? Ich dulde es nicht, daß Jeanne …«

Die schlanke, blasse Nitouche stand plötzlich neben ihnen, bemüht, die beiden Frauen zu trennen. »Auf der Straße ist eine Patrouille. Seid still. Ihr wißt.«

»Ich bin nicht still. Aemil soll entscheiden –!«

Auch andere kamen herzu. Eine der Tänzerinnen sagte lachend, ordentlich schadenfroh: »O, Manon, dein Prinz ist längst auf und davon!«

Es war von dramatischer Wirkung. Manon schien plötzlich nüchtern zu werden. Sie drehte sich um, starrte in den Nebenraum, lief bis zum Gelben Salon zurück, dann schoß sie durch die im Dunkel liegende Bar und rüttelte an der verschlossenen Tür.

Die ganze Schar der leichten Frauen jagte hinter ihr drein. Nitouche vornweg. Sie rissen sie von der Tür zurück. In scharfem Flüsterton redeten sie auf sie ein. Aber Manon wehrte sich. Sie schrie. Bis die Nitouche ihr den Mund zuhielt.

»Willst du, daß sie uns hier aufheben?!«

Auch den jüngsten unter den Herren begann die Sache jetzt ungemütlich zu werden. Der Professor war mit Consentius zu einer der Aufwärterinnen getreten, um schleunigst die Rechnung zu begleichen. »Hans!« rief der Oberleutnant mit scharfer Stimme dem Freunde zu.

Während die Herren noch mit der Abrechnung beschäftigt waren, löste sich Manon aus dem Schwarm der Frauen los, die sie gewaltsam zu beschwichtigen suchten, und kam hereingestürmt. Ihr hübsches Gesicht war verzerrt. Wie in einem hysterischen Anfall stürzte sie sich auf Hans West, umklammerte seinen Arm und rief: »Das war abgekartet! Ihr habt ihn von mir getrennt! Wo ist er?«

Consentius sah sie kalt an, fast verächtlich. »Stören Sie uns nicht, bitte.« Dann wandte er sich an seinen Freund. »Ich möchte dich bitten, dich hier nicht in Verhandlungen einzulassen. Das fehlte noch.«

»Ich liebe ihn, liebe ihn … Ihr dürft ihn mir nicht nehmen … Ich stürze mich in die Deule! Laßt mich! Laßt mich!«

Die Nitouche stand an der Bartür, die auf die Straße mündete, und lauschte angstvoll hinaus. Ihre einzige Sorge war, daß eine Patrouille den Lärm hören könnte.

Die schwarze Jeanne hatte sich ans Klavier gesetzt und spielte einen Tanz mit falschen Bässen. »Stille doch!« rief man ihr zu. Aber die ganze Schar begann dann wieder zu lachen. Und in der Dunkelheit des Barraums schlängelten sich einzelne wieder an die zum Aufbruch rüstenden jungen Herren. Man sah nur das Aufleuchten der Zigarren und Zigaretten, da und dort den Schimmer eines Frauennackens, ein helles Kleid, einen Uniformknopf, hörte wieder Schwatzen, Kichern, Bitten, Summen, Trällern …

Manon war, gefolgt von einer Aufwärterin, in den Raum neben der Anrichte entflohen, wo sie nach ihrem Hut, ihrem seidenen Mantel suchte. Noch immer weinte sie.

»Es ist doch gräßlich,« sagte Hans West zu Consentius, »sich vorzustellen, daß die arme Person da in die finstere Nacht hinausläuft, womöglich aufgegriffen wird …«

Der Oberleutnant zuckte die Achsel. »Arme Person? Mir ist sie widerwärtig. Ich bin heilfroh, wenn wir draußen sind. Komm' endlich, Hans!«

Ein kleiner Kreis junger Herren ließ sich doch noch beschwatzen, zu bleiben.

Als der Professor mit West und Consentius auf die Straße gelangte, sagte er: »Ihr seid mir nette Brüder. Mich altes Haus zu solchen Eseleien zu verführen. Na wartet, Ella wird alles brühwarm geklatscht. Mir nimmt sie's nicht übel. So 'ne Mumie will ja auch mal 'ne kleine Abwechslung haben, wird sie sagen. Aber ihr junges Volk? Pfui Deibel! Und den Sekt hab' ich richtig ganz allein bezahlen müssen. Das nennt sich nu Einladung. Kinnings, Kinnings, nehmt euch ein warnendes Beispiel an mir. Unsoliditäten wollen gelernt sein. So was von Dilettantismus des Lasters ist beschämend. Ich hab' nur leider keine Zeit gehabt. Donnerwetter, was wär' ich für ein Don Juan geworden. Ganze Nonnenklöster hätt' ich ins Unglück gestürzt. Aber Zeit, Zeit, Zeit … Na, da poltern ja die schweren Geschütze draußen wieder ihre himmlische Nachtmusik … Was ist das für eine ungemütliche Stadt? Da lob' ich mir mein liebes, altes Göttingen … Warum seid ihr denn so mucksmäuschenstill, ihr zwei beide?«

Sie waren inzwischen zur Grand' Place gelangt. Das Viereck lag jetzt im hellen Mondschein. Vor dem Standbild der »Göttin« harrten noch ein paar Autos und Wagen. Da und dort der Schritt einer Patrouille. Und von Armentières her das Rollen der Geschütze.

Allen dreien tat die Nachtluft wohl. Und Hans West suchte sich mit dem gemütlich-brummigen Kneipton des alten Studenten abzufinden. Er wollte sich zwingen, das Erlebnis mit Manon, das ihn da drinnen in dem heißen Raum so gepackt hatte, nicht gar so ernst zu nehmen. Nur der Gedanke an Helene …

»Na – ein bissel schämen wir uns wohl alle!« stieß er aus, auf dem Platze stehenbleibend, indem er die Mütze vom Kopf nahm.

»Ich nicht!« beteuerte der Professor sofort.

Consentius sog tief die Nachtluft ein … »Hans meint nur: da draußen ist der Krieg.«

»Er ist auch hier drinnen,« sagte der Professor. Und nun ward auch sein Ausdruck wieder ernst und alt.

Ihre Wege trennten sich.

Hans West war es ein Trost, daß er noch den langen Nachtmarsch an der Seite des Freundes vor sich hatte. Er brauchte jetzt eine Aussprache. Er mußte Herr werden der grausamen Zweifel an Helene, die in ihm aufgestiegen waren.

 

Auf dem Amt schnurrte das Räderwerk wie alle Tage. Dienstgeschäfte nahmen alle Kräfte in Anspruch. Der Fernsprecher war fast unausgesetzt in Tätigkeit. In seiner gleichförmigen Art gab der Gefreite Auskunft. Selten, daß er an den Unteroffizier eine Frage richten mußte. Ab und zu schaltete er die Leitung in das Amtszimmer des Hauptmanns um, weil ein Offizier der Kommandantur persönlich mit ihm Verbindung wünschte. Helene mußte sich immer von neuem wieder über diese Selbstverständlichkeit wundern, mit der diese deutschen Herren, die im Frieden allen möglichen Zivilberufen angehörten, nun im Kriege Amtsgeschäfte erledigten, die ihrem früheren Wirkungskreis so weltenfern lagen. Wenn sie damit die Aufgeregtheit, die Planlosigkeit verglich, die in der Mairie herrschte, und die Gereiztheit der Bürger, die mit der Stadtbehörde zu tun hatten und sie auf Schritt und Tritt des engherzigen Bürokratismus, wohl gar der Ungerechtigkeit, der Bestechlichkeit ziehen!

Einen Augenblick unterhielt sich der Hauptmann mit einem Offizier der Militärpolizei über die Haltung der Bürgerschaft am gestrigen Abend. Helene hörte die Zahl der Festgenommenen nennen. Auf den fliegenden Wachen waren bis zum Abendbericht etwa sechshundert Personen angehalten worden, die sich entgegen der Verordnung des Gouverneurs noch nach sechs Uhr auf der Straße gezeigt hatten. Ein paar Dutzend hatte man sogleich laufen lassen, aus gutmütiger Einsicht, weil nach den Umständen anzunehmen war, daß sie wegen der allgemeinen Überfüllung der Straßenbahnen sich verspätet hatten. Aber in der Nacht war dann noch eine Streife vorgenommen worden, und dabei hatte man seltsamerweise Angehörige der besten Liller Gesellschaft ertappt.

Der Hauptmann, der zurückgelehnt dagesessen hatte, das Schallrohr an Ohr und Mund, richtete sich unwillkürlich auf, als er einen der Namen hörte.

»Frau Dedonker – die Tochter von dem Notar Ducat? Vom Boulevard Vauban? Über die wir neulich sprachen? … Ja, natürlich, ich habe sie öfters gesehen. Wunderhübsche Person. Bissel auffallend. Ganz recht: Schönheit nur im Urteil der Herren; Damen sind ja meistens ganz verwundert über den Männergeschmack.«

Eine eilige Dienstangelegenheit unterbrach das Gespräch. Hernach wandte sich der Hauptmann an seine Dolmetscherin.

»Haben Sie mir nicht neulich gesagt, Frau Martin, daß Sie diese Frau Dedonker vom Pensionat her kennen, aus Dinant? Nun bitte ich Sie … Das ist also die Damenwelt von Lille … Frau Dedonker ist in früher Morgenstunde, als sie eine Bar bei der Rue Esquermoise verließ, von einer Patrouille aufgegriffen und zur Wache gebracht worden. Sie soll sich dabei so unsinnig herausfordernd benommen haben, daß im Bericht steht: es sei wohl alkoholische Überreizung anzunehmen. Schaudervoll. Der Mann im belgischen Gefangenenlager in Deutschland – der Vater in Paris. Übrigens entsinne ich mich: das Rote Kreuz, bei dem sie früher war, hat sie auch schon abgelehnt. Können Sie sich so etwas erklären?«

Helene war es, als habe sie einen Schlag erhalten. Sie empfand es wie einen körperlichen Schmerz. Und ein fades Gefühl im Magen machte sie matt und wehrlos. Sie vermochte kaum zu antworten.

Der Hauptmann ließ sich den Unteroffizier kommen und verhandelte mit ihm über das Stadthaus, in dem Frau Dedonker bisher gewohnt hatte. Soviel er erfahren, war damit zu rechnen, daß Frau Dedonker mit dem nächsten Transport leichter Frauen über die Schweiz nach Frankreich abgeschoben werden würde. Es mußte also ein Verwalter für das Haus eingesetzt werden, damit bei einer künftigen Einquartierung eine ordnungsmäßige Übergabe stattfinden konnte.

»Denn Sie wissen ja, Krause, wenn die Franzosen ausposaunen könnten, es sei bei so einer Gelegenheit, wo kein Besitzer anwesend war, eine ihrer fürchterlichen Pendulen abhanden gekommen – mir könnten sie so'n Scheusal fußfällig anbieten, ich nähm's nicht – dann erscheint das immer gleich in den Pariser Frühstücksblättern.«

Es war für Helene wieder eine grausame Aufgabe, still und gelassen ihrer Arbeit nachzukommen, ohne die Erregung, die sie durchzitterte, auch nur ahnen zu lassen.

Noch stärker als sonst ward heute das Amt in Anspruch genommen. Wie üblich mußte Helene dem ersten Ansturm der mit Bitten, Beschwerden, Wünschen und Vorstellungen kommenden Hausbesitzer und ihrer Abgesandten standhalten. Die frühzeitige Festsetzung des Zapfenstreichs hatte in die kleinen und kleinsten Angelegenheiten jedes Hausstandes eingegriffen. Alle merkten es jetzt, daß Krieg war, und daß der Feind als Sieger im Lande herrschte.

Unteroffizier Krause konnte dem Kleingewehrfeuer der Niederträchtigkeiten, das sich in dem engen Raum entlud, nicht folgen. Er schnappte nur dies und das auf, es genügte aber, um das Mitgefühl, das sich sofort in ihm hatte regen wollen, zum Schweigen zu bringen. »Wenn die Bande in unserem Mainz oder in Bonn sitzen tät',« sagte er zu Frau Martin, »dann wären sie noch schlimmer als die Russen in Ostpreußen. Und jetzt reißen sie's Maul auf, weil der Gouverneur ihnen einmal einen Verweis gibt. Nur nicht sanftmütig, Frau Martin. Die werden sonst bloß noch unverschämter.«

Helene mußte dem Feldgrauen innerlich recht geben. Aber ihr Dienst ließ ihr keine Gelegenheit, eine Meinung zu haben und zu äußern.

Als sie zur Mittagspause das Amt verließ, traf sie in der Straße, die zum Stadthaus führte, Dr. Broussart, den Neffen von Laroche. Sicher hatte er sie erwartet, aber er spielte den Überraschten, als er sie sah. Wie es Geneviève gehe, seinem Onkel, der Tante, den Apfelgesichtern, fragte er, und ob sie schon gehört habe, daß George draußen im Feldlazarett von Haubourdin liege …

Irgendeine neue tatsächliche Mitteilung konnte er ihr nicht machen; er wußte nicht mehr, als was ein Gerücht ihm zugetragen hatte. Sie merkte auch sehr schnell: er wollte von ihr nur in Erfahrung bringen, was über Manon beschlossen war.

»Ich weiß nur das eine – das Furchtbare –, was Sie ja auch schon zu wissen scheinen.«

Er begleitete sie. Seine ganze Art war hinterhältig, unaufrichtig. Sie wog darum jedes Wort ab, das sie sagte. Und er merkte ihre Zurückhaltung.

»Es kann leicht möglich sein,« begann er, nachdem sie eine Weile schweigend durch die stille, in der Mittagssonne liegende Ruinenstraße nebeneinander hergeschritten waren, »daß ich Ihren Mann vor Ihnen sehe, Frau Martin.«

Einen Augenblick verzögerte sie den Schritt. »In Haubourdin?«

»Nein, hier.« Er zeigte nach dem Militärhospital, das hinter ihnen lag. »Ich hörte, daß er hierher übergeführt wird.«

»Ins Festungslazarett?« Sie blieb stehen. »Wer hat es Ihnen gesagt?«

»Mir hat man überhaupt nichts gesagt. Wir werden ja kaum mehr beachtet. Es heißt auch, daß sie uns bei nächster Gelegenheit abschieben wollen. Ich erfuhr es nur so durch Zufall. Aber wenn ich George sehe – was soll ich ihm ausrichten? Soll ich ihm sagen, wie wundervoll das Einvernehmen zwischen Ihnen und Ihrem deutschen Freund geworden ist?«

Sie atmete schwer. »Wenn George transportfähig ist und hierher kommt, dann werde ich zweifellos selbst Gelegenheit finden, ihn zu sprechen, Herr Broussart. Und was ich ihm zu sagen habe, das sage ich ihm dann selbst.«

»Wenn Sie annehmen, daß es erfreulich genug für ihn ist –«

»Ich habe nur die eine, einzige Frage an ihn zu stellen: welchem Vaterland er angehört?«

»Sie – fühlen sich offenbar wieder völlig als Deutsche?«

»Ja.«

Schweigend gingen sie weiter.

»Und Sie empfinden es gar nicht störend,« begann er nach einer Weile, »daß der Kreis, in dem Sie leben, daß Laroche und sein ganzes Haus alles, was deutsch ist, aus tiefster Seele haßt?«

»Bis zum heutigen Tage hoffte ich noch immer, Verständnis dafür zu finden, daß der Krieg nur zwischen Männern geführt wird. Ich achte Laroche, ich liebe Geneviève und ihre Geschwister. Es wäre mir ein tiefer Schmerz, sie verlieren zu müssen.«

»Aber Sie würden sie kaltblütig opfern, sobald Ihr Dienst bei den Deutschen es fordert?«

»Ach, Broussart, was erfinden Sie da wieder – bloß um mich zu quälen.«

»Ich erfinde nichts. Ich rechne nur mit Tatsachen. Selbstverständlich wissen Sie, was im Hause Laroche vorgeht. Ich weiß es natürlich auch. Und es kann mir doch nicht gleichgültig sein, zu erfahren, wie Sie sich dazu stellen.«

»Wozu?«

Sie war in dem Trümmerfeld, das bis zum Einfluß der zerschossenen Straße auf den Republikplatz reichte, stehengeblieben.

Er wandte sich flüchtig um. Niemand befand sich in Hörweite. »Onkel hat Mapplebak untergebracht. Bitte sehr, keinen unnötigen Aufstand. Nun ja, selbst Benjamin wußte es doch. Ich hab' ihn vorhin gesehen – Sie brauchen mir wahrhaftig keine Komödie vorzuspielen.«

Sie suchte sich zusammenzuraffen. »Sie glauben, daß Laroche sich selbst und sein Haus – seine Frau, seine Kinder – in eine solche Gefahr brächte …«

Mit seinem Stöckchen wühlte er in dem Erdreich des Trümmerfeldes. Eigentümlich lauernd war sein Blick. »Laroche hat Sie sehr geliebt, Frau Martin. Das wissen Sie. Bitte, jeder wußte es. Er hat nie ein Hehl daraus gemacht. Und es wäre doch möglich, daß er Mapplebak nur deshalb Aufnahme gewährt hat, weil der der einzige Zeuge war, der den Absturz Ihres Mannes miterlebt hat. Um Ihnen Gelegenheit zu geben, ihn zu sprechen.«

»Wie stellen Sie sich das nur vor? Wie können Sie Laroche etwas unterschieben, das so an Wahnsinn grenzt? …« Plötzlich wandte sie sich ihm zu und sah ihm forschend ins Gesicht. »Haben Sie etwa – einen Auftrag? Haben Sie Laroche gesprochen? Oder Geneviève?«

»Bewahre. Ich sagte Ihnen ja: nur Benjamin, ganz zufällig. Aber weil ich wußte, wie innig Ihre Beziehungen zu Ihrem Jugendfreund geworden sind … Ach, bitte, Frau Martin, ich bin weder dumm genug, um ahnungslos geblieben zu sein, noch Philister genug, um mich zu entrüsten … Jedenfalls hielt ich es für meine Pflicht, Sie zu fragen, bevor ich Ihren Mann spreche.« Er nahm die Haltung an, sich von ihr zu verabschieden. »Was wollen Sie ihm sagen lassen?«

Fest preßte sie die Lippen zusammen. Ein Sturm ging durch sie hin. Endlich gewann sie die Herrschaft über sich. »Durch Ihre Vermittlung – kein Wort. Ich muß mir erst selbst Klarheit verschaffen.«

»Bitte,« sagte er kühl. Noch ein paar Augenblicke wartete er. Dann ging er mit kurzem, höflichem Gruß.

Helene dehnte sich der Weg endlos. Sie hatte Angst. Wie ein böser Geist war Broussart ihr erschienen. Noch während sie an der Haustür klingelte, stand sie in dem Bann, es sei nur ein wüster Traum, und gleich würden die Apfelgesichter sie im Triumph in die Mitte nehmen, wie in den Friedenszeiten, wo sie immer ein gern gesehener Gast gewesen war, und würden lachen, schwatzen, Unsinn machen, einander necken …

Aber seltsam ernst war heute der Ton im Hause. Auch Laroche selbst erschien ihr unfrei. Sie hatten schon alle zusammen um sechs Uhr gegessen. Das Mädchen trug ihr allein auf. Berthe leistete ihr ein paar Augenblicke Gesellschaft. »Es ist heute gräßlich!« beschwerte sie sich. »Geneviève denkt nur noch an Roger. Und Papa hat bei Tisch kein Wort gesprochen.« Sie klappte spielerisch mit dem Nachtischbesteck und fragte leichthin: »Glaubst du auch, daß sie Mapplebak bekommen, die Deutschen? Angèle sagt, in der ganzen Nachbarschaft reden sie von nichts anderem mehr. Und Ma hat schon wieder solche Angst.«

Helene hatte Messer und Gabel hingelegt. Es war ihr unmöglich, auch nur noch einen Bissen zu nehmen. »Berthe – ach, du mein liebes Kind … Gar nicht sprechen dürftet ihr davon … Ach, Berthe, ich habe doch selbst solche Angst!«

Die kleine Stupsnasige lachte. »Ich finde es riesig spannend. O, jetzt ist doch einmal etwas los. Wie furchtbar langweilig war es die ganze Zeit! Und Benjamin ist so stolz. O, Tante Helene, wie sie ihn feiern in der Schule, weil Mapplebak bei uns gewesen ist.« Sie nickte ihr lebhaft zu. »Papa ist sehr mutig, nicht? Daß sie immer nur von den kühnen Soldaten im Felde reden! Papa nimmt es mit vielen von ihnen auf. Hab' ich nicht recht?«

»Ja doch, ja doch …« Ganz abwesend sagte es Helene. Die Kehle schnürte sich ihr zusammen. Wie erschütternd waren diese Gegensätze! Sollte sie dem Kind, das für den Vater schwärmte, klarmachen, welch freventliches Spiel er trieb?

Laroche kam ins Speisezimmer, noch während Berthe schwatzte. Ein mattes Lächeln huschte über sein bleiches Gesicht. Wie entschuldigend sagte er: »Es war nicht geheimzuhalten vor den Kindern. Und ich hoffe nur, Berthe, daß ihr nicht morgen auf dem Spielplatz darüber schwatzt. Denn sie haben überall Spione, die Deutschen.«

Berthe reckte ihr Stupsnäschen. »Aber, Papa – ich bin doch eine Französin.«

Sie bekam von Helene den für sie bestimmten Nachtisch zugesteckt und verließ fröhlich das Zimmer.

Laroche hatte sich Helene gegenübergesetzt. Es begann dunkel zu werden, aber keines dachte daran, das Licht aufzudrehen. Beide hatten die Hände vor sich gelegt. Stumm musterten sie sich eine Weile. Man hörte noch von oben die hellen Stimmen der Kinder – jetzt einen entzückten Aufschrei von Fleurette – gewiß hatte ihr Berthe etwas von den kleinen Köstlichkeiten des Nachtischs zukommen lassen.

»Ich muß Mapplebak sprechen!« stieß Helene endlich mit trockener Stimme aus.

Matt hob und senkte Laroche die Schulter. Eine Überraschung war es nicht mehr für ihn, daß Helene eingeweiht war. »Sie sprechen seine Sprache. Möglich, daß Sie ein Bild von ihm gewinnen. Mir ist er seltsam fremd geblieben.«

»Warum – ja, ich muß Sie danach fragen – warum in aller Welt haben Sie ihn bei sich aufgenommen?«

»Eine Frau draußen in Haubourdin hat ihm meinen Namen gesagt – ich würde ihm helfen – und ein Milchjunge hat ihn dann hergeführt. Was sollte ich mit ihm anfangen?« Ein Lächeln flog über seine abgespannten Züge. »Es ist ein unbequemer Gast. Spricht kein Wort Französisch. Und gut zwei Köpfe größer ist er als ich. Sie hatten ihn schon draußen in Haubourdin in Zivil gesteckt. Aber für den großen Schädel fanden sie keinen passenden Hut. So ist er hier angekommen: eine Sehenswürdigkeit für die ganze Straße. Daß er dem Posten drüben an der Post nicht sofort aufgefallen ist, begreife ich noch immer nicht. Ich habe Ebenezer Drachman Nachricht gegeben. Der soll ihm die Möglichkeit verschaffen, über die holländische Grenze zu entkommen. Einstweilen habe ich ihn zu Antoine geschafft.«

»Antoine Bergerat?« Helene ließ für ein paar Sekunden die Lider mit den schweren Wimpern über die Augen fallen. Die furchtbare Zeit da draußen auf dem Fabrikhof stand sofort wieder greifbar vor ihr. Nie war sie die Furcht vor dem schwarzäugigen kleinen Schofför losgeworden.

»Sie hatten ja immer ein Vorurteil gegen ihn, Helene. Aber Sie kannten ihn wohl in seiner schlimmsten Zeit. Als er seine Freundin immer nach der Stadt schicken mußte. Ich habe ihm jetzt die Unterstützung verdoppelt. Und Mapplebak hat ihm zwanzig Pfund versprochen.«

»Haben Sie denn gar keine Furcht, Laroche?« fragte sie und preßte die Hände krampfhaft ineinander.

Er schüttelte den Kopf. »Wer soll helfen, wenn ich nicht helfe? So viele, an die man geglaubt, auf die man vertraut hat, sind feige zurückgewichen. Ich tue, was ich für meine Pflicht halte. Wenn ich noch jung wäre, trüge ich Waffen. Es ist dasselbe.«

»Und die Sorge um die Kinder?«

Für einen Augenblick schien es ihn nun doch zu packen. Aber er lehnte sich vor und legte seine Rechte auf ihre beiden gefalteten Hände. »Ich habe doch Freunde, die sie nicht im Stich lassen werden.«

»Ach, Laroche, lieber, lieber Freund – in welch inneren Zwist zwingen Sie uns alle!«

Man hörte Geneviève kommen. Sie ging nicht so leicht wie sonst, nicht so forsch. Gewiß hatte sie sich drüben im Billardzimmer, wo sie so lange allein geblieben war, dem Kummer um Roger hingegeben. Sie gebrauchte noch das Taschentuch. Wie gedämpfte Trompetenstöße klang es. Trotz seiner ernsten Stimmung machte Laroche eine drollige Bemerkung darüber. Geneviève glaubte ihren Mienen anzumerken, daß über sie gesprochen worden war.

»Ach – ich schäme mich gar nicht etwa,« sagte sie und schluckte.

Nun trieb es Helene, aufzustehen und sie an sich zu drücken. Geneviève war sonst gar nicht weich. Zu ihrer ewigen Arbeit, zu der Verantwortung für die Geschwister, ihren Pflichten als vielgeplagte Vizemama wollte die Zärtlichkeit wohl nicht recht stimmen. Aber jetzt tat ihr's wohl, ein gutes Wort zu hören.

Im Dunkeln blieben sie dann zu dritt am abgeräumten Eßtisch sitzen. Im ganzen Hause war es schon still geworden. Nur ab und zu erzitterte es von den Stößen der schweren Geschütze draußen. Und dann klirrten auch die Scheiben.

»Helene will mit Mapplebak sprechen,« sagte Laroche zu seiner Ältesten. »Herkommen lassen dürfen wir ihn nicht mehr. Er sieht gar zu polizeiwidrig aus. Da muß Helene schon selbst hin.«

Geneviève nickte, traurig lächelnd. »Du wirst ihn ja wohl verstehen, Helene. Ich hab' all mein Englisch aus dem Pensionat aufgeboten – aber es war mit ihm nichts zu machen, er hat kein Wort erfaßt – nur mit dem Wörterbuch war es zur Not möglich.«

»Ich muß – ich muß ihn sprechen. Er wird mir doch sagen können, wie das alles kam … Wie lange er George kennt, was sie gesprochen haben, bevor sie aufstiegen und während der Fahrt.«

»Antoine sagt, er führe ein Tagebuch; den ganzen Tag sitze er da, rauche und schreibe.«

»Hat er denn gar nichts gesagt über George, gar nichts?«

Geneviève zuckte die Achsel. »Es war noch nicht einmal so zwischen uns, als wenn sich Taubstumme unterhalten.«

»Nun noch die ganze, lange Nacht warten!«

Laroche stand auf. Es bedrückte ihn, daß Helene von dem Gedanken an ihren Mann so gar nicht loskam. Und zugleich quälte ihn die Eifersucht auf ihren deutschen Jugendfreund. Ein paarmal ging er durch den langgestreckten Raum, die Hände im Rücken verschränkt, die Stirn vorgebeugt. Dann blieb er stehen und sagte seltsam matt, fast tonlos: »Sie sind ganz anders geworden, Helene. Glauben Sie, ich fühle das nicht?«

Geneviève war mit ihrem Stuhl näher an die Freundin herangerückt. Sie strich ihr übers Knie. »Ach, Papa, quäle sie nicht. Sie hat doch auch ihr Päcklein Kummer zu tragen. Nicht, Helene?«

Nun war ihr's wieder ganz unmöglich, auch nur ein Wort davon zu sagen, wie sie unter ihrer Zwiespältigkeit litt. Und noch weniger brachte sie einen Vorwurf über die Lippen, daß Laroche sich so schwer verging. Sie fühlte sich ja nicht minder schuldig. Aber es war ihr voller Grauen aufgegangen, daß ein längeres Verweilen in diesem Hause sie immer tiefer in die schwerste innere Zerrüttung trieb.

»Hab' ich denn schon davon erzählt,« begann sie endlich unsicher, »daß Georges Mutter herkommen wird?«

Sie waren beide äußerst überrascht. Helene mußte berichten. Dunkel entsann sich Laroche, daß er bei einem Besuch in Brüssel, vor Jahren, als Helene blutjung verheiratet war, die Stiefmutter ihres Mannes kennengelernt hatte. Eine etwas kurz geratene, zur Fülle neigende, sehr gepflegte, wohl auch sehr eitle Fünfzigerin, die um alles in der Welt nicht aus den Vierzigern heraus wollte.

»Ich habe nie sonderlich mit ihr gestanden,« sagte Helene zögernd, »wir sind einander ganz fremd geblieben. Aber wenn sie hierher kommt, dann – dann wird sie wohl erwarten – vielleicht verlangen –, daß ich zu ihr ziehe.«

Laroche hob hastig das Kinn und sah scharf nach ihr hin. In dem Dunkel erkannte man nur noch die Umrisse, aber keine Miene mehr. »O,« sagte er gedehnt, »Sie wollen fort von uns.«

»Ich – muß wohl,« sagte sie leise.

Lange blieb es still zwischen ihnen. Geneviève hatte ihre Hand von Helenens Knie zurückgezogen. Nun saßen sie fremd nebeneinander.

»Ich fürchtete es, Helene,« sagte Laroche, »daß die Deutschen Sie uns wieder wegholen würden. Es ist mir ein schmerzlicher Verlust,« – tief atmete er auf – »Sie bei unseren Feinden zu wissen.«

Geneviève umklammerte plötzlich Helenens Hand. »Aber du wirst uns doch nicht feindlich werden, Helene?«

Traurig, müde, schüttelte Helene den Kopf. »Ach, Geneviève!«

Berthe kam im Nachthemd herunter und berichtete, Ma höre noch sprechen und könne nicht schlafen.

Da brachen sie denn auf. Aber es lag auf ihnen allen dreien wie eine schwere Last.

 

Vor sieben Uhr durfte kein Zivilist die Straße betreten. So stand es in der Verfügung des Gouverneurs. Aber das war deutsche Zeit. Und da der Liller innerlich noch immer nach der Pariser rechnete, überhaupt ein Langschläfer war, so merkte er keine Beschränkung. Selbst im Sommer begann das Stadtleben nicht vor der achten Stunde. Auch die Ausrufer von Kohlen, Gemüse, Kleinholz und dem »Bulletin de Lille«, das jetzt die Stelle der Zeitungen vertrat, widmeten sich ihrem ruhestörenden Geschäft erst gegen neun Uhr. So mußte ein Spaziergänger, gar eine Dame, in aller Morgenfrühe auffallen. Aber Helene hätte es nicht länger im Hause gehalten. Endlos war ihr die Nacht erschienen.

Durch die schon taghellen, aber noch unheimlich toten Straßen, die sie früher so oft gegangen war, wenn sie mit der fertigen Arbeit das Putzgeschäft aufsuchte, kam sie nach der Fabrikvorstadt.

Als sie zu dem schmalen Haus gelangte, in dem Frau Babin wohnte, berechnete sie, daß Mutter und Tochter nun sicher in den nächsten fünf Minuten in der Tür erscheinen würden, um ihre tägliche Wanderung zum Photographen Bérisal anzutreten. So innig war ihr Mitleid mit Léonie, auch mit ihrer Mutter. Aber sie wagte nicht, stehenzubleiben und das Paar abzupassen. Es würde ja doch nur zu einer unerquicklichen Begegnung kommen, die nichts förderte: die Brücke zwischen ihnen war abgebrochen.

Mit einem gelinden Gruseln betrachtete sie das Tor der Martinschen Fabrik. Überall die Spuren der Fliegerbomben – und die Spuren des Verfalls. In der ganzen Straße gab's kaum eine Fensterscheibe, die heil geblieben war. In die Arbeiterwohnungen, die leerstanden, hatte der Wind Regen und Schnee durch die offenen Fensterrahmen hineingepeitscht. Da und dort waren die Höhlungen durch Bretter abgedichtet, durch Papier, dessen Fetzen nun in der Zugluft flatterten.

Als sie um die Ecke biegen wollte, hörte sie Frauenstimmen hinter sich. Sie wandte sich um. Richtig: Mutter und Tochter verließen soeben eifrig redend das Haus.

Fröstelnd hängten sie sofort beieinander ein, um sich zu wärmen und eng zusammengedrückt im Geschwindschritt zur Stadt zu gehn. Frau Babin war noch etwas schlanker geworden. Beide trugen noch dieselben engen, dünnen, unmodern gewordenen Fähnchen vom vorigen Frühherbst. Von rückwärts waren sie kaum zu unterscheiden. Wie sechzehnjährige Zwillingsschwestern wirkten sie. Aber trotz der Armseligkeit der äußeren Erscheinung zwang doch etwas in ihrer Haltung Achtung ab; man ahnte, daß es Damen waren, trotzdem sie wie kleine Ladenmädchen zu so ungewöhnlicher früher Stunde mit ihren kleinen Arbeitssäckchen dem Geschäft zueilten.

Helenens Gedanken schweiften zu andern Lillerinnen. Für ein paar Augenblicke mußte sie an die schöne, reiche Manon denken, die im Schmutz unterging …

Der leichte Trippelschritt von Mutter und Tochter verklang. Helene wanderte weiter.

Gegenüber dem Estaminet der Flämin, vor dem ein stelzbeiniges, in Lumpen gehülltes Weib über dem Mülleimer kauerte, dessen ekeln Inhalt durchwühlend, mußte sie haltmachen. Hier hauste Antoine Bergerat, der ehemalige Schofför der Familie Ducat. Eine Klingel gab es nicht. Helene klopfte. Die Hexe drüben an der Straßenrinne blickte auf und wischte sich mit den schmutzigen Händen die weißgelben Haarsträhnen aus dem fahlen Gesicht. Helene durfte nicht hinsehn; sie wußte bestimmt, daß Übelkeit sie übermannen würde … Endlich rührte sich's im Haus … In Pantoffeln schlich einer zum Erdgeschoßfenster und lugte durch den Spalt, ziemlich lange, wohl weil er das Auge erst an das helle Licht draußen gewöhnen mußte. Dann wurde drinnen vorsichtig ein Fenster geöffnet.

»Geneviève schickt mich!« flüsterte sie.

Sie mußte lange warten. Krampfhaft bemühte sie sich, nur das Haus anzustarren, um der fürchterlichen Erscheinung der Alten keinen Blick mehr zuzuwenden. Es war eines der Arbeiterhäuser, wie sie hier straßenweit zu vielen Hunderten standen: eine schmale Haustür, daneben ein Fenster, oben ein niedriges Stockwerk, darüber ein hohes, schmalbrüstiges Dachgeschoß, das meist noch einer dritten Familie als Wohnung diente. Nirgends eine Blume, nirgends eine Farbe, nirgends ein Schmuck. Der Hausanstrich so aschgrau wie das Steinpflaster der Straße. In Friedenszeiten hatten Kinder das öde Straßenbild belebt. Jetzt gab es hier keine Arbeit mehr, keine Männer; die meisten Frauen waren mit ihren Kindern fortgezogen, nur die wenigsten Häuser waren bewohnt.

Antoine öffnete die Haustür, die von innen verriegelt war, Helene trat in den engen Flur ein. Der kleine Schwarze, der in früheren Zeiten auf sein Äußeres etwas gegeben hatte, sah arg verwahrlost aus. Er war in eine Manchesterhose geschlüpft. Strümpfe trug er nicht. Sein vertragenes, blaugraues Hemd war am Halse offen. Er war noch ungewaschen, unrasiert. Unwillkürlich trat Helene einen Schritt zurück, als er zu sprechen anfing. Er befand sich in böser Laune. Aber die frühe Störung allein bildete nicht den Grund. Nach wenigen Sätzen hatte Helene es heraus: es war zwischen ihm und Adèle zur Trennung gekommen.

»Geneviève hat mir nichts davon gesagt, Antoine,« erwiderte sie auf seine allgemein gehaltene Anklage, in der er sich gegen die ganze Liller Gesellschaft erging. »Sie kommt heute mittag selbst – sie hat mit Ihnen zu sprechen. Wegen Mapplebak.«

Er behielt die Hände in den Hosentaschen und spuckte aus. Mit der Schulter wies er nach dem Vorderzimmer. »Ist nicht da.«

Verwundert, fast ungläubig sah sie ihn an. »So früh schon fort?«

Er zuckte die Achsel.

»Adèle hat ihn ausgeführt. Gestern. Sie sind wohl irgendwo in einer Bar geblieben. Mir ist es gleich. Er kann sie behalten.«

»Sie haben sich gezankt?«

»Krank ist sie. Bloß kein Wort mehr von ihr. Und dem gönne ich sie gerade.«

Er stieß die Tür auf und wies auf einen schadhaften Lederstuhl.

»Das ist sein Archiv. Wollen Sie sehen? Eine drollige Sorte von Engländer. Ich hatte sie mir anders vorgestellt.«

Sie überwand ihren Schauder und trat ein. Das Aufschlagbett war ungemacht. Auf dem Tisch standen die Überreste einer seltsamen Mahlzeit mit noch seltsamerem Geschirr: eine kleine, halbgeleerte Marmeladeschüssel, eine große Sardinenbüchse mit zackig durchstoßenem Deckel, dabei ein rostiges Messer, Brotreste, eine henkellose Kaffeetasse, in der sich eine Neige Rotwein befand.

»Er ist einen Meter neunzig groß, der Junge! Mit den Beinen – wenn er im Bett liegt – ragt er bis daher … Und keine Lebensart … Immer dies alberne Lachen. Er kann froh sein, daß man nicht hingeht und ihn anzeigt.«

Der erkaltete Pfeifenrauch, der Fischgeruch machte die Luft unerträglich. Helene wagte kaum zu atmen. Sie sah sich angewidert um, wollte dem empfindlichen und so schon stark gereizten Menschen aber keinen Anlaß zum Ärger geben.

»Antoine, Sie wissen, weshalb ich ihn sprechen will?«

»O ja. Monsieur Martin war ja sein Führer. Geneviève sagte mir's. Aber wenn Sie ihn sprechen, dann glauben Sie ihm kein Wort. Er schnurrt, sobald er den Mund auftut.«

»Können Sie sich denn mit ihm verständigen?«

»Ich nicht. Die Frau drüben vom Estaminet, die Flämin. Mordsdinge hat er zum besten gegeben. Alles geschnurrt, alles.«

»Daß er's wagt, sich so frei zu bewegen?«

»Hier kommen sie nur selten her, die Deutschen. Und da brauchten sie ja ein ganzes Regiment – ach, eine Division brauchten sie, um alle Schlupfwinkel zu durchstöbern. Wenn sie einen nicht schließlich aushungerten, hielte man's hier zehn Jahre lang aus.«

»Ich gehe zu Vater Didelot, muß ihm doch Guten Tag sagen. Wenn Mapplebak kommt, benachrichtigen Sie mich, Antoine. Ja, wollen Sie?«

Sie hatte einen Stadtschein über zwanzig Francs in ihrem Täschchen bereitgelegt. Im Vorüberstreifen steckte sie ihm das Papier zu. Er hatte die taschenspielerische Geschicklichkeit aus seinem herrschaftlichen Dienerleben herübergerettet, Trinkgelder völlig unbemerkt einzustreichen. Auch nicht mit einer Wimper zuckte er dabei.

Mit ein paar schlürfenden Schritten war er an dem Ledersessel, griff in den Spalt zwischen Lehne und Sitz und holte ein Notizbuch heraus, das in einen wasserdichten Glanzstoff gebunden war.

»Sie können ja Englisch. Wollen Sie lesen?«

Es widerstrebte ihr, sie hatte aber nicht den Mut, ihm das klarzumachen.

»Hernach, Antoine, hernach!« sagte sie.

Aber er hatte sie wohl doch durchschaut. Spöttisch lachend schob er das Buch in den Gurt, der seine Hose hielt.

»Ich komme nach, zu Didelot!« sagte er.

Wie grauenvoll war das alles hier! Helene begriff nicht, daß Geneviève, dieser innerlich so vornehme Mensch, all die Häßlichkeiten einer solchen Umgebung überwinden konnte. Und noch weniger begriff sie Laroche, der es duldete, daß seine Tochter diese Gegend aufsuchte, mit diesem Gesindel verkehrte.

Während sie zum Tor der Fabrik zurückkehrte, um an der Pförtnerswohnung zu klingeln, hing sie der Erwägung nach, ob sie dem armseligen Volk nicht doch unrecht tat. War es lauter Gesindel? Gab es darunter nicht auch Wesen, die selbst im tiefsten Unglück, in der bittersten Armut ihren Stolz nicht opferten? Mußte man die beiden Babins nicht ehrlich bewundern?

Didelot war noch grauer im Gesicht geworden, die Augen standen ihm noch tiefer in den Höhlen. Aber er war väterlich-gütig wie immer, als er die junge Frau sah. Natürlich wußte er sogleich, daß sie des englischen Fliegers halber kam. Mapplebak bildete den Gesprächsstoff des ganzen Viertels. In der Straße war die Einwohnerschaft geradezu stolz darauf, daß man ihn hier vor der deutschen Behörde verbarg. Dabei war an der wichtigsten Stelle – dem Estaminet der Flämin – eines der Plakate angeschlagen, auf dem nach ihm gefahndet wurde.

Für Didelot hatte Helene Tabak mitgebracht. Er war glücklich. Am liebsten hätte er's gesehn, wenn er den Besuch zum Kaffee hätte einladen können. Aber Adèle war gestern hier gewesen und hatte ihm so ziemlich alles abgeborgt, was er an Vorräten besaß. Der furchtbare Streit zwischen dem Liebespaar war ihm nicht verborgen geblieben.

Didelot hatte sich inzwischen schon damit abgefunden, daß ihm von seinen aufgesparten Schätzen nichts zurückerstattet würde. Er brauchte ja nicht viel. Die Unterstützung, die ihm seine ehemalige Herrin regelmäßig zukommen ließ, reichte aus. Schmerzlich war es ihm nur, daß nun von Woche zu Woche der Tabak im Preise stieg. Daß er dabei auch schlechter wurde, hätte ihn weniger gestört.

Über den Grund des Zerwürfnisses zwischen Antoine und Adèle sprach sich Didelot nicht aus. Dazu war er immer noch zuviel Kavalier geblieben, der Alte. Sein philosophisches » C'est la guerre« mußte wieder einmal alles erklären. Aber daraus machte er kein Hehl, daß ihm Antoine längst nicht mehr gefiel. »Laroche traut ihm nichts Böses zu – Geneviève, Gott, das Engelskind, es täte mir leid, sie zu kränken – aber wenn die Deutschen da drüben auf der Bekanntmachung gesagt hätten, sie zahlen fünftausend Francs dem, der ihnen den Engländer tot oder lebendig verschafft: ich hätte Antoine nicht auf die Probe stellen mögen.«

Auch Helene schätzte den kleinen Schwarzen längst nicht anders ein.

Sie hatte sich an ihrem alten Fensterplatz niedergelassen. Der Prunus war so buschig geworden, daß er einen tiefgrünen Schatten in das kleine Zimmer warf.

»Sie wissen, Didelot, daß mein Mann in Haubourdin liegt?« fragte sie endlich in die Stille hinein.

Er seufzte.

»Ach, Madame, wann wird der Krieg enden? Der arme Herr!«

»Es heißt, daß sie ihn nach dem Militärhospital überführen. Dann werde ich ihn sehen. Vielleicht.«

Didelot stopfte sich mit dem neu empfangenen Tabak seine Pfeife; geschickt hielt er sie dabei zwischen den Knien; man merkte gar nicht, daß ihm der linke Arm fehlte.

Unter den ersten, langen Zügen sagte er: »Wenn es erlaubt ist, Madame, dann besuche ich ihn auch.«

»Er wird Ihnen dankbar sein. Sie haben gut zu dem Werk hier gehalten.«

»Ob es je noch einmal werden wird? Challier sagt: sie vernichten grundsätzlich alle Industrien, die wir noch im Lande haben. Durch ihre Flieger oder durch ihre Kanonen – je nachdem.«

»Wer vernichtet sie?« fragte sie unsicher.

Er paffte, warf einen Blick durchs Fenster, dann blinzelte er ihr zu. »Die Engländer!« Er sagte es nur halblaut.

Es pochte ans Tor. Zweimal kurz hintereinander.

»Das ist Antoine!« stieß der Alte aus. Schwerfällig erhob er sich.

Antoine hatte inzwischen seine blaue Montörjacke übergezogen und die Schirmmütze aufgesetzt. Das schien aber seine ganze Morgentoilette gewesen zu sein. Eine Welle Alkoholdunst verriet, daß er im Estaminet der Flämin dem verbotenen Absinth zugesprochen hatte. Angeregt warf er das Tagebuch des Engländers auf den kleinen Tisch, an dem Helene saß. »Mehr kann ich nicht tun, als es Ihnen nachschleppen. Lesen müssen Sie es schon selbst.« Er lachte und ließ sich von Didelot Tabak abgeben.

Helene las. Und gleich auf der ersten Seite las sie den Namen ihres Mannes.

Der Bericht war in einem abgekürzten Englisch geschrieben, dessen Rechtschreibung zu wünschen übrig ließ; selbst die Eile der Tagebuchführung, die Verhältnisse, unter denen die Schrift aufgesetzt war, entschuldigten kaum die groben Fehler. Der Schreiber war zweifellos ein wenig gebildeter Mensch. Immerhin hatte der Telegrammstil eine gewisse unbewußte Anschaulichkeit.

»11. April. 4.45 vorm. Es stiegen auf Bartron mit Chaudier, Warraud allein und Martin mit Mapplebak. Stichdunkel. Die andern rasch verloren. Martin: er kenne die Gegend genau. Nur ein paar Lichter von der Eisenbahn noch abpassen, dann wisse er. Aber plötzlich: Motor still. Maschinenschaden. Gelandet. Nicht festzustellen, welche Gegend. Niemand wach. Auch keine Posten da. Wieder aufgestiegen, nach Kompaß. Martin ganz unzuverlässig, irrt sich, hat zweimal Störungen. Plötzlich beschossen. Hageldicht. Kein Auftrieb. Ob Maschine beschädigt? Ich taste hinüber. Er verwundet. Stöhnt. Handschuh aus. Meine Hand fühlt warm. Öl? Nein, wahrscheinlich Blut. Ich: › Damned!‹ Er antwortet nicht. Ich beuge mich über. Abstellen. Unten Häuser. Trotzdem Landung leidlich glatt. Ich rasch heraus. Schüsse. ›Martin! Verflucht! Fußhunnen kommen!‹ Er rührt sich nicht. Da nichts übrig, als Reißaus nehmen.

Am Dorfrand ein Schild. Ich rasch in den Graben dahinter. Kopf eingezogen. Fußhunnen rennen vorbei. Springen über den Graben. Verliert sich. Ich stehe auf. Am Schild steht: Dorf Flequières. Vorsichtig Taschenlampe angeknipst, in den Graben geduckt. Auf meinem Kartenabschnitt Dorf dieses Namens nicht verzeichnet. Martin also in ganz falscher Richtung gesteuert. Verdammter Kerl.

5.45 beginnt es hell zu werden. Ein Weib kommt. Hallo, hier Engländer. Sie zittert, steht da, hat Angst. Ich zerre sie mit. Nur rasch fort von den Hunnen! Sie weist mir ein leeres Haus in der Nähe. Durchs Fenster hinein. Im Dorfe alles still. Nur Hundebellen. Setze mich auf den Fußboden. Scheußlich kalt. Nach zwanzig Minuten leises Klirren am Fenster. Die Frau bringt halben Laib Brot, zehn Eier und eine große Schale Kaffee. Die Schale ohne Henkel, wie ein kleines Waschbecken.

Die furchtbare Angst der Frau. Versteht kein Wort Englisch. Infam. Wo nächste Stadt? Wie sie heißt? Nichts zu machen, versteht nicht, vielleicht taub.

Reiterhunnen rasseln herein. Die Frau ist vom Fenster verschwunden. Drüben Licht, Bäckerladen, da halten sie. Frau wird gefragt. Gewiß nach dem Flieger. Keine Auskunft. Reiterhunnen weiter.

Wird heller. Frau kommt zurück. Bursche dabei. Winziger Kerl. Jetzt Verständigung. Lille 4–5 km entfernt. Hier gefährlich, aber Lille große Stadt, da nicht so gefährlich. Gut, daß ich nur Lederjacke trage. Sieht nicht aus wie Uniform. Mütze schon bei erster Landung verloren. Verdammter Martin. Der Bursche ist aus Wattignies. Wattignies steht auf der Karte. Jetzt alles richtig. Er zeigt auf den Kopf. Endlich verstanden. Ja, ich muß einen Hut haben. Geht. Bleibt eine Ewigkeit. Bringt dann Hut an. Ich lache. Er lacht auch. Hütchen wie eine Erbse auf einer Kartoffel. Mann aus Wattignies bringt für mich laisser-passer nach Lille. Auf Tram steigen, hineinfahren, ehe Tag ist. Er mitfahren.

Tram kommt an. Er vorn hinauf, ich hinten. Bleibe auf Plattform, weil drinnen Fußhunnen. Der aus Wattignies hat mir Geld gegeben. Ich zahle. › Quelle porte?‹ fragt der Tramboy. Das weiß ich nicht. Gähne. Er knipst den Fahrschein, ich nicke verschlafen. Nur nicht sprechen, sonst verraten. Die Hunnen drinnen reden viel. ›Der Flieger! – Der Engländer!‹ Ich gähne.

Endlich steigt vorn der Bursche aus. Winkt mir. Vor einem Bäckerladen halt. Er klopft. Nichts rührt sich. Klopft, klopft. Leute sammeln sich an. Alles betrachtet uns. Ich muß über uns lachen. Der aus Wattignies ganz klein, wie ein Zwerg, ich fast zwei Meter groß. Wie aus einer Musik-Hall, wir zwei. Er schwitzt vor Angst, weil so viel Leute.

›Weiter!‹ Ein paar folgen uns. Ins erstbeste Haus hinein. Warten. Als der Auflauf weg, wir hinaus. Weiter. Rue Inkerman. Hier alles schön. Feines Haus. Breakfast, Bad, Töchter, Hausherr, alles fein. Wie Sohn gehalten. Bursche aus Wattignies gute Belohnung. Laroche kennt Martins Frau. Martin halber Deutscher. Vielleicht doch Spion.

Hier schon bekannt: Eindecker abgeschossen. Muß Warraud sein. Hat Bomben abgeworfen über Gärtnerei und Treibhaus. Glasschaden. Warraud Bein gebrochen. Nach Seclin geschafft. Aber Flugzeug mit Martin hier noch nichts erfahren.«

Die Aufzeichnungen waren von da an mit Bleistift geschrieben und noch undeutlicher als zuvor. Helene hatte Mühe, sie zu entziffern.

»Hier angekommen bei jungem Paar. Einfacher Mann, Mechaniker. Sie Mädchen aus einer Bar. Essen mit der Messerspitze die Marmelade. Mahlzeit von Sardinen und kondensierter Milch. Messer mit Papier abgerieben als Wäsche. Französische Volkssitten sehr komisch.

Laroche hat versprochen: will mir Mann schicken, der mir hilft, über Grenze kommen. Durch Holland möglich. Solang hier warten. In seinem Haus zu gefährlich. Schade. Dort besser.«

Das Datum des gestrigen Tages war noch aufgeschrieben. Aber weitere Aufzeichnungen folgten nicht.

Der Einarmige hatte sich an den Tisch gesetzt, an dem sie las. Antoine lehnte mit dem Rücken gegen das Hoffenster und paffte.

Immer wieder drängte sie der Alte, zu übersetzen. Antoine ward erst aufmerksam, als die Aufzeichnungen sich mit dem Aufenthalt des Engländers bei ihm zu beschäftigen schienen. Seine schwarzen Augen blickten stechend. Er verschlang die Leserin mit seinen Blicken. Was Mapplebak über Adèle geschrieben habe, wollte er wissen.

Selbst diesem widerlichen Menschen gegenüber hielt sie eine Art Takt davon ab, den Wortlaut ungeschminkt wiederzugeben. Jedenfalls unterschlug sie die scharfe Kritik, die der Schreiber angebracht hatte.

Auch bei den wenigen Bemerkungen über George war sie ins Stocken geraten. Ihr selber war es ja schon fast wie Erlösung, daß der Engländer Zweifel an ihm äußerte. Aber vor den beiden Hörern erwähnte sie seinen Namen überhaupt nicht.

Es ging auf neun Uhr. Helene konnte nicht länger auf Mapplebak warten. Sie traf schon jetzt nicht mehr pünktlich auf dem Amt ein. Zagend überlegte sie, wie sie's einrichten könnte, noch einmal am Tage herzukommen, und bat die beiden um Rat. Aber Antoine schnitt ihr rasch die Rede ab. Das sei zu auffällig, zu gefährlich. Auf keinen Fall dulde er, daß sie wieder vor seiner Wohnung stehenbleibe und klopfe. Sie seien so schon alle wie verrückt, die Leute hier in der Straße. Er bedanke sich dafür, wegen dieses blonden Burschen festgenommen zu werden. Was bringe ihm der ganze Handel ein? Wofür setze er sich überhaupt der Gefahr aus? Laroche habe gleich an ihn gedacht, das sei ja sehr ehrenvoll. Aber die Ehre allein genüge ihm nicht. Das könne Frau Martin dort in der Inkermanstraße ruhig den Herrschaften ausrichten. Und er warte auf Antwort, lasse er sagen.

»Geneviève – soll ja heut mittag herkommen,« sagte Helene stockend.

»Mit neun Francs für die Woche!« höhnte er und griff in Didelots Tabaksbeutel, sich seine Pfeife stopfend. »Ich habe das Leben satt –!«

Ein kurzer Spitzbubenpfiff am Fabriktor ließ sich hören.

Helene fuhr zusammen. Die beiden Männer blickten einander fragend an.

Geräuschlos erhob sich Antoine und schob sich aus seinen Filzpantoffeln in den Nebenraum.

Wieder ein Pfiff. Etwas stärker.

Rasch, aber leise, riß Antoine das Fenster auf und gab den Pfiff zurück.

»Mapplebak?« fragte der Einarmige.

»Nein. Ebenezer ist es.«

Helene entsann sich des Unterleutnants Ebenezer Drachman, der im Regiment von Manons Vetter Ducat stand, von mehreren Begegnungen her. Bei der Einnahme von Lille durch die Deutschen war er in Zivilkleidern entkommen. Seitdem trieb er ein gefährliches Spiel. Er verhalf versprengten Soldaten, die sich hier allenthalben verborgen hielten, durch Belgien über die holländische Grenze, damit sie zu ihrer Truppe nach Frankreich zurückkehren konnten.

Vor dem Manne hatte sie ein fast noch stärkeres Grauen als vor Antoine. Er war ein roher Emporkömmling. Schon sein Aussehen verriet sein ganzes Wesen: die flinken, schwarzen Spitzbubenaugen, das rüde Kinn, die roten, sinnlichen Lippen, das mächtige Gebiß, dabei die eitle, selbstgefällige Art jeder Frau gegenüber, als ob es für einen Schwerenöter wie ihn keine Grenze gäbe.

Antoine war rasch in den Hof gegangen, um ihn einzulassen.

Für eine Sekunde erstarrte das unternehmende Lächeln auf Drachmans braunem Antlitz, als er in die niedere Tür der Pförtnerwohnung eintrat und Frau Martin erblickte.

Antoine schien es nicht der Mühe wert gehalten zu haben, ihm von dem Besuch zu berichten. Mindestens war ihm die eigene Angelegenheit wichtiger. Sie hatten über Adèle gesprochen. Die nächsten Worte verrieten es.

Drachman steckte in einem knappen, marineblauen Sakkoanzug. Unbedingt gehörte er Manons Vetter, dem Major; er hatte ihn wohl von Liddi. Indem er sich den schwarzgewichsten Schnurrbart emporstrich, grüßte er Helene gönnerhaft.

»Er ist ein braver Poilu, Ihr Mann. Trotz allem, Frau Martin. Und wie steht's um dich, Antoine? Hast du jetzt endlich Schneid? Pah, Weibersachen. Um Frankreich geht es. Du kannst mitkommen, wenn du willst, Antoine. Dann bist du des ganzen Schwindels hier ledig.«

»Mitkommen?«

Antoine hatte die Hände in die Taschen seiner Manchesterhose gesteckt und sich wieder ans Fenster gelehnt.

»Warum? Ob ich mich drüben totschießen lasse oder hier krepiere vor Hunger – es ist dasselbe.«

»Jämmerling. Du solltest froh sein, daß du sie losgeworden bist. Jetzt hast du dich selbst. Bist dein eigener Herr. Pfeife auf sie. Tä, die Weiber.«

Gönnerhaft machte er eine Handbewegung nach Helene und zwirbelte dann wieder an seinem kohlschwarzen Schnurrbart.

»Verzeihung, das sind noch immer meine rauhen Kriegssitten. Ich weiß sonst auch mit Damen umzugehen. Ist Geneviève noch nicht hier? Wann kommt sie? Wir müssen endlich klar sehen.«

Er pfiff durch die Lippen.

»Mapplebak hat Eroberungen gemacht. Allen Mädels von Laroche hat er den Kopf verdreht. Ja, so ein Teufelsbursch … Es ist eben nur noch lauter schwächliches Pack hier zurückgeblieben. Die armen jungen Frauen …«

Helene war aufgestanden.

»Wenn Geneviève sich Mapplebaks annimmt, Herr Drachman,« sagte sie, ihn von oben bis unten messend, »dann geschieht es aus Beweggründen, deren Lauterkeit Sie wohl doch nicht fühlen.«

Sie atmete tief auf.

»Mir ist es nur unsagbar schmerzlich, daß sie sich in all die Gefahren stürzt, um einer Sache willen, die Ihnen doch nicht in dem Maße heilig ist wie ihr.«

»Oh, oh –!« Ebenezer konnte nicht so rasch mit. Bevor er eine Antwort bereit hatte, war die junge Frau an der Tür. Sie gab Didelot die Hand, nickte flüchtig und ging.

Niemand begleitete sie.

Nachdem sie die kleine eiserne Tür neben dem großen Fabriktor hinter sich geschlossen hatte, lief sie wie gehetzt der Stadt zu.

Noch immer lag die Vorstadt still. Erst auf den großen Boulevards war das Leben erwacht. Die Ausrufer schrien ihre kleinen Warenvorräte mit schriller Stimme aus. Frauen feilschten an den Wagen. Hundekarren schleppten Kohlenlasten. An den Rinnsteinen spielte schmutziges kleines Volk. In den Müllkästen wühlten erbärmliche Gestalten. Durch den sonnigen Frühlingsmorgen klang der Gesang von der Morgenübung heimkehrender Soldaten. Und ein Trüpplein Kinder zog im Gänsemarsch auf dem Bürgersteig und ahmte die Feldgrauen nach: »Mit Erz und And – für Va–ter–land … Gloria, Viktoria …«

Helene war es, als ob sie aus einem furchtbaren Traum erwachte. Sie hörte sich selbst einmal halblaut aufstöhnen.

Diese paar Stunden, die sie da draußen verlebt hatte, kamen ihr jetzt wie gestohlen vor. Sie fühlte sich als Verbrecherin an heiligen Dingen. Wie sollte sie nach dem, was sie heute morgen gesehn und gehört hatte, nur je wieder einem ehrlichen deutschen Manne ins Auge blicken? Vor einer Begegnung mit Hans West graute ihr es geradezu. Wenn er ihr jetzt in den Weg trat und sie fragte, woher sie kam – ob sie den traurigen Mut aufgebracht hätte, ihn anzulügen? Nein, unmöglich. Und die Wahrheit bekennen – hieß nichts anderes, als sie alle ins Unglück stürzen, mit denen sie lebte.

Ebenezer Drachman, Antoine Bergerat – beide empfand sie nun als Feinde, und als Feinde widerwärtiger Art. Aber um Geneviève, die sich für dieses Pack aufopferte, bangte ihr's. Und es tat ihr weh, daß Laroches ehrliche Vaterlandsliebe diese unehrlichen Pascherwege ging.

Sie mußte – mußte mit ihnen brechen.

In ihrem verzweiflungsvollen Sinnen hatte sie gar nicht mehr der Zeit geachtet. Sie war gelaufen, kaum sich überlegend, ob sie die rechte Richtung innehielt. Am Südbahnhof endlich blickte sie sich um. Es war gleich zehn Uhr. Nun stieg sie auf die nächste Straßenbahn, die den Boulevard de la Liberté hinauffuhr, und legte den Weg von der Haltestelle bis zum Amt in Eile zurück.

Im Oberlichtsaal winkte ihr aus dem Schalter der Quartierkommission der Unteroffizier zu. Sie nahm an, daß der Hauptmann nach ihr gefragt habe. Doch das war nicht der Fall. Der Leiter der Dienststelle war heute zum Feldgericht als Richter kommandiert und war vor Mittag nicht zu erwarten. Aber Besuch wartete drinnen. Eine Dame.

Der Unteroffizier lächelte. »Nein, keine Lillerin. Die hätt' ich ja draußen warten lassen. Eine Dame aus Frankfurt. Aber den Namen hat sie mir nicht gesagt. Es solle eine Überraschung sein.«

Helene schlug das Herz. Sie fühlte es bis zur Kehle hinauf.

Zweifellos war es Georges Stiefmutter.

Unsicher näherte sie sich der Tür zum Geschäftszimmer.

 

Ah, ma chérie –!« begrüßte Georges Stiefmutter die junge Frau. Und umarmte sie und küßte sie links und rechts vom Mund auf die Wangen. So hatte sie es schon in ihren jungen Jahren den Pariserinnen abgesehen. Helene entsann sich nicht, je anders von ihr begrüßt worden zu sein. Auch das Untermischen der Rede mit französischen Brocken war bezeichnend für Georges Stiefmutter. Sie sprach fließend Französisch, allerdings mit einem unverkennbaren Frankfurter Einschlag. Vor dem Kriege hatte Helene das alles für eine Eigentümlichkeit ihrer Schwiegermama gehalten, die man belächeln konnte, über die man aber kaum ernstlich nachzudenken brauchte. Jetzt gab es ihr ordentlich einen Ruck.

»Um Gottes willen, Mama, wir sind doch hier auf deutschem Boden!«

» Vraiment?« Frau Ada lachte. »Ja, denk' doch nur, Kind, wie ich mein liebes Lille wiederfinden muß! Als junges Ding, wo ich die beaux arts studiert hab', da bin ich zwei Monat hier gewesen. Wenn doch nur nix im Musée kaputt ist! Ich bin ja so gespannt. Und ob die Madame Ternier in der Rue Royale noch lebt? Ach, Kindche, das sind jetzt Erinnerunge! › Vous êtes la vraie Parisienne!‹ hat sie zu mir gesagt. So eine feine Frau. Ja, in dene Häuser hat mer noch die alt', französisch' culture gehabt. Jetzt – was für changements! Nit?«

»Du weißt, Mama, daß George schwerverwundet draußen in Haubourdin liegt?«

»Ja, geh, das ist doch so schrecklich!« Frau Ada zwinkerte mit den Augen und verzog das Gesicht schmerzlich, aber es wollte keine Träne kommen. » Mon Dieu, mon Dieu, was ich alles durchgemacht hab'! Ach, bis man überhaupt bloß fortgekommen ist von daheim. Du ahnst ja nit, wie sie's einem erschweren, patriotisch zu sein. Da war die Gräfin Lenzkirch … Ich sag' dir, Kindche, Intrigen! … Und wo ich doch so viel in Frankreich war, und Französisch hab' ich schon in der Kinderstube parliert … Ich hab' mich ja so gefreut, daß ich in mein geliebtes Lille hab' wiederkomme können …« Plötzlich schossen ihr nun doch die Tränen in die Augen, und sie zog ihr seidenes Spitzentüchlein. »Ja, sage doch nur, ma chérie, und wie ist das denn jetzt mit dem George? Kann man ihn denn sehn? Ich hab' mir gedacht, gelt, das wär' doch jetzt ein Zusammentreffen, wenn er aufwachen tät und da säß' eine Schwester an seinem Bett, ganz feierlich – und da tät er plötzlich mich erkennen! Ach, Kindche, ich bin in dem schrecklichen Krieg schon um gut sechs Jahr älter geworden.«

So schwatzte sie. Und war schon früher nie ein warmes Gefühl der Zugehörigkeit zu ihr in Helenens Herzen gewesen: in dieser Stunde richtete sich eine Mauer von Stein zwischen ihnen auf.

Frau Ada Martin hatte kürzlich die Fünfzig überschritten, aber ihre vollendete Körperpflege, ihre Kunst, sich anzuziehen, suchten der Mitwelt ein Jahrzehnt zu vertuschen. Keine größere Freude hatte ihr früher widerfahren können, als wenn man sie für die Frau ihres Stiefsohnes gehalten hatte. Von einzelnen Fällen solcher Verwechslungen zehrte sie noch jetzt. Sie neigte etwas zur Fülle, war zu ihrem Kummer auch nicht besonders groß und vielleicht ein wenig zu kurz geraten, unablässig war sie darum bemüht, durch Sport, durch Massage ihrer Erscheinung die Täuschung einer gewissen Jugendlichkeit zu bewahren. So quälend ihr das frühe Aufstehn war, ritt sie doch jeden Morgen aus. Bei Kriegsausbruch war ihr Stall leer geworden. Sie hoffte nun sehr, hier wieder in den Sattel zu kommen. Im Felde sei ja doch alles viel freizügiger als daheim …

»Du wirst hier schwere Enttäuschungen erleben, Mama,« sagte Helene, die an ihrem Schreibtisch Platz genommen und die Schreibmanschetten übergestreift hatte. »Hier gibt es nur Arbeit, Arbeit, wenn man leidlich befriedigt sein will vom Leben.«

Frau Ada folgte unangenehm berührt ihren Bewegungen. »Weißt, Helene, wenn man sich auch für das Vaterland aufopfert, dann braucht man deswegen doch nit gleich im Kommiß unterzugehen. Ich war ja ganz echauffiert, wo ich gehört hab', wie du hier gelebt hast. Eine Martin hat das nit nötig. Du hast mir nit schreiben können, sagst du … Mon Dieu, in meinem Haus verkehren so viel Offiziere, da wär's doch eine Kleinigkeit gewesen, mir Nachricht zu geben … Aber ich will dir jetzt keine Vorwürf' machen, weil der arme George … Ach, ich muß mich so vor Aufregungen in acht nehmen, im letzten Frühjahr sollte ich doch eine Kur in Nauheim machen, aber ich hatt' mich doch schon mit der Gräfin Lenzkirch für Nice verabredet. Du, ein richtiges kleines château, mit Autogarage, Wintergarten, wie man's sonst immer liest, und die ganze Dienerschaft noch da, nur der Koch war ins Grand Hôtel wegengagiert, und für den Monat haben wir gezahlt, wart' einmal …«

Helene hob abwehrend die Hand. »Verzeih', Mama, ich kann dir in die Zeiten nicht mehr folgen.«

»Ach ja, ma chérie, du hast ja so Schweres durchgemacht. Das Bombardement. Mein armes Lille –! Gar nit mehr wiederzuerkennen ist's. Und was da so rollt, das ist wirkliches Geschützfeuer? Gruselig, nit? Aber es is Vaterlandspflicht, gell, daß man doch auch sein Scherflein beiträgt. So wahnsinnig viel zu tun gibt's für mich. Da ist also ein Fräulein Consentius, die soll ich zur Oberschwester machen. Ein Fräulein Doktor. Das ist jetzt so ganz selbstverständlich, daß es so etwas gibt. Ja, unsere deutschen Frauen. Aber verlobt ist sie doch auch schon. Echt weiblich. Und weißt du, ihr Verlobter, der Professor, der geht mir so auf die Nerven … Ja, ich weiß wirklich nicht, ob ich's mit dem Mann auch nur drei Tag' lang aushalten kann … Die Verpflegungsschwestern, die ich mitbekommen hab', die werden sich schon einrichten. Die sind ja auch nit viel Besseres gewöhnt. Gute Kreise, gewiß. Aber weißt: in Friedenszeiten würd' man ja nit damit verkehren. Ein Fräulein, das Muster entworfen hat, eine technische Lehrerin, die Tochter von einer Pensionsinhaberin … Mon Dieu, es hat sich eben so viel dazu gedrängt. Und die Tracht macht schließlich alles gleich. Ich will im Dienst natürlich auch Tracht tragen. Da ist nun wieder die Eifersucht von den Organisierten, den Krankenschwestern: es heißt, daß wir das Rote Kreuz nit auf der Binde tragen dürfen. Ach, man muß eben über Äußerlichkeiten erhaben sein in dieser großen Zeit, sag' ich immer … Der Professor hat mir gesagt, du wirst auch zu uns ziehn? Ja, Kindchen, aber mit dem Platz da hapert's. In meinem Stübche kann ich mich kaum umdrehe. Vielleicht kann man das Büro heraustun aus der Fräulein Consentius ihrem. Ach, da gibt's noch so viel Arbeit. Und die Hauptsach' sind doch die armen Feldgrauen. Heut' nacht soll ein großer Zug durchgekommen sein. Lauter Verwundete. Gräßlich. Nit?«

Der Unteroffizier brachte Anforderungen, die schleunigst zu übersetzen waren. Helene stand auf und reichte ihrer Schwiegermama die Hand. »Sobald ich kann, suche ich dich auf,« sagte sie, sich zu einem verbindlichen Ton zwingend.

» C'est la guerre!« meinte Frau Ada und, lächelte dem Unteroffizier zu. Dann umarmte sie Helene in ihrer üblichen Art. » Au revoir, ma chérie … Ach so, man soll ja jetzt nur deutsch schwätze …« Im Hinausgehen begann sie mit dem Unteroffizier eine Unterhaltung darüber, ob er selber schon mitgekämpft, ob er auch schon einmal mit dem dabei in der Faust einen Feind getötet habe …

Helene flüchtete sich in die Arbeit. Nur so konnte sie ihre innerliche Beschämung niederkämpfen. Sie schämte sich, daß es auch in Deutschland noch solche Frauen gab.

Und es war Georges Stiefmutter –! Viele Jahre hatte er unter ihrem Einfluß gelebt. Gewisse Eitelkeiten beider waren zum Verwechseln ähnlich. Vor allem ähnelten sie einander in dem einen Grundübel der Deutschen: der Bewunderung aller Ausländerei.

Ich kann nicht zu der Frau, ich kann nicht! Helene legte die Feder hin, stützte die Stirn in die Hände und sann nach.

Wohin gehörte sie? Gab es denn wirklich keinen Fleck auf Gottes Erdboden, der ihr noch Heimat bot? Hatte ihre Heirat sie von allem abgeschlossen, was ihr Vaterland gewesen war?

Ein Groll in ihr, der aus den Tiefen weiblichen Empfindens kam, regte sich dann gegen die herzlos kühle Art, mit der Frau Ada den schweren Unfall ihres Stiefsohnes abtat. Die grausamen inneren Nöte, in die Georges Vaterlandslosigkeit seine Frau gerissen hatte, ahnte eine Weltdame ihrer Art wohl gar nicht.

Helene aber stand noch unter dem zerrenden Eindruck der Worte des Zweifels, die der englische Flieger über ihren Mann niedergeschrieben hatte. Und wie eine Art Gebet stand in ihr der Wunsch auf: sie möchte nur das eine, einzige Bekenntnis von George hören, daß er sein Leben dafür eingesetzt habe, um hier zu landen.

Besuche, Vermittlungen, Auskünfte, Übersetzungen rissen sie immer wieder aus ihrem Sinnen heraus. Sie vergaß darüber die Zeit. Die Stille erst, die in den anstoßenden Geschäftszimmern eintrat, machte sie aufhorchen. Es war ein Uhr vorüber. Im Hause Laroche wartete man jetzt auf sie. Wenigstens Geneviève würde warten, um ihr bei Tisch Gesellschaft zu leisten. Helene hatte Hunger. Morgens war sie vor Spannung nicht imstande gewesen, etwas zu sich zu nehmen. Aber es graute ihr davor, noch einmal die Füße unter den Tisch von Laroche zu stellen. Das Schicksal stieß sie in eine furchtbare Aufgabe hinein: sie hätte anklagen müssen, wo ihr Herz verteidigte.

Die große Oberlichthalle war jetzt leer. Der Telephonist vorn am ersten Schalter, der die Mittagswache hatte, schien als einziger in dem weiten Raum zurückgeblieben zu sein. Er pfiff. Erst schüchtern, dann beherzter, wohl weil er sich über die Ergiebigkeit des Tones in der schallverstärkenden Mittagsstille freute.

Jetzt flog die Schwungtür. Sporenklirren. Das Pfeifen brach sofort ab. Eine helle Stimme fragte. Die melancholisch-tiefe Antwort des Telephonisten erklang in einem Bayrisch, das der Fragende nicht verstand. Es folgte ein kurzes Hin und Her. Dann näherte sich der Sporenschritt. Und Helene wußte: Hans West kam.

»Gottlob, Sie sind noch da!« sagte er. Rasch zog er die Glastür hinter sich ins Schloß, warf seine Mütze, seine Handschuhe hin und kam auf sie zu, ihr beide Hände entgegenhaltend.

Sie hatte sich im Stuhle ihm zugewandt, blieb aber in sich versunken sitzen, und nur zögernd erhob sie die Rechte, um sie ihm zu geben.

»Ich hab' ganz Schaudervolles erlebt, Helene,« sagte er. »Ach nein, nicht da draußen. Die Khakileute haben geschossen wie immer, nicht anders, meine Leute haben Deckung gehabt, und es ist nichts weiter passiert. Nein, nein. Aber hier in Lille selbst war's. Auf dem ganzen Herweg hatt' ich mir zwar vorgenommen, Ihnen keine Silbe davon zu sagen, aber ich braucht' Ihnen nur in Ihre fragenden, traurigen Augen zu sehn, da wußt' ich: ich bin Ihnen Rechenschaft schuldig.«

»Mir?« Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ich hab' kein Anrecht darauf.«

Er hielt ihre Rechte zwischen seinen Händen.

»Doch, Helene. Wir sind ja so alte, uralte Freunde. Da lächeln Sie, weil ich uralt sage. Aber ist es nicht ein Stück schöner, wunderschöner, dummer Kindheit, was uns verbindet? Und Älteres, Ehrwürdigeres als die eigene Kindheit gibt es doch nicht. Stimmt das? Ach, liebe Frau Helene, so böse hab' ich auf Sie sein wollen. Und hab's doch nicht gekonnt. Weil ich eben immer wieder das ›Lenerle‹ in Ihnen gesehn hab', das deutsche Ding. Sie kann doch nicht falsch sein. So kann man doch nicht mit Blindheit geschlagen sein. Selbst wenn … ja, selbst wenn man so innig, innig liebt.«

Seine helle, gute, knabenhaft reine Stimme hatte etwas so Rührendes, Zwingendes, in dieser Stunde Erschütterndes, daß sie weinen mußte. Sie warf sich plötzlich mit beiden Armen auf die Schreibtischplatte und vergrub ihr Gesicht. Tastend suchte sie im Gürtel nach ihrem Taschentuch.

Er trat nahe an sie heran. Ungeschickt, wenn auch zart, strich er ihr über das Haar. »Nein, bitte, bitte, nicht weinen. Es soll Sie nicht kränken. Ich will offen sein. Sie sollen alles erfahren. Und dann sprechen Sie zu mir – ebenso ehrlich. Gelt? Es hat mich ja so hin und her gerissen. Schaudervoll war es. Aber je weiter es hinter mich zurücktrat, desto sicherer ward ich. Ich will Ihnen alles sagen. Der Reihe nach. Aber Sie dürfen nicht mehr weinen.«

Er setzte sich auf den Schreibtisch, beugte sich nieder, stützte seinen rechten Ellbogen auf und hob mit der linken Hand ihr Kinn, so daß sie ihn ansehn mußte. Unter einem Tränenschleier sah sie sein junges, erhitztes, braunes, trotziges Gesicht mit den reinen, bittenden, ehrlichen, grauen Augen.

Und er erzählte ihr, wie es gekommen war, daß er – mit Consentius und dem Professor – seinem Bruder und dem Prinzen in die Bar der Nitouche gefolgt war, und was er dort aus dem Munde von Manon Dedonker vernommen hatte.

»Es war, um Sie herabzusetzen. Jetzt sag' ich mir das alles ja selbst. Ich sehe auch die Beweggründe. Aber ein paar Stunden lang hab' ich gelitten. Fritz ist ein Prachtkerl. Wenn ich den nicht gehabt hätte, dann wär' ich nicht so rasch wieder Herr über mich geworden. Das ist das Wundervolle, was ich da kennengelernt habe: ein reiner, großer Mensch scheucht aus seiner Umgebung alles weg, was klein und unedel ist. ›Du bist ein blinder Idealist!‹ schrie ich ihm erst zu in meiner maßlosen Erregung. Drauf er ganz ruhig: ›Ach, weißt du, Hanning, ich bestrebe mich nur, ein anständiger Mensch zu sein, das genügt mir vollständig für meinen Hausgebrauch.‹ Ja, sehen Sie, und so ein Hunne hat mich dann richtig untergekriegt. Von Robert Schumann hat er einmal gelesen: Der Verstand irrt, das Gefühl nie. Und weil er für die D-moll von Schumann schwärmt, geht er mit Schumann durch dick und dünn.«

Wie ein Streicheln der Seele empfand sie seine Worte. Er ahnte ja nicht, wie die vertrauende Güte der Gesinnung sie aufrichtete, sie in ihren besten Vorsätzen bestärkte. Aber sie war ganz erfüllt von Dank. Bittend sah sie ihn an.

»Glauben Sie doch nichts Schlechtes von mir. Ich stecke noch so tief in äußeren Unklarheiten. Es ist mir selber schmerzlich genug. Aber das haben die Verhältnisse mit sich gebracht. Ich kann jetzt nur nicht so jäh aus dem Kreis heraus, dem ich doch auch wieder Dank schulde …«

»Das sollen Sie, sollen Sie, Helene!« Er richtete sich auf, blieb aber auf dem Schreibtisch sitzen und hielt ihre beiden Hände in den seinen fest. »Es ist auch schon alles besprochen. Sie kommen nach dem Nordbahnhof. Ella freut sich auf Sie.«

Ein trübes Lächeln trat auf ihr Antlitz. »Sie haben meine Schwiegermutter kennengelernt?«

»Flüchtig gesehn.« Fast trotzig preßte er die Lippen zusammen. Ein Schweigen trat ein. Dann sagte er: »Kennenlernen wollte ich sie auch gar nicht.« Da sie verwundert aufblickte, ergänzte er: »Nun ja – aus Eifersucht.«

Sie machte ihre Hände frei von ihm und stand auf. Sich von ihm abwendend, preßte sie ihre Schläfen. »Ach, lieber Freund, wohin verirren Sie sich!«

»Ich – gönne es ihm nicht, daß Sie sich noch immer so viel mit ihm beschäftigen.«

Sie atmete auf. »Also können Sie mich doch gar nicht verstehn.«

»Ihr Mitgefühl – wohl. Denn Sie sind Weib.« Nach einer Pause setzte er hinzu: »Sein Weib.«

Nun wandte sie sich ihm wieder zu. Sie hatte beide Arme erschöpft sinken lassen. »Gewiß habe ich Mitleid mit ihm. Aber mehr als alles treibt und quält mich doch die eine Frage: was hat ihn bewogen, herzukommen, alle Gefahren auf sich zu nehmen, sein Leben einzusetzen?«

»Ja so. Sie möchten den Helden in ihm sehn? Um ihn zu verehren.«

»Nein. Um ihn nicht mehr verachten zu müssen.«

Das schnitt grausam scharf in die Stille. Das Wort blieb in der Luft hängen. Lange schwiegen sie beide. Jedes hing den eigenen Gedanken nach.

Endlich ging er, um Mütze und Handschuhe wieder aufzunehmen.

»Liebe Frau Helene – ich glaube nicht, daß er Ihnen Beweggründe, Anlaß und Umstände der bösen Fahrt selbst noch auseinandersetzen könnte. Aber Sie werden ihn ja jetzt endlich sehen. Sehen – sprechen kaum.«

»Ich werde ihn – sehen?«

»Man hat ihn hergeschafft. Er liegt im Kriegslazarett in der Militärhospitalstraße. Ich war beim Oberstabsarzt, habe ihn gefragt, ob eine Möglichkeit besteht, daß Sie ihn besuchen. Er hat nichts dagegen.«

Ein schwerer, tiefer Seufzer löste sich aus ihrer Brust. »Ich danke Ihnen.«

»Sie wissen: es ist ein Abschied.«

Stumm nickte sie.

 

Auf dem Weg zum Krankenhaus trat Helene in eine Bäckerei ein, in der sie etwas Gebäck zu sich nahm. Kakao oder Milch gab es nicht mehr. Sie stillte aber doch ihren Hunger. Und es war notwendig für die lange Wartezeit, die sie noch zu überstehen hatte, bevor zur Torwache die Nachricht zurückkam, die ihr die Erlaubnis gab, den Flügel aufzusuchen, in dem ihr Mann lag.

Das Gebäude war früher ein Kloster gewesen. Die ganze Anlage verriet es. Unter der Verwaltung der Deutschen waren bereits umfassende Änderungen, auch baulicher Art, vorgenommen worden. Der Sanitätsgefreite, der sie begleitete, gab ihr – zunächst erstaunt darüber, daß sie Deutsch sprach – Auskunft. Er war hier seit dem ersten Tag der deutschen Besetzung tätig. »Wie's damals ausgesehn hat – ach du meine Güte! Ein Dreck war das hier! Und die armen Kerls, die Deutschen, die hier schwerverwundet lagen, die erst durch uns aus der Gefangenschaft befreit worden sind – eine einzige Kruste von Schorf und geronnenem Blut. Als ob sie die Unsern mit Absicht hätten verkommen lassen wollen. Von den armen Teufeln haben wir ja auch nicht viele durchgebracht. Die französischen Ärzte und Schwestern – die haben wir kennengelernt, wir von der Sanität. Und dagegen nun die Sorgfalt, die jedem einzelnen verwundeten Franzosen oder Engländer erwiesen wird. Selbst Halbwilde liegen drüben, Gurkhas, Neger, Inder, man hat ja gar nicht so viel Geographie im Kopf, daß man weiß, auf welchem Weltteil man das Gesindel unterbringen soll. Aber ganz gleich: jeder hat sein sauberes Bett, seine gute Pflege, ob er nun aus München-Schwabing stammt oder aus Australien. Ja, so sind wir Hunnen nun 'mal.«

Das Wort »Hunnen« erinnerte sie an Mapplebaks Tagebuch. Mit welcher Selbstverständlichkeit wendete der Engländer das Wort auf alle Deutschen darin an! Und dagegen der Stolz dieses einfachen Mannes, daß seine Landsleute all die Unglücklichen, die für ihr Vaterland gekämpft hatten und der Pflege bedurften, mit derselben Barmherzigkeit umfingen.

Sauber waren die Betten, luftig die Räume, blütenweiß die Verbände, die sie in dem ersten Saal der Schwerverwundeten sah – aber wie grauenvoll wirkte dennoch der Anblick auf ihr Gemüt.

Und dann stand sie neben einer Schwester, mit der der Sanitätsgefreite ein paar Worte gewechselt hatte, und blickte ganz verständnislos das Gerüst an, das von der Decke herabhing, und in dem sich eine Art Bahre mit einem in Verbandstoff gewickelten, mumiengleichen Bündel befand.

Sie sah in ein bleiches Gesicht. Die Augen waren geöffnet. Sie hatten etwas seltsam Gläsernes. Vertrocknete Lippen bewegten sich fast unmerklich.

»Er will trinken,« sagte die Schwester und nahm das Glasröhrchen, um die Lippen zu netzen.

Ein hellerer Schein huschte über das Gesicht des Verwundeten. Und dabei erkannte Helene die Züge ihres Mannes. Aber gleich darauf war das Antlitz wieder fremd, marmorn.

»Herr – Gott – im Himmel!« flüsterte Helene und preßte die Hände ineinander.

Die Schwester widmete sich an Nachbarlagern ihrem Dienst, kümmerte sich anscheinend nicht weiter um sie; aber als der jungen Frau plötzlich die Knie versagten, huschte sie herzu und schob ihr einen Schemel hin.

»Nicht zu lange bleiben, es quält ja nur, und dem Kranken hilft es auch nicht, bei dem hohen Fieber ist ein Erkennen ganz ausgeschlossen.«

Helene saß eine Weile stumpf da. Sie blickte auf die Tafel, las die Kreideaufzeichnungen über den Fall, die Fieberhöhe, Namen, Nummer.

»Leidet er?« fragte sie endlich.

»Kaum. Jedenfalls liegt er hier viel besser. Da draußen haben sie die Vorrichtungen nicht wie hier.«

»Hat er gesprochen?«

»Nein. Es ist wohl eine Lähmung als Folge der Verwundung … Aber, seltsam, zuerst, als er im neuen Verband lag, hat er ein paar Töne gesungen, ganz leise, wie ein Kind vor dem Einschlafen. Seitdem ist er still … Aber jetzt müssen Sie gehen. Da nebenan ist so ein unruhiger kleiner Herr, der verträgt es nicht, wenn gesprochen wird.«

»Ein Deutscher?«

»Ja, ein Kriegsfreiwilliger. Noch von Langemarck. Ein Studentlein. Das ist unser Liebling. Leider auch Wirbelsäule verletzt. Aber den bringen wir durch.«

»Und – Sie meinen –«

Die Schwester preßte für eine Sekunde die Lippen zusammen.

»Ach, das war nur so hingesagt, wir wissen doch im Ernst nie, wie die Ärzte urteilen.«

Aber Helene fühlte heraus, das sollte ein Trost sein.

Sie hatte sich erhoben. Sie wollte der Schwester die Hand geben, doch die schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich muß sonst gleich wieder bürsten. Seien Sie nicht böse.«

»Nein, nein.«

Helene nickte ihr zu.

»Und ich danke Ihnen für alles, was Sie für ihn tun.«

»Ihr Mann, hörte ich?«

Tonlos bejahte sie.

Der Sanitätsgefreite hatte auf dem breiten Flur gewartet. Er nahm den Besuch nun wieder in Empfang.

»Im ersten Saal hat ein Deutscher nach Ihnen gefragt. Ob Sie Frau Martin wären? Er kenne Sie. Er sei bis zum Kriegsausbruch hier in Lille gewesen. Ein Landwehrleutnant. Er kam aus der Champagne und ist bei Messines verwundet worden. Nächste Woche ist er transportfähig, sagt der Arzt, dann kommt er nach der Heimat. Knieschuß und Granatsplitter an der Hüfte. Aber er war soweit ganz fidel. Ein Leutnant Schneider.«

Jäh wandte sich Helene ihm zu.

»Schneider liegt hier?«

Er war der Prokurist ihres Mannes gewesen. Unter größten Schwierigkeiten hatte der Mann sich zu den deutschen Linien durchgefunden. Und auch er nun verwundet –!

»Kann ich zu ihm?«

»Aber nur zwei Minuten. Sonst zankt der Stabsarzt.«

Das war nun auch ein erschütterndes Wiedersehn. Der große, starke, blonde Mann sah sie freundlich an. Rühren durfte er sich nicht. Er hatte alles vergessen, was vor dem Kriege oft zu Reibungen zwischen ihnen geführt hatte. Er freute sich, daß sie lebte. Und es war ihm ein Schmerz, zu hören, daß George schwerverwundet hier lag.

»Aber – ist es nicht ein Glück,« sagte er, »daß er schließlich doch noch zu seiner Vaterlandspflicht zurückgefunden hat?«

Er ahnte nicht, daß ihr Mann als Gefangener hier lag. Auch ihr plötzlicher heißer Tränenausbruch verriet es ihm noch nicht.

»Ach – lieber Herr Schneider – wie wird einem das Herz zerrissen … Und so gute Augen haben Sie noch immer … Ich hab' Sie so oft gekränkt.«

»Tut nichts. Sie haben jetzt ja doch noch erkennen müssen, daß wir Barbaren besser sind als unser Ruf. Nicht? Und der Firnis der Franzosen? Ich war doch drei Tage lang in der Champagne gefangen. Frau Martin – lieber bei einem wilden Völkerstamm. Dagegen ist es immer noch ein Vergnügen, mit einem zertöpperten Bein in einem deutschen Lazarett zu liegen. Und ich habe das Eiserne. Noch als Vizefeldwebel hab' ich's gekriegt. Ja, und denken Sie, mein jüngster Bruder hat das Eiserne Erster. Als dritter in der ganzen Brigade. Fein. Nicht? Grüßen Sie Ihren Mann. Ich soll nächster Tage abtransportiert werden. Aber vielleicht sehe ich ihn noch …«

»Der Stabsarzt kommt!« raunte der Sanitätsgefreite Helene zu.

Sie strich über die weiß gewordene, große Hand des Deutschen. Fast zärtlich. »Alles Gute!« flüsterte sie. Dann folgte sie ihrem Führer auf den Fußspitzen.

Während sie über den Hof ging und wie in einem stillen Gebet zum Himmel aufsah, traf ihr Blick die Reihe der Fenster, an denen von den Deutschen Blumenkästen angebracht waren. Da und dort zeigte sich schon das erste dankbare Grün. Hoffnung – neues Leben. Helene konnte nicht mehr an sich halten. Ein Schluchzen überfiel sie.

»Ach – es wird vielleicht noch alles ganz gut werden,« suchte der Gefreite zu trösten.

Sie schüttelte den Kopf. Sie glaubte nicht daran, daß George sein Lager anders denn als stiller Mann verlassen würde. Aber die Qual brannte in ihrem Herzen, daß er sein Leben und seine Ehre hingegeben haben sollte für dieses Volk, das der ehrliche deutsche Landwehrmann voller Verachtung tiefer einschätzte als einen wilden Völkerstamm … Weil sie an Wehrlosen sich vergingen … Ach, sie hatte es ja selbst mit ansehn müssen!

Wenn George doch noch einmal den Mund auftun könnte, um ein Bekenntnis abzulegen! Durfte er denn aus dem Dasein scheiden, ohne Rechenschaft zu geben? Mußte es ihn nicht mit allen Fibern halten – mit dem letzten Rest seines Lebensdranges –, daß er sich rechtfertigte vor seinem Vaterland?

Mit enger Kehle, nassen Augen begab sich Helene in ihren Dienst …

… Von der neu eingerichteten Verpflegungsstätte am Nordbahnhof ward im Laufe des Nachmittags angerufen. Der Hauptmann unterhielt sich am Fernsprecher ein paar Augenblicke, lachte ein paarmal, dann stand er auf und reichte Helene den Hörer.

»Der Professor wünscht Sie zu sprechen. Er ist wieder 'mal aufgezogen.«

»Frau Martin? Ja, also ich stehe hier als Amor, angetan mit Liebesköcher, aber im übrigen ganz vorschriftsmäßig, wovon Sie sich jederzeit überzeugen können. Ich soll Ihnen von Ihrer Frau Schwiegermama ausrichten, daß Schwester Ella Ihnen in ihrem Prunkgemach hier im Oberstock des Bahnhofs die zweite Fürstengruft zur Verfügung stellt: Mannschaftsbett mit Strohsack und wollener Decke. Schwester Ella speist soeben mit linder Hand dreiundsechzig Leichtverwundete, die abtransportiert werden sollen, sonst würde sie selbst mit Ihnen sprechen. Wenn Sie schon heute abend kommen wollten, so sei alles bereit. Sogar Seife. Ich persönlich habe nur die Bitte, mir dann morgen Auskunft darüber zu geben, ob Schwester Ella wirklich so lebensgefährlich ruhestörend schnarcht, wie ihr Bruder Fritz mir das unter Berufung auf seinen Diensteid mehrfach versichert hat.«

Der lustige Ton tat Helene ordentlich weh. Sie fand kaum eine Antwort. Unsicher fragte sie nach ihrer Stiefmutter.

Der Professor konnte sich auch da etwas Spott nicht versagen.

»Die Gnädigste unterhandelt soeben in Voltaireschem Französisch mit der Vorarbeiterin der Reinemachefrauen. Aber die Unglückliche ist verzweifelt, versteht kein Wort – denn sie ist Flämin. Ich werde versuchen, mit Englisch zu vermitteln.«

Hernach sagte ihr der Hauptmann: der Landsturm-Professor habe sich im Kasino neulich alle Herzen erobert, weil er so gar kein Wesen aus sich mache, und er sei doch in der Heimat als ein ganz hervorragender Gelehrter angesehn.

Nur selten bisher war der Hauptmann in den Amtsstunden zugänglich für ein Gespräch gewesen, das nicht zum Dienst gehörte. Er hatte aber vernommen, daß der Gatte der jungen Frau als Todeskandidat hier im Kriegslazarett Aufnahme gefunden hatte, und weil ihr blasses Gesicht, ihr schmerzvoller Ausdruck sein Mitleid erregte, suchte er nach einer Ablenkung.

Nach Dienstschluß erschrak Helene zunächst wieder über das eigenartige Stadtbild. Auf den noch im vollen Sonnenlicht liegenden Straßen und Plätzen kein einziger Zivilist. Auch das Herumstehn in den Türen, das Hinauslehnen aus den Fenstern war durch eine verschärfte Bestimmung verboten. Nur Feldgraue waren zu sehn.

Kaum war Helene an der Postensperre vorüber, die den Verkehr der Kraftwagen zum Gouvernement regelte, als auch schon ein Militärpolizist, der ihr entgegenkam, vom Rad sprang und sie auf französisch nach ihrem Ausweis fragte. Sie hatte vergessen, die Armbinde anzulegen, und entschuldigte sich, sie aus ihrem Täschchen hervorziehend.

»Na, Fräulein,« sagte er nun gutmütig auf deutsch, »dann aber dalli – sonst werden Sie alle hundert Meter angehalten, es weht heute wieder höllisch scharfe Luft!«

Helene kam es zum ersten Male zum Bewußtsein, daß sie in den Augen der Liller jetzt, wo ihr mehr Bewegungsfreiheit vergönnt war, ganz und gar zur feindlichen Macht gerechnet wurde. Als sie durch die stille kleine Straße kam, die zur Rue Béthune leitete, fuhr sie plötzlich jäh zusammen. Dicht hinter ihr war ein Blumentopf aus den Bürgersteig gefallen. Wie zufällig.

Sie hörte aus dem offenen Fenster eines oberen Stockwerks lachen.

Nicht stehenbleiben, nicht hinaufblicken! sagte sie sich sofort. Und ruhig, als wäre nichts geschehen, ging sie weiter.

Aber sie empfand es wie einen Schnitt, der sie nun auch äußerlich von ihrem bisherigen Umkreis trennte – trennen mußte.

Im Hause Laroche herrschte große Aufregung. Mapplebak war am Nachmittag hier gewesen, Ebenezer Drachman war dann auch noch gekommen, und plötzlich hatte es geklingelt – zwei Soldaten hielten draußen. Angèle erzählte Helene die Begebenheit noch im Hausflur. Wenn diese Lillerinnen aus dem Volk Bericht erstatteten: ob sich's auch nur um die kleinsten Vorkommnisse handelte – es hörte sich immer wie ein Drama an. Hier zitterte nun noch wirkliche Angst nach. Man hatte die beiden Soldaten zunächst warten lassen, um zu beraten. Die klingelten aber sehr ungestüm. Darob wuchs das allgemeine Durcheinander. Die beiden Fremden mußten rasch ins Billardzimmer eintreten. Das war ein Laufen, Flüstern, Rufen, Beschwichtigen auf den Treppen. Hernach ergab sich, daß die beiden Soldaten von der Post kamen. In der ganzen Stadt wurden die Fernsprechapparate, die sich noch aus Friedenszeiten in einzelnen Häusern befanden, beschlagnahmt und abgeholt. Auf dem Verzeichnis der Telephonabonnenten befand sich auch Laroche. Benjamin jagte hinauf, um die Mutter zu beruhigen, die sofort wieder ihre Weinanfälle bekommen hatte; Genevieve unterhandelte mit den Soldaten. Sie werde den Kasten selbst abnehmen und herausbringen. Die wehrten ab: nein, das sei unzulässig, denn dabei könnte der Fernsprecher beschädigt werden … Und so traten sie in den Raum ein, in dem sich Laroche mit den beiden Herren befand …

Geneviève war bleich, aber doch schon wieder leidlich gesammelt, als Helene kam. Laroche dagegen sah erbärmlich aus, und seine Stimme schwankte zuweilen. Solang' die Soldaten mit dem Abnehmen des Fernsprechers und der Drähte beschäftigt waren, hatte er am Billard gestanden und seinen beiden Gästen, nur damit das Schweigen des Engländers nicht auffiel, eine Art Vortrag über die Karambolage gehalten. Er spielte zuweilen, aber seine Hände zitterten derart, daß ihm nichts gelang. Wenn einer der beiden Feldgrauen Billardspieler gewesen wäre, so hätte er alles durchschaut. Er und Drachman pafften in ihrer Erregung während dieser für sie grauenvoll spannenden halben Stunde unausgesetzt an ihren Zigaretten.

Mapplebak hielt die Holzpfeife zwischen den Zähnen. Er suchte sich möglichst unauffällig zu geben und benahm sich daher so, wie es bei ihm zu Hause unter Herren üblich war. Er streckte seine langen Beine auf einen Stuhl aus, den er an das Sofa heranzog, und legte den Kopf tief hintenüber.

Geneviève war aufs äußerste erschrocken, als sie nach einer Weile, von der Unruhe getrieben, hereinkam und das sah.

»Das typische Bild,« sagte sie zu Helene. »Die Soldaten können in ihrem Leben noch keinen Engländer gesehn haben, sonst müßten sie gemerkt haben: das ist Mapplebak, den sie durch Maueranschläge in ganz Lille suchen!«

An der Stelle, an der während der spannungsvollen, aber schließlich harmlos verlaufenen Begegnung Mapplebak sich mit den langausgestreckten Beinen gerekelt hatte, saß jetzt Laroche. Er war still, matt, alt. So hatte ihn Helene noch nie gesehn. Erst als sie von der Ankunft ihrer Schwiegermutter erzählte und daran anknüpfend berichtete, daß für sie ein Quartier im Bahnhofsgebäude hergerichtet sei, in der neuen Verpflegungsstätte, hob er den Blick und sah sie lange ernst forschend an. »Das letzte Glied also in der Kette der Freundschaft –,« sagte er tonlos.

»Meine Dankbarkeit bleibt Ihnen, Laroche,« erwiderte sie nach einigem Schweigen. »Auch meine Freundschaft.«

Geneviève war wieder eingetreten. Sie hatte die letzten Reden mit angehört. Die Lippen fest aufeinanderpressend, blickte sie Helene an. Es lag Groll in ihrem Ausdruck. Ein Vorwurf. Daß ihr Vater litt durch Helenens Fortgehen, das wußte sie. Sie wäre für ihn durchs Feuer gegangen – und Helene, die er so schwärmerisch liebte, mit einer so edlen Aufopferung, sie konnte seinen Herd treulos verlassen …

Auch als es dunkel wurde, blieben sie heute im Billardzimmer sitzen. Licht wurde nicht angesteckt. Nur der Schein, der durch die Kathedralglasfenster vom Flur hereinfiel, wo die flackernde Gasflamme brannte, leuchtete matt.

Sie waren alle heruntergekommen, die Apfelgesichter, um dem Vater Gute Nacht zu sagen. Selbst Fleurette war es von Ma gestattet worden. Um sieben Uhr früh wollte er das Haus verlassen, er hatte eine kleine Reise vor, hieß es, und es war nicht ganz bestimmt, ob er morgen abend zurück sein konnte.

Berthe, die gleich den Geschwistern im Nachthemd war, erschien Helene ganz verwandelt. Sie machte schwärmerische Augen – zu der kleinen Stupsnase und dem lustigen Backfischmund wollte das aber gar nicht so recht passen. Helene zog sie an sich. »Und was ist denn mit dir, kleine Berthe –?« fragte sie gutmütig, sich zu einem scherzenden Ton zwingend.

Aus der Sofaecke, wo Benjamin auf der Lehne balancierte, kam die jungenhaft unzarte Erklärung: »Das weißt du nicht, Tante Helene? Berthe ist doch in Mapplebak verschossen.«

Für einen Augenblick vergaß sich Berthe und schnitt dem Bruder eine lange Nase. Aber nur Helene und Louise sahen es, weil Berthe im Dunkeln saß.

»Sogar ein Gedicht hat sie gemacht!« plauderte Benjamin weiter aus und wippte sich aus der Sofalehne immer höher. »Madeleine – nicht?«

Zärtlich tastete Laroches Hand nach Berthes Schulter. »Laß dich's nicht verdrießen, kleine Berthe. Du hast keinen schlechten Geschmack bewiesen. Mapplebak ist ein guter, tapferer Junge.«

»Du hast ihn nicht gesehen, Helene?« fragte Genevieve und zog sie mit ans Rundfenster.

Nun endlich kamen die beiden zu längerer Aussprache. Aber all das, was in ihrer Seele heute vorgegangen war, durfte Helene der Freundin ja doch nicht beichten. Zu grausam waren die Empfindungen, einander wohl auch zu widersprechend, als daß sie bei Geneviève volles Verständnis voraussetzen konnte. Nur über die erregenden Begegnungen dieses Tages berichtete sie. Welche Stürme über sie hergegangen waren, als sie Hans West gesprochen und als sie dann am Leidenslager ihres Mannes gestanden, als sie Schneider wiedergesehen hatte, – das erfuhr Geneviève nicht.

Aber an eine Bemerkung von Antoine knüpfte sie an: Mapplebak flunkere, man dürfe ihm nicht glauben. Wie Geneviève über ihn urteile?

Geneviève hatte die Schläfe ans Fenster gelehnt. Matt lächelnd erwiderte sie:

»Hast du nicht gehört, was Papa vorhin zu Berthe sagte?«

»Ach, Liebste, Berthe ist ein Kind! Ich verstünde deinen Vater auch darin: einem jungen Mädchenherzen nicht sein Ideal zu rauben.«

»Verstehst du ihn wirklich, Helene? In allem?« Sie hob und senkte die Schultern in einem tiefen Atemzug. »Heut' hab' ich doch daran gezweifelt.«

Nun tastete Helene nach ihrer Hand.

»Ach – liebe, liebe Geneviève –! Nein, du darfst mich wirklich nicht nur nach dem einen, einzigen Gesichtspunkt beurteilen … Du weißt, wie innig dankbar ich deinem Vater bin, wie ich ihn verehre, in allem … Ach, Kind, du ahnst ja nicht, wie es mich in tiefster Seele oft zerreißt!«

»Man muß glauben und vertrauen.«

»Du – gutes – Kind!«

Lange standen sie nun still nebeneinander am Fenster. Laroche schickte die Kinder endlich zu Bett. Fleurette verlangte, daß er gleich mit hinaufkam, um Ma Gute Nacht zu sagen. Aus dem Mädchenlachen, das zu ihnen hereinklang, ging hervor, daß Laroche, um Fleurette das Treppensteigen zu ersparen, die leichte Last auf den Rücken nahm. Sie sangen dann alle zusammen ein Kinderliedchen, das sie schon fast vergessen hatten. Aber mitten darin gab es ein leichtes Aufkreischen. Benjamin hatte sich's natürlich nicht nehmen lassen, in einem geeigneten Augenblick der Schwester, die da vor ihm auf des Vaters Rücken hing, einen schallenden Klaps zu geben.

Oben herrschte dann noch lange Unruhe. Madeleine weinte über irgend etwas. Und Fleurette deklamierte in übertriebener Weise, immer wieder vom Lachen geschüttelt, von Berthe und der Mama verweisend unterbrochen, ein schwärmerisches Gedicht. Gewiß war es Berthes Erguß ihrer Gefühle für Mapplebak. Dazwischen schallten Benjamins kurze, übermütige Rufe. Er sprang wohl fünfmal noch hinauf und warf irgendein kindisch-lustiges Neckwort für die gekränkte Fleurette ins Schlafzimmer der Mama, jedesmal unter stürmischem Protest zurückgewiesen.

Langsam kam Laroche die beiden Treppen herunter und über den Flur. Er ging unsicher, auch seine Stimme, deren Wortlaut sonst etwas so Besänftigendes hatte, klang seltsam farblos.

»Noch immer im Dunkeln?« Er blieb am Billard stehen und rollte den weißen Ball, der noch eben erkennbar war, über die dunkle Ebene. Ein leiser Klack.

»Hast du gewünscht, zu treffen?« fragte Geneviève, sich vom Fenster lösend.

Sie waren alle ein wenig abergläubisch. Auch Laroche. Er antwortete nicht sogleich. »Wär's eingetroffen – so wie ich wollte – dann dürft' ich's doch nicht sagen. Ist's nicht so?«

Kurzes Schweigen. Plötzlich stieß Geneviève aus: »Ach, Papa, ich habe eine große, große Bitte. Wirst du sie mir erfüllen?«

»Du mußt sie mir nennen.«

»Nein. So. Bitte, bitte.«

Helene war zum Sofa gegangen und hatte sich gedankenschwer in die Ecke gesetzt. Geneviève zog ihren Vater mit sich dahin. Mit einem kleinen Schwung ließ sie sich neben Helene nieder. Und links Helene, rechts ihren Vater um den Nacken fassend, schmeichelte sie: »Helene, liebe, liebe Liebste, hilf doch mit! Papa soll morgen früh nicht mit nach Belgien!«

»Aber – das ist doch nicht etwa … Ums Himmels willen, Laroche, Sie werden doch nicht unvorsichtig sein! Gerade jetzt, wo überall die Aufsicht verschärft ist!«

»Ich habe es Drachman zugesagt. Er hat da zwei Leute, die zur Front wollen. Haby, der Glasermeister aus der Rue Solferino. Und dann der Mann der Wäscherin aus der Rue Gambetta. Weißt du, Geneviève, der kleine Landsturmmann, der früher im Kasino Rechnungsführer war.«

Geneviève machte große Augen. »Der will mit? Der? Dem hätt' ich den Mut gar nicht zugetraut.«

Leise lachte Laroche. Die Bewegung teilte sich in der Rücklehne des Sofas seinen beiden Nachbarinnen mit. Geneviève empfand es als Wohltat, daß ihr Vater wieder in hellere Stimmung kam. »Erzähle doch.«

»Ach – Biquet ist kein Held. Er ginge wohl nicht, wenn ihn nicht seine Frau so schlecht behandelte.« Wieder lachte er. »Ein halb Jahr lang hat er nicht aus dem Hause gedurft. Da hätte die Liebe, die ihn daheim fesselte, schon stärker sein müssen.« Er holte tief Atem, und wieder fühlten sie's. »Aber seinem Beispiel verdanken wir mehr. Bergerat hat endlich zugesagt.«

»Antoine –?!« Sie riefen es beide, sich sofort aufrichtend.

»Der Fall mag bei ihm wohl ähnlich liegen. Herzensenttäuschung, Verbitterung, – was bietet dann das Leben noch viel? Und bei ihm kam noch hinzu: wirkliche Not. Ja, wenn wir alle so hätten erhalten können, wie sie's im Grunde verdient haben. Aber es sind noch über zweihundert Mann hier. Was da jede Woche verschlingt.«

»Es ist grauenvoll, wie sie leben, die armen Jungen!« sagte Geneviève. »Hunger und Angst. Und als einziges winkt die Aussicht, hinüberzukommen in neuen Kampf.«

»Wär's vielleicht nicht doch noch menschlicher,« sagte Helene, »sie ruhig ihr Los hier auf sich nehmen zu lassen?«

»Helene –!« stieß Geneviève aus. Sie packte ihre Hand, daß es Helene fast wehe tat.

»Ach, laß nur, Geneviève. Im Grunde hat Helene recht. Sie haben alle schon genug der Schrecken hinter sich. Nicht jeder ist Abenteurer. Nun heißt es, neuen Gefahren trotzen. Ich würde sie ja auch gern in Ruhe lassen. Aber Frankreich braucht Soldaten …« Mit der Hand abwehrend brach er ab: »Nein, nein, keine Politik, Helene hält ja nicht mehr zu uns. Sie hat nun andere Sorgen als wir.«

Rasch fiel Geneviève ein, um abzulenken: »Du weißt, daß Helene George gesehen hat?«

Er nickte. »Ich hörte.«

»Von wem?«

»Von euch. Als die Kinder noch da waren.«

Geneviéve nickte und lächelte. »O, siehst du, Helene, – Papa –!«

»Ich muß mit Mapplebak sprechen,« sagte Helene, ohne auf den Einwurf der Freundin, der doch wieder eine Art Vorwurf war, einzugehen, »ich muß endlich erfahren … Kommt er morgen noch einmal her?«

Laroche schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich jetzt. Wir nehmen den ersten Wagen der Schnellbahn nach Roubaix. Dort gehn wir in Gruppen nach dem Café ›Lion d'or‹. Da ist der Führer.«

»Roux? Der Student?« fragte Geneviève eifrig … »Er ist wieder zu Rade?«

»Er will diesmal selber mit hinüber. Sich stellen.«

»Das Kind!«

»Er wird im Juli Achtzehn. Drüben – die Unsrigen – kommen auch schon alle an die Reihe.«

Geneviéve fuhr sich über die Augen.

»Roger –! Ja, du hast recht, sie kommen alle an die Reihe.« Nach kurzer Überlegung stand sie entschlossen auf. »Also – ein Vorschlag, Papa – du nimmst uns beide mit.«

»Euch beide? Ach nein. Es wäre um so auffälliger.«

»Aber ich bestehe darauf.« Sie lachte seltsam. »Vielleicht ist es Eifersucht aus Helene.«

»Eifersucht?« Laroche nahm die Hand seiner Tochter. »Helene ist mir gut. Gewiß. Wie einem bejahrten Literaturlehrer. Ist's nicht so? Aber sonst?«

Geneviève hielt der Freundin rasch den Mund zu. »Antworte nicht. Ich beschwöre dich.« Dann ergriff sie wieder die Hand ihres Vaters. »Ich will nicht von etwas fern sein, wo es vielleicht gefährlich ist. Wo Helene ist, will ich auch sein.«

»O – das ist deine Eifersucht. Meine liebe, tapfere Geneviève –!«

In der völligen Finsternis, in der nur noch ganz schwach der Schimmer der Gesichter leuchtete, standen sie am Sofa beisammen. An der Front hatte wieder das zum Abend übliche starke Artilleriefeuer eingesetzt. Ab und zu bebten die Fenster.

Lange standen sie so und lauschten.

»Jetzt ist Roger schon weit, weit –,« sagte Geneviève endlich. »Gewiß schon in Holzminden. Da kommen sie hin, heißt es. Ich habe es auf der Karte gesucht, aber es gibt ja so viele, so viele Städte in Deutschland. Das hab' ich bisher gar nicht gewußt.«

Wieder schwiegen sie.

»Nun müssen Sie ein Wort über George sagen,« meinte Laroche, seltsam bitter, vielleicht auch spöttisch, aber sicher gequält.

Helene schluckte. »Ich muß erst Mapplebak über ihn gehört haben.«

»So, so.« Laroche sann noch eine Weile dem nach. Dann tastete er sich zur Tür, um sie zu öffnen, damit der Lichtschein hereinfiel. »Kommt also mit, wenn ihr durchaus wollt, morgen früh. Aber jetzt, bitte, in aller Stille zu Bett – sonst hat Ma wieder eine schlechte Nacht.«

Sie verließen das Billardzimmer leise. Er drehte die Flurbeleuchtung ab. Nur noch flüsternd verständigten sie sich dann über den Aufbruch am andern Morgen, während sie zu den oberen Stockwerken emporstiegen.

Helene entledigte sich gleich ihrer Schuhe, damit man ihr Hin- und Hergehen nicht hörte. Sie kramte ihre Habseligkeiten zusammen. Es sollte ja doch die letzte Nacht sein, die sie hier verbrachte. Und mit klopfendem Herzen lag sie dann im Bett, verfolgt von den Bildern des Tages und voller Spannung auf das, was ihr nun endlich der Morgen bringen sollte.

 

Punkt sieben Uhr früh verließen sie das Haus.

Innerhalb des Dreistädtebezirks unterlag der Verkehr der Zivilisten noch keiner Beschränkung. Arbeiter und Arbeiterinnen, Schreiber, Geschäftsdamen, Marktleute benutzten die Schnellbahn von der frühesten Morgenstunde an, zu der sich die Bürgerschaft auf der Straße blicken lassen durfte. Erst an der Weichbildgrenze der Nachbarorte und an den Kreuzungen der Landstraßen außerhalb der Stadt hielt die Postenkette den Verkehr an: nur solche Zivilisten, die mit genau ausgefüllten, auf Namen, Wohnung, Ziel, Tag und Zweck der Wanderschaft lautenden Scheinen versehen waren, wurden hier durchgelassen. Eine grauhaarige Flämin, die Geneviève und Helene in der Straßenbahn gegenübersaß, erzählte ihr Mißgeschick: ihre Schwester, die eine Gärtnerei betrieb, wohnte dicht außerhalb der Sperre, und für jeden Marktgang mußte sie sich erst den Paß verschaffen, um die Landerzeugnisse zur Stadt bringen zu können. Und weil sie heute der Schwester beim Gemüsepflanzen helfen wollte, hatte sie gestern zwei Stunden auf dem Paßamt sich anstellen müssen, um den Erlaubnisschein zum Überschreiten der Postenkette zu bekommen. »Immer und überall wittern sie Spione! Schließlich muß noch jedes Radieschen, jedes Gänseblümchen, das man zum Verkauf nach Lille schaffen will, seinen regelrecht ausgestellten Passierschein haben!«

Ein paar Umsitzende lachten. Helene fühlte den leichten Druck von Genevièves Arm. Sie sagte sich: wie leichtgläubig, wie vertrauensselig mußten im Gegensatz zu der Meinung der Gärtnersfrau die Deutschen sein, wenn doch Unternehmungen der Art, wie sie Ebenezer Drachman nun schon Dutzende von Malen gewagt hatte, immer wieder glatt verlaufen waren.

Auf der vorderen Plattform stand der Unterleutnant neben Mapplebak. Der Engländer sah aus wie ein Schofför oder Mechaniker, der zu seinem Arbeitsanzug einen Zivilhut aufgesetzt hatte. Er fiel durch seine Größe auf, hatte aber ein gutmütiges Kindergesicht. Besondere Klugheit drückten auch seine Augen nicht aus. Er hatte die Fäuste in den Seitentaschen seiner Lederjacke vergraben und starrte stumpf vor sich nieder. Zuweilen auch schloß er die Augen. Er schien noch müde zu sein. Ihm gegenüber lehnte Drachman an der Wagenwand. Sein Gesicht konnte Helene nicht sehen. Aber sie bemerkte, daß er unausgesetzt sprach, dazwischen Zigaretten rauchte und spuckte. Laroche hatte im zweiten Wagen Platz genommen. Erst im Verlauf der Fahrt, die etwa eine halbe Stunde währte, wurde es hell. Wenn Helene sich vorbeugte, begegnete ihr Blick dem von Laroche. Unbedingt erkannte er sie, aber sein Ausdruck blieb steinern.

Auf verschiedenen Wegen erreichten sie von der Endhaltestelle der Bahn aus das Café. Laroche machte mit seinen Begleitern einen größeren Umweg und betrat das Grundstück schließlich von der Hofseite her.

Im oberen Stockwerk, in einem öden, weißgestrichenen Raum, in dem sich zwei Reihen kleiner Marmortische mit Rohrstühlen befanden, sonst nichts, saßen fünf Männer und ein Bursch von etwa siebzehn Jahren, der in einem Radfahreranzug steckte. Die Männer hatten kleine Bündel und Pakete neben sich. Sie tranken Kaffee und aßen Brioches, schöne duftende Backware von weißem Mehl, wie man's in Lille nur noch selten bekam. Eine flinke, blonde Flämin bediente. Sie war ganz sauber, ging aber auf Strümpfen.

Geneviève trat vor Helene ein. Sie kannte alle, die hier waren. Leicht verwundert blickten sie die Fremde an, aber Laroches Tochter begrüßte sie mit stummem Kopfnicken. Einen etwas sorgfältiger als seine Nachbarn gekleideten Gast, der am Fenster saß, erinnerte sich auch Helene früher schon gesehen zu haben. Sie nahmen an einem der Tische Platz. Die Flämin bediente sie. »Wenn ich nicht irre,« sagte Helene leise zu Geneviève, »war es in der Fabrik, wo er öfters hinkam.«

»Leicht möglich,« erwiderte Geneviève ebenso leise, »es ist Decouai, der Direktor der Weberei in Helemmes. Gewiß hatte er auch zu George geschäftliche Beziehungen. Und der links von ihm kam öfters zu Papa in den letzten Wochen, wenn er Leute hatte, die hinüber wollten. Er ist die rechte Hand von Papas Freund. Erinnerst du dich nicht? Herr von dem Bosche, der Spinnereibesitzer in Canteleu.«

»O ja – mit dem sich dein Vater immer im Café du Boulevard traf?«

Geneviève lächelte.

»Er ist sehr stolz auf seine Spezialität. Siehst du die Stöcke, die sie da bei sich haben? Die sind alle hohl. Und darin sind die Nachrichten, die er verschafft hat. Mapplebak ist glücklich. Er nimmt einen Plan mit allen Fliegerstationen in und um Lille mit.«

Der zitternden Hand Helenens entfiel das Löffelchen. Erschrocken fuhren sie alle auf. Die Unterhaltung ward überall nur im Flüsterton geführt. Etwas Nervosität war allen anzumerken. Der Fabrikdirektor aus Helemmes hatte sich zu dem Spinnereibesitzer aus Canteleu übergebeugt. Sie sprachen jetzt über die Begleiterin von Geneviéve. Es fiel dann auch der Name George Martin – und in Verbindung damit der von Mapplebak.

In ihrem geräuschlosen Katzengleiten kam die kleine Flämin die Treppe herauf und machte sich an Geneviéves Platz zu schaffen. Sie werde unten gewünscht, sagte sie dabei leise.

In dem unteren Raume hatte Laroche mit Mapplebak und dem Unterleutnant gesessen. Sie brachen soeben auf.

»Eine Morgenpromenade?« fragte die Wirtin und lächelte harmlos.

Laroche warf Geneviève einen stumm-fragenden Blick zu. Wie Helene annahm, betraf er Roux, den Radfahrer, der als Führer dienen sollte. Ob er oben war?

In zwei Reihen gingen sie die Straße hinauf. Die Herren hatten die Hände in den Taschen, die Zigarette im Mund.

»Roux ist der blödeste Hammel, den ich je gesehen habe,« sagte der Unterleutnant nach ein paar Minuten stillen Wanderns, ohne aber die Zigarette aus den Lippen zu nehmen. »Er hat für Mapp einen Passierschein: Barbier, dreiundzwanzig Jahre alt, schwächlich. Wenn der Landsturmposten den Ausweis überhaupt liest, dann ist der ganze Plan von vornherein gescheitert.«

Laroche suchte krampfhaft über jedes Angstgefühl hinwegzutäuschen.

»Wenn der Posten daran zweifelt, daß Mapp Barbier ist, dann muß Mapp ihn rasieren, um eine Probe seiner Kunst abzugeben.«

Der Unterleutnant lachte.

»Dann wäre beiden geholfen. Der schneidet ihm gleich die Gurgel durch.« Er wandte sich nach Helene um und sagte: »Übersetzen Sie's ihm, Frau Martin. Vielleicht macht es ihm Spaß.«

Helene hatte den Schritt absichtlich etwas verhalten. Mapplebak war darüber unterrichtet, wer Genevièves Begleiterin war. Er hatte Laroche bereits auseinandergesetzt, daß es ihm durchaus kein Vergnügen sei, mit Martins Frau zu sprechen. Martin war an seinem ganzen Unheil schuld.

»Was soll ich der Lady darüber sagen? Entweder war er ein Pfuscher – oder ein Schuft.«

»So sagen Sie ihr's doch!« hatte Laroche kalt geäußert.

Und nun war der Augenblick gekommen.

Von der breiten Bahnhofstraße waren sie in eine schmalere Seitengasse abgebogen, die zum Ostausgang führte. Dort lagen Gärtnereien, verlassene Fabriken, kleine landwirtschaftliche Betriebe. Durch die Postensperre an der Kreuzung kamen dort meist Ortsansässige: Handwerker, die kleine Reparaturen auszuführen hatten, Händler, Schulkinder. Bei manchen handelte sich's nur um den Weg bis zum nächsten oder übernächsten Haus, in dem sie wohnten oder beschäftigt waren. Drachman paßte für seine Unternehmungen Tage ab, an denen ein neues Bataillon den Wachtdienst übernahm. So scharf die Bestimmungen lauteten, übten die gutmütigen Landsturmleute dem harmlosen Kleinverkehr der Kinder und Nachbarsleute gegenüber doch eine mildere Auffassung aus. Darauf rechnete auch der heutige Plan.

In Helene rang und stritt es wieder. Sie war in diese Bahn geglitten, ohne sich Rechenschaft zu geben. Aber jetzt empfand sie so quälende Gewissensbisse, daß selbst der Zweck, den sie im Auge gehabt hatte, an Berechtigung verlor. So feig und so schmutzig und hinterlistig kam ihr der ganze Handel vor.

Geneviève hatte sich von ihr losgelöst und war, den Schritt etwas beschleunigend, neben ihren Vater getreten, an dessen Seite sie weiterging.

Für ein paar Augenblicke blieb Helene stehen und sah Mapplebak kalt forschend an.

»Weshalb sagten Sie,« begann sie auf englisch, »Sie hätten kein Vertrauen zu Martin gehabt? Sie sind doch schon vorher mehrmals mit ihm aufgestiegen? Er ist Fachmann. Er versteht seine Maschine. Warum sollte seine Kunst und seine Kenntnis plötzlich versagt haben?«

Er paffte weiter.

»Für einen Dummkopf habe ich ihn auch nicht gehalten. Sonst wär' ich für eine solche Fahrt gewiß nicht mit ihm aufgestiegen. Er hat sich dazu gedrängt. Gewiß. Weil es hieß, er kennt hier Weg und Steg, war ich einverstanden.«

»Und Sie geben ihm tatsächlich eine Schuld daran, daß Sie hinter der deutschen Linie gelandet sind?«

»Tatsächlich. Und es ist sein Glück, daß er jetzt in deutscher Gefangenschaft ist. Er soll nur nicht das Pech haben, noch einmal in unsere Hände zu fallen. Denn dann ginge es ihm schlecht. Dafür würde ich sorgen.«

»Wie meinen Sie das?«

»O, sehr klar: man würde ihn vor ein Kriegsgericht stellen.«

Schweigend schritten sie weiter.

Geneviève warf zuweilen einen Blick zurück. Sie bemerkte, daß das Gespräch zwischen ihnen verstummt war.

Dicht vor einer Ecke, wo sich ein Kramladen befand, in dem Eisenwaren neben Filzpantoffeln, Stiefelwichse und Wäscheklammern feilgeboten wurden, blieb die vordere Reihe stehen und vertiefte sich anscheinend in die Herrlichkeiten.

Als Mapplebak ankam, löste sich Ebenezer Drachman aus der Gruppe los und schlenderte neben dem Engländer weiter.

Hundert Meter von hier stand der Posten.

Sie sahen noch, wie der Landsturmmann die Scheine prüfte und das Paar unbehelligt vorbeiließ.

»Wann können sie in Gent sein?« fragte Geneviéve ihren Vater.

Der warf in die Spiegelung des Ladenfensters hinein einen stumm abweisenden Blick.

Helene musterte die beiden Gesichter, wie sie das Spiegelbild wiedergab. Ein häßlicher, fremder Zug lag darin.

Aber indem sie ihr eigenes Bild sah, erschrak sie noch mehr: wie eine Verbrecherin kam sie sich vor.

Während sie sich von dem Laden abwandte, glitt Roux an ihnen vorbei, der Student. Er hatte an seinem Rade einen Sack mit Backware befestigt. Davon verkaufte er einiges in den Läden vor der Sperre – jede neue Wachtmannschaft war bisher seine Kundin gewesen – und selbstverständlich setzte er das harmlose Geschäft in den Nachbarhäusern jenseits der Grenze fort.

Als einzelner Wanderer kam Antoine Bergerat nach einer geraumen Weile an. Er hatte seinen Werkzeugsack mit, steckte in seiner blauen Montur, trug keine Kopfbedeckung: er galt für einen hier in der Straße beschäftigten Arbeiter. Ohne Augenzwinkern ging er an den Bekannten vorüber.

»Ich bin wie erlöst,« sagte Geneviève nach einer Weile, »daß ihn endlich der Ehrgeiz gepackt hat. Er war der einzige, dem ich nicht getraut habe. Nicht, Helene, war er dir nicht auch unheimlich?«

Helene antwortete nicht. Soeben bog die Schlußgruppe um die Ecke. Vier Mann. Alle ausgerüstet für einen Tagesmarsch, mit kleinen Bündeln und Stöcken. Einer, der ein Glasauge hatte, ging voran.

»Das ist Sylvère Verhulst,« flüsterte Geneviève der Freundin zu. »Der Belgier, weißt du. Ein garstiger Bursch. Aber er hat schon dreizehnmal den Weg gemacht und im ganzen sechsunddreißig junge Leute über die Grenze geführt.«

Der Mann hatte den Anzug eines Eisenbahnarbeiters. Sie hatten wohl die Passierscheine von Arbeitern, die irgendwo in der Nähe in einem Werk arbeiten wollten. Arbeitslustigen legte man selten Hindernisse in den Weg.

Als die vier vorüberkamen, grinste der Einäugige.

»Das Geschäft blüht heute!« raunte er Laroche zu.

Geneviève wartete, bis sie außer Hörweite waren. Mit leichter Verachtung sagte sie dann: »Verhulst ist es auch wirklich nur ein Geschäft.« Sie wandte sich an Helene: »Dabei ist er ein ehemaliger Notariatskandidat. Aber er ist schon längst heruntergekommen. Natürlich arbeitet er nur gegen Bezahlung.«

Nach einer Weile sagte Laroche verstimmt: »Andere auch – Leute, von denen ich's nicht geglaubt hätte.« Und sich Geneviève zuwendend, formte er mit den Lippen, lautlos, den Namen Drachmans.

Geneviève stockte. »Ist es möglich?«

»Kommt weiter!« Er begann erst wieder, als sie an der kleinen Gruppe Soldaten vorbei waren, die zur Ablösung zu ziehen schienen. »Ich sah's im Café. Leider. Es hat mir wehgetan. Mapp hat ihm fünfhundert Francs ausbezahlt.«

»Die Drachman unter die Führer verteilen soll?«

»Weiß ich, ob er's tun wird? In Gelddingen kennt er wenig Skrupel.«

Geneviève blickte ganz verstört vor sich nieder. »Das tut mir sehr – sehr leid.«

Da der nächste Zug der Elektrischen Straßenbahn erst in zwanzig Minuten abfuhr, machten sie einen kleinen Umweg. Die Stadt hatte noch ein recht verschlafenes Aussehn. Auch hier rechnete die Bevölkerung innerlich noch immer mit der alten französischen Zeit. Vor neun Uhr deutscher Zeit tat sich kaum ein Laden auf.

»Werden sie den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen?« fragte Geneviève nach einigem Schweigen ihren Vater.

»Bis Gent sicher. Von Gent nach Antwerpen wollen sie bei Nacht. Verhulst hat dort in der Taverne Cecil alles abgemacht. In einem kleinen Vorort wartet ein zweirädriger Wagen. In Olsene-Dorp. Verhulst kutschiert selbst. Er kennt die Strecke. Man muß eine Minute abpassen, sagt er, wo der Landsturmposten gerade unter dem Bahnübergang nach der anderen Seite patrouilliert. Auf dem weichen Sand hört man den Wagen gar nicht. Und dicht über der Grenze fangen ja schon wieder die Häuser an. Es sei ganz ungefährlich.«

»Aber der kleine Rechnungsführer – der Mann der Wäscherin – war kreideweiß vor Aufregung.«

»Er wäre wohl auch lieber hier geblieben.« Laroche seufzte. »Sie haben nicht alle Nerven wie Mapp. Den hat das ganze Abenteuer nicht weiter erschüttert.«

Wieder eine Weile Schweigen. Endlich fragte Helene: »Hältst du ihn für aufrichtig, Geneviève?«

Geneviève sah erst sie, dann den Vater an. »Aufrichtig? Und warum nicht?«

»Du weißt, ich habe sein Tagebuch gelesen. Er will sich darin in besonderes Licht setzen. Auch wie er über den Aufstieg und die Landung sprach. Sie haben ihn ja auch darüber gehört, Laroche.«

Der erwiderte ernst: »Er gibt alle Schuld Ihrem Manne.«

Helene holte tief Atem. »Und – wie urteilen Sie jetzt selbst?«

»Eine schwere Antwort, Helene.« Er zögerte – sie drängte in ihn. Müde und trüb gestimmt sagte er endlich: »Ich habe zum erstenmal ernstlich an George gezweifelt.«

Sie gelangten zu dem großen, breiten Boulevard, der sich bis nach Lille hinzog. Bald sauste die Schnellbahn heran. Sie stiegen in den überfüllten Wagen ein. Zu einem Gespräch zwischen ihnen kam es nicht mehr. Auch als die Bahn neben dem Rohbau des neuen Theaters an der zerschossenen Rue Faidherbe hielt, nickten sie einander nur noch einen stummen Abschiedsgruß zu.

Helene war aus den häßlichen, erregenden, sie zugleich erschreckenden und demütigenden Erlebnissen dieses Morgens wenigstens die eine klare Erkenntnis geworden: George hatte mit seiner Landung auf deutschem Boden die Rettung aus seiner Zwangslage gesucht. Wenn ihn das Wagnis das Leben kostete, so hatte er es doch dem alten Vaterland zum Opfer gebracht.

Dieses Bewußtsein hob sie und trug sie wieder hinaus über die quälerischen Selbstvorwürfe, die aus der Erinnerung an all die betrügerischen Täuschungen ihrer bisherigen Umgebung emporsteigen wollten.

Noch einmal mußte sie nun lügen: um ihre Verspätung auf dem Amt zu entschuldigen. Aber das sollte auch der letzte Trug sein. Es durfte von nun an keine Verbindung mehr zwischen ihr und dem Hause Laroche bestehn.

Auf dem Weg zur Kommandantur kam sie an dem Gebäude der Kriegszeitung vorbei. Ein paar Franzosen, von Militärpolizisten begleitet, verließen soeben das Tor. Sie trugen Taschen mit großen Papierbündeln, Kleistertopf und Pinsel. Gleich am Durchgang zur Markthalle, die unter der Hauptwache lag, hielt einer der Soldaten inne und wies auf die nächste Säule. Der Zivilist begann alsbald ein großes Plakat anzuschlagen.

Sofort sammelte sich eine Schar um ihn an. Man vermutete eine noch strengere Beschränkung der Verkehrsfreiheit. Noch bevor das Plakat festklebte, noch während der Mann pinselte, klopfte, strich und wischte, reckte alles die Hälse und las.

Auch Helene war stehengeblieben. Eine neue Verfügung des Gouverneurs war es, die der Einwohnerschaft in verschärftem Maße die Folgen vor Augen führte, die eine Beteiligung an der Bergung des entflohenen englischen Fliegers nach sich zog. Die Todesstrafe wurde dem angedroht, der ihm Aufnahme gewährte, schwere Strafe auch dem, der um sein Versteck wußte und es nicht ungesäumt bei der deutschen Behörde zur Anzeige brachte.

Helene fühlte, wie ihr die Knie plötzlich den Dienst versagten. Sie merkte im Weitergehen, daß sie zitterte. Wenn irgendwer sie nun angesprochen hätte, so wäre sie in lautes Weinen ausgebrochen.

Immer drohender, immer furchtbarer stand vor ihr die Mitschuld an einem Verbrechen auf, das sich gegen die Sicherheit der deutschen Truppen richtete, ein Verbrechen, das mit dem Tode gebüßt werden sollte.

Sie wußte kaum, wie sie den Weg zum Amt zurückgelegt hatte, wußte kaum, mit welchen Worten sie ihr spätes Kommen erklärte … Und hernach, als sie an ihrem Schreibtisch saß und mit den Übersetzungsarbeiten mechanisch begann, da war es ihr, als beobachtete sie sich selbst wie eine Fremde, wie eine feindliche Macht. Und es begann ihr zu grauen vor dieser feindlichen Macht, die sie gezwungen hatte, zur Verbrecherin zu werden.

 

Die elegante Frau Ada war unmöglich. Der Professor hatte das rasch erkannt und machte dem Leiter des freiwilligen Sanitätsdienstes kein Hehl daraus. Zum Glück waren die Verpflegungsschwestern tüchtige Kräfte. Sie faßten selbst mit Hand an, wo es nottat. Und bei der Überfüllung der Säle mit Verwundeten, die auf den Abtransport hier warteten, gab es eine Menge von Arbeit.

Der Lichtstrahl war Schwester Ella. Immer frisch und guter Laune, mädchenhaft, natürlich, wußte sie auf den einfachsten Soldaten einzuwirken. Daß sie eine »G'studierte« sei, wie der oder jener herausgehört hatte, wollten die wenigsten glauben. Ein »Fräulein Doktor« stellten sie sich altjüngferlich, reizlos und naseweis vor. Aber wer so hausfraulich mit Essenausteilen, Bettmachen, Verbandanlegen, Kaffeeeingießen Bescheid wußte, so drollig kameradschaftlich zusprechen konnte wie sie –!

Auch Helene gewann im Zusammensein mit ihr neuen Lebensmut.

Dabei waren die nächsten Tage noch erfüllt mit allerlei kleinen »Palastrevolutionen«, die durch das unverständige Vorgehen ihrer Schwiegermama angezettelt wurden. Die Verpflegungsschwestern, Mädchen aus guten Bürgerhäusern, die vom Ernst und von der Verantwortung ihrer zum Teil ungewohnten körperlich schweren Arbeit und von der großen vaterländischen Begeisterung erfüllt waren, erkannten in der verwöhnten reichen Frau, die sie hier anleiten wollte, rasch die ungeschulte Dilettantin der Wohltätigkeit.

Frau Ada Martin mochte in Friedenszeiten auf Basaren eine brauchbare Kraft gewesen sein – hier versagte sie ganz und gar.

Und stillschweigend teilten sie sich die Arbeit ein, ohne sich viel um sie zu kümmern, und ganz von selbst ging die eigentliche Führung auf Fräulein Doktor Consentius über. »Schwester Ella« ließ sie sich nennen; ihren Titel wollte sie nicht hören.

In dem Wartesaal, der für leichtverwundete Offiziere bestimmt war, nahmen die Hilfskräfte ihre gemeinsamen Mahlzeiten ein, in zwei Ablösungen, weil eine Arbeitspause hier ja niemals eintrat.

Es war nun den Schwestern peinlich, fast unerträglich, dabei die gefühlvolle Betulichkeit miterleben zu müssen, die Frau Ada den still dasitzenden Offizieren aufdrängte. Die meisten, die aus schweren Gefechten kamen, oft auch noch unter Schmerzen litten, wollten lieber ganz in Ruhe gelassen – keinesfalls wollten sie so wortreich bedauert sein.

Schwester Ella sollte es der neuen Schlafgenossin also im Namen der anderen Schwestern nahelegen: damit sie auf ihre Schwiegermama in dem Sinne einwirkte.

Helene kam abends, als Frau Ada schon ihr Schlafzimmer im Obergeschoß des Bahnhofs aufgesucht hatte, an ihre Tür und bat um Einlaß.

»Ach, du bist's, ma chère. Entrez. Gell, du siehst dich nit weiter um. Arg durchenander ist es hier. Aber man wird halt ganz zum Feldsoldaten. C'est la guerre.«

Aus ihrer ernsten Stimmung heraus konnte Helene nur schwer die rechte Tonart finden, um auf Georges Stiefmutter Eindruck zu machen. Frau Ada witterte sofort Auflehnung und Verschwörung und wollte die Namen der Schwestern wissen, die sich über ihre Leiterin aufhielten; unnachsichtig sollten sie mit der ersten Gelegenheit nach der Heimat zurückgeschickt werden.

»Also ich bin wie eine Mutter für die undankbaren Geschöpf', wie eine Mutter, und plag' mich ab, von früh bis spät, nur damit alles en bonne contenance bleibt, und jetzt muß ich so 'was hören …« Sie ließ sich auf ihr bereits geöffnetes Bett sinken. Ihr Ton ward weinerlich, jedoch Tränen zeigten ihre Augen nicht. »Und du machst dich auch noch zum Sprachrohr. Aber ich weiß ja, woher der Wind bläst. Die Fräulein Ella will hier das Zepter in die Hand kriegen, und der ihr Bruder ist halt der Intimus vom Herrn Hauptmann West … da braucht man ja nicht weit zu suchen.«

Helene lehnte an der Tür. Sie preßte die Schläfen mit den kaltgewordenen Händen.

»Ich bitte dich, Mama, was rührst du da auf? Solcher Umwege bedurfte es doch gar nicht. Ich habe doch selbst Augen, zu sehen.«

»Und ich hab' die meinen, ma chère. Und mit dene seh' ich allerhand, was mir nit gefällt. Und ich muß dich schon bitten, dich lieber nur mit deinen eigenen Angelegenheiten zu befassen. Es ist schlimm genug, daß du in der Zeit, wo du doch in Sorgen um den armen George hättest sein müssen, überhaupt noch Sinn für einen andern Mann gehabt hast. Wie gesagt: ich bin nicht blind. Und auch nicht taub. Und nach meiner Auffassung hättest du's gar nit so weit kommen lassen dürfen, daß der junge Hauptmann da sich überall als dein Beschützer aufspielt.«

»Du weichst ab vom Thema, Mama. Aber ich will dir Antwort geben. Ja: Hans West hat als ehrlicher Freund an mir gehandelt. Und ohne ihn – wäre ich untergegangen. George hatte mich verlassen; ihm war es das wichtigste, sich selbst in Sicherheit zu bringen.«

»Jetzt – pietätlos ist das von dir, Helene, so über ihn zu reden, wo er auf den Tod daliegt. Ich glaub' ja, daß es dir schlecht gegangen ist. Aber in so einer schweren Zeit, wie sie unser Vaterland durchlebt, da heißt es eben für alle: Opfer bringen.«

Helene atmete tief auf. Sie dachte an die schwere Schuld dieser Tage. »Welche Opfer ich gebracht habe, Mama, kann ich dir nicht sagen. Du würdest mich darin auch gar nicht verstehen.«

»Vielleicht – daß du nit gleich wieder einen andern erhört hast? Meinst du etwa das? Das wär' ja noch schöner. Wieviel Anfechtungen hab' ich durchzumachen gehabt. Wenn man in seinen besten Jahren ist wie ich. Aber ich war immer stolz und unnahbar. Das heißt Opfer bringen … Und jetzt wollen die abscheulichen Dinger da unten mir nachsagen, daß ich hinter den jungen Offizieren her bin.«

Nun schossen ihr plötzlich die Tränen wie ein Sturzbach hervor.

»Und du machst dich zur Dolmetscherin, um mir damit eins auszuwischen.«

»Nein, Mama, hier kann ich als Dolmetscherin nicht dienen, wir sprechen zu verschiedene Sprachen und werden einander wohl nie verstehen.«

Frau Ada hatte sich zur Seite gebeugt. Große Tropfen fielen aus ihren Augen auf das reichbesetzte Spitzennachthemd, das auf dem Kissen lag. »Geh' nur, geh' nur, laß mich jetzt bloß allein! Ach, meine Nerven und mein Herz! Das geht aber wirklich über meine Kräfte! Wenn man sich so alterieren muß –!«

Es war kein Ausgleich zu erzielen.

Am andern Tage kam Frau Ada erst sehr spät herunter, mit einer erschöpften Leidensmiene, die zum Mitleid herausforderte. Sie frühstückte indes sehr ausreichend, und es schmeckte ihr trotzdem. Dann aber begab sie sich in den Keller, wo sich die beiden Küchen und die Wirtschaftsräume befanden, und machte den Verpflegungsschwestern und dem Hilfspersonal in wortreichem Ungestüm die bittersten Vorhaltungen. Der Professor, der den Lärm oben auf seinem Rundgang hörte, kam hinzu, suchte zu beschwichtigen, doch es blieb vergebens. Am Nachmittag stellte der immer ruhige, immer liebenswürdige, aber immer überlegene Leiter des freiwilligen Sanitätswesens, dem inzwischen Meldung erstattet war, der aufgeregten Frau Martin anheim, zunächst einen Urlaub zu nehmen, um ihre »durch die Überarbeitung sichtlich angegriffene Gesundheit« erst wiederherzustellen. Jedes Wort, das er sprach, löste Tränen bei Frau Ada aus. Endlich stieß sie auf einen Mann, der ihre geradezu übermenschlichen Anstrengungen zu würdigen wußte. Ja, sie brauchte Erholung. Noch mit dem Abendzug wollte sie nach Brüssel.

Es war eine tüchtige Hetze, aber alles bemühte sich, ihr die erforderlichen Ausweise rechtzeitig zu verschaffen, ihr beim Packen zu helfen.

Die Schwestern atmeten erleichtert auf, als Frau Ada im Zuge saß. Alle, die augenblicklich vom Dienst abkommen konnten, versammelten sich an ihrem Wagen, um ihr Lebewohl zu sagen. Frau Ada hatte schon wieder jeden Groll vergessen. Sie umarmte die jungen Mädchen und drückte ihnen der Reihe nach die französischen Knallküsse links und rechts auf die Wangen. Am herzlichsten verabschiedete sie sich von dem Fräulein Doktor. »Jetzt – wenn ich Sie nicht gehabt hätt' – ich hätt's ja gar nit gewagt, mich auch nur einen Tag wegzurühren. Aber bei Ihnen weiß ich doch alles in so guter Hut. Und grüßen Sie mir meine Helene.« Sie schnüffelte ein paarmal und drückte ihr Spitzentaschentuch gegen die trockenen, zusammengekniffenen Augen. »Jetzt – in all der vielen gräßlichen Arbeit bin ich nit einmal ins Lazarett gekommen, um meinem armen beaufils Guten Tag zu sagen. Es ist aber alles über mich so hereingebrochen. Mehr als die Schultern tragen können, vermag man eben nit auf sich zu nehmen. Und doch war es schön, daß ich auch einmal so richtig an der Front war, im Kanonendonner … Ach, was wissen denn die da drin in der Heimat, was Krieg ist …«

Der Zug fuhr ab. Ein weißes Spitzentaschentüchlein winkte noch lange.

So gehörte nun der drollige Besuch von Georges Stiefmutter der Geschichte an.

Wenn die Schwestern hernach noch einmal von Frau Ada sprachen, so geschah es immer mit einem verzeihenden Lächeln. Und bald hatten sie ihrer ganz vergessen.

Aber in Helenens Innern war ein Stachel zurückgeblieben. Sie fragte sich, wie es nur möglich war, daß irgendwer die innigen, lauteren Beziehungen, die sie mit Hans West verbanden, nach Gassenart einschätzen wollte. Für sie war er das nationale Gewissen.

Als er sie das erstemal in ihrem neuen Kreis aufgesucht hatte, lähmte sie noch das mit Beschämung gemischte Gefühl der Furcht, und sie nahm den ersten Vorwand wahr, um aus seiner Nähe zu kommen. Er hatte Ellas Bruder mitgebracht. Es war nach dem Essen; der Dienst ließ ihnen allen nur geringe Zeit. Ein neuer Transport Verwundeter war eingetroffen, und in allen Sälen gab es Arbeit.

Der Professor hatte sich zur Mahlzeit überhaupt nicht einfinden können. Helene brachte ihm also einen Mannschaftsnapf Suppe in den Raum der Schwerverwundeten. Hier wurden die blassen Kämpfer auf ihre Transportfähigkeit untersucht. Manch erschütterndes Bild begleitete Helene aus diesen stillen Sälen in ihre Arbeit und die unruhvollen Nächte.

Auch die verschiedenen Besuche im Kriegslazarett bei George hatten sie an diese düsterste Seite des Krieges noch nicht gewöhnen können. Sie versuchte immer wieder, es der Schwester Ella gleichzutun, deren linde Fröhlichkeit auf ihre ganze Umgebung so erquickend wirkte. Allein sie hatte nicht deren ruhiges Gewissen. Noch immer lag George im Fieber, regungslos, ein armseliges Bündel Elend. Aber Schneider hatte stets einen so dankbar-ergebenen Augenaufschlag, wenn sie kam und ihm ein paar Blumen brachte, etwas Schokolade, später eine Bilderzeitschrift, ein paar Ansichtskarten.

Das unheimliche Dröhnen der Außenbatterien, das wieder nächtelang die Fensterscheiben klirren ließ, war der Vorbote neuen schweren Kämpfens vor den Toren der Stadt. Auch in die nächsten westlichen Vorstädte sauste manchmal der Eisenhagel. Friedliche französische Kleinbürger, Frauen, Kinder und Greise wurden getötet, mehr oder minder schwer verletzt. In der Umgegend der Forts mußte die einheimische Bevölkerung die dem englischen Feuer ausgesetzten Stadtviertel räumen. Traurige Züge von Auswanderern, die von ihren eigenen Bundesgenossen um ihre Heimat gebracht waren, kamen da nun öfters durch Lille. Aber die Liller wußten auch dafür rasch eine rosige Färbung. »O, sie scheinen jetzt doch schon zurückzuweichen, die Boches!« So oft, so oft hörte Helene solche Äußerungen.

Da sie jetzt nur noch im deutschen Kreise verkehrte, schärfte sich ihr Ohr für derlei Stimmungsausbrüche. Mit selbstverständlicher Sicherheit nahmen die Verwundeten, die sie auf dem Durchgang zur Heimfahrt sah, die kurzen, wie in Stein gehauenen Siegesbotschaften hin, die aus dem Osten kamen.

»Wir werden es schaffen!« sagten sie. Es lag eine tiefergreifende, tieferschütternde Gewißheit darin. Nichts von der hämischen, phrasenreichen Aufgeregtheit, die bezeichnend für französische Art war.

Hans West kam auf seinen Fahrten vom Stellungsausbau selten am Bahnhof vorüber, ohne halten zu lassen, auszusteigen und sie zu begrüßen oder – wenn sie im Dienst auf der Kommandantur war – Schwester Ella einen Gruß für sie auerichten zu lassen.

»Wissen Sie, Frau Helene, daß Ihr Gesichtsausdruck jetzt schon ganz, ganz anders wird?« sagte er einmal zu ihr.

»Man altert wohl schon ein bißchen, lieber Freund,« erwiderte sie mit einem melancholischen Lächeln.

»Ach du mein –! Nein, Frau Helene, das ist es nicht. Ich meine: Ihre Augen werden wieder deutsch.«

»Gibt es deutsche Augen?«

»Ja, deutsche Frauenaugen. Natürlich: nicht alle haben sie. Aber sieht man sie, dann erhebt und stärkt es einen. Es ist – als ob man durch Kirchenfenster blickte.«

Nun ließ sie fast beschämt die schweren Wimpern sinken. »Ach, lieber Freund, ich wollte, es wäre so kirchenstill in mir, wie Sie vielleicht vermuten. Mich quält so viel, wovon ich Ihnen – leider, leider Gottes – nichts sagen kann und darf.«

Er nahm an, daß das Schicksal ihres Mannes so schwer auf ihr lastete, und schwieg darauf.

Aber bei einer andern Gelegenheit drang er dann doch in sie, ihm mehr Vertrauen zu schenken, sich zu erinnern, daß so liebe alte Jugenderinnerungen sie verbanden … »Jetzt sehen Sie nur all das Unglück, die Trauer, die zerbrochenen Schicksale. Das soll Ihre Erholung sein, wenn Sie von Ihrem Dienst kommen? So hatt' ich mir's nicht vorgestellt. Darum hab' ich Sie hier nicht untergebracht. Ein Hoffnungslichtlein wollt' ich in Ihrer Seele wieder anstecken.« Er lächelte verzagt. »Ja, sehen Sie, mit Eisen und Beton und Holzschwellen lernen wir umgehen, wir Pioniere – aber mit Frauenherzen leider nicht.«

Sie reichte ihm die Hand und nickte ihm zu, immer wieder gepackt von der ehrlichen, herzlichen Soldatenart. »Sie brauchen es nicht erst zu lernen, West. Sie können es. Und ich weiß Ihnen Dank dafür. Der ist still, der äußert sich nicht. Aber ich glaube, Sie fühlen ihn. Sie müssen doch selbst sehen, wie ich allmählich wieder zum Leben erwache.«

»Ich werde mir dafür nächstens Beweise erbitten. Übrigens hab' ich dafür schon eine umfassende Verschwörung zustandegebracht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ach, lieber Freund, an Verschwörungen von Ihrer Seite glaube ich nicht. In Ihren Augen liegt Ihr Herz. Sehen Sie, das ist das, was ich – deutsche Soldatenaugen nenne.«

»Zwei Dinge fehlen Ihnen, Frau Helene. Das hab' ich in einem geheimen Anschlag auf Sie mit Fritz und Ella und dem Professor festgestellt. Erstens brauchen Sie einen blühenden Fliederstrauch mit etwas Wiesengrün – und zweitens ein paar Abendstunden Mozart, Haydn, Beethoven und Brahms. Und beides will ich Ihnen meuchlings verschaffen.«

»Ach – lieber, lieber Freund!«

Er sah wohl, es war feucht in ihren braunen Augen aufgestiegen. Ganz langsam löste sich ein Tropfen von den langen Wimpern und rann über die Wange. »Wir wollen draußen in unserem Schattohschlößchen ein königliches Fest geben, Fritz und ich. Meine alte Kompagnie ist aus dem vorderen Bogen zurückgezogen. Sie liegt bis übermorgen in Saint André. Wohin sie verschlagen werden soll, das wissen die Götter. Und Fritzens alter Kommandeur hat auch schon zugesagt: morgen abend wird unheimlich geschlemmt bei uns da draußen. Pro Gast ein Wiener Schnitzel und zwei Sonatensätze. Ella kommt auch. Natürlich nur, wenn sie nicht eigens heimlich Befehl gibt, daß heut nacht irgendwo im Wytschaetebogen ein Angriff ist, der das Transportgewimmel dann morgen wieder auf dem Bahnhof unheimlich verstärkt.«

»Ich bin kein froher Gast, lieber West.«

»Wir wollen Sie schon froh machen. Überraschungen gibt's! Soll ich verraten? Einer meiner Leute ist Karlsruher, der kommt morgen früh vom Urlaub zurück und bringt Faschtebrezle mit. Was – reizt das noch immer nicht? Echte Faschtebrezle.«

»Und Sie werden Cello spielen!«

»Wenn's das Publikum nicht geniert. Der Professor ist ja unausstehlich: der hat schon alles, was ich übe, von Hekking gehört oder von Popper. Da schwitzt unsereiner natürlich gleich an den Fingern und gikst.«

»Ach – wie gern kam' ich – und Sie dürften sogar falsch spielen – dann dächt' ich mir, Onkel Karl Maria brummte dazwischen: fis, fis, nicht eff!«

»Ich gelobe Ihnen schon jetzt, eff zu spielen, nur damit Sie sich Onkel Karl Maria in seiner Verzweiflung über mich Unglückswurm vorstellen können.«

Nun lachten sie beide. Helene empfand es schon wie eine Wohltat.

»Und Sie müssen noch bei Tageslicht kommen, Frau Helene, damit wir Ihnen unser Gärtchen zeigen können. Sie mögen es jetzt vielleicht für blutige Aufschneiderei halten, aber morgen sollen Sie sich davon überzeugen: wir haben selbstgezogene Radieschen. Und Brunnenkresse. Ja – und Fritz Consentius fabelt noch märchenhafte Dinge von einigen Veilchen. Die sollten eigentlich Geheimnis bleiben, aber es war stärker als ich, ich mußte es Ihnen preisgeben.«

Mit Tränen in den Augen gab sie ihm beide Hände. »So dankbar bin ich Ihnen – so dankbar. Ach, West, Sie wissen ja gar nicht, wie heilend es auf mich wirkt, so lieben Unsinn zu hören. Und sagen Sie Ellas Bruder getrost: die Veilchen lockten mich am allermeisten. Er soll Ihnen nur ja nicht böse sein, daß Sie mir sie verraten haben. Die Vorfreude ist ja so groß.«

»Diese grauenhaft tote Stadt, in die Sie gebannt sind. Nirgends ein bissel Grün. Nirgends Vogelgezwitscher. Und auch die Menschen ohne klingende Herzen. Ist's nicht so?«

»Ja, West. Es ist eine Stadt in Ketten.«

Ein Weilchen sannen sie vor sich hin. Dann fragte er: »Sie kommen also?«

Stumm nickte sie.

 

Es hielt schwer, loszukommen. Der Professor sagte wegen Arbeitsüberhäufung schon mittags ab, und als um drei Uhr gegen neunzig Mann eines Transports Leichtverwundeter in den Autos in den Bahnhof eingebracht wurden, die vor der Abfahrt gespeist werden sollten, gab auch Schwester Ella dem von ihrem Bruder geschickten Burschen ablehnenden Bescheid. Sie konnte nicht wissen, wann der Zug abfahrtbereit sein wurde. Solang' er aber die Bahnhofshalle nicht verlassen hatte, fühlte sie sich gebunden.

Helene hatte sich von dem Adjutanten, der den beurlaubten Hauptmann vertrat, schon die Erlaubnis erwirkt, den Dienst heute zwei Stunden früher beendigen zu dürfen. Da traf sie nun die Nachricht, daß aus dem kleinen Ausflug nichts werden sollte, recht schmerzlich, als sie zum Bahnhof gelangte.

Sie stieg die steilen, hohen Treppen zu dem Schlafzimmer der Schwester empor, legte ab und setzte sich trübgestimmt ans Fenster. Es war ein drolliges Quartier. Der Fußboden stieß an die Stelle, wo die oberen Bogen der mächtigen Halbrundfenster begannen. Das von unten einfallende Licht machte den Raum bei Tage fremd und ungemütlich. Erst wenn die als Vorhänge dienenden Woilachs vorgezogen und die Birnen angedreht waren, fühlte man sich zu Hause. Das Zimmer war zum größten Teil durch die beiden Mannschaftsbetten ausgefüllt. Doch viel Gepäck besaß Helene ja nicht. And mit Schwester Ella ließ sich gut Stubenkameradschaft halten.

Vom Fenster aus hatte man einen Überblick über einen beträchtlichen Teil der Stadt. Jenseits der Trümmerstätten erhoben sich Kirchen und Türme. Man sah die unzähligen, seltsam geformten Schornsteine. Auch die Gestalt der »Göttin«, die auf der Säule des Stadtplatzes stand, erhob sich neben dem vielfach zertrümmerten Riesenglasdach der Markthalle. Da und dort schoben sich über den Dächern Schilder marktschreierischer Art zwischen die hohen Kuppeln der Kathedralen.

Aber nirgends, nirgends etwas Grünes.

Solch eine Sehnsucht wie heute hatte Helene noch nie empfunden nach der Natur, nach der Freiheit, nach dem Frühling. Sie empfand es schwer, daß sie eine Gefangene in dieser Stadt war, gleich all den anderen Lillern, daß ihr Schicksal an die ihr schon so verhaßt gewordene Steinwüste gefesselt war …

Hastige, leichte Frauenschritte auf der Treppe, das Rascheln von Gewändern und dazwischen fröhliche Mädchenstimmen machten sie aufhorchen. Und gleich darauf war der schmale Raum erfüllt von Lachen und Schwatzen. Schwester Ella hatte vom Professor den dienstlichen Befehl bekommen – so erklärte eins der jungen Dinger –, innerhalb zwanzig Minuten marschbereit unten, anzutreten: festlich geschmückt und möglichst wenig nach Lysol duftend. Der Transportzug verließ soeben die Halle, und der Stabsarzt hatte für den Professor die Nachtwache übernommen.

Vier Verpflegungsschwestern waren mitgekommen, um der Oberschwester zu helfen, sie machten aber so viel Unsinn dabei, daß ihre Hilfe wenig nützte.

»Helene, sprechen Sie doch ein Machtwort, ich kann mir ja gar keinen Respekt bei der Gesellschaft verschaffen … Und Theresle, du kleines Ferkelchen, du kramst mir wahrhaftig mit deinen Lysolfingern in meiner wundervollen Wäsche herum … Wenn ich bisher die Kommode aufgemacht hab', dann nie länger als für zwei Sekunden, damit mir nicht gleich alles durchräuchert wird, du Unglückswurm!«

»Lysol ist doch was Herrliches!« beteuerte die Kleine, duckte sich aber sofort, weil Schwester Ella im Waschen innehielt und eine bedrohliche Bewegung mit dem großen Schwamm machte.

Es war für sie alle, die nun über ein halbes Jahr schon im Hilfsdienst des Krieges standen und nur der Arbeit lebten, wie eine Erinnerung an Tanzstundenfestlichkeiten, daß eine von ihnen zu einem fröhlichen Fest mit jungen Offizieren, wohl auch mit Musik, fahren sollte. Und der Schwester Ella, für die sie alle schwärmten, gönnten sie's am meisten.

»Na, aber einen weiß ich, der heute mächtig eifersüchtig werden wird,« meinte das Theresle. »Schwester Ella, knicken Sie nicht zu viel Herzen heut abend, sonst haben wir's morgen alle zu büßen.«

»Ach du kleine Krott –!« rief Ella. Dann sah sie Helene an. »Ja, liebste Frau, und Sie sind ja noch gar nicht im Feststaat?«

Helene steckte in ihrem dunkelblauen Jackenkleid. Sie blickte an sich hinunter, etwas verlegen. »Ich hab' nichts anderes.«

»Aber ein Krägelchen? Ein bissel was Helles? Auch nicht … Halt, halt, da rechts in dem Kästchen, Agnes, da ist der Brüsseler Kragen … Rasch kommen Sie mal her, Helene … Du, Theresle, du kriegst jetzt gleich was ausgewischt, du Nichtsnutz …«

Es gab ein stürmisches Gelächter. Das kleine übermütige Ding hatte das Nachthemd von Schwester Ella übergestreift, das Handtuch wie eine Nonnenhaube um das Haar geschlungen und sich auf eine Fußbank gestellt, so daß sie um einen Kopf größer erschien, da das Hemd bis zum Boden reichte. Sie schnitt dazu so drollige Gesichter, daß selbst Helene in das Lachen einstimmen mußte.

Plötzlich auf der Treppe die Stimme des Professors, der sich in der durch die Truppen auch den Schwestern bekannten bayerischen Mundart erging: »Ja, Himmisakra, bal's jetzat net außikemma tuat!«

Das lustige Durcheinander wurde dadurch noch gesteigert. Das Theresle machte sich am meisten als Verkehrshindernis bemerkbar; sie rannte wie ein Wiesel hin und her, stolperte über das Hemd, schlängelte sich aber überall wieder durch, entwischte auflachend auch der Schwester Ella, die sie einfangen wollte.

Ganz matt von der Hetze, vom Lachen, kamen die beiden Festgäste endlich auf die Treppe. Aber daß die Schwestern sie hinunterbegleiteten, duldete Ella doch nicht. Sie hatte etwas in ihrem Blick, das sofort wieder dienstlichen Abstand herstellen konnte. »Höchstens das Theresle darf mit – aber wie sie ist!« sagte sie dann, wieder lachend.

Der Professor sollte sein Urteil darüber abgeben, wie Helene der festliche Schmuck stünde, aber er fand gar keine Veränderung an ihr. Er hatte sie nie anders gesehen als in dem blauen Kleid. Nur daß sie die Armbinde mit dem Kommandanturstempel trug, fiel ihm auf.

»Nichts sagen!« rief Ella ihr zu. »Also – er merkt nicht einmal, daß es der Spitzenkragen ist, den er mir selber zu Weihnachten geschenkt hat. Das heißt: Fritz hat ihn für ihn auf der Durchreise durch Brüssel besorgen müssen.« Sie schüttelte den Kopf. »Professor, Sie sind ein Kenner!«

»Ach was, ich hab' als Student so viel Mühe gehabt, bis ich am Menschen jeden einzelnen Knochen gewußt hab', – wenn die Leute nichts anhaben, dann kann ich sie tadellos unterscheiden, aber wenn sie mit all dem Zeugs angebammelt sind, sieht eben eins aus wie das andere.«

»Unmöglicher Barbar.« Schwester Ella hängte beim Heraustreten aus dem Bahnhof bei Helene ein. »Und mit so einem Urwaldmenschen soll man nun Landpartien machen.«

Das Paar stritt sich immerzu. Helene kannte die beiden gar nicht anders. Aber es war so lustig anzuhören, weil sie sich dabei so gut verstanden.

Das Auto war von Hans West gestellt. Der Bursche von Consentius, der die Schwester seines jungen Herrn noch aus der Heimat kannte, saß neben dem Schofför. Er strahlte, daß der Besuch nun doch noch zustandekam. Sein Platz schien aber recht unbequem zu sein, denn er streckte die Beine seitlich heraus und klammerte sich an der Lehne fest. »Was für einen geheimnisvollen Kasten schleppen Sie denn da mit, Krischkel?« fragte der Professor. Der wollte nicht gleich mit der Sprache heraus. »Eine Überraschung?« Der Professor sprang wieder auf, lehnte sich über und schnubberte. »Die Kerls haben den Größenwahn. Ich lasse mich schlachten, wenn da keine Hummern drin sind. Krischkel – Diensteid: sind's Hummern?«

»Nee, Herr Professor. Richtige nicht. Ersatz für.«

»Hol' dich der Deibel. Ersatz für?«

»Scheren haben se nich.«

»Barmherziger – es sind Langusten! Angekurbelt, los! Das ist die einzige Schwärmerei meines Lebens. Außerdem schwärme ich nur noch für Blondinen. Aber für die natürlich um so wahlloser.«

»Krischkel, einen anderen Fahrgast!« sagte Schwester Ella trocken.

Mit großer Geschicklichkeit steuerte der Schofför das Gefährt durch das lebensgefährlich dichte Gewühl: Autos und Wagen aller Größen, Straßenbahnen, Kolonnen, Feldgraue füllten den Platz. Zivilisten befanden sich aber nicht darunter, denn es war schon sechs Uhr vorüber.

Die halbe Meile bis zur Vorstadt von Saint André hätte man in wenigen Minuten zurücklegen können. Aber an der Sperre mußten sie zum erstenmal halten; gewissenhaft prüfte der Landsturmposten die Ausweise der beiden Damen.

Helene kannte die Gegend von vielen Spazierfahrten aus Friedenszeiten her: das wunderhübsch angelegte Zitadellenwäldchen, an das sich die Rennbahn anlehnte, die schönen Alleen, die nach Lambersart hinausführten, die breite Straße längs der Deule, die drollige Villenvorstadt, in der ein Baumeister, der grellbunte Ziegel bevorzugte, fast in jedem Haus dieser verräterischen Leidenschaft gefrönt hatte.

In goldener Abendsonne lag das stille Land. Seit dem frühen Morgen war kein Schuß mehr gefallen.

»Es ist also wirklich schon Frühling geworden,« sagte Helene, fast gerührt von dem lang entbehrten Anblick grüner Wiesen, grüner Saaten, grüner Büsche und Baumkronen. Der Grund zwischen der Straße und dem Saum des Zitadellenwaldes war über und über besät mit Gänseblümchen und dottergelben Butterblumen. »Ach – wenn man doch aussteigen und ein Sträußchen pflücken könnte!«

Sofort mußte der Schofför abstoppen. Aber der Professor hatte es gar nicht für Ernst gehalten; er wollte nur einen Spaß machen. Als Helene wirklich flink hinübersprang und sich sofort bückte, um zu pflücken, und Ella ihr folgte, rang er verzweifelt die Hände. »Nun holen Sie sich nasse Füße und den Schnupfen – und behaupten wohl gar noch, das sei poetisch. Drei Minuten wird gewartet, länger nicht.«

»Ach – der Duft!« rief Helene strahlend, ganz glücklich.

»Hm. Ja. Fein.« Der Professor beugte sich wieder zu den Langusten über.

Da flog ihm auch schon ein kleiner Busch Butterblumen, mit Riedgras lose zusammengehalten, gegen die Mütze.

»Wo sind Ihre Handgranaten, Sie Vaterlandsverteidiger?« rief er Krischkel zu. Gleichzeitig sprang er aber doch aus dem Auto, setzte über die Böschung auf die Wiese und begann wahllos zu rupfen. »Daß man sich so im Schweiße seines Angesichts sein Abendbrot verdienen muß, wenn man nach Saint André eingeladen ist, das hab' ich mir natürlich auch nicht vorgestellt –!«

In lustigster Stimmung langten sie endlich in dem kleinen Landhaus an. Es waren schon die meisten Gäste da. Gleichzeitig mit den Lillern traf der Kommandeur von Fritz Consentius ein, ein schlanker Oberstleutnant mit kupferrotem, bartlosem, jungem Gesicht und schneeweißem Haar. Natürlich wurden die Damen sehr gefeiert. Es war ihnen allen eine besondere Freude, die an die Heimat erinnerte, wieder einmal aus Frauenmund Deutsch zu hören.

Mit zwei Offizieren, die ihren Vater gekannt hatten, kam Helene in ein eifriges Gespräch. Hans West holte sie aber bald fort, um ihr das kleine Anwesen zu zeigen.

Die Einteilung hatte ganz den französischen Zuschnitt: Hauptsache war der Eindruck, den das Besitztum beim Eintritt durch das riesige, schmiedeeiserne Gittertor ausübte. Zunächst kam eine große, kreisrunde, wohlgepflegte Parkwiese, um die links und rechts der gelbe Kiesweg herumführte. Den Abschluß bildete das schloßähnliche Haus, das die ganze Breite einnahm. Man vermutete, daß das Gebäude eine beträchtliche Ausdehnung hatte und daß sich dahinter der eigentliche landwirtschaftliche Betrieb öffnete. Aber das Haus war fast wie eine Kulisse, es besaß überhaupt nur die Tiefe eines Zimmers, und der Nutz- und Blumengarten, der sich rückwärts anschloß, erstreckte sich keine zehn Schritt mehr: dann kam gleich die hohe Taxushecke, an der das Besitztum sein Ende hatte.

»Ich würde mir's ja ganz anders eingerichtet haben,« sagte Hans West, »ich hätte den Vordergarten, den man von der Straße aus sieht, ganz schmal gehalten, hätte das Haus dort vorn hingestellt – und das hier hätte ein kleines Paradies werden müssen. Ein Rosenlaubengang – viel, viel Blumen – und schönes Buschobst … Ja, und können Sie's begreifen, daß die Leute sich hier noch eine so geschmacklose große Glaskugel hergesetzt haben? … Dabei muß ich das Scheusal noch mit Bitten und Beschwörungen zu schützen trachten. Warum? Ja, es kommt doch keiner von den Kameraden hierher, dem es nicht in den Fingern zuckt, das Ding in tausend Scherben zu schlagen. Aber – wir müssen doch immer wieder beweisen, daß wir keine Barbaren sind.«

Die innere Einrichtung des Hauses verriet, daß die Besitzer – sie waren vor der Besetzung geflüchtet – den vermögenden Kreisen angehörten. Es gab schön geschnitzte Möbel, Gobelins, ein paar gute Gemälde. Der Professor hatte die Titel der in der Bücherei des Hausherrn befindlichen Werke überflogen. »Alles da, was gut und teuer ist. Sogar Darwin in Schweinsleder. Nur leider keine Badewanne im Haus, sagte mir Fritz.«

Fritz Consentius trat gerade mit dem Kommandeur hinzu. »Aber eine wundervolle Gartenspritze, Professorchen; wenn wir damit dienen könnten?«

»Danke, so unmittelbar vor dem Essen nicht.«

»Unmittelbar – das ist ein zarter Wink, Fritz,« sagte Ella. »Ich fürchte, du vernachlässigst deine Hausfrauenpflichten.«

Der Professor sah nach seiner Armbanduhr. »Ich gebe freilich zu, daß ich einen Mordshunger habe. Aber da man im Kriege an Entbehrungen gewöhnt ist …«

»Zu Tische!« fiel Fritz Consentius sofort ein und verbeugte sich vor seinem Kommandeur, ihn bittend, Frau Martin zu führen.

Die beiden Damen saßen an den Schmalseiten der Tafel, die wie ein dichtbesetztes Krokusbeet wirkte. Aus dem jungen Mattgrün lugte das Gelb, Weiß und Blau von Hunderten von Blüten lustig heraus.

Alles strahlte über den festlichen Anblick der Tafel, die jungen Frauengesichter, das seltene kleine Mahl.

Der junge Offizier, der rechts neben Helene saß, schwieg zuerst eine ganze Weile. Er sah schmal und ernst aus. Vor zwei Tagen erst war seine Kompagnie nach harten Zeiten aus der vordersten Linie zurückgezogen worden. Er hatte viel Schweres erlebt. »Daß es das alles noch gibt –!« sagte er endlich. Und er erhob wie zum Dank, daß er's erlebte, sein Glas gegen Helene und sah sie leuchtenden Auges an.

Der Kommandeur hielt eine kleine Ansprache. Es war ihm verraten worden, daß der Hausherr – Hauptmann West – und die Hausfrau – Oberleutnant Consentius – heute beide ihren Geburtstag feierten: der eine vor, der andere nach Mitternacht. Diesem Umstand verdankten sie das wunderhübsche Fest. Mit den Glückwünschen für die Geburtstagskinder verband er den Dank für den Gruß aus der Heimat, der ihnen durch die Gegenwart deutscher Frauen wurde. Jubelnd ward sein Hoch aufgenommen.

Helene war es, als trüge sie ihr Herz aus zitternder Hand. Jeder mußte ihr's anmerken, glaubte sie, wie innig dankbar sie ihnen war. Wieder Anschluß haben an die Heimat, wieder unter Menschen sitzen, die ihren Vater gekannt und geachtet hatten, wieder diesen warmen, deutschen Ton hören, Scherz und Ernst in guter Mischung … Und sie wollte sich auch selbst bemühen, heute abend nur diesem Wiedererwachen zu leben, alles von sich zu bannen, was sie ihrem Deutschtum entfremdet hatte.

Vielleicht hatte West oder Consentius oder Ella oder der Professor den Gästen Auskunft über sie gegeben – es fiel keine einzige Frage, die sie gezwungen hätte, an ihr Schicksal zu denken. Sie ward von der allgemeinen Stimmung so mit fortgerissen, daß sie sogar eine Zeitlang ihres Mannes vergessen konnte. Die Jahre, die zwischen ihrer Mädchenzeit und dieser eindringlichen Stunde lagen, waren vorübergehend wie ausgelöscht. Nur der beschämende Selbstvorwurf pochte ab und zu an ihr Herz: wie bitter unrecht hatte sie vor dem Kriege ihren Landsleuten getan, wie hochmütig absprechend hatte sie über den deutschen Offizier geurteilt, jeder Sportsmann Englands, jeder Pariser war in ihren Augen »smarter« gewesen. Und nun saß sie unter den braungebrannten, hager gewordenen, blutjungen und eisgrauen prächtigen Männern, die vom Tode kamen und zum Tode zogen und so herzlich lachen konnten und so ritterlich waren.

Sie hörte zu, wie der Oberstleutnant erzählte. Es waren Begebenheiten, in denen er selbst, wie er sich ausdrückte, »im Schwindel« gewesen war; aber er hatte eine köstliche Art, zu schildern. Immer wieder gab es Lachwellen oder Lachstürme. Helene hatte sich zurückgelehnt. Das ungewohnte Glas Wein umnebelte leicht ihre Sinne. Die innere Erregung trat hinzu. Sie fühlte, daß ihre Augen schwammen. Wie durch leichte Schleier sah sie das junge kluge Gesicht von Schwester Ella, die ihr freundlich zunickte. Ach, noch einmal so vor dem Leben stehen wie du! dachte Helene. Und die Lippen zusammenpressend erwiderte sie den Gruß.

Während des Essens war es draußen dunkel geworden. Die Lichter wurden entzündet. Gleichzeitig mußten aber sämtliche Fenster verhängt werden – der Fliegergefahr wegen. Als die Kerzen und das Rauchzeug gebracht wurden, steckte sich Ella – »um den Mannsleuten Mut zu machen,« sagte sie – eine Zigarette an und tat ein paar Züge. Aber der Professor rauchte sie hernach weiter – trotzdem er Zigaretten im Grunde haßte. Die Tafel löste sich auf. Im Nebensaal vereinigte sich alles, was Musik liebte. Hans West, Fritz Consentius und zwei ihrer Kameraden spielten ein Haydnsches Quartett. Dem folgten noch ein paar Einzelvorträge. Auch der Professor mußte sich hören lassen. Aber er war heute nur zum Unsinnmachen aufgelegt. An der Tafel war der Kreis sitzengeblieben, der klassische Musik nicht verstand. Da wurde fröhlich weitergezecht. Der Professor teilte sich zwischen beiden Gruppen. Immer aber war da das regste Leben, wo er sich befand.

Helene saß Hand in Hand mit Ella auf einem winzigen Damastsofa, das in der Fensternische des Musikzimmers stand. Sie schwelgte in den Tönen mit. Und immer wieder fuhr sie sich mit dem Taschentüchlein über die Augen. »Der Professor wird ja morgen schwören, ich hatte einen Schwips gehabt,« sagte sie, unter Tränen lächelnd, »aber es sind die Erinnerungen … Und Sie werden gewiß finden, daß ich mich wie ein recht alberner Backfisch benehme, Schwester Ella, ja, ja, und am Ende haben Sie recht …«

»Dafür gibt es jetzt nur eine einzige Antwort. Strafe muß sein.«

»Freundschaftsentzug?« fragte Helene, noch matt lächelnd.

»Bewahre. Aber wir sagen uns von heute an du. Einverstanden?« Fast stürmisch zog Helene die Schwester an sich und küßte sie.

»Das geht entschieden zu weit,« sagte der Professor, der dazu kam. »Mund wässerig machen – mir nichts, dir nichts!«

Er war gerade wieder so recht aufgezogen, wurde aber zum Fernsprecher abgerufen. Nordbahnhof hatte sich gemeldet.

»Badewanne haben sie hier nicht,« brummte er, »aber natürlich Quasselstrippe.«

Von fernher kam Musik. Fritz Consentius stürmte plötzlich aus dem kleinen Park herein, ließ die Saaltür hinter sich auf und verkündigte: Hans Wests alte Kompagnie rückte an, das Musikkorps des Bataillons an der Spitze, mit Fackeln … Und es sei ein ganz wunderhübscher Anblick.

Das war es denn auch. Sie traten alle auf die kleine Terrasse. Von Saint André her, über die Wiesen, näherte sich der Lichtschein, klang die Weise des Zapfenstreichs.

»Die unvorsichtige Bande!« sagte der Oberstleutnant, tief an seiner Zigarre ziehend. »Ein Glück, daß ich nicht euer Ortskommandant bin. Ich würde toben. Aber es ist mir lieber, daß ich mir's in aller Gemütlichkeit mit ansehen kann.«

Seltsam war dieser geisterhafte Zug durch den Wiesennebel, in dem die schwankenden Fackellichter allesamt einen unsicheren Hof zeigten. Erst ganz allmählich unterschied man Gestalten, sah Blechinstrumente aufblitzen.

Die Burschen, die in den späten Besuch eingeweiht waren, hatten das breite Eisentor geöffnet. Einzelne der Fackelträger mußten auf der Straße halten, um in der Finsternis die Übergänge über den breiten Graben zu bezeichnen.

Hans West war hinausgeeilt, begleitet von dem jetzigen Führer der Kompagnie und dem blutjungen Leutnant, der neben Helene gesessen hatte. Zwei Züge der Kompagnie waren draußen angetreten. Von zwei Fackelträgern begleitet, damit er die Gesichter erkennen konnte, schritt er die Front ab, immer wieder stehenbleibend, um eine Frage zu tun, einen Namen zu nennen, ein kurzes Wort zu sagen.

Auf der schmalen Terrasse vor dem Haus hielten die Gäste. Man hörte fast jede Silbe durch die ruhige Nacht. An der Front war es still wie seit Monaten nicht. Draußen wurde jetzt ein Hoch ausgebracht. Darauf sprach Hans West. Kurz, herzlich, soldatisch. Und ein »Hurra« auf den obersten Kriegsherrn schloß sich an.

Dann aber begann der Übermut. Der Stabsarzt hatte mit dem Leiter der Kapelle schon alles abgemacht: es gab eine Fackelpolonäse durch den Garten, und im Reihenmarsch sollte die Kapelle durch alle Räume des Hauses durchmarschieren. Sie spielte dazu: »Das Wandern ist des Müllers Lust.«

Die Mannschaften marschierten indessen in Gruppenkolonne an der Terrasse vorüber. Wie sie so aus der Dunkelheit auftauchten und in den hellen Lichtkreis der Fackeln kamen, wirkten ihre Gesichter wie glühende Lampions. Und es war nur seltsam, daß diese Lampions alle lachten und weiße Zahnreihen zeigten.

»Famose Jungens!« sagte der Oberstleutnant. »Pioniere! Ja, das ist ein Ehrentitel in diesem Krieg geworden!«

Natürlich sorgte der Professor dafür, daß die Musikanten bei ihrem Marsch durchs Haus nicht ganz unbehelligt blieben. Ein Durchgang war durch zwei Bänke versperrt, über die sie klettern mußten, ohne sich im Spiel zu unterbrechen, und der Ausmarsch erfolgte durch ein Erdgeschoßfenster. Mit ein paar Kisten Zigarren bewaffnet wartete der Professor jedes einzelne Kapellenmitglied draußen ab und bemaß seine Spende weniger nach der bewiesenen Kunst als nach der turnerischen Gewandtheit, die der Neuankömmling beim Sprung ins Ungewisse an den Tag legte.

Am Tor waren ein paar Tische aufgestellt, wo zwei Bierfässer, Krüge und Gläser die späten Gäste erwarteten. Nach einem Viertelstündchen erklang das Signal Sammeln. Der Zug ordnete sich. Und dann ging es wieder in den Nebel und in die Ferne unter den Klängen des treuherzig-marschfröhlichen Liedes: »Das Wandern ist des Müllers Lust …«

Helene stand Arm in Arm mit Schwester Ella auf der Terrasse und lauschte, bis der letzte Ton verklungen war.

Als Hans West zu ihnen stieß, gab sie ihm die Hand. »So – jetzt muß ich Ihnen erst so recht Glück wünschen. Es war wunderschön. So viel ehrliche Zuneigung hat Sie aus den paar hundert Augen angesehn. Sie müssen sich viel Liebe erworben haben in Ihrer Kompagnie. Und das neue Jahr muß gut werden für Sie.«

Er hatte ihre Hand festgehalten. »Ich hoffe es auch. Sieg. Kriegsschluß. Und – und … Ach, es ist besser, man verrät es nicht.«

»Ella!« rief der Professor aus dem Hintergrund. Seine Stimme war ernster als vorher.

Der Hauptmann wandte sich nach ihm um. »Ihr denkt doch nicht etwa ans Aufbrechen, Kinder? Weil der Kommandeur geht? Er blieb nur noch, um Fritz Glück zu wünschen, er hat das schon vor drei Tagen gesagt, um fünf Uhr muß er nach dem Hauptquartier; aber euch lassen wir so bald nicht!«

»Ich bin Ihnen viel, viel Dank schuldig,« sagte Helene zu ihm, als sie allein waren. »Sie haben mich aus einem Gefängnis herausgeholt. Ja, noch nie hab' ich's so klar empfunden. Mein Leben erschien mir schon so wertlos. Und nun lockt mich's wieder. Weil ich fühle: es gehört der Heimat da drüben. Und weil ich weiß: was immer noch zu überwinden sein wird, es gibt ein Zurückfinden in das, was mir nun doch einmal Heimat ist.«

Ein Weilchen schwieg er, drückte dann wieder ihre Hand. »Das ist nun aber wirklich das Allerschönste, was ich heute erlebt habe,« sagte er herzlich.

Drinnen erschollen Lebehochrufe. Es war Mitternacht. Nun sollte Fritz Consentius gefeiert werden. Sein Kommandeur sprach.

Im Anschluß daran fand aber gleich der Aufbruch eines Teils der Gäste statt. Auf dem Kiesweg rollte ein Auto heran. Liebenswürdig verabschiedete sich der Oberstleutnant von den Damen, trug Grüße an gemeinsame Bekannte auf, stieg ein und fuhr ab. Und noch mehrmals gab es dann Abschiede. Abschiede, die man kurz und wortkarg gestaltete, gerade weil keiner wußte, ob man einander wiedersah und weil man sich keine Bewegung anmerken lassen wollte.

Für die drei Liller Gäste war das Auto auf ein Uhr bestellt. Da der Professor um sechs Uhr früh den Stabsarzt ablösen mußte, konnte er nicht mehr zugeben. »Schwester Ella kann sich ja nach dem Mittagessen ein Stündchen hinlegen – natürlich, das schwache Geschlecht – aber unsereiner muß ja so tun, als ob er Übermensch wäre. Nur scheußlich, daß es einem trotzdem keiner glaubt.«

Noch immer war er lebhaft und zu allerlei Wortstreit aufgelegt, aber den rechten Übermut wie zuvor besaß er nicht mehr. Helene fragte West, ob er erfahren habe, was vom Nordbahnhof gemeldet sei: vielleicht das Eintreffen eines neuen Transports, das den Professor beunruhige?

»Dann wär's doch besser, wir brächen auch auf! Nicht?«

Sie standen am Klavier und blätterten in den Noten. Erinnerungen an Onkel Karl Maria, der Hans West und seine Brüder unterrichtet hatte, als sie noch in Gottesaue bei Durlach gelebt hatten, waren dabei wieder aufgetaucht. In ihrer tiefaufgewühlten Stimmung, in der ihr Herz so weich geworden war, hätte sie ihm am liebsten eine große, umfassende Beichte abgelegt. Sie hätte ihm sagen mögen, daß ihr Gemüt trotz aller Anfechtungen und Unklarheiten jetzt endlich zu innerer Gesundung gelangt war; seitdem sie die Sicherheit hatte, daß George kein Vaterlandsverräter war, daß er sein Leben in die Wagschale geworfen hatte, um seine Verirrung wieder gutzumachen.

Wie schmerzlich, daß sie das alles nicht sagen durfte –!

»Ich werde lange, lange daran zehren,« sagte er verträumt, »an der Erinnerung, daß Sie hier waren.« Er machte eine unsichere Bewegung. »In ein paar Tagen heißt es vielleicht auch für mich wandern, das kleine Friedensidyll hier verlassen … Ja, Frau Helene, ich warte jetzt schon wieder auf neuen Befehl … Aber die Stimmung dieses Abends wird mich begleiten. Und alles wird ein Hoffen sein.«

Ella kam ins Zimmer, seltsam bleich und bedrückt.

Sie sahen Consentius und den Professor im Nebenzimmer umringt von den anderen Gästen.

»Wir sollen gehen, Ella?« fragte Helene unsicher.

»Ja, Liebste. Es ist wohl besser.«

»Ihr wart am Telephon. Ist Nachricht –? Dienstlich?«

»Nein, nein.«

Ein paar Augenblicke wirkte das Schweigen unheimlich.

»Soll ich – gehen?« fragte Hans West zögernd.

Ella schüttelte den Kopf. Sie wehrte dem Professor, der in die Tür treten wollte, ab. Und dann ging sie und schloß die Tür.

Der Raum wurde jetzt nur von den Lichtern erhellt, die am Flügel brannten. In dem flackernden Schein konnte Helene Ellas Züge nicht mehr unterscheiden.

»Was ist nur? Sag' doch, Ella.«

Die Schwester umfaßte sie, pochte ihr leise auf die Schulter und sagte ruhig: »Es ist Nachricht vom Kriegslazarett da, Helene.«

»George –?!«

»Ja, Liebste. Er hat ausgelitten.«

… Im Auto fuhren sie schweigsam zur Stadt zurück. Der Professor hatte sich neben den Schofför gesetzt. »Ich werde doch die Festrübe nicht opfern!« sagte er. Er hatte schon wieder den Ton gefunden, um Herr der Stimmung zu werden. Für ernste Trostreden fand er nie das rechte Wort; ein Witz mußte ihm helfen. Aber Schwester Ella wußte: innerlich war er weicher als sie.

Sie hatte in ihrem Beruf schon so viel Ergreifendes erlebt, hatte Menschen in den schwersten Augenblicken des Lebens und des Sterbens kennengelernt, daß es für sie keine leeren Beileidsworte mehr gab. Auch in diesem Fall, in dem der Tod als Erlöser kam, hatte sie nur einen festen Händedruck für die neu gewonnene Freundin. Und dann mußte das Schweigen, das Still-sich-besinnen die Heilung bringen.

So ließ sie Helene Zeit. Und Helene verstand sie.

 

Schwere Tage lagen hinter Helene. Aber noch schwerere folgten.

Als sie vom Südfriedhof zurückkam, wo ihrem Mann in der Abteilung der in den Lazaretten verstorbenen französischen Soldaten ein Grab bereitet worden war, fand sie einen Zettel von Geneviève vor: sie müsse sie noch heute sprechen.

Das Theresle gab ihr das Blatt. Eine Französin habe es gebracht. Es sei ihr aber unmöglich gewesen, sie zu verstehen, so schnell habe sie gesprochen.

Helene hatte dem Hause Laroche keine Nachricht über Georges Tod zukommen lassen.

Ein ganz winziges Gefolge war hinter dem Sarge hergeschritten. Ella und ihr Bruder waren erschienen, der Professor, ein paar Schwestern, die dienstfrei waren. Ein französischer Geistlicher sprach, der den Toten nie gesehen hatte. Und Helene empfand es als Wohltat in dieser grausamen Stunde, daß der Priester, der da an dem offenen Grabe stand, nicht ahnte, was sie wußte oder zu wissen glaubte. Kein französischer Soldat war es, dessen arme Leidenshülle man hier hinabsenkte, sondern ein unglücklicher, verirrter Mensch, den die grausamste Verzweiflung wieder in die Arme seines vergessenen deutschen Vaterlandes getrieben hatte.

Drüben, auf der deutschen Seite des Friedhofs, erhoben sich schon viele, viele schlichte Kreuze. Auch ein großes Denkmal war da im Werden. Hier, wo die Franzosen den letzten Schlaf schliefen, fand der Blick kaum eine Sammlung. Mächtige Glaskasten mit Immortellenkränzen türmten sich an den Kreuzen hoch. Je größer der Freundeskreis, je stärker die Bedeutung des Toten oder je lebhafter die Eitelkeit der Hinterbliebenen, desto gewaltiger wuchs der Schwall der künstlichen Andenken empor, die Nachbargräber beschattend. Das Sterben und Begrabenwerden war für die Franzosen der Anlaß zum größten Pomp. Helene hatte es damals miterlebt, als die arme kleine Yvonne Babin zur letzten Ruh' getragen wurde. Das Grab Georges lag nicht weit von dem ihren.

Challier, Lemonnier, auch der alte Didelot hatten sich zur Bestattung eingefunden. Aber es blieb bei einem stummen Händedruck, nachdem die kleine Feier beendet war.

Im langsam niederträufelnden Frühlingsregen wanderte Helene, von Schwester Ella begleitet, zum Wagen zurück.

Daß Hans West nicht würde kommen können, hatte Helene schon tags zuvor gewußt: er weilte im Großen Hauptquartier, wohin der General der Pioniere Wests nächsten Vorgesetzten berufen hatte.

Es war Helene nach den Erschütterungen der letzten Stunden unmöglich, Geneviève aufzusuchen. Sie schrieb ein paar Zeilen, worin sie ihr Kunde von dem Trauerfall gab und sie bat, ihr bis zum anderen Tage Zeit zur Sammlung zu lassen.

»Komm doch morgen um ein Uhr aufs Amt, liebe Geneviève. In der Mittagsstunde können wir uns da noch am ehesten ungestört sprechen,« schrieb sie ihr. Das Briefchen brachte die Ordonnanz des Professors, ein graubärtiger Freiwilliger des Sanitätsdienstes, nach der Inkermanstraße. Aber kaum eine halbe Stunde später war Geneviève bei ihr.

Helene saß am Fenster des Schlafzimmers. Sie hatte Georges Stiefmutter die Trauernachricht erst mit ein paar Worten mitgeteilt. Jetzt bemühte sie sich, ihr ausführlicher über alles zu berichten, von dem sie annahm, daß Frau Ada es zu erfahren verlangte. Aber es ward ein gewundenes Schreiben.

»Bist du allein?« fragte Geneviève erregt in die Stille hinein.

Helene hatte sie nicht kommen hören. Im ersten Augenblick war sie auch überrascht, daß Geneviève ohne Führung durch den winkligen Ausbau der Obergeschosse des Bahnhofs hierhergefunden hatte. Aber alles trat zurück hinter dem Eindruck, den Genevièves totenbleiches Gesicht auf sie ausübte. Sie legte rasch die Feder weg und stand auf.

»Was ist dir, Kind? Wie siehst du aus? Komm doch herein.«

Geneviève zog die Tür hinter sich zu. Trotzdem Helene ihr versicherte, daß im Augenblick niemand sonst im ganzen Stockwerk weilte – die Reinmachefrau, die Frau Adas bisheriges Zimmer für zwei Schwestern herrichtete, hatte schon Feierabend gemacht – behielt Geneviève den Flüsterton bei.

»Papa ist verhaftet worden.«

Ein seltsames, nie erlebtes Gefühl des Schreckens lähmte Helene. Sie fühlte es körperlich: vom Leib nach den Knien hin zog es, und ein innerliches Zittern setzte ein.

»Um – Gottes – willen!« stieß sie aus.

Geneviève hatte die Hände gegen die Schläfen gepreßt. »Zwei deutsche Beamte in Zivil waren früh gekommen. Sie sprachen lange im Billardzimmer mit ihm. Und dann gingen sie mit ihm weg. Benjamin sprang in den Flur. Da küßte ihn Papa und sagte: wir sollten uns keine Sorge machen. Ein Mißverständnis. In einer Stunde sei er wieder da. Aber es ward Mittag – Nachmittag. Ich ging zur Militärpolizei und fragte. Und da hieß es: er sei verhaftet, sei auf der Zitadelle. Warum? Darüber könnten sie mir keine Auskunft geben.«

Sie setzte sich, wo sie stand, auf Schwester Ellas Bett, noch immer die Schläfen pressend, und starrte vor sich nieder.

Helene setzte sich zu ihr. Sie war von der Nachricht aber selbst so mitgenommen, daß sie die Kraft nicht fand, irgendein Wort des Trostes zu sagen.

»Weiß – Ma?« fragte sie endlich unsicher.

»Bis jetzt haben wir ihr's verschwiegen. Ach, wenn sie's erführe – nicht auszudenken.« Geneviève sah nach der Uhr. »Dabei sind wir alle wehrlos – gefangen. Erst von Sonntag an ist doch die Verkehrsbeschränkung wieder aufgehoben. Ich muß um Sechs daheim sein. Ob Papa bis dahin zurück sein wird? Ach, Helene, wenn er nicht kommt, wenn wir Ma die Wahrheit sagen müssen – exaltiert wie sie jetzt immer ist, stürzt sie sich wohl gar aus dem Fenster!«

»Was sind das für unsinnige Vorstellungen! Geneviève, ich bitte dich: Ma, die sich vor jedem Zuglüftchen fürchtet!«

»Du mußt uns helfen, Helene. Du bist meine einzige Rettung. Frage auf dem Amt an, was vorliegt! Und dann komme und rate uns. Du kannst dich noch nach Sechs auf der Straße zeigen – ich nicht. Und es wäre doch wichtig, irgendeinen Fingerzeig zu bekommen. Nicht wahr? Jetzt könnte man vielleicht noch dies und das beiseite schaffen … Aber ich müßte doch wissen, um was es sich überhaupt handelt!«

Genevièves Angst ergriff Helene. Und doch entsetzte sie die kalte, selbstverständliche Voraussetzung: daß sie ihr auch jetzt noch beistehen würde, die deutschen Behörden zu täuschen.

Schweigend hatte sich Helene erhoben. Sie setzte sich am Fenster nieder, umklammerte die Stuhllehne und starrte durch den niedrigen Rundbogen in das Gewirr auf dem Bahnhofsplatz. Es bedurfte für sie eines gewaltsamen inneren Entschlusses, um endlich wieder sprechen zu können.

»Hör' einmal, Geneviève! Laß uns klar werden! So geht es nicht weiter. Frauen dürfen sich an dieser Art des Krieges nicht schuldig machen. Wir haben beide schon viel zu viel gefehlt. Daß dein Vater alle Verantwortung auf sich nimmt, ist selbstverständlich. Welche Gefahr er lief, wußte er. Aber daß er mit ansehen müßte, wie auch du, deine Geschwister, die arme Ma, alle, alle, unter seinem Wagnis leiden, – nein, Geneviève, das wäre ganz gewiß nicht nach seinem Sinn.«

Mit weitgeöffneten Augen hatte Geneviève die Freundin angestarrt. Nach einer Stütze suchend, hatte sie die Hände hinter sich ausgestreckt. »Helene –! Helene –!« Sie schluckte. Mit der Rechten griff sie sich nach der Kehle. »Ja, sag' doch nur, das soll heißen – das soll heißen, daß du glaubst, sie könnten etwas entdecken, ihn in die Enge treiben, ihn überführen … Und daß sie Papa dann aburteilen würden?«

»Er wird es wohl nicht so weit kommen lassen. Wie ich ihn kenne, ist er viel zu stolz, als daß er leugnen würde.«

»Stolz! Sein Stolz ist es, der Sache des Vaterlandes zu nützen. Und im Krieg ist jedes Mittel erlaubt. Ich fände es unverantwortlich, wenn er den Mut verlöre … Aber nein, das ist ausgeschlossen. Er wird kämpfen bis zum letzten Atemzuge.«

»Ach, Geneviève, jetzt sprichst du wie ein Kind.«

»Wie sein Kind!«

Helene schüttelte den Kopf. »Im Herzen deines Vaters stehst du an allererster Stelle, Geneviève. Das weißt du. Du weißt, wie er an euch allen hängt. Und so tief ihn die Sache seines Vaterlandes ergriffen hat: er wird ihr auch durch Hinziehen und durch Leugnen nicht helfen, sondern seine Schuld nur noch schwerer machen. Weil er dann alle in noch viel größeres Leid risse. Es gibt nur die eine Möglichkeit für ihn, denen, die er liebt, schweren Kummer zu ersparen: sofort ein umfassendes Geständnis abzulegen.«

»Das – sagst – du?!« Geneviève verharrte noch immer in ihrer Stellung. Aber noch weiter lehnte sie sich zurück. Und ihre grauen Augen wurden noch größer, noch starrer.

Stumm nickte Helene.

»Das wäre ja – Verrat!« Jäh richtete sich Geneviève auf. »Ich frage mich noch immer, wie es möglich ist, daß du so etwas aussprechen kannst. – Du! An die Vater geglaubt hat! Ist das alles, alles vergessen? Wie er dir geholfen hat? In schweren Zeiten?«

»Ach, Geneviève, daran brauchst du mich nicht zu erinnern. Wenn je, bin ich jetzt meiner Dankesschuld eingedenk.«

»Indem du rätst, daß er sich seinen Feinden willig und ergeben zeigt?«

»Nicht willig und ergeben. Aber auch nicht – feige. Er muß die Verantwortung auf seine eigenen Schultern nehmen. Und er darf nicht auch seine Kinder, seine Frau, sein Haus mit in das gefährliche Spiel hineinziehen. Jetzt gilt es für ihn als Mann für die Schuld einzutreten. Das verlangt seine Ehre.«

Geneviève ordnete an dem winzigen Spiegel ihren Hut. Mit unsicheren Fingern streifte sie ihre Handschuhe wieder über. »Du willst uns also – im Unglück – verlassen. Gut, gut. Möge dir's nie vergolten werden.«

»Herrgott im Himmel – verstehst du mich denn nicht, Geneviève? Daß mir's seiner unwürdig erschiene, mit Lügen und Vertuschen noch eine winzige Frist zu gewinnen? Denn mehr wäre es doch nicht, wenn sie ihm wirklich schon auf der Spur sein sollten.«

»Was werden sie ihm denn beweisen können? Sie sollen auch nur einen hier ausforschen wollen. Keiner, der ihn verrät. Keiner.«

»Und wenn man nun dich aufforderte, zu schwören, Geneviéve?«

»In der Not – unter solchem Zwang – ja, glaubst du, daß ich es für ein Unrecht halten würde –«

»Einen Meineid zu schwören?«

Geneviève hob die Schultern, fast verächtlich.

»Denen?!«

»Man schwört bei Gott, Geneviève.«

»Also – würdest du Vater verraten? Willst du das damit sagen?«

»Ach, Kind, was foltern wir einander! Dein Vater würde gar nicht dulden, daß ein Mensch, der ihm nahesteht, in solche Gewissensnöte geriete. Du unterschätzest ihn.«

»Es gibt Dinge, die man gemeinsam trägt, – falls man wirklich liebt.« Geneviève sah nach der Uhr. Es blieben ihr nur noch zehn Minuten für den Heimweg; sie mußte eilen. »Nun weiß ich ja Bescheid, Helene, über alles. Hab' keine Sorge, daß ich dich wieder behelligen werde! Aber ein furchtbarer Schmerz ist mir's daß Vater sich so in dir getäuscht haben soll.« Zum ersten Male trat eine Träne in ihre Augen. »Er hat dich immer so lieb gehabt. Ich war ja so eifersüchtig. Und nun würdest du ruhig zusehen … Ach, das ist so furchtbar, so furchtbar!«

Sie rannte davon. Draußen fiel die Treppentür ins Schloß.

Mit leeren Augen sah Helene hinter ihr drein.

Wo lag nun das Unrecht? fragte sie sich.

Schwere innere Kämpfe focht sie in diesen Zeiten mit sich aus.

 

Als Hans West mit seinem Chef aus dem Großen Hauptquartier zurückkehrte, bekam er Helene nicht sogleich zu sehen. Der Major hatte ihn nebst anderen Herren zu Tisch eingeladen. Sie wollten im Restaurant de Strasbourg speisen, der einzigen Liller Gastwirtschaft, die für festliche Zwecke noch in Frage kam, denn die übrigen Lokale litten schon stark unter der verminderten Zufuhr. Es war Hans West nur auf einen Sprung möglich, den Professor aufzusuchen. Schwester Ella war in der Küche beschäftigt, Helene noch auf dem Amt, und der Professor befand sich mit dem Stabsarzt auf seinem Rundgang durch die Wartesäle von Bett zu Bett. So kam es nur zu einer kurzen Begrüßung. Alles gehe gut, sagte der Professor. Aber er war von seiner Arbeit so erfüllt, daß Hans West wohl wußte, welcher Wert der flüchtigen Auskunft beizumessen war.

Bei Tisch blieb er zerstreut. Er hatte auch auf der Fahrt viel an Helene denken müssen. Nach den seelischen Erregungen, die sie durchgemacht hatte, wäre er ihr so gern eine Stütze gewesen.

Es waren lauter fremde Offiziere, unter denen er saß. Der Major hatte alte Regimentskameraden neben sich. Die Nachbarn von Hans waren zum ersten Male in Lille, hatten monatelang draußen gelegen, in ärgster Wildnis, und empfanden den Betrieb hier als großstädtischen Luxus. Die Mehrzahl der freundlich mit Blumen geschmückten Tische war von Offizieren besetzt. Aber auch Zivilisten befanden sich in dem Speisesaal, dessen Balkonfenster nach der Grand' Place gingen. Die Gespräche litten unter der Anwesenheit der Franzosen. Immer wieder mußte man einander Zeichen machen, abbrechen, andeuten, Abkürzungen anwenden. Nach dem Essen fand sich noch ein älterer Oberstabsarzt ein, ein Verwandter des Majors. Der war hier in Lille bekannt, wußte sehr anregend zu plaudern und erzählte auch dies und das von einzelnen Anwesenden, nach denen ihn die Fremden fragten. Da klangen nun auch an Hans Wests Ohr Namen, die er schon aus Helenens Mund gehört hatte, und er horchte auf.

Eine kleine Sensation bildete ein Vorkommnis, das der alte Herr erst soeben bei der Tafel drüben in seinem Kasino gehört hatte. An der belgisch-holländischen Grenze bei Olsene-Dorp waren sieben verdächtige Personen angehalten worden, die ohne Ausweispapiere über die Grenze wollten. Zwei waren geflüchtet. Der Landsturmposten hatte Feuer gegeben und den einen zur Strecke gebracht, einen jungen Studenten aus Lille. Der andere, ein baumlanger Kerl, war entkommen; es hieß, daß dies der seit langem gesuchte englische Flieger Mapplebak gewesen sei. Die anderen fünf waren festgenommen und nach Antwerpen gebracht worden. Sie hatten natürlich alle geleugnet, jede Verbindung mit dem Engländer und dem Erschossenen bestritten, tagelang war das Verhör von morgens bis abends durchgeführt worden, einzeln und gemeinsam, ergebnislos, denn sie waren auf jede Frage gewappnet. Da endlich hatte sich einer der Verhafteten erboten, wenn man ihm Straffreiheit zusichere, ein volles Geständnis abzulegen. Das sei ein armseliger Bursche, der früher als Schofför in einem herrschaftlichen Hause gedient, seit der Einnahme von Lille sich verborgen gehalten habe und von der Not getrieben worden sei, einen Fluchtversuch zu unternehmen, um sich in Frankreich zur Armee zu stellen.

Mehrmals hatte der Erzähler sich unterbrechen müssen, weil ihm Zeichen gemacht wurden: am Nebentisch war die Unterhaltung der Franzosen ins Stocken geraten, der oder jener mochte vielleicht Deutsch verstehen.

Der alte Herr zündete sich eine Virginia an, kniff dabei die Augen zusammen und musterte die Gesellschaft durch den kleinen Spalt. Dann stemmte er sich mit beiden Ellbogen gemütlich auf und sagte blinzelnd: »Der da Rücken an Rücken mit West sitzt, ist ein französischer Kollege von mir. Den kenne ich gut. Wir haben uns ja begrüßt, als ich eintrat.«

»Keinen Namen nennen!« raunte der Major ihm zu. Dann erhob er sich. »Sag' mal, Onkelchen, wärst du einverstanden, wenn wir uns drüben am Fenster an den Tisch setzten, der jetzt frei geworden ist? Hier zieht es schamlos.«

»Es zieht?!« Endlich verstand er. »Ja, natürlich, schaudervoll zieht es hier. Also auf – eine secessio plebis!«

Jeder nahm sein Weinglas oder seine Kaffeetasse – die Kellner kamen ratlos-entsetzt hinzu, weil nun eine Vermischung ihrer Verwaltungskreise entstand – aber schließlich brachten sie die Weinflaschen nach, auch die Aschbecher, die sie sogar entleerten, als sie darauf aufmerksam gemacht wurden.

Nun lagen so viel Tische dazwischen, daß keine Gefahr mehr bestand, ausgehorcht zu werden. Und der Oberstabsarzt befand sich in seinem Fahrwasser. Er erzählte gern.

»Das ist also ein gewisser Broussart. Ein Augenarzt aus Cambrai. Wir hatten das französische Ärztepersonal hier noch mitbeschäftigt – bei den Gefangenen –, aber jetzt ist zum Glück ein Übereinkommen erzielt: wir schieben sie im Austauschverfahren über die Schweiz ab.«

»Und die hübsche, nervöse, kleine Frau neben ihm?«

»Eine Frau Gal. Dilettiert auf allen Kunstgebieten. Ihr Mann steht drüben im Heer. Ja, für die kleine Frau Gal ist die Trennung von Broussart ein schwerer Schmerz. Sie feiern hier wohl das Abschiedsmahl.« Er kniff wieder die Augen zusammen. »Aber der Kreis ist schon jetzt nicht mehr vollständig. Ein Verwandter von Broussart fehlt. Ein gewisser Herr Laroche. Den haben sie auf die Aussage vom Schofför hier festgenommen. Es soll noch eine ganze Reihe von Liller Bürgern verdächtig sein. Die Herren von der Geheimen Feldpolizei und vom Kriegsgericht hängen ununterbrochen am Fernsprecher – eine Botschaft nach der andern aus Antwerpen. Man wird hier wohl ein ganzes Verschwörernest ausheben.«

Die französischen Gäste erhoben sich jetzt. Ein Oberleutnant sagte nach einem Blick in den Spiegel, wo er die elegante Frau Gal für eine Sekunde ins Auge faßte: »Ich habe die Dame im Januar, wo wir hier in Ruhe lagen, schon mehrmals gesehen. Sie ging da mit einer auffallend hübschen Person, von der man mir erzählte …« Vorsichtig sah er sich erst um, bevor er weitersprach. »Der kleine Prinz Aemil soll sich lebhaft für sie interessiert haben.«

»Die Manon?« Der alte Herr lachte. »Ja, das war eine verteufelt schöne Person. Die war wohl eine Sünde wert.«

»War? Sie lebt nicht mehr?«

»Und wie. Die fängt da drüben wieder ganz neu zu leben an, das ist sicher. Man hat sie abgeschoben.«

»Abgeschoben? Über die Schweiz? Aber ich dachte, das seien nur so die – die kleinen Straßengefahren gewesen, deren man sich auf diese Weise entledigt hat.«

»Tja, es hat auch nicht geringes Aufsehen erregt. Da zeterten sie unter den Eingeborenen: es sei unerhört. Die Dame gehöre einem ersten Hause an, sei vermögend, die Tochter eines angesehenen Notars, einer ersten Stütze der Stadt … Ja, das hat sie aber nicht abgehalten, die Nächte in der Bar der Nitouche zuzubringen. Und eine Gefahr war sie immerhin auch …« Den Schluß raunte er dem Oberleutnant ins Ohr, und der schlug sich entsetzt aufs Knie.

West wurde von seinem Nachbar gefragt, ob er die letzten Worte gehört habe. »Nein!« erwiderte er kurz, fast schroff. Und dann rückte er mit seinem Stuhl zurück, um die Verbindung nicht zu stören. Ihn hatte das, was der Oberstabsarzt zuerst berichtet, schon so tief betroffen gemacht, daß er gar nicht weiter hatte folgen können.

… Laroche verhaftet! … Und in seinem Hause hatte Helene so lange gelebt. Ja, er selbst hatte sie noch dazu überredet, Aufnahme dort zu suchen, weil er sie im Schutze einer angesehenen Bürgerfamilie sehen wollte.

Zweifellos wußte doch Helene um Laroches Festnahme. Hatte sie der Schwester nichts davon gesagt? Auch nicht Ella und dem Professor?

Unruhvoll überlegte er, wie er's anstellen konnte, sie so bald wie möglich zu sprechen. Der Major hatte ihm schon angekündigt, daß sie mit dem im Hauptquartier verlangten Bericht gleich nach Tisch beginnen und dann wohl bis spät in die Nacht im Geschäftszimmer der Abschnitte festgehalten sein würden.

Am Fernsprecher über eine solche Angelegenheit auch nur ein paar Worte zu wechseln, war unmöglich. Irgend jemand, der das Gespräch in der Leitung mit abhörte, konnte durch ein Mißverständnis Helene in einen Zusammenhang mit dem Verhafteten bringen … Aber er erduldete in dieser Ungewißheit, bevor er sie gesprochen hatte, geradezu Qualen.

Immerzu suchte sein Blick den des Majors. War nicht Zeit aufzubrechen?

Die außerordentliche Angelegenheit der großangelegten Spionage, der man da auf die Spur gekommen zu sein schien, war für den Major aber auch dienstlich von Wichtigkeit. Gerade bei der Pionierarbeit in Feindesland, wo man für die Handlangerdienste auch einheimische Kräfte mitverwandte, war äußerste Vorsicht geboten. Nie durften die unteren Aufsichtsbeamten in ihrer Wachsamkeit nachlassen. Er nickte dem jungen Hauptmann, der ihn fragend ansah, lebhaft zu. »Darüber müssen wir ausführlich mit den Bauleitern sprechen, lieber West.«

Den Höhepunkt erreichte der Oberstabsarzt in seinen Ausführungen, als er schilderte, durch welchen Zufall man festgestellt hatte, daß die Flüchtlinge nicht nur drüben ins Heer eintreten wollten, sondern daß sie auch einen ganz geregelten, schlau eingefädelten Nachrichtendienst über die Grenze vermittelten.

»Der eine der Kerls war bei der Festnahme gestolpert und hatte sich ein wenig das Bein verknaxt. Na, er humpelte dann aber mit, stützte sich auf seinen Stock, und so ging's ja auch leidlich. Aber als sie über die Kanalbrücke kamen – schwapp, da ließ er doch plötzlich seinen Stock durch eine der Fugen im Brückenbogen verschwinden. Mein Landsturmmann hinterdrein und erwischte ihn noch – ob er gleich einen Verdacht hatte oder ob es nur wieder Gutmütigkeit war, weil der arme Teufel sich nur so mühsam fortgeschleppt hatte, das weiß ich nicht – aber beim Durchquetschen bricht er mitten durch, der Stock, und dabei ergibt sich, daß er hohl ist – und daß Zettel drin aufgerollt waren. Sofort ruft er den Kameraden zu: ›Stöcke abnehmen!‹ Na und für die Überführung werden die Zettel ja gute Dienste leisten.«

»So eine Bande!« sagte der Major. »Und dabei war man hier der Meinung, sie hätten sich längst stillschweigend in alles gefunden, die Franzosen, sehnten nur das Ende des Krieges herbei und lebten im großen und ganzen loyal zwischen uns.«

»Wir bleiben eben immer die gutmütigen Michel, wir Deutschen,« sagte ein älterer Hauptmann mit Habichtnase und kleinen funkelnden Augen. »Immer tragen wir unser Herz auf einem Präsentierteller. Wir sind nicht glücklich, wenn wir wissen: der und der ist dein Feind. Nein, durchaus müssen wir ihnen vorstellen, daß wir doch so furchtbar nette Menschen sind. Als ob wir das Pack brauchten. Na, meine Herren, wer so wie ich das Volk hier kennengelernt hat … Ich will nicht sagen, daß es nicht ihr Recht wäre, uns zu hassen. Gut, mögen sie. Aber dann lassen wir doch endlich das vermaledeite Gesichterschneiden. Ich habe mich grundsätzlich niemals mit einem Franzosen an einen Tisch gesetzt. Das Tischtuch zwischen uns ist zerschnitten. Nicht wahr? Na also, warum da Phrasen dreschen, heucheln?«

Der Oberstabsarzt zuckte die Achseln. »Ja, die Herren von der Waffe haben es leichter. Wir müssen oft beruflich mit unseren französischen Kollegen Fühlung nehmen.«

»Und kommt Gutes dabei heraus?«

»Wir sehen ihnen höllisch auf die Finger. – Na, wenigstens die Ärzte in militärverdächtigem Alter werden wir jetzt los.«

Der Kaffee war getrunken. Der Major entschuldigte sich bei seinem Verwandten: die Arbeit rief ihn zum Dienst. Und nach Händeschütteln am Tisch und Verbeugungen auf dem Weg durch den strumpfartig langen und schmalen Speisesaal, wo noch zahlreiche Offiziere saßen, kamen sie zum Treppenhaus.

»Jetzt heißt es aber Dampf aufsetzen, um die verschwatzte Zeit einzuholen, lieber West. Jedesmal, wenn man mit Onkel zusammenkommt, gibt's einen anregenden Palaver. Er sieht und hört hier 'ne ganze Menge … Und sagen Sie mal, West, erzählte Ihr Bruder Theo damals nicht von der Frau Manon und dem Prinzen? Ich hab' für solche Geschichten nicht so ein hervorragendes Gedächtnis wie Onkel. Sie auch nicht, wie? … Wir springen hier auf die Elektrische, West, da bringen wir gut vier Minuten ein, und es brennt einem jetzt doch unter den Nägeln.«

 

Als Hans West am anderen Mittag zum Nordbahnhof kam, waren fast alle Säle leer. Transportzüge hatten die Hunderte von Verwundeten und Kranken in den letzten Tagen mitgenommen. Nur ein knappes Dutzend Betten war noch belegt. Das Theresle hatte über Mittag hier die Aufsicht. Die kleine Schwester saß auf einem Holzschemel zwischen den Betten und las vor. Hans West hielt beim Eintreten inne. Er nahm an, daß die Schwester den neuesten Heeresbericht bekanntgab, weil sie in allen Betten so gespannt folgten. Ein paar Augenblicke wartete er. Aber dann merkte er: sie las ihnen aus Andersens Märchen vor.

An der Front rollte und grollte es wieder. Es hieß, daß bei Arras eine große Schlacht tobte. Heute nacht – morgen gewiß – mochten alle Räume hier schon wieder dicht belegt sein mit müden, leidenden Kämpfern, die auf die Fahrt zur Heimat warteten. Und jetzt durchwob den Saal diese friedliche Märchenstimmung, und die blassen, großen Männer lauschten der süßen Kinderstimme des jungen Dings, als ob es ihnen wichtige Botschaften aus der Weltgeschichte zu vermitteln hätte.

Verwundert sah das Theresle den Eintretenden an. »Sie esse heut hunte!« sagte sie und wies nach der Küche.

Ein Norddeutscher mußte darüber so lachen, daß ihn sein Verband schmerzte. Es war ein junger Philologe, den Hans West schon neulich einmal gesprochen hatte, ein Kriegsfreiwilliger.

»Hunte – das sind aber beileibe keine Vierfüßler – nein, das heißt: unten!« erklärte er.

Und nun lachten auch die anderen, die Bayern und die Sachsen.

Die Schwester klappte den Andersen zu. »Jetzt mach' ich Schluß! Punktum!«

Hans West fand in dem winkligen Bau endlich die Treppe, die zum Keller hinunterführte.

In der ziemlich geräumigen Küche waren nur Scheuerfrauen tätig. Aber aus dem kleinen Holzverschlag hörte man lebhafte Unterhaltung.

»Ah, hoher Besuch! Hauptmann West!« rief der Professor aus dem Holzverschlag heraus, in dem sich eine Art Schalter befand. »Kommen Sie 'rein in die gute Stube!«

Der Verschlag hatte früher wohl als besonderer Ausgaberaum gedient. Die Schwestern hatten ihn als ihr kleines Kasino hergerichtet. Ein blankgescheuerter Tisch nahm den ganzen Raum ein, darum herum lief eine Bank. Wer einen Platz von der Tür entfernt einnehmen wollte, wenn der Raum besetzt war, mußte auf der Bank hinter den Gästen entlang laufen, dabei aber sich stark bücken, um nicht die frisch geweißte Decke zu streifen.

»Wir sind hier mit dem schönen Gesellschaftsspiel beschäftigt, Kartoffelpuffer zu essen,« sagte Schwester Ella. »Heute ist Feiertag – statt für dreihundert war nur für vierzehn Köpfe zu kochen, da haben wir's uns leicht gemacht. Darf ich Ihnen einen Teller reichen, Herr West?«

»Hier ist Platz – hier!« riefen ein paar und rückten zur Seite. Sie wußten, daß er ja doch nur wegen Frau Helene kam, und sorgten dafür, daß er neben ihr Platz fand.

Und in dieser Kellerküche, deren Wände mit deutschen Sprüchen, Kaiserbildern, Aufrufen, Kriegsflugblättern geschmückt waren und in der sich der Fettgeruch des Ausbackens kleinbürgerlich-behäbig mit dem Kaffeeduft mischte, hatte er dann die erste Aussprache mit Helene.

Der Dienst rief die Mehrzahl bald ab. Der Professor mußte mit der Rechnungsführerin Listen durchgehen und vertiefte sich am Tisch in die Arbeit, bei der er immer viel stöhnte.

»In Zahlen denken kann ich nur, wenn ich rauchen darf, aber Schwester Ella ist ja von einer so puritanischen Strenge … Ei was, ich wag's … Herr Hauptmann West, eine echte Kantinen-Havanna, Besseres kann ich Ihnen nicht anbieten. Aber heimlich muß uns Schwester Agnes etwas Medizin verschaffen. Erst nötigen sie einem fünf Kartoffelpuffer auf, und dann soll der Mensch nicht mal einen Schwarzwälder Kirsch kriegen? Ausgeschlossen.«

Aus der anderen Seite des Tisches Zahlen, lustiges Streiten, Brummen, wieder Zahlen und Zahlen, das Hin und Her der Schwestern, die mit ihren Belegen antreten mußten. Keiner kümmerte sich mehr um Helene und ihren Gast.

»… Und nun sagen Sie mir also, Frau Helene, was wissen Sie davon?«

Sie sah elend aus. Im Zwielicht des durchs Kellerfenster spärlich eindringenden Tages und der grellen Bogenlichtflamme im Küchenflur wirkte ihr Gesicht ganz krank.

»Nur das – was Geneviève mir gesagt hat.«

»Sie war bei Ihnen?«

»Sofort. Natürlich. Sie bat mich, ihr zu helfen. In Erfahrung bringen, um was es sich handelt. Welcher Art die Anklage ist.«

Erschrocken sah er sie an. »Sie haben sich doch von allem ferngehalten?«

»Ich hab' ihr gesagt, daß das ja nicht möglich ist.«

Er legte seine Hand auf die ihre. »Ich kann Ihnen nur den einen dringenden Rat geben: sollte sie wiederkommen, dann nehmen Sie ihren Besuch nicht mehr an.«

Helene schüttelte den Kopf. »Sie wird nicht wiederkommen.«

»Das wissen Sie so bestimmt?«

»Es ist ein tiefer Riß zwischen uns. Sie wirft mir Undankbarkeit vor. Sie hält mich für schlecht. Aber sie ahnt ja nicht … Ach, mein Leben hat jetzt das letzte bißchen Sonne verloren.«

»Weil Sie um diese Freundschaft gekommen sind?«

»Ich hab' sie gern gehabt. Alle. Die Apfelgesichter. Berthe und Louise, Madeleine und Fleurette. Und was für ein bewundernswerter Mensch, die Geneviève. Aber – im Grunde doch Feinde. Ja, alle, alle. Und ich war mitten unter ihnen, mitten in all dem Lug und Trug. Und log mit und trog mit.«

»Das war – – damals?«

Sie sah ihn ernst und gequält an. »Kann ich sagen, wann ich begonnen habe, zu fühlen: das ist recht und das ist unrecht? Das kam doch nicht von gestern auf heute. Ganz allmählich wuchs es in mir. Unheimlich war mir's ja schon lange dort. Was ich sah und hörte und vermutete und mir zusammenwob …«

»Sie zweifeln also auch nicht an seiner Schuld?«

»Darauf soll ich Ihnen antworten?« Sie lehnte sich zurück, stützte den Kopf an die Wand und fuhr traurig fort: »Das wäre ja nun ein Abschluß, den zu erleben es wirklich nicht gelohnt hätte. Alles, was ich Gutes dort empfing, mit einer Anzeige zu vergelten. Etwa so, wie Sie vorhin von Antoine Bergerat sagten.« Sie schüttelte sich. »Entsetzlich. Nein, nein, nein, nein.«

»Nun brauchen Sie mir gar nichts weiter mitzuteilen, Frau Helene. Nun weiß ich, daß er in Ihren Augen schuldig ist.«

»West – ich bitte Sie –«

»Still, still. Sie sollen und müssen sich endlich loslösen aus diesem schrecklichen Wust. Es müßte Ihnen doch innerliche Befreiung sein.«

Tief und schwer atmete sie auf. »Ich kann mich nicht so völlig von alledem befreien, was meine Vergangenheit war. So gern ich's möchte.«

»Die paar Kindergesichter halten Sie? Und die Dankbarkeit?«

»Nein. Die Furcht – und die Schuld.« Eine Weile schwieg sie. »Das sind die Ketten, die mein Schicksal an das dieser Menschen und dieser Stadt binden.«

Der Professor schob drüben seine Hefte zurück. »Jetzt aber auch keine einzige Zahl mehr. Es lebe der Kommiß! Wenn einer für mich eine Fegefeuerstrafe ersinnen will, dann braucht er mich nach meinem unseligen Ende bloß als jungen Mann ins Schreibzimmer eines Intendanturbeamten zu setzen. Zwanzig Jahre Leichtsinn büß' ich da in zwei Tagen ab … Na, Frau Helene, und wie werden wir Sie wieder aufpäppeln? Sie sind ja ganz spack geworden. Kartoffelpuffer – das nennt nun Schwester Ella eine bekömmliche Kost für so ein blasses, mattes Hühnchen, wie Sie's sind … Schwester Agnes, Sie sorgen mir dafür, daß die junge Frau Milch und Eier kriegt. Auf Sie ist Verlaß. Sie haben sogar den Mut, gegen Schwester Ella aufzutrumpfen, der mir leider abgeht … Aber jetzt 'raus aus dem Küchendunst! Und gelüftet!«

Als sie aus dem Keller ins Erdgeschoß gelangten, kam ihnen das Theresle entgegen. »Eine Neuigkeit!« rief sie.

»Gulaschkanonengerücht?« fragte der Professor trocken.

»Nein, Schwester Ella hat mit einem Fliegerleutnant gesprochen. Sie kennt ihn. Es ist unbedingt wahr. Der englische Flieger, der neulich entflohen ist, der hat ein paar Schriftstücke abgeworfen. Bei der Militärpolizei sind sie abgeliefert worden. Es steht drin: er bedanke sich für die Gastfreundschaft, die er hier erfahren habe, und er werde demnächst wiederkommen.«

»Ein verdammter Bursche!« rief der Professor und lachte. »Aber im Grunde ein ganz guter Witz … Ja, und ist denn das wirklich wahr, daß sie den Laroche eingebuchtet haben? … Frau Helene, Ihr Verehrer? … O, bitte, ich weiß, Sie sollen da Herzensverwüstungen angerichtet haben, gegen die selbst die Zerstörung der Rue Faidherbe nicht aufkommen kann!«

Er wollte den Pionier ein bißchen eifersüchtig machen. Zugleich versuchte er auf jede Weise, Frau Helene aus ihrer krankhaften Starrheit und Teilnahmlosigkeit aufzurütteln. Aber es war ihr jetzt nicht beizukommen.

»Ob Laroche tatsächlich dem Mapplebak aus der Stadt geholfen hat?« fragte Hans West Helene, nachdem sich der Professor verabschiedet hatte. »Wenigstens – den Verdacht haben Sie doch auch?«

Sie sah ihn darauf so zerquält an, so hilfeflehend, daß er nicht weiter in sie drängte. Aber ihr Schweigen sagte ihm, daß sie seinen Verdacht teilte.

Die Untersuchung war jetzt im Gange. Eines Zutuns bedurfte es nicht mehr. Das Gericht würde die Schuldigen schon überführen.

Doch trotz dieser Gewißheit ward er eine schwere innere Unruhe nicht mehr los.

 

Abends kam Hans Wests Berufung als Stellvertreter des Kommandeurs der Pioniere einer Nachbardivision.

Der betreffende Major war beim Begehen der Stellung von einer englischen Granate erschlagen worden. Daß er das Kommando dauernd behalten würde, glaubte Hans West selbst nicht; dafür war er ein zu junger Hauptmann; aber die Aufgabe reizte ihn außerordentlich.

Nach langen Monaten des Stellungskampfes herrschte da draußen jetzt wieder der große Krieg. In Anstürmen von unerhörter Wucht setzten die Engländer und Franzosen an der ganzen Front ihre Angriffstruppen ein. Als Hauptdurchbruchsstelle schien für sie die Gegend um Arras in Betracht zu kommen. Die badischen Leibgrenadiere, bei denen Hans West noch von der Schulzeit her manch guten Kameraden wußte, hatten sich bei Loretto in tagelangem, schwerem Ringen der mächtigen Überzahl zu erwehren gewußt. Aber die feindliche Artillerie hatte das ganze Gelände wie umgepflügt.

Im Feuerbereich galt es neue Annäherungswege, neue Brücken, neue Munitionsunterstände zu schaffen, die kleinen Förderbahnen einzurichten. Das waren gefährliche, aber lockende Aufgaben.

Auch Wests nächster Vorgesetzter war der Meinung, daß das Kommando nur als rasches Einspringen aufzufassen war. Immerhin bedeutete es eine Auszeichnung, daß man sich seiner »droben« bei einer solchen Gelegenheit erinnert hatte.

»Das Eiserne Erster haben Sie – also jetzt mit Volldampf voraus aufs Ritterkreuz der Hohenzollern!«

»Zuerst auf den Tommy!« sagte Hans West.

Die dienstliche Sendung, die neue Sorgen brachte, riß ihn aus den alten heraus. Er war froh, daß das Amt, das er antreten sollte, so vielseitige Arbeit brachte und daß es in diesem Abschnitt aufs äußerste gesteigerter Kämpfe seine ganze Verantwortung beanspruchte. So kam er von dieser grausamen Zwitterstimmung frei, die schon gedroht hatte, den Soldatengeist in ihm zu unterdrücken.

Helene bekam nur ein kurzes Abschiedswort von ihm zu hören, nachdem er auf der Kommandantur vorgesprochen hatte, um sich abzumelden.

Der Hauptmann und der Unteroffizier waren im Geschäftszimmer mit anwesend. West berichtete also zugleich dem Kameraden und der Freundin von seiner Abberufung, die ja voraussichtlich nur von kurzer Dauer sein würde.

»Eigentlich müßte man Ihnen wünschen: bleiben Sie dort!« meinte der Hauptmann.

Hans lächelte.

»Vielleicht – bleib' ich auch. Wie so viele. Dann hat es halt so sein sollen.«

»Nein, West, so war es nicht gemeint!«

Als die Schwungtür hinter ihm zugefallen war und sich wieder beruhigt hatte, sagte der Hauptmann, der sich von dem Unteroffizier die Stöße der Quartierzettel vorzeigen ließ, in denen er Stichproben unternahm:

»Es muß dort furchtbar zugehen, bei Souchez. Haben Sie den ausführlichen Bericht schon gelesen, Frau Martin? West wird schwere Tage dort haben. Aber die braucht er wohl auch, um glücklich zu sein. In der letzten Zeit gefiel er mir gar nicht mehr recht. Er hatte seinen guten Humor verloren, war so grüblerisch geworden.«

»Ja – das ist mir auch aufgefallen,« sagte Helene mühsam.

Sie wußte, daß er unter dem Zweifel an ihr seelisch litt. Sein Kommando mußte ihm also eine Erlösung sein.

Für Helene bedeutete es aber von nun täglich eine neue erregende Spannung: den Heeresbericht zu lesen, die Erläuterungen in den Depeschen, die Schilderungen der Kriegsberichterstatter in den Zeitungen.

Ging es gut? Hatten die Deutschen schwere Verluste? Wurde die Division genannt, die da mit auf dem Hauptschlachtfeld stand und bei der sie in verantwortungsvoller Stellung Hans West wußte?

Und dann gab es mündliche Berichte von Kameraden des Hauptmanns, die dies und das selbst miterlebt oder gehört hatten von Mitkämpfern. Immer lauschte sie.

Und darauf füllten sich wieder die Lazarette. Und auch die Durchgangsstelle auf dem Nordbahnhof war bald bis zum letzten Plätzchen besetzt.

Wenn Helene jetzt vom Dienst kam, so suchte sie immer Schwester Ella auf: sie ließ sich zu kleinen wirtschaftlichen Hilfeleistungen anstellen, übernahm gelegentlich die Aufsicht in der Wäscheausgabe, beim Lebensmittelempfang, beim Essenausteilen, wenn eine der Schwestern für ein paar Stunden beurlaubt werden sollte.

So hörte sie auch Gespräche von Verwundeten, die in dem Abschnitt von Hans Wests Division gekämpft hatten.

Ein fröhlicher kleiner Pionier mit hellen Augen, der den Kameraden eines Abends erzählte, wie er da dem neuen Kommandeur seinen zerschossenen kleinen Unterstand zurechtgezimmert hatte, freute sich nicht wenig, als ihm die Aushilfsschwester, die im blau-weiß gewürfelten Arbeitskleid steckte, ganz unversehens ein großes Paket Schokolade für die Heimat mitgab.

In dem Bangen um Hans Wests Schicksal trat manchmal die Erinnerung an die Gefahren zurück, denen sie selbst ausgesetzt war – durch die Verbindung mit dem Hause Laroche. Nur in der Einsamkeit und bei Nacht meldete sich's wie ein Alpdruck. Sie lag da oft ruhelos, mit offenen Augen, auf dem harten Soldatenbett, hörte die festen Atemzüge der Schwester Ella, hörte das Auf- und Abschreiten der Bahnhofsposten, hörte das Umstellen der Züge draußen, je nach Windrichtung untermischt von schwächerem oder stärkerem Geschützdonnergrollen … Und die Frage quälte sie: Trug sie eine Schuld, die nicht zu verstehen und nicht zu verzeihen war? Oder konnte sie noch von ihrem Unrecht sich reinbaden, wenn sie eine offene Beichte ablegte?

Zuweilen fragte sie sich, ob sie wohl den Mut gefunden hätte, Hans West alles zu gestehen, wenn er hiergeblieben wäre. Und was er als Soldat darauf für Schritte hätte tun müssen.

Schwer seufzte sie auf. Sie war in einen bösen Kampf hineingezerrt worden. Und sie sah kein gutes Ende voraus.

Daß die Untersuchung gegen das Komitee Laroche mit großer Entschlossenheit durchgeführt wurde, das konnte sie den verschiedensten Anzeichen entnehmen. Auch die Quartierkommission mußte gelegentlich ihre Kartothek zu Rate ziehen, um der Polizei bei ihren Nachforschungen nach dem Verbleib verschiedener schwer belasteter Einwohner behilflich zu sein.

Seit der Verhaftung von Laroche waren der Spinnereibesitzer aus Canteleu und der Fabrikdirektor Decouai aus Helemmes spurlos verschwunden.

Helene hörte Namen nennen, die sie kannte und kaum kennen durfte. Das Ansehn ihres Vaters in der Heimat, das Eintreten Wests für sie hatten ihr ein Vertrauen verschafft, das bisher ganz ungerechtfertigt gewesen war. Nun wollte sie sich's so gern verdienen. Aber es war wohl schon zu spät.

Einem Gespräch im Lichthof, das sie zufällig mit anhörte, entnahm sie, daß die Untersuchung des Falles Laroche schon so weit vorgeschritten sei, daß es demnächst zur Verhandlung vor dem Feldgericht kommen werde.

Eines Tages schickte der Hauptmann den Befehlsempfänger, der die Umläufe des Gouvernements gebracht hatte, hinaus und sagte zu ihr:

»Hier ist auch eine Vorladung für Sie, Frau Martin. Es kommt da eine Anklage gegen Laroche und Genossen zur Aburteilung. Sie kennen Laroche von früher her, nicht wahr, und haben vorübergehend in seinem Hause gewohnt. Können Sie denn etwas aussagen?«

Helene blieb regungslos sitzen. Nach einer kleinen Pause sagte sie:

»Ich weiß nicht – was man mich fragen will … Ich war lange Zeit befreundet mit Geneviève Laroche. Sie ist meine Pensionsgenossin gewesen …«

»Es geht aus der Vorladung nicht heraus, ob Sie als Entlastungs- oder Belastungszeugin aufgerufen werden. Haben Sie schon einmal als Zeugin vor Gericht gestanden?«

»Noch nie.«

»Dann einen guten Nat, Frau Martin: Haben Sie volles Vertrauen! Denn dann schenkt man es Ihnen auch. Sie haben ja selbst inzwischen hier auf dem Amt erfahren, wie unsere Behörde sich bestrebt, in allem gerecht zu sein. Es geht ja bis in die winzigsten Kleinigkeiten. Wehe dem Landser, der sich auch nur gegen die armseligste Quartierwirtin eine Eigenmächtigkeit zuschulden kommen läßt. Nicht wahr? Aber Recht um Recht. Sie verstehen mich.«

O gewiß, sie verstand ihn.

Und wieder war sie nahe daran, die letzte Lüge von sich zu schleudern und rückhaltlos einzugestehen, wie schuldig sie sich fühlte. Aber der Gedanke an alle die, die sie mit sich ins Verderben gerissen hätte, hielt sie im letzten Augenblick wieder zurück.

Und so nahm sie den Aktenbogen der Vorladung an sich, las und faltete ihn dann schweigend mit unsicheren Händen zusammen.

Wochen vergingen. Eine Zeit unsagbarer Angst für Helene. Der erste Gerichtstermin war aus Gründen, die sie nie erfuhr, aufgehoben worden. Sie hatte sich in dem Druckereigebäude, das dem Gouvernementsgericht diente, eingefunden – ein paar Dutzend Zeugen füllten die Vorräume –, aber man entließ sie wieder, ohne daß sie aufgerufen worden wären.

Als Helene in den schmalen Flur eingetreten war, hatte sie Geneviève erblickt, die sich im Gespräch mit einem Unteroffizier befand. Es war der Dolmetscher, wie sie herausmerkte. Geneviève mußte sie sehen, es war für Helene kein Zweifel daran, – aber sie schaute flüchtig über sie hinweg.

War es Absicht? Verfolgte Geneviève damit irgendwelchen Plan? Welchen? Oder wollte sie sie kränken?

Wenn Helene in der nächsten Zeit einmal einen Weg unternahm, um eine Besorgung zu machen, auch nur um sich Bewegung zu verschaffen, dann vermied sie es, in die Nähe der Inkermanstraße zu kommen. Es bangte ihr vor einer Begegnung mit den Apfelgesichtern. Und doch – hatte sie wirklich Sehnsucht, eines der Kinder wiederzusehen, zu sprechen.

Der Sommer kam nach Flandern. Aber in Lille erlebte man ihn nicht. Die von den Straßenbahnen und den durchziehenden Kolonnen verstaubten Platanen, Linden und Kastanien der Boulevards waren so stadtgrau und reizlos wie Theaterkulissen im Sonnenschein.

Die hochgeschraubten Erwartungen der Einwohner auf den einheitlichen Gesamtangriff der verbündeten Ost- und Westmächte flauten immer mehr ab. Die einsichtigeren Liller belächelten jetzt nicht mehr die Siegesmeldungen, die von den Deutschen aus dem Osten gemeldet wurden. Diese Deutschen waren von einer ungeahnten Zähigkeit. Es stand also doch kaum zu erwarten, daß sich die Senegalneger, die Inder und Australier so bald mit den Kosaken in Berlin vereinigen würden. In den Estaminets, an den Haustüren, in den Geschäftszimmern und in den Kaufläden gab man zwar immer wieder neue Zeitpunkte für den Einmarsch der Verbündeten in Flanderns Hauptstadt an – aber wie sie zu Weihnachten und zu Ostern vergeblich darauf gewartet hatten, die Liller, so mußten sie nun auch Pfingsten kommen und gehen sehen, ohne daß sich die Lage auch nur im geringsten wahrnehmbar änderte.

Und es kam als neuer sicherer Termin der 1. Juni – dann der 1. Juli – darauf als felsenfest der in allen französischen Kreisen als Tag der endgültigen Befreiung angesetzte Festtag der Nation: der 14. Juli. Aber der Einmarsch der Truppen der Weltmächte vollzog sich auch diesmal wieder so ganz, ganz anders, als man's gehofft hatte. Ein Trüpplein Gefangener ward eingebracht: weiße und farbige Engländer. Das war alles. Trübgestimmt ließ man den erbsengelben Zug an sich vorbeimarschieren.

Diesmal veranstalteten die Liller keinen Aufruhr mehr. Sie waren durch die Strafe im März gewitzigt.

Helene hatte alles, was sie sich wünschen konnte: eine Arbeit, die sie ausfüllte, eine gute Kameradschaft in den wenigen Stunden, die ihr dazwischen verblieben, – aber in den Wochen vor der Verhandlung ward sie ihres Lebens nicht mehr froh. Brachte ihr doch jeder Tag neue Angst, neue Qual, neue Selbstvorwürfe.

Ein paarmal hatte sie Karten und Briefe von Hans West bekommen. Er schrieb nicht über die schweren Zeiten, die er selbst durchgemacht hatte, sondern fragte nur nach ihrem Ergehen. Aber da jede Zeile, die zwischen ihnen auf dem Wege über das Amt gewechselt ward, Allgemeingut war, so ersetzte ihr dieser schriftliche Verkehr nicht die persönliche Aussprache, nach der es sie so fast qualvoll drängte.

Schwester Ella nahm einmal einen Anlauf – wohl veranlaßt durch ihren Bruder oder durch den Professor, denen es wieder Hans West ans Herz gelegt haben mochte – und sie versuchte, die Ursache von Helenens scheuem Wesen zu ergründen. Es ward auch daraus nur eine schmerzliche Stunde. Helene hätte jetzt ihre Selbstanklage am liebsten hinausschreien wollen – und mußte, mußte doch schweigen.

Eines Abends – kurz vor dem neu festgesetzten Tag der Verhandlung – überkam sie ein wahres Fluchtfieber. Seit vielen Monaten gab es für sie nur die engbegrenzten Stätten ihres Lebens, an die sie gebannt war, als ob sie im Gefängnis säße: das Amt, die nüchterne Wohnstätte, die kurzen Wege durch die zerschossene Stadt.

Es war ihr unmöglich, heute wieder wie alle Abende zum Bahnhof zu gehen und in den dichtbesetzten Sälen oder der heißen Küche kleine Wirtschaftsdienste zu leisten. Es trieb sie, zu wandern, zu wandern, endlich wieder einmal ein bißchen Grün zu sehen, – zu fühlen, zu erleben, daß draußen der Sommer war.

Aber die Bewegungsfreiheit war sehr gering, die man den Einwohnern der Stadt gelassen hatte. Ihr wäre es ja wohl möglich gewesen, einen Erlaubnisschein für einen kleinen Spaziergang außerhalb der Wälle zu bekommen; doch dazu hätte es eines besonderen Antrags bedurft. So blieb die Wanderung, zu der sie sich anschickte, trotzdem es müde von dem einförmigen Himmel herabregnete, wieder nur auf das Stadtgebiet beschränkt. Und unwillkürlich – aber von ihr selber mit einigem Grauen empfunden – gelangte sie in die südöstliche Vorstadt, wo die Martinsche Fabrik lag.

Und da zwang sie's dann natürlich, bei Didelot einzutreten.

»O welche Zeit!« sagte der Einarmige.

Auch er hatte eine Vorladung als Zeuge zum Feldgericht. Gleich in der Tür empfing er sie damit.

Stumm nickend trat Helene ein.

Didelot war noch grauer geworden. Erschreckend tief lagen die Augen in den Höhlen. Von ihrem Gehalt hatte sie ihm stets eine Unterstützung abgegeben. Aber er klagte ihr vor, daß er der Flämin drüben im Estaminet habe zahlen müssen, weil die ihm ständig gedroht habe, daß sie ihn anzeigen werde …

»Anzeigen?«

Der Einarmige wies mit dem Kopf nach der Gegend, in der sich Antoines Behausung befunden hatte.

»Weil wir den Engländer aufgenommen hatten. O, Madame, Antoine reißt uns noch alle ins Unglück. Hätte er geschwiegen, so hätten sie keinem etwas nachweisen können. Aber nun haben sie doch Haussuchung gehalten drüben – und alles gefunden.«

»Was – haben sie gefunden?« fragte Helene stockend.

»Sein Archiv. Im Lehnstuhl. Drachman hat doch die Listen bei ihm aufbewahrt.«

»Die Listen – die Geneviève geführt hat?!«

Er nickte.

»Daraufhin haben sie wieder eine Razzia gemacht und noch viele, viele aufgestöbert. Nicht nur hier in der Gegend. Bis nach Fives und nach Lomme. Unser armes Fräulein Geneviève.«

»Ist denn – Geneviève – auch verhaftet?«

»Ich weiß ja nicht. Ich bin doch nicht aus dem Hause herausgekommen.«

Helene mußte sich setzen. An dem kleinen Herd ließ sie sich nieder auf dem zerrissenen Strohstuhl. Mit großen Augen sah sie sich in dem verwahrlosten Raume um. »Das ist ja grauenvoll, Didelot!«

»Ich hatte so oft gesagt: warum die Papiere aufbewahren? Aber Drachman meinte, es sei das Geld der Regimentskasse dabei, und später werde danach gefragt, und er und sein Kommandeur, der Major Ducat, seien dafür haftbar. Ach, da waren ja Hunderte von Quittungen. Immer über die Wochenbeträge. Antoine hatte sie im Lehnstuhl verborgen. Da hätte sie doch niemand gesucht, wenn er es nicht selbst verraten hätte. Aber ich habe ihm nie getraut, nie.«

»Ist es denn seine Absicht – auch Geneviève mit ins Unglück zu reißen?«

Didelot nahm seine kalte Pfeife und sog. »Das möchte ich nicht hoffen. Aber meinen Glauben an die Menschheit hab' ich verloren, ganz und gar.«

Nun war es die Angst um Geneviève, die sie mit einer Heftigkeit überfiel, als ob sie gepeitscht würde.

Es duldete sie nicht länger bei Didelot. Sie ging den weiten Weg zu Fuß. Es war ihr ein Bedürfnis, zu laufen, gegen den Wind und den Regen anzukämpfen.

Wenn auf irgendeiner der Quittungen Genevièves Handschrift erkannt wurde, – ach, wenn überhaupt nur ein leiser Verdacht aufkam, daß sie sich an dem Unterstützungswerk ihres Vaters beteiligt hatte, so war sie verloren.

Wie mochte die Anklage gegen Laroche lauten? Wußte man schon um alles? Ob Antoine auch verraten haben mochte, daß Laroche dem englischen Flieger Aufnahme gewährt hatte?

Es begann zu dunkeln, als Helene zum Republikplatz gelangte. Fast wäre sie in die Inkermanstraße abgebogen – so lebhaft beschäftigten sich ihre Gedanken mit dem Hause Laroche. In dem gleichmäßigen Regen lag der Platz menschenleer da. Nur in den Wartehäuschen der Straßenbahnen drängten sich vermummte Gestalten. Die Liller trennten sich ja nur so schweren Herzens von ihren Wollschals. Hals, Ohren, Mund und Nase steckten bei solchem Wetter immer in der mehrfachen Umwicklung. Die spärlich brennenden Straßenlaternen zogen lange, blitzende Bahnen durch den regengetränkten Sand des weiten Platzes. Einer solchen Bahn mußte sie gerade folgen, um zur Ecke des Faidherbe-Denkmals zu gelangen. Das sie blendende Licht ward aber plötzlich unterbrochen: eine Gestalt kam ihr entgegen. Und dicht beim Denkmal trafen sie einander und erkannten sich. Es war Geneviève.

»Ich bin bei dir gewesen, Helene,« sagte Geneviève. Ihr Ton klang matt, und doch lag eine seltsame Kälte und Härte darin. »Sie wußten mir nicht Auskunft zu geben, wo du seist, auch nicht, wann du kommst. Da nahm ich an, du hättest Auftrag gegeben, daß man dich mir gegenüber verleugnet.«

»Nein, Geneviève.« Sie sah sie fest an. »Aber warum hast du mich damals nicht erkennen wollen? Im Gerichtsgebäude?«

Geneviève wich aus: »Natürlich ist's wegen der neuen Verhandlung, daß ich dich sprechen möchte.« Und sie setzte hinzu: »Sprechen muß.«

»Ahnst du, wo ich war, Geneviève? Draußen, bei Didelot. Und der sagte mir, daß Antoine verraten hat, wo die Quittungen verborgen waren.«

»Er ist Kronzeuge. Er hat Straffreiheit für seine Person zugesichert bekommen. Nun rächt er sich an allen, die ihm je unrecht getan haben.«

»Du hast ihm nur Gutes erwiesen.«

»Er haßt mich – weil er Manon haßt. Und da er sie nicht mehr treffen kann, so wird er sich wohl an mich halten. An uns alle. Auch an dich.«

Helene nickte. »Ich – habe es – nicht anders erwartet.«

Im Regen standen sie einander gegenüber. Beide waren ohne Schirm, sie hatten die Hände in die Jackentaschen gesteckt. Helene beobachtete, wie der Regen von Genevièves Hut in einem kleinen Rinnsal über ihre linke Schulter lief und sich von da eine Bahn suchte. Hundert Kleinigkeiten fielen ihr auf. So hellwach waren ihre Sinne. Aber dabei fühlte sie nicht, daß sie selbst vom Regen durch und durch-geweicht war.

Zwei Polizisten der Mairie patrouillierten an dem Paar vorüber. Sie hatten den hohen Kragen steil aufgerichtet und den Umhang wie eine Toga um die Schultern geschlagen. Eine leichte Knoblauchduftwelle zog mit ihnen.

Erst als sie außer Hörweite waren, begann Geneviève wieder zu reden. Und jetzt hatte ihr Ton das Kalte und Harte verloren: es klang eine namenlose Verzweiflung daraus. »Helene – Helene – sie dürfen ihn uns nicht töten, die Deutschen!« Ein plötzliches Schluchzen erfaßte sie. Sie hob aber die Hand nicht aus der Tasche. Sie ließ die Tränen mit dem Regen über die Wangen rinnen.

»Was können wir tun, um ihn zu retten?« fragte Helene matt und traurig. »Wissen wir, was sie auf dem Gericht schon alles wissen?«

»Sie haben die Quittungen. Ja. Sie können ihn dafür bestrafen, daß er die Flüchtlinge mit Geld unterstützt hat. Aber Vermaillon, der Vetter von Ma, den ich sprach, meint, darauf stände nur Gefängnis. Und wenn der Krieg aus sei, dann tauschte man die Gefangenen ja doch gleich aus. Aber das eine dürfe um Gottes willen nicht verraten werden: daß Mapp bei uns im Hause war.«

»Du glaubst nicht, daß sie auch das schon wissen?«

»Nein, ich glaube es nicht. Sie haben ja erst vorgestern wieder Haussuchung gehalten. In allen Räumen. Vom Billardzimmer an bis zu Benjamins Stübchen. Und in Vaters Zimmer haben sie sogar die Diele an einer Stelle aufgerissen.«

»Warst du dabei, als sie suchten?«

Nein, wir mußten alle zusammen in Mas Schlafzimmer bleiben.«

»Und Ma? Wie geht ihr's? … Arme Ma! … Und Fleurette! Ach, liebe Geneviève, es tut mir so weh.« Nun gab sie ihr die Hand. Und Geneviève ergriff sie hastig, hielt sie fest, streichelte mit den bloßen Fingern den Handschuh, durch den sie die Wärme fühlte.

»Helene, du weißt, um was ich dich bitten will – bitten muß.«

»Sprich es ruhig aus, Geneviève! Jetzt hilft keine Halbheit mehr. Wir müssen uns klar über alles sein.«

»Wirst du verraten, daß Mapp bei uns war?«

»Wie sollte man dazu kommen, mich danach zu fragen?«

»Aber wenn man dich nun fragt?«

»Geneviève – kann ich durch Schweigen deinen Vater retten, dann schweige ich. Auch wenn das Schweigen mich selbst belastet und mit ins Verderben zieht. Aber einen Meineid schwöre ich nicht.«

Immer fester umklammerten Genevièves Finger Helenens Rechte. »Helene – dann – dann richte es nur so ein, daß du vor mir zur Vernehmung kommst und nicht nach mir.«

»Ich kann die Folge nicht bestimmen. Und was willst du damit … Jäh fuhr Helene plötzlich zusammen. »Du willst sagen, daß du dann geschworen haben würdest …«

»Ganz gewiß, Helene« Das weißt du doch, daß ich für Papa jedes Opfer bringe.« Sie gab Helenens Hand frei und ließ die Schultern erschöpft sinken. »Wenn ich ihn damit retten kann.«

»Und du glaubst wirklich, er würde das Opfer annehmen, Geneviève? Du glaubst, er würde dulden, daß du schwörst …«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aber man wird dich ja gar nicht zum Eid zulassen. Da du seine Tochter bist.«

»Um so mehr wird also deine Aussage gelten, Helene.« Nun kam wieder die Kälte und Härte von zuvor in Genevièves Ton. »Und viel wird von dir abhängen – wenn nicht alles. Vielleicht – sein Leben.«

Eine Weile standen sie einander wieder stumm gegenüber. Endlich sagte Helene: »Jeder wird seine Pflicht so tun, wie er es vor Gott und vor sich selber rechtfertigen kann. Vor den Menschen – gibt es für uns alle ja keine Rechtfertigung mehr.«

»Vor – denen!« schränkte Geneviève mit einem Achselzucken ein. Und der ganze Haß auf die Deutschen flammte in ihrem Ton und in ihrem Ausdruck auf.

So gingen sie auseinander.

 

Als Hans West von seinem Kommando zurückkehrte und sich bei den verschiedenen Dienststellen zurückmeldete, sagte ihm einer der Adjutanten: »Dem Kriegsgerichtsrat kommen Sie sehr zupaß, West. Sie müssen morgen Richterdienst tun. Von den Herren hier im Gouvernementsstab, die noch abkömmlich wären, kann keiner kommandiert werden, weil die schon dem ersten Richterkollegium angehört haben. Es wird in derselben Sache neu verhandelt. Der Fall Laroche, Sie haben wohl schon davon gehört.«

Er fühlte nun schon des Schicksals Hand. Groß und grell stand vor ihm eine ernste Mahnung. Er wußte: nun würde es endlich zu der schweren Auseinandersetzung zwischen ihm und Helene kommen, die sein soldatischer Wahrheitsdrang seit langem forderte. In der Einsamkeit, fern der Beeinflussung durch ihre Stimme, durch ihren Blick, hatte er sich über jede Begegnung mit ihr Rechenschaft gegeben. In Stunden der Gefahr, wo dicht bei seinem armseligen Unterstand das furchtbare Eisen die Erde zerriß oder wo seinem Gang durch die Gräben der Tod mit dem meckernden Geklapper der Maschinengewehre folgte, hatte ihn ja immer wieder die Sehnsucht angepackt. Der Inbegriff des Lebens war für ihn, der nie zuvor geliebt hatte, diese deutsche Frau geworden. Und danach breitete er die Arme aus in Augenblicken, wo er das Ende vor sich zu sehen glaubte. Deren gab es ja so viele in den Tagen und Nächten dieser Riesenschlacht. Aber hernach setzte immer wieder das unheimliche Grübeln ein. Er witterte Unaufrichtigkeiten – und es formten sich in seinem Hirn Forderungen, Fragen. Nicht nur in der letzten Zeit, auch schon in früheren Begegnungen war ein Rest geblieben, der nicht glatt ausgehen wollte. Hatte sie ihm schon einmal die Unwahrheit gesagt? Und warum? Darüber mußte er sich jetzt Gewißheit verschaffen.

Als er drüben in das Geschäftszimmer der Quartierkommission eintrat und sein Blick dem von Helene begegnete, wußte er schon, noch bevor sie ihm auch nur eine Silbe gesagt hatte, daß es der Gedanke an den morgen zur Verhandlung gelangenden Prozeß gegen Laroche und seine Genossen war, der sie so verstört erscheinen ließ sie so blaß und elend machte.

»Sie sind als Zeugin geladen?« fragte er tonlos.

Sie nickte.

»Ich werde Richter sein, Frau Helene.«

Der Hauptmann hörte, daß West zurück sei, und kam hinzu, um ihn zu begrüßen, sich von der aufregenden Zeit da draußen berichten zu lassen.

Aber West zeigte sich wenig gesprächig. Er war abgespannt. Dem Hauptmann fiel auch auf, wie kalt und ernst der Ton zwischen ihm und Frau Martin war, die doch immer für so besonders gute Freunde gehalten worden waren. Die Skrupelloseren fanden es ja sogar selbstverständlich, daß sie zarte Beziehungen unterhielten. ›Vielleicht haben sie sich gezankt,‹ dachte er dann bei sich.

»Sie müssen aber heut abend ins Kasino kommen und erzählen, West, hören Sie?«

Der schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Ich muß heute erst Ordnung schaffen.«

Helene verstand: in sich selber mußte er Ordnung schaffen, bevor er sein Amt als Richter antrat.

Eine lange Nacht hindurch lag Helene auf dem harten Soldatenbett und dachte nach, versuchte zu schlafen, schreckte wieder empor und sann und grübelte von neuem. Aber es wollte ihr trotz allem Bemühen nicht gelingen, Ordnung in sich selber zu schaffen.

Übernächtig, frierend unter dem strahlendhellen, wie blankgewaschenen, aber seltsam kalten Sonnenhimmel, begab sie sich vor neun Uhr zum Gouvernementsgericht.

In dem schmalen Vorraum zwischen Wachtstube und Sitzungszimmer drängten sich ein paar Dutzend Zivilisten. Militärpolizisten mit der schwarz-weiß-roten Armbinde und dem überzuglosen Helm hielten die Aufsicht. Gesprochen durfte nicht werden.

Geneviève stand am Fenster und sah zum Himmel auf. Auch heute streifte sie Helene mit keinem Blick.

Aus dem Sitzungszimmer kam der Gerichtsschreiber. »Ob die Angeschuldigten noch nicht da sind, läßt der Herr Rat fragen.«

Eine Ordonnanz meldete: »Soeben fährt der Wagen vor.«

Eine starke Bewegung ging durch die Reihen der Wartenden, als sich gleich darauf die Tür auftat und die fünf Männer eintraten; geführt und geschlossen ward der Zug von je einem Posten mit aufgepflanztem Seitengewehr.

Man hörte ein jähes Aufschluchzen. Geneviève stürzte sich ihrem Vater in die Arme.

Laroche blieb gefaßt. Er fuhr ihr mit der Rechten liebkosend über Schulter und Arm, preßte aber die Lippen fest zusammen, weil er seiner Stimme in diesem Augenblick wohl nicht völlig Herr gewesen wäre. Die Untersuchungshaft hatte ihn bleich gemacht. Aber sein Antlitz hatte wie immer etwas Durchgeistigtes, das ihm männlich-edle Schönheit gab.

Im Gegensatz zu ihm wirkte Ebenezer Drachman, der sich früher immer auf den unwiderstehlichen Don Juan aufgespielt hatte, geradezu roh. Das Grobsinnliche seines Schädels und seiner Züge war in der von ihm überstandenen Zeit noch stärker zum Ausdruck gekommen.

Den widerlichsten Eindruck machte Sylvère Verhulst, der Einäugige. Er hatte eine gerissene Art, durch Zwinkern, verstohlenes Lächeln, stumm geformte Fragen mit den Anwesenden in Verbindung zu treten.

Eine rechte Spitzbubenerscheinung, sagte sich Helene.

Ein Bild des Jammers bot Biquet, der Mann der Wäscherin. Er war ganz in Tränen aufgelöst. Das große, blau und rot karierte Taschentuch blieb immerzu in Gebrauch.

Haby, der frühere Geschäftsführer des Kasinos, benahm sich ruhiger, obwohl er schon des Allerschlimmsten überführt war: der hohle Stock, den man ihm abgenommen hatte, enthielt einen Plan von Lille – alle Gebäude und Walldepots der Festungswerke, in denen die Deutschen Munitionsvorräte untergebracht hatten, waren mit roter Farbe genau darauf bezeichnet.

»Eintreten!« rief der Dolmetscher.

Ein Offizier trat auf Helene zu, als sie sich dem Zug anschließen wollte, und fragte sie:

»Frau Martin?«

Er stellte sich vor, er war den Angeschuldigten als Verteidiger bestellt.

»Wann sind Sie vernommen worden, gnädige Frau?« fragte er, in seinem Aktenbündel blätternd.

»Bis jetzt noch gar nicht.«

»So, so. Dann handelt sich's wohl nur um eine Aussage über Leumund. Danke bestens, gnädige Frau.«

Er trat an den kleinen Tisch, der links am Fenster des eigentlichen Sitzungszimmers stand. Die stattliche Schar der Zeugen blieb im Vorzimmer stehen. Die Verbindungstür zwischen den beiden Räumen war ausgehoben.

Helene konnte zwischen den Köpfen ihrer beiden Vorderleute hindurch nur einen Teil der Richtertafel überblicken. Aber sie sah das braune, scharfgeschnittene Gesicht Hans Wests. Tiefernst war seine Miene, als sie alle fünf vom Kriegsgerichtsrat vereidigt wurden.

»Ich schwöre es – so wahr mir Gott helfe!«

Kurz, soldatisch alle fünf Stimmen. Helene schlug laut das Herz.

Die Angeklagten wurden aufgerufen. Einzeln mußten dann die Zeugen vortreten.

»Antoine Bergerat!«

Helene fühlte, wie einer den andern anstieß. Neben ihr stand die Flämin aus dem Estaminet.

»Ah, Kanaille!« flüsterte sie, während Antoine die an ihn gerichteten Fragen über seine Persönlichkeit beantwortete.

Der Kriegsgerichtsrat beugte sich zu dem Vorsitzenden über und raunte ihm ein paar Worte zu. Wahrscheinlich erklärte er, weshalb gegen den ehemaligen Schofför nicht auch die Anklage auf Fluchtversuch und Spionage wie gegen Biquet und Haby erhoben worden war.

Die Zeugen wurden zur Wahrheit ermahnt, auf die Bedeutung des Eides hingewiesen, es wurden ihnen die hohen Zuchthausstrafen genannt, mit denen das Gesetz den Meineid bestrafe. Dann wurden sie wieder hinausgeschickt.

Grauenvoll dehnte sich für Helene dieser Vormittag. Die erste Vernehmung der fünf Angeklagten war bereits so umfangreich, daß mit der Zeugenvernehmung erst gegen Mittag begonnen werden konnte. Über eine Stunde behielt man Antoine Bergerat drinnen.

»Haben Sie gesehen,« flüsterte die Waschfrau, deren Mann mitangeklagt war, Helene zu, »wie die Offiziere den Bergerat gemustert haben? Wie man ein ekelhaftes Tier mustert. Ah, selbst diese Hunnen müssen Abscheu vor solch einem Burschen haben. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.«

… Doch Frau Biquet täuschte sich …

Antoine fühlte sich ganz in seinem Fahrwasser. Er wußte, daß er in diesem Gerichtsdrama die Hauptperson war, daß die Fäden allesamt in seiner Hand lagen. Und es kam etwas von teuflischer Lust in den kleinen schwarzen Burschen.

Mehrmals mußte ihn der Kriegsgerichtsrat unterbrechen, weil er abschweifte: es lockte Antoine, bei dieser Gelegenheit seiner früheren Herrschaft eins auszuwischen. Antoine knüpfte daran an, daß der Notar Léon Ducat die erste Gelegenheit benutzt hatte, auszureißen, als Lille in Gefahr kam, und daß seine Tochter, Frau Manon Dedonker, sich hernach einem sehr lockeren Leben hingegeben habe.

»Was soll der Dienstbotenklatsch?« wandte der Verteidiger etwas ungeduldig ein. »Besteht da ein Zusammenhang mit dem Fall Laroche? Und welcher?«

»Vielleicht doch,« erwiderte Antoine, nachdem ihm der Dolmetscher die Zwischenfrage übersetzt hatte. »Im Hause Ducat war ja lange die Regimentskasse versteckt, aus der die Unterstützungen gezahlt wurden. Sie enthielt vierzigtausend Francs. Auf uns arme Teufel entfielen davon ja nur neun Francs die Woche. Aber der Vetter von Manon, der Major André Ducat, brauchte nicht so sparsam zu wirtschaften wie wir. Durch seine Hand sind im Verlauf von sechs Wochen zwanzigtausend Francs gegangen. Davon hat er viel in der Bar Nitouche verjuxt. Wie oft hat er aus dem ›Strasbourg‹ oder dem ›Europe‹ Fleischportionen für alle sechs oder sieben oder acht Mädchen bringen lassen. O, sie lebten nicht schlecht.«

»Woher wollen Sie das alles wissen, Bergerat?«

»Adèle hat mir's gesagt, meine Braut.«

»Sie weilte auch dort in der Bar?«

»Wenn wir Geld brauchten. Aber wir sind längst geschiedene Leute. Denn sie hat es mit Mapplebak gehalten.«

»Hat sie's nicht auch mit andern gehalten?«

Antoine zuckte die Achsel. »Aber in Mapplebak war sie verliebt.«

»Seltsame Psychologie!« bemerkte einer der Herren.

»Und Sie wollen sagen: Manon Dedonker hatte dem Major dann auch zur Flucht verholfen?« fragte der Kriegsgerichtsrat.

»O nein. Sie war unglücklich, als er sich aus dem Staube machte. Freilich hat sie sich dann bald mit einem deutschen Prinzen getröstet. Geld hatte Ducat ja genug. Und über die Grenze brachten ihn Sylvère und Ebenezer.«

Die beiden Angeschuldigten zuckten nun doch zusammen, als Antoine ihre Namen so scharf und schrill wie Peitschenhiebe herausbrachte. Bisher hatten sie jede Beteiligung an früheren Unternehmungen dieser Art bestritten.

Hans West verfolgte während dieser ganzen Vernehmung das Mienenspiel Laroches. Er entsann sich der verschiedenen flüchtigen Begegnungen mit ihm. Helene hatte immer mit hoher Achtung von ihm gesprochen. Es war ihm bekannt, daß die Seinen ihn wie einen Halbgott verehrten. Die ganze Haltung des Mannes war gut. Hans West merkte den Kameraden an, daß sie ihm sogar eine gewisse Sympathie zuwandten.

Bei jeder einzelnen Zeugenvernehmung – nachdem Antoine Bergerat abgetreten war, folgten sie einander in rascherem Zeitmaß – hatte der Kriegsgerichtsrat oder der Älteste der Richter die meisten Fragen an Laroche zu stellen. Aber Laroche wußte stets mit Fassung und sehr gewandt zu antworten. Gewisse Dinge gab er zu – andere stritt er kühl ab.

Das Ansehen, das Laroche bei seinen Volksgenossen genießen mußte, schien auch den Kronzeugen noch etwas zu beeinflussen. Antoine Bergerat – der ja für sich keine Bestrafung mehr befürchten mußte – hatte den ganzen Fall Mapplebak auf sich genommen. Ein flüchtiger Bekannter aus dem Dorf Flequières – er kenne seinen Namen nicht, aber er sei kenntlich daran, daß er auffallend klein sei und neben dem Riesen Mapp fast wie ein Zwerg gewirkt habe – sei an seiner Wohnung vorbeigekommen in Gesellschaft des Engländers.

»Ob ich mir Geld verdienen und den Flieger aufnehmen wolle? Warum nicht? Wenn er gut zahlt. Da blieb er denn bei mir. Ich habe ihn verpflegt, so gut es ging.«

»Und er hat bis zu seiner Flucht Ihre Wohnung nicht verlassen?«

»Ah, gewiß. Adèle hat ihn ausgeführt. Adèle hat großes Gefallen an ihm gefunden. Überhaupt – die ganze Liller Damenwelt.«

Er bemerkte, wie Laroche leicht zusammenfuhr, und brach ab.

Der Kriegsgerichtsrat faßte ihn scharf ins Auge.

»Woher wissen Sie, daß die ganze Liller Damenwelt Gefallen an ihm fand, Bergerat?«

»Das merkte ich … Ich sah es eben. Wenn er sich auf der Straße zeigte. Sie fanden ihn wohl hübsch gewachsen, die Weiber.«

»Aber Ihre Bemerkung vorhin ließ vermuten, daß Sie ein bestimmtes Beispiel meinten?«

»Bewahre.«

»Bergerat, Sie haben so viel ausgeplaudert, daß Sie auch in diesem Punkte ruhig die Wahrheit sagen können. Hat vielleicht eine der Töchter von Herrn Laroche eine Zuneigung zu Mapplebak gefaßt?«

»Geneviève?« fiel Laroche zornig lachend ein. »Sie hat ihn gar nicht gesehen.«

Der Angeklagte wurde ermahnt, nur zu sprechen, wenn er gefragt wurde.

»So werden wir Ihre Tochter selbst fragen.«

Geneviève wurde hereingerufen. Im Eintreten suchten ihre grauen Augen sofort den Blick ihres Vaters. Es war für Hans West kein Zweifel, daß sie die Kunst verstanden, beide, sich blitzschnell zu verständigen.

Sie wirkte vornehm. Ihr edel geschnittenes, ernstes Gesicht machte Eindruck. Dem Kriegsgerichtsrat ward es fast schwer, dem ernsten jungen Mädchen die tiefeinschneidenden, bedeutungsvollen Fragen vorzulegen.

»Wie sah Mapplebak aus, Fräulein Laroche?«

»Ich habe Mapplebak nicht kennengelernt.«

»So. Er ist nie im Hause Ihres Vaters gewesen?«

»Er hat es nie betreten.«

»Seltsam. Aber Sie hatten Kenntnis von seinem Äußern. Zum Beispiel, daß er eine Figur wie Roland habe? Daß er blaue Augen habe, ein glattes Kinn, blondes Haar …«

»So – stellen wir uns wohl alle die jungen Engländer vor.«

Der Kriegsgerichtsrat beugte sich zu den Richtern über.

»Bei der Haussuchung«, raunte er ihnen zu, »hat man in ihrem Zimmer nämlich ein Gedicht auf Mapplebak gefunden, in dem all dies vorkommt.«

»Dann kann sie ja genial lügen, die junge Blonde.«

»Fräulein Laroche – wir wollten davon Abstand nehmen, Sie zu vereidigen, weil Sie nahe verwandt sind mit einem der Angeschuldigten. Aber da Sie die sehr wichtige Frage, ob Mapplebak bei Ihnen war, mit solcher Bestimmtheit verneinen, werden wir Sie doch wohl schwören lassen müssen. Sie können jetzt abtreten. Zur Ableistung des Eides werden Sie wieder vorgerufen. Inzwischen haben Sie Zeit, sich die Folgen zu vergegenwärtigen. Dolmetscher, übersetzen Sie das der Zeugin.«

Geneviève verließ den Raum, ohne eine Miene zu verziehen. Draußen trat sie neben Helene, die am Fenster stand. Als der Posten sich umwandte, um nach der Uhr zu sehen, flüsterte sie Helene zu:

»Sie haben das törichte kleine Gedicht gefunden, das Berthe auf Mapp gemacht hat.«

Die Verhandlung wendete sich drinnen anderen Punkten der Anklage zu. Die Versuche, Pläne und Nachrichten in hohlen Stöcken über die Grenze zu schmuggeln, zu Spionagezwecken, wurden besprochen. Hierüber konnte Antoine Bestimmtes nicht aussagen. Er wußte nur vom Hörensagen, daß Herr Von dem Bosche, besonders aber Herr Decouai sich dieser Tätigkeit gewidmet hatten. Die Nachrichten wurden im Boulevard-Café an der Ecke der Rue Nationale gesammelt. In einem Zimmer des ersten Stockwerks sollten sich da zahlreiche hohle Stöcke befunden haben, die von Flüchtlingen mitgenommen wurden. Wie dieser Dienst geleistet wurde und von wem, das sei ihm nicht bekannt.

Biquet versicherte unter Tränen, er habe von diesen Umtrieben ganz und gar nichts gewußt. Er habe als Soldat, der sich verborgen hielt, die Unterstützung vom Komitee erhalten, aber die sei ganz gering gewesen, und da ihn seine Frau sehr knapp gehalten habe und es kein Vergnügen gewesen sei, viele Monate nur auf das Haus, auf den Waschkeller und die enge kleine Wohnung angewiesen zu bleiben, so habe er beschlossen, über die Grenze zu flüchten. An Spionage habe er nie gedacht, nie.

Plötzlich sank das armselige Männchen in die Knie, erhob die rechte Hand, während er mit der Linken das blau-rot gewürfelte Taschentuch an die Brust preßte, und rief schluchzend:

»Ich schwöre es – ich schwöre es beim Leben meiner drei Kinder!«

»Lassen Sie doch das Theater, Biquet,« verwies ihn der Vorsitzende, »das macht hier gar keinen Eindruck, ist auch eines Soldaten nicht würdig. Und zudem können Sie nicht beim Leben Ihrer Kinder schwören, denn Sie haben ja gar keine. Aus den Personalien geht hervor, daß Ihre Frau die drei Kinder in die Ehe mitgebracht hat.«

»Aber ich bin trotzdem der Vater!« versicherte Biquet, stand auf und schneuzte sich unzählige Male hintereinander.

Laroche stieß zwischen den Zähnen aus: »Memme!«

Stumpf und ergeben gab Haby alle Punkte der Anklage zu. Daß er habe fliehen wollen, daß er mit Mapplebak und Drachman immer vorn an der Spitze gewesen sei und den Stock mitgenommen habe, weil ihm Decouai gesagt habe, für die Papiere bekomme er, sobald er sie in Calais abliefere, eine große Summe Geldes.

»Sie wußten, daß das Verbrechen der gewerbsmäßigen Spionage mit dem Tode bestraft wird?«

»Ja.«

»Und Sie wagten es trotzdem?«

»Ich dachte mir: Ei, warum soll ich erwischt werden? Hunderten vor mir ist es doch glatt gelungen.«

»Hunderten?«

»So versicherte mir Decouai.«

Ganz anders war das Auftreten des Unterleutnants Drachman. Er wußte, daß für ihn alles verspielt war. Aber es reizte ihn, diesen Deutschen zuvor doch noch zu zeigen, was für ein Kerl er war.

Die Haft hatte sein braunes Gesicht noch nicht bleichen können. Er war rasiert, hatte sich die Haare schneiden, den Schnurrbart stutzen lassen, seine Raubtierzähne glänzten, seine schwarzen Augen funkelten.

Auch er stritt nichts ab – eher suchte er sich noch den Ruhm an einigen Fällen zu sichern, die ihm streitig gemacht werden sollten. Er sei es gewesen, der damals dem Major Ducat über die Grenze geholfen habe. – Verhulst sei ja ein gerissener Bursche, aber dem hätte sich sein Major nicht anvertraut, wenn nicht er dabei gewesen wäre: Ebenezer Drachman. Und wenn Antoine Bergerat sich darüber aufhalte, daß sein Major in der Bar der Nitouche Geld gelassen und die Mädchen traktiert habe, so könne man ihm das nicht übelnehmen, denn Antoine sei ein armer kleiner Schofför und wisse nicht, wie Kavaliere lebten.

»Aber Sie wissen es, Herr Drachman?« konnte sich der Vorsitzende nicht enthalten zu fragen.

»O gewiß. Fragen Sie Liddy. Oder …«

»Wir wollen uns lieber an die hier vorliegenden Tatsachen halten als an junge Damen Ihrer Bekanntschaft. Als Kavalier haben Sie doch all diese gefährlichen Dienste gewiß nur aus Patriotismus auf sich genommen?«

Ebenezer warf sich in die Brust. »Selbstverständlich. Ich war immer ein Patriot.«

»Aber von Mapplebak haben Sie sich fünfhundert Francs zahlen lassen für Ihre Bemühungen, ihn über die Grenze zu bringen?«

»Ich hatte Auslagen. Und ich mußte Sylvère abfinden.«

»Mir hat er auf den Kopf zwanzig Franes bezahlt – keinen Sou mehr!« rief Sylvère Verhulst dazwischen.

Ein paar Sekunden standen die beiden Männer einander wie die Kampfhähne gegenüber. Der Dolmetscher trennte sie.

Vierzehn Zeugen waren bis jetzt vernommen. Nun kam Frau Biquet an die Reihe. Deren Vernehmung brachte eine fast heitere Note in die Verhandlung. Es zeigte sich, daß auch sie über die Trennung herzlich froh gewesen war. Sie gedachte der Zeit, da sie ihren Mann ewig im Versteck hatte halten müssen, nur mit Entsetzen. »Es muß schon einer so ein Waschlappen sein wie Herr Biquet,« schloß sie zornig, »um sich noch an der Grenze abfangen zu lassen. Da war doch Mapp ein ganz anderer Kerl. Der ist doch hinübergewitscht, wie? – Warum Biquet nicht auch?«

»Auch Sie sprechen so bewundernd von dem englischen Flieger, Frau Biquet. Haben Sie ihn denn einmal gesehen?«

»Nein. Aber ich schwärmte natürlich für ihn. Welche Französin täte das nicht?« Sie maß ihren Gatten mit unsäglicher Verachtung. »Mut und Kraft verlange ich von einem Mann. Seine Kinder sollen stolz auf ihn sein. Aber wenn einer überhaupt keine Kinder hat …«

»Frau Biquet, Ihr Mann schwor hier beim Leben seiner Kinder. Er sagte, er sei der Vater Ihrer drei.«

Sie lachte schrill auf. »Das hatt' ich ihm so gesagt. Aber jetzt, wo doch alles aus ist, da mag er's wissen. Sie waren von einem Tambourmajor.«

Stolz trat sie ab. Der Mann der Wäscherin begrub seinen Kummer in dem blau-rot gewürfelten Taschentuch.

Im Vorzimmer befand sich noch immer ein Dutzend Zivilisten, die als Zeugen vorgeladen, aber noch nicht vernommen waren, darunter Helene. Auch Soldaten warteten des Aufrufs. Geneviève erkannte den Gefreiten, der bei der Haussuchung bei ihnen gewesen war.

Es ging jetzt schon auf drei Uhr. Einer der Richter, so hieß es, habe eine Mittagspause vorgeschlagen. Aber dann berichtete die Ordonnanz einem Gerichtsboten, der Kriegsgerichtsrat werde voraussichtlich erst noch sein Plaidoyer halten.

Helene atmete tief auf. Soviel sie von Gerichtsdingen wußte, schien demnach auf das Zeugnis der übrigen Geladenen verzichtet werden zu sollen.

Aber wieder öffnete sich die Türe. »Fräulein Laroche!« erklang es.

… Nun ging es um Leben und Tod …

Helene wandte sich zum Fenster und preßte die Hände ineinander. »Vater im Himmel, ich stehe hier und flehe dich an …« Sätzen, die sie noch zu formen die Kraft hatte, folgten nur noch Bilder, Worte, Gedanken, Gelübde …

Mit ihrem ruhigen, leichten Schritt war Geneviève wieder vor den Richtertisch getreten. Staunenswert sicher blickte sie die fünf hinter dem grünen Tisch aus ihren grauen Augen an.

»Fräulein Laroche, wir werden Sie jetzt gleich den anderen Zeugen vereidigen. Zuvor frage ich Sie noch einmal: Haben Sie Mapplebak gesehen oder nicht?«

»Ich – habe ihn gesehen.«

»Wo? Und wann?«

»Darüber verweigere ich die Aussage.«

»Sie dürfen sie nur verweigern, wenn Ihre Aussage Sie zwänge, eine Verfehlung einzuräumen, die das Gesetz mit Strafe bedroht.«

Sie nickte. »Es ist so.«

»Stammt dieses Gedicht auf Mapplebak von Ihnen, Fräulein Laroche?«

Sie nickte wiederum.

»Die flammende Art stimmt aber im Grunde gar nicht zu Ihrem gesetzten, weit über die Jugend hinaus bewußten Wesen.«

»Ein Rest Mädchenschwärmerei. Ich gebe zu, das Gedicht ist recht kindisch.«

»Sagen Sie die eine oder andere Zeile davon auswendig, Fräulein Laroche.«

Es war ein wehes Lächeln, das über ihre Züge glitt. Dann begann sie mit ihrer ernsten, schönen Altstimme ein paar Zeilen zu sagen. Aber es trat ihr dabei doch die Schamröte ins Gesicht, und sie brach ab.

Starr beobachtete Hans West den Vater des jungen Mädchens. Sein Schreck, sein ungläubiges Abwehren, dann sein Schmerz, sein Trotz … Das malte sich auf seinen leidensvoll gewordenen Zügen. Hans West glaubte nicht daran, daß Geneviève die Verfasserin dieser übertriebenen Huldigung war.

»Und Sie bleiben also dabei, daß Mapplebak das Haus Ihres Vaters nicht betreten hat?«

»Er – hat es – nicht betreten.«

»Und Sie werden es beschwören?«

»Ja!« hauchte Geneviève.

»Dann erheben Sie die rechte, Hand …«

»Nein!« schrie Laroche auf, stürzte vor und riß Genevièves schon erhobenen Arm hinunter. »Das – wirst du – nicht tun, meine arme Geneviève.«

Es war ein Aufschluchzen von Vater und Tochter. Für einen Augenblick preßten sie sich aneinander. Laroche küßte sie dann auf die Stirn und trat in die Reihe der anderen zurück.

Warum verhindern Sie Ihre Tochter, den Eid zu leisten, Herr Laroche? Doch nur, weil es ein Meineid geworden wäre?«

Er hob die Schultern an, atmete tief auf und ließ die Arme sinken. »So ist es. Ich habe Mapplebak ins Haus gebracht. Niemand sollte den Namen wissen, niemand ahnen, daß es der Engländer war. Aber die Kinder drängten herzu. Sie waren neugierig. Und die Zweite – es ist Berthe – verliebte sich in den hübschen Burschen. Und das Gedichtchen stammte von ihr. Meine Geneviève ist viel zu ernst und reif für solche Torheiten.«

»Nennen Sie es ernst und reif, wenn sie hier im Angesicht Gottes die Unwahrheit beschwören wollte?«

»Sie wollte ihren Vater retten. Das ist ja aber doch nicht mehr möglich.«

»Papa –!« Geneviève schrie es fast.

»Still, mein Kind. Denke an Ma! Denke an die andern! Du mußt dich ihnen erhalten. Du bist mein tapferer Kamerad gewesen, Geneviève. Ich danke dir.«

Der Gerichtshof beschloß, eine Pause in der Verhandlung eintreten zu lassen. Die beiden heißen Räume entleerten sich.

 

Im Laufe des Abends wurden die Zeugen entlassen, auch diejenigen, auf deren Vernehmung das Gericht verzichtet hatte. Gleichzeitig verbrachte man die Angeklagten in den bereitgestellten Wagen nach der Zitadelle.

Der Antrag des Kriegsgerichtsrats lautete für Laroche, Drachman, Verhulst und Haby auf Todesstrafe, für Biquet auf Gefängnis.

Die Richter verhandelten jetzt. Über ihren Spruch durfte nichts verlauten, bevor der Gouverneur als Gerichtsherr das Urteil bestätigt hatte.

Helene ging nicht zu Bett. Ein Transport Verwundeter war angekommen. Jede Hilfskraft konnte gebraucht werden. Sie kleidete sich rasch um, dann stellte sie sich Schwester Ella zur Verfügung.

»Um Gottes willen, wie siehst du aus, Helene? Ich dulde nicht, daß du dich jetzt noch anstrengst. Was für eine Nervenstrapaze muß hinter dir liegen.«

Helene zeigte auf die in ihren Notverbänden liegenden Feldgrauen. »Die armen Burschen haben noch Schwereres hinter sich.«

Es war Mitternacht vorbei, als Hans West zum Bahnhof kam. Er hatte sich nicht vorstellen können, daß Helene sich schlafen legen würde, und fand es ganz selbstverständlich, daß er sie noch zu sehen bekam.

Auf dem Bahnsteig befand sich der Professor. Ein Lazaretthilfszug stand unerwartet zur Verfügung. Sofort hatte er sich mit den Dienststellen in Verbindung gesetzt. »Da gilt es nun, ihn bis zum Morgen abfahrtfertig zu machen,« sagte er zu dem Personal. Den Sanitätsleuten fielen schon ebenso wie den Schwestern die Augen zu, aber hier gab es kein Zögern.

Hans West fand nur wenig Gelegenheit, sich mit Helene über den zurückliegenden Tag auszusprechen. Über das Urteil selbst äußerte er sich nicht – aber Helene sah es seiner Miene an, daß es nicht milder ausgefallen war, als der Antrag des Kriegsgerichtsrats es gefordert hatte.

»Ich kann es ja gar nicht fassen … Die Kinder ohne Laroche!« Helene schlug plötzlich die Hände gegen die Stirn. »Wie grausam und wie unsinnig ist das alles!«

»Sie verteidigen ihn auch jetzt noch, Helene?«

»Er hat als glühender Patriot gehandelt.«

»Und hat vielleicht das Leben von Tausenden aus dem Gewissen. Machen Sie sich doch klar, in wie abgefeimter Weise diese Verbrechergesellschaft vorgegangen ist.«

»Ach, Sie ziehen ihn in den Staub. Er mußte doch seinen Landsleuten helfen. Sollte er sie im Elend verkommen lassen?«

»Er hat schwerere Sünden auf dem Gewissen, Frau Helene. Sie hätten der Verhandlung folgen müssen wie ich. Da wäre auch das letzte Restchen Mitgefühl aus Ihrem Herzen gewichen. Die Kartenskizzen, die Zeichnungen, die das Komitee über die Grenze hinübergeschleppt hat! Der vielbewunderte Mapplebak, der ja nun richtig entkommen ist, nimmt Pläne mit, auf denen unsere Munitionslager haarscharf vermerkt sind. Das gibt dann wieder lockende Aufgaben für entschlossene Flieger. Können Sie sich vorstellen, was für Folgen ein kühn durchgeführter Bombenangriff haben würde? Wir vom Bau wissen es. Reißen Sie das Mitleid aus Ihrem Herzen – es ist verschwendet.«

Helene war die Aufregung noch zu nahe. Sie hatte zu all den ungeheuerlichen Ereignissen dieser letzten Zeit, besonders aber des heutigen Tages, noch keinen Abstand finden können.

Unzufrieden mit sich, noch immer unklar über so viele Fragen, die er von Helene beantwortet wissen wollte, trennte er sich endlich. Es war schon drei Uhr. Ein wahrer Schmerz war es ihm, daß er noch immer nicht die rückhaltlose Aussprache mit ihr finden konnte. Denn der heutige Tag hatte ihm voller Grauen dargetan, wie sie doch mitten in einem wahren Pfuhl des Verbrechens gelebt hatte.

Wußte sie gar nichts davon? Hatte sie in deutscher, vertrauensseliger Art blindlings geglaubt? Hatte sie nie die Lügen durchschaut?

Auch Helene fand keine Ruhe, als sie dann endlich, von Ella gedrängt, ihr Lager aufsuchte.

In ihrem Hirn und ihrem Herzen arbeitete der quälende Selbstvorwurf, daß sie zwar durch einen glücklichen Zufall verschont worden war, in der heutigen Verhandlung ein Bekenntnis ablegen zu müssen, – aber die Last der Lüge beschwerte sie doch noch ebenso wie zuvor. Fast hätte sie Geneviève beneiden mögen, die doch so mutig und voll Selbstentäußerung alles hatte auf sich nehmen wollen … Dann wieder verwarf sie die Bewunderung, erschrak vor der gotteslästerlichen Leichtfertigkeit, mit der Geneviève die Hand zum Meineid erheben wollte …

Aber am andern Tage sprach doch nur das Weib in ihr. Ob auch Hans West es aus ihrem Herzen reißen wollte: das Mitleid konnte sie nicht überwinden.

Es war abends sechs Uhr, als der Hauptmann vom Befehlsempfang kam und in ernstem Tone sagte: »Der Gouverneur hat das Urteil bestätigt.«

»Alle – vier – zum Tode –?«

»Die Angehörigen von Laroche haben noch ein Gnadengesuch eingereicht. Die älteste Tochter hat es gebracht. Der Verteidiger hat es ihr wohl empfohlen. Aber es blieb ja gar keine andere Möglichkeit … Unheimlich ist es, sich vorzustellen, wie Schulter an Schulter mit uns die abgefeimtesten Verbrechen ausgeheckt worden sind, von Menschen, denen wir vertrauten wie Kinder.«

Überall mußte sie's hören. Aber es ließ ihr dennoch keine Ruhe. Sie mußte zu Geneviève, mußte wenigstens ein Wort der Teilnahme ihnen sagen, ihnen noch einmal die Hand drücken, den Blondköpfen, den Apfelgesichtern …

… Es herrschte ein solcher Jammer im Hause Laroche, daß Helene ihr Herz zucken fühlte. Der Oberleutnant, der die Verteidigung geführt hatte, war vor knapp einer Stunde dagewesen und hatte Geneviève mitgeteilt, daß der Gouverneur von seinem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machte.

»Und – Papa weiß –?!« brachte Geneviève trocken schluchzend hervor.

»Noch nicht. Den Angeklagten wird um drei Uhr das Urteil bekanntgegeben. Die Vollstreckung findet morgen früh um sechs Uhr statt.«

»Aber – – wir müssen ihn doch – – noch einmal sehen?!«

Der Oberleutnant nickte. »Von vier Uhr ab steht es Ihnen frei.«

Geneviève wollte Helene hernach nicht empfangen. Ma hatte sich angekleidet. Niemand hatte ihr helfen dürfen, während sie sonst fast für jede Bewegung Hilfsdienste in Anspruch genommen hatte. Louise, Madeleine, Benjamin und Berthe weinten still vor sich hin – Fleurette fiel in Weinkrämpfe – am lautesten gebärdete sich die Köchin, die gleich in die Nachbarschaft lief und es überall verkündete. Unter allen Haustüren trat dann der Rat zusammen, vor den Estaminets, den Gemüse- und Bäckerläden bildeten sich Gruppen.

Nach vieler Mühe war ein Wagen aufgetrieben worden. Helene half zusammen mit Geneviève der schluchzenden Frau Laroche hinein.

»Ich bleibe bei den Kindern, Geneviève,« sagte Helene, »schick' mich doch nicht weg!«

Sie saßen dann alle zusammen oben im Schlafzimmer von Ma und Fleurette. Helene hatte Fleurette auf die Knie genommen und schaukelte sie.

»Millionen Männer sterben jetzt in allen Ländern für ihr Vaterland,« sagte Helene, »und sie fühlen es nicht als Schmerz – sie sind stolz darauf. Und auch euer Papa bringt das Opfer stolz und gern, so traurig es ist, daß wir ihn nun nie wieder sehen sollen.«

Benjamin sagte: »Ob er sich die Augen verbinden läßt … O, ich täte es nicht. Da, seht her, würde ich sagen, hier ist mein französisches Herz, trefft es nur gut, mitten hinein!«

Berthe hielt im Weinen inne und gab dem Bruder einen kleinen Stoß mit dem Ellenbogen. »Das hat Tinseau gesagt im ›Sklavenhändler‹ … Daher hast du's.« Und sie lief nach dem Bücherspind, die Stelle zu suchen.

Am ruhigsten blieb Louise. »Wißt ihr,« sagte sie, »wenn ich einmal sterbe, dann möchte ich es erst ganz kurz vorher wissen. Warten ist gräßlich.«

Um sieben Uhr kam der Wagen zurück.

Ma war so rüstig wie seit Monaten nicht. Sie sprach aber vor Aufregung fortgesetzt. Man konnte kaum folgen.

Der Abschied von ihrem Vater hatte Geneviève so erschüttert, daß sie im Gegensatz zu Ma kein Wort herausbrachte.

Sie nahm es nun auch gern an, daß Helene über Nacht bei ihnen blieb.

Es kam zu keiner gemeinsamen Mahlzeit. Aus dem Bufett holten sich die Kinder Zwieback. Das Mädchen brachte Tee. Ma ließ sich einen Glühwein kochen, was ihr verboten war. »Aber wenn Papa es erfährt –!« warnte Madeleine.

Darauf schwiegen sie alle, selbst Ma, und dachten nach. Wie leicht jetzt doch im Grunde das Leben für sie wurde, wo es niemand mehr gab, der mahnte, tadelte, befahl. Von nun an konnte eigentlich jedes so leben, wie es wollte.

Helene und Geneviève hatten sich nicht entkleidet. Sie legten sich schließlich, als es im ganzen Hause still geworden war, auf Bett und Diwan, sprachen noch halblaut, flüsternd miteinander und nickten schließlich ein.

Doch plötzlich sprang Geneviève auf.

Auch Helene fuhr empor. »Was ist?«

»Es ist fünf Uhr.«

In der Dunkelheit tastete Helene nach dem elektrischen Licht.

»Nicht hell machen, sonst wachen die Kinder auf!«

»Was hast du vor?«

»Hingehen.«

»Geneviève –!«

»Laß mich, Helene!«

Schließlich verließen sie beide schleichend das Zimmer, tasteten sich im Dunkeln über die Treppe und traten auf die Straße.

Es mochte bis zum Augenblick geregnet haben, denn die Straße war naß, aus den Dachtraufen rann es noch. Aber der Himmel lichtete sich schon ein wenig.

Keine Laterne brannte. Sie gingen durch den totenstillen Morgen nach der Zitadelle. An der Front war es ganz ruhig. Nur irgendwoher vernahm man gleichmäßigen Marschtritt.

Da vorn bog ein Trupp Infanteristen mit Gewehren über die Brücke der Deule. Etwa vierzig Mann. Sie marschierten zur Zitadelle.

»Das – sind sie …« Geneviève klammerte sich angstvoll an Helene.

»Warum willst du dahin, Kind?« stellte Helene ihr vor. »Wir kommen ja doch nicht weit. Der Posten läßt uns gewiß nicht durch.«

Seltsam belebt erschien hier plötzlich die Nacht. Huschende Gestalten mit Papierbündeln und Kleistertopf. Dabei Militärpolizisten. Man hörte sie haltmachen, hörte das Papierrascheln, das Anklatschen. Eine Bekanntmachung, die am Morgen an allen Ecken der Stadt kleben und der Bürgerschaft eine Warnung sein sollte …

Geneviève riß sich los und jagte nach der Ecke, an der die Gruppe gestanden hatte, die soeben in die nächste Straße nach der Stadt zu verschwunden war. Sie kauerte sich nieder und suchte im Morgengrauen die Schrift zu entziffern. Einzelne groß gedruckte Buchstaben waren erkenntlich. Geneviève las den Namen Laroche. Sie schluchzte, ließ sich in die Knie sinken und preßte den Kopf gegen das noch feuchte Plakat.

»Wie quälst du dich nur, Geneviève!?«

Offiziere im grauüberzogenen Helm überschritten soeben die Brücke. Es mochten wohl die Zeugen sein.

»Komm, Geneviève! Nach Hause.«

Aber Geneviève war dazu nicht zu bewegen.

So umschlang denn Helene ihren Nacken und wanderte mit ihr.

Sie blieben auf dem schmalen Weg, der durch das innere Zitadellenwäldchen hinlief. Er hob sich schon weiß aus dem Dunkel ab.

So gingen sie, hörten nichts als ihre Schritte und ab und zu das Niedertropfen von den Bäumen, ein Knarren der Lastkähne in der Deule, fernher einen Hahnenschrei … Und plötzlich das Knattern einer Salve …

Jäh stieß Geneviève die Freundin von sich. »Ich hasse dich, ich hasse dich, ich – ich … O mein Gott, mein Gott! … Nun hat mein Leben gar keinen Wert mehr.«

Im grauenden Morgen starrte Helene ins Leere.

 

Es war ein Riß zwischen Hans West und Helene.

Er konnte es ihr nicht verzeihen, daß sie noch einmal das Haus Laroche aufgesucht hatte. Das war wie ein Sichauflehnen gegen ein Urteil, das gerecht und notwendig war. Der Soldat konnte dieser Regung nicht folgen.

Er suchte sie auf – in den Dienststunden, wenn ihn sein Weg durch die Stadt führte, zuweilen abends, wenn sie freiwillig Helferdienste bei Schwester Ella leistete. Aber sie sprachen immer aneinander vorbei.

Jedesmal, wenn er von ihr ging, machte er sich Vorwürfe. Er wollte, er durfte nicht richten. Er mußte ihr Zeit lassen, sich zu finden. Aber bei der nächsten Begegnung ward es darum nicht besser.

»Fühlen Sie denn nun mit uns Deutschen?« fragte er sie einmal ganz verzweifelt.

Da nickte sie heftig. Und es war, als wollte sich endlich ihre gemarterte Seele Erleichterung schaffen, Befreiung. Doch wiederum versank sie in ihr grüblerisches Schweigen.

Eines Tages erfuhr er, daß eine Bewegung im Gange war, der ganzen Familie Laroche die Rückkehr nach Frankreich über die Schweiz zu ermöglichen. Er fragte im Gouvernement danach. Und dabei hörte er, daß Helene, die in der Angelegenheit Dolmetscherdienste zu tun hatte, mehrmals bei den Herren, die die Akten bearbeiteten, vorgesprochen hatte, um ein gutes Wort einzulegen.

Tatsächlich ward dann bekannt, daß der Gouverneur in die Abreise der Laroches eingewilligt hatte.

Und die Quittung folgte auf dem Fuße. In Pariser Blättern erschien kaum acht Tage nach der Abfahrt der Familie Laroche von Lille ein Bericht über die neueste Schandtat der Barbaren … Teile daraus druckten die deutschen Zeitungen ab, unter Darstellung des wahren Sachverhalts, um die Stimmung »drüben« wieder einmal zu beleuchten.

Mit einem dieser Blätter kam Hans West zu Helene.

Ruhiger, friedlicher als sonst trat sie ihm gegenüber. Es war noch nicht Amtsschluß. Aber sie hatte sich die letzten Stunden freigeben lassen, um wieder einmal sich tüchtig auszulaufen.

»Und wenn Sie hören, was mein Ziel war, werden Sie's kaum glauben,« sagte sie mit einem matten Lächeln.

Fragend sah er sie an, ganz seltsam berührt von dem eigenartigen, fast feierlichen Ernst, der über ihr lag.

»Ich wäre hinausgewandert nach der Grenze von Lambersart und Saint André und hätte versucht, Sie und Consentius zu treffen. Denn in den letzten Wochen lebten wir ja wie feindliche Mächte. Und ich wollte Ihnen die Hand zur Versöhnung bieten.«

»Ach, Frau Helene –! Es war doch kein Zank, wie zwischen oberflächlichen Menschen, die einander heute schmollen und morgen …«

»So liegt Ihnen an der Aussöhnung gar nichts?«

»O doch. Viel liegt mir daran. Denn ich war sehr unglücklich.«

»Ich auch, lieber Freund. Kommen Sie, lassen Sie uns ein Stück zusammengehen. Auf Madeleine zu. Dann längs der Wälle. Es gibt da ein paar Punkte, von denen aus man weit ins Land hineinsieht. Und ich muß aus diesem Gefängnis wieder einmal heraus. Wenigstens mit den Blicken.«

Nun tat sie ihm wieder so innig leid.

Sie wanderten also.

Als er sie nach Laroches fragte, lächelte sie müde. »Wenn Sie morgen früh von Ihrer Besichtigungsfahrt nach dem Geschäftszimmer kommen, dann finden Sie einen langen, langen Brief von mir vor, der Ihnen alles erklärt.«

»Sie haben mir geschrieben?«

»Ja. Ganz ausführlich. Mündlich sagen konnte ich Ihnen das nicht. Es ist so viel darin, dessen ich mich zu schämen habe. Und – Sie kennen doch sich selbst, nicht wahr – Sie hätten mir ja gar nicht die Zeit und die Ruhe und die Sammlung gelassen, Ihnen alles so auseinanderzusetzen, wie ich's wollte und mußte.«

»Und es handelt sich um Laroches?«

»Um Laroches. Ja. Und um viele Dinge noch, wegen deren Sie mir böse waren.«

»Böse? Ich war oft nur traurig, Frau Helene.«

»Alles wird jetzt Klärung finden, lieber Freund. Sie werden mich in vielem verstehen. Werden wohl auch wieder anklagen – aber Sie werden mir auch verzeihen.«

Er blieb stehen. Sie waren von dem breiten Boulevard zu dem Wall emporgestiegen, der in unregelmäßigem Gezack die Grenze der alten Festung bezeichnete. Die Luft war klar. Seidig schimmerte die flandrische Weite durch das Gehölz der Wälle. Da und dort eine Ferme. Eine Reihe Weiden. Das Rollen von der Front war hier viel weniger hörbar als auf der anderen Seite der Stadt.

Das ward nun ein ganz wundervoller Weg. Trotz der Spannung, die ihn nicht losließ.

»Sie werden ja morgen alles lesen,« sagte sie auf sein Drängen.

»Aber ich darf doch fragen – und Sie werden mir antworten?«

Lächelnd schüttelte sie den Kopf.

Immer wieder blieb sie stehen und blickte in die Landschaft hinaus. Die Sonne ging unter, aber es bildete sich kein Feuerwerk. Nur ein breiter Streifen Orange legte sich in der Ferne unter den Rand der Dunstschicht, die bis zur Stadt heran den Himmel verschloß.

»Und werden wir dann morgen wieder hier gehn, Frau Helene, und ich werde alles wissen, werde angeklagt und verziehen haben – und werde verstehen?«

»Morgen? Ach – lieber Freund! Sie werden lange, lange, lange brauchen, bis Sie mich in allem verstanden haben! Der Brief ist so groß!«

Es lag etwas Rührendes, Ergreifendes in ihrer Stimmung. Zugleich erfüllte ihn eine seltsame Bangigkeit. »Ich möchte, wir wanderten immer so weiter – bis morgen früh – bis die Feldpost mit Ihrem Brief kommt – und dann müßten Sie dabei sein, wenn ich ihn lese –«

»Nein, ich gehe nur noch bis zum nächsten Tor mit. Dort setze ich mich in die Bahn und fahre zur Stadt.«

»Warum führen Sie Ihr Vorhaben nicht aus und marschieren bis nach Saint André?«

»Ich wollte Sie sehen – und nun sah ich Sie ja.«

Er erfaßte ihre Hand. Und plötzlich zog er sie an sich und küßte sie. »Helene – ich hab' dir oft so weh getan. Ich hab' dir auch mißtraut. Ja, es war qualvoll. Und nun bin ich so beschämt, so zerknirscht.«

Sie hatte die Augen geschlossen. »Ich bin glücklich, daß du das sagst – bevor du gelesen hast. Und ich danke dir.«

Menschen kamen. Sie schritten weiter.

Hinter der großen Gärtnerei, die bis an den Wall heranreichte, lag die Landstraße, auf der die Straßenbahn zum Genter Tor führte. Die wollte Helene benutzen.

»Also nun: Lebe wohl!« sagte sie leise.

»Auf morgen, Helene!«

Da lächelte sie.

 

Mit der Frühpost kam der Brief nicht. Hans West hatte voller Ungeduld die Besichtigungsfahrt abgekürzt, um schon im Geschäftszimmer zu sein, wenn die Post gebracht wurde. Aber sie enthielt nur Dienstschreiben – für ihn selbst eine Karte von Theo, der jetzt nach dem Osten verschlagen war.

Er wollte sich mit Helene verbinden lassen, um ihr zu sagen, daß der mit solcher Spannung erwartete Brief nun doch nicht eingetroffen sei, aber es ward ihm auf dem Amt der Bescheid, daß Frau Martin sich habe entschuldigen lassen, sie habe in eigenen dringenden Angelegenheiten zu tun.

Als er spätabends mit dem Major von der zweiten Stellung zurückkam, fand er auf seinem Schreibtisch die Zeitung, ein Päckchen Zigarren von einem alten Freund in der Heimat und einen Brief.

»Krischkel sagt, du hättest heute zehnmal nach der Post gefragt,« sagte Fritz Consentius zu ihm, »da hab' ich nach dem Geschäftszimmer geschickt und dir holen lassen, was noch da war.«

»Ich bin ja jetzt in solcher Unruhe … Ich sage dir später …« Und er riß den Umschlag auf.

»Lieber Freund Hans, ich komme, um Ihnen Lebewohl zu sagen. Es soll ein guter, ehrlicher Soldatenabschied sein mit hellen Augen und fröhlichem Mund. Und damit das möglich ist, müssen Sie mir erst durch arges Gestrüpp folgen. Sie werden mich auf Abwegen dabei sehen, über die Sie erschrecken. Aber ich will Ihnen gleich dabei sagen, daß ich immer Ihre Hand gefühlt habe die mir den rechten Weg wies. Und dafür danke ich Ihnen. Ich kann über das, was ich erlebt und gelitten und gesündigt habe, erst heute sprechen, weil die Menschen, die ich mit anklagen muß, wenn ich Ihnen die große Beichte ablege, nun unabhängig von meinem Schicksal geworden sind: Geneviève Laroche hat mit den Ihrigen ihr Vaterland wiedererreicht.«


Die Beichte, die nun folgte, war eine grausame Selbstzerfleischung. Helene verschwieg keine der Unaufrichtigkeiten, mit denen sie sich belastet hatte. Sie schilderte rückhaltlos das Doppelleben, das sie hatte führen müssen. Sie ging auf peinvolle Einzelheiten ein – sie schilderte schließlich auch die Fahrt, auf der sie mit Geneviève und ihrem Vater den Engländer und die anderen Flüchtlinge begleitet hatte.

Sie hatte die Gewißheit dabei erlangt, daß George im Dienste seines Vaterlandes gefallen war. Aber die Umstände waren ebenso trauriger Art wie die, unter denen jetzt Laroche sein Ende gefunden hatte.


»Sie haben oft an mir zweifeln müssen, lieber Freund Hans. Ihre Liebe war so stark, daß sie immer wieder die Brücke des Vertrauens fand. Jetzt werden Sie erkennen, daß Ihr Gefühl Sie nicht betrogen hat. Denn mein Herz gehört doch dem Vaterland. Und Sie – waren mein Gewissen. Aber die Zeit der Lügen trennt uns für immer. Das weiß ich. Darum reiche ich Ihnen heute die Hand zum Abschied. Mein Weg ist nicht mehr weit. Ich werde still einschlafen. Ein kleiner Raub, den ich an Schwester Ellas Vorräten beging, verhilft mir dazu. Bitte, spüren Sie mir nicht nach. Sagen Sie allen, die mich verstanden haben, ein gutes Abschiedswort von mir. Und behalten Sie selbst nur das im Gedächtnis, was frei ist von der Qual, unter der ich litt. Ich habe Sie sehr, sehr lieb gehabt. Und es ist mir ein Trost, zu wissen: vor Ihnen steht noch ein Aufwärts.«

 

Es war die Nacht, die in der Stadtgeschichte jahrzehntelang im Gedächtnis bleiben wird: kurz vor fünf Uhr erfolgte die Explosion des Munitionslagers im Festungswall an der Porte de Valenciennes, die in dem Erdreich einen Trichter von siebzig Metern Länge und zehn Metern Tiefe schuf.

Im matten Frühlicht kamen die Autos herangejagt. Unter den ersten befand sich das, worin Hans West mit seinem Chef saß.

Sie erkannten die Gegend kaum wieder.

Ein ganzer Stadtteil war da wie weggefegt. Ganze Häuserreihen waren zusammengedrückt. Die Martinsche Fabrik und das anstoßende Geviert gab es nicht mehr. Eine vierstöckige Spinnerei stand da als schiefes Gestell von Eisenschienen, leergepustet, ein Käfig. Eisenbahnwagen waren von der ungeheuren Wucht zwanzig Meter weit geschleudert worden.

Noch auf drei Meilen Entfernung hin war das Getöse gehört worden. Steintrümmer überflogen die ganze Stadt. Nach Millionen zählten die geborstenen Fensterscheiben.

Untersuchungen nach der Ursache anzustellen hielt schwer.

Von der Landsturmwache am Tor war nichts mehr vorhanden als der Rest eines Gewehrschlosses.

In Atome zerrieben war alles im nächsten Umkreis des gewaltigen Kraters.

War es ein englischer Flieger, der durch Spionage über das Munitionslager unterrichtet gewesen war und den Treffer erzielt hatte?

Keiner der Richter, die am Spruch über Laroche und Genossen beteiligt waren, der nicht sofort gesagt hätte:

»Mapplebak war's!«

Als am Nordbahnhof bekannt wurde, wo die Stelle der Explosion lag, bemächtigte sich der Schwester Ella und ihrer Gehilfinnen eine starke Aufregung. Helene hatte angegeben, sie müsse in Angelegenheiten der Fabrik mit Didelot sprechen, auch mit Challier, Lemonnier verhandeln.

Es sei da eine Aufnahme der dort noch vorhandenen Materialien erforderlich.

So war sie denn dahin – für zwei, drei Tage, wie sie sagte – übergesiedelt.

Man fand keine Spur mehr von ihr.

Vielleicht hatte selbst der grauenvolle Donnerschlag, der die Erde Flanderns erzittern machte, sie aus jenem festen, traumlosen Schlaf nicht mehr zu erwecken vermocht.

Hans West las ihren Brief wieder und wieder.

Und dann gedachte er der letzten kurzen Wanderung mit ihr, wo sie in die Stille hinausgesehn und ihm gesagt hatte: »Sie werden lange, lange, lange brauchen, bis Sie mich in allem verstanden haben!«


Nun war seine Abberufung endlich da. Er verließ die feindliche Stadt. Diese Stadt, die in Ketten lag, an ihren Ketten riß und doch nicht anders die Freiheit erringen konnte als durch die eigene Vernichtung. Diese Stadt, in der der Krieg mit Frauenschicksalen so unbarmherzig spielte wie mit dem Leben von Soldaten.

 


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