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Gottlieb Pinkert war es gewöhnt, daß »dumme Jungens« sich über ihn lustig machten, aber daß es nun das ganze Leben zu tun schien, wurde ihm doch zu bunt. Wo sollte er, ein alter, verbrauchter Arbeitsgaul, sein Futter finden? Bei den Belows leben und sterben, war sein Schicksal, wie auch die Belows werden mochten. Pinkert hatte Joachim Friedrich und Minna noch als kräftige, junge Leute gesehen, die dem Hause seine erste Blüte schafften. Rudolfs Geburt, Rudolfs Abwege und nun die unglaubliche Rückkehr desselben Rudolf hatte er miterlebt. Der mächtige Erbe setzte einen neuen Namen Below durch. Noch aber lebten die alten Schatten. Der Vater, die Mutter und – Gottlieb Pinkert.
Viel lebendiger waren die einst so kraftvollen Belows auch nicht als ihr Faktotum. Aber die Mutter konnte protestieren, der Vater im Verborgenen bleiben – Pinkert, der Dienstbote, mußte dienen. Man nahm eine unwürdige Maskerade mit ihm vor. In der geschwindelten, historischen Ecke 231 ließ man ihn herumhumpeln, in seiner fadenscheinigen Jacke. Er sah sich zum »Original« ernannt und wußte jetzt, daß er immer eines gewesen war. Aber seine Spreewassernatur war zu gesund – er spürte den Museumsstaub an seiner Existenz. Es schmeichelte ihm nichts. Daß man die gute Belowsche Erbsensuppe mit Schweinsohren wie Medizin beschnüffelte, daß er nicht mehr wußte, ob der Hausbordeaux nicht schon durch die große Verschneideanstalt gegangen war, das alles fraß ihm am Herzen. Seine einst so spiegelnde Glatze bekam Sorgenfalten, sein rotes Trotzgesicht wurde fahl und welk. Er fühlte sich plötzlich alt.
Und mit seinen Kollegen konnte Pinkert sich durchaus nicht stellen. Da man ungestraft nicht über ihn spotten durfte, wurde die »Giftkröte« bald sehr unbeliebt. Beständig kamen Klagen über ihn zum Generaldirektor. Rudolf ignorierte sie, solange es möglich war. Er wußte, jede Kränkung Pinkerts war des Vaters Kränkung. Das alte Erbstück mußte mit all seinen Stacheln hingenommen werden. Aber ein Vorfall ereignete sich, der beinahe den letzten Zeugen der Vergangenheit hinausgefegt hätte.
In der großen Halle bedienten anfangs vier Negerknaben, echter Import aus Kamerun, durch den Rudolf den wichtigen Herren vom Kolonialamt ein Kompliment machen wollte. Aber das ging nicht so, wie er wollte. Drei von den Aequatorkindern erkrankten im rauhen Berliner Winter. Zwei hatten 232 sogar den unbequemen Einfall, zu sterben, während das dritte schleunigst in die Heimat zurückgeschickt werden mußte. So blieb Mungo, der jüngste der vier, allein. Er wurde zu drei weißen Grooms gesellt. Gegen die echt chinesische Bedienung, welche Rudolf offeriert hatte, sträubte sich die Damenwelt, obwohl sie von niedlichen Bürschchen mit Zopfschwänzen bedient werden sollte. Aber die Schlitzaugen waren nicht appetitlich – man wählte lieber einen Neger statt vier Chinesen, und Mungo war ein hübscher Junge.
Aber die Eifersucht der weißen Kollegen wurde riesengroß. Es kam zu Reibereien. Besonders Bill, ein knochiger Amerikaner, ließ den armen Nigger nicht in Ruhe. Mit seinem Freunde Max, einer Berliner Range, nützte er jede Gelegenheit, um dem Schwarzen einen Streich zu spielen. Mungo hatte wie viele seines Stammes ein demütiges Dulderwesen, das Kränkungen mit schwermütiger Ironie hinnahm. Er täuschte immer darüber fort, wie jäh der Urwaldmensch, alle Demut fortschleudernd, in ihm entfesselt werden konnte. Er eilte traurig lächelnd aus der Küche in das Vestibül, aus dem Vestibül in die Küche zurück. Sein rotes Mohrengewand trug er wie einen Schmuck, von dem er nichts wußte, und obwohl er fühlte, daß die schönen Herrinnen nur von ihm ihren Tee haben wollten, ließ er doch nichts von Ueberhebung sehen, sondern strebte danach, jeden Wunsch zu erfüllen.
233 Pinkert ließ sich außerhalb seiner Eckstube nicht sehen. Er vermied es, mit dem neumodischen Personal, dessen Gesamtheit er haßte, in Berührung zu kommen. Ein Zufall fügte es aber, daß er um dieselbe Zeit nach Hause ging, da Mungo und seine Kollegen ihren Dienst verließen. Wiederholt hatte er nun beobachtet, daß der Teufel in diesem Falle weiß war und der Engel schwarz. Empört sah er mit an, wie die grobschlächtigen Bengels, vier an der Zahl, den einen kleinen Nigger zu Tode hetzten. Sie hänselten ihn auf offener Straße, machten Partei mit jedem Strolch gegen ihn, riefen ihm Unflätigkeiten nach, und immer wieder mußte der Schwarze vor ihnen flüchten.
Wie das zusammenhing, wußte Pinkert nicht. Er fühlte nur, daß es vollständig anders sein müßte. So seltsam es war – der alte, mürrische Berliner fühlte eine tiefe Verwandtschaft mit dem verlassenen Negerknaben. Er verstand nun erst ganz, wie er selbst entwurzelt worden war.
Eines Nachmittags, um die Stunde, da er vor Gästen sicher war, packte ihn die Neugier, Mungo einmal in seiner vornehmen Tätigkeit zu sehen. Er ließ sich von Anton, dem zweiten Kellner, vertreten und begab sich in die Halle. Das war streng verboten – niemand vom Personal durfte seinen Posten verlassen. Aber Pinkert kümmerte sich nicht darum. Man bemerkte den Alten auch nicht – er konnte lange hinter einer Säule stehen und das 234 Getriebe beobachten. Ja, das war wirklich eine andere Welt. Diese Hüte, diese Kleider, dieses Schmuckzeug! Nur die Zigeunermusik gefiel ihm nicht – die Polacken winselten wie verliebte Kater.
Mungo jedoch erweckte ihm Bewunderung. Prächtig, wie aus dem Märchenland, sah er aus. Und die Damen waren richtig in ihn verschossen. Drei wollten immer zugleich von ihm bedient werden. Der kleine Neger grinste geschmeichelt, aber Angstschweiß stand auf seiner Stirn, und er schien sehr müde zu sein. Jetzt rannte er wieder zur Küche. Da sah Pinkert, daß zwei seiner weißen Feinde, die viel weniger zu tun hatten, sich tückisch etwas zuflüsterten. Sie faßten Posto und warteten auf die Rückkehr des Schwarzen.
Da kam Mungo, mehrere Tabletts mit Teegeschirr balancierend, aus der Küche. Als er geschickt zu den Damen hinüberschlitterte, kreuzten auf ein gegebenes Zeichen die Weißen seinen Weg. Sie stellten sich, als ob sie auch etwas Eiliges vor hätten. Der Zusammenstoß war fürchterlich. Mungo stürzte zu Boden, und über sein rotes Prachtkleid ergossen sich Teefluten und Sahnenströme. Sicher verbrannte ihm das heiße Wasser Hände und Gesicht. Die kostbaren Kannen und Tassen zerbrachen. Das Silber lag rings verstreut. Ein derartiges Gepolter machte die ganze Halle aufmerksam. Die Damen erhoben sich ängstlich – ein Unglück stand nicht auf dem Programm. Aber der beleidigte Neger blieb nicht am 235 Boden liegen. Wie eine Pantherkatze schnellte er empor, triefend, wutentstellt, und stürzte sich auf seine Feinde. Er schlug, wie zum Todeskampf bereit, auf sie ein.
Man entsetzte sich, man rief nach Hilfe, aber vom Personal war niemand zur Stelle, und die Musik übertönte schwärmerisch die Hilferufe. Da änderte sich die Situation plötzlich durch einen eigenartigen Nothelfer, der in den Kampf eingriff. Ein alter, unansehnlicher, kahlköpfiger Mann in Kellnerkleidung brachte die Raufenden auseinander. Aber die hohe Polizei, die in Gestalt des Oberportiers endlich erschien, sah das Verdienst des Helfers nicht ein. Sie gebärdete sich, als ob sie den alten Kellner verhaftete. Vor allen Dingen entzog sie die Empörer den Blicken der empfindlichen Gäste. Die Trümmer wurden fortgeräumt, und es konnte weiter Toilettenschau abgehalten werden. Pinkert, Mungo, Bill und Max aber kamen vor das Tribunal, in das Zentralbureau.
Hier, in einem eleganten Raume, der mit den Porträts der »Gründer«, als welche Jonathan, Joachim Friedrich und Rudolf Below fungierten, geschmückt war, thronte Leopold Kuschel. Er diktierte eben Fräulein Giesicke, Rudolfs auffallend hübscher Sekretärin, Briefe, als Fabri, der graubärtige Oberportier, erschien, atemlos seine Tressenmütze vom Kopf riß und die schauerliche Mär vom Five o'clock-tea meldete. Die »Verhafteten« standen vor der Tür. Fabri begegnete jedoch im Zentralbureau nicht 236 der leidenschaftlichen Teilnahme, die er erwartet hatte. Man pflegte im Herzen der U. B. die vornehme, skeptische Gelassenheit, man regte sich hier über andere Dinge auf als über verprügelte Negerknaben. Sowohl der Bureauchef Kuschel, der ein eleganter Dandy in hoher Krawatte und langem Schoßrock war, als auch Meyenfeld, der Oberbuchhalter, und das schöne Fräulein Giesicke lächelten zerstreut.
»Dann kann ich ja wieder gehen!« rief Fabri kühn.
Nun mischte sich Alphonse, der Oberkellner im englischen Saal, ein falscher Lord, beschwichtigend ein. Er saß im Zentralbureau, um Geld zu bekommen, und hielt sich in der Nähe des eisernen Schrankes, wie eine Katze, die auf die Maus lauert. »Sie werden die Sache untersuchen müssen, Herr Kuschel. Bedenken Sie, unsere vornehmsten Gäste sind beim Tee irritiert worden. Das darf nicht vorkommen.«
Kuschel wurde ernst und befahl, die Uebeltäter vorzuführen. Nun standen sie in wunderlicher Reihe da. Zwischen den fein gekleideten Rowdies und ihrem Opfer im Mohrengewand der alte Pinkert. Fabri fungierte als Staatsanwalt, schilderte den Hergang und beantragte strenge Verurteilung. Herr Meyenfeld, der immer zu Späßen aufgelegt war, begann ein Protokoll zu führen. Doch Kuschel verbat sich das. Mit Würde wandte er sich zu dem 237 Neger. »Das hätte ich nicht von Dir gedacht! Schämst Du Dich denn gar nicht? Vergiltst Du so die Wohltaten des Herrn Generaldirektors? Er hat Dich extra mit einem Obsttransport von Togo nach Bremen kommen lassen.«
Mungo weinte. Das war eine Sensation. »Mein Gott!« rief der Oberkellner schaudernd.
»Das ist ja fabelhaft!« rief Fräulein Giesicke. »Ich habe noch nie einen Neger weinen sehen!«
»Nun, antworte!« herrschte Herr Kuschel den Heulenden an. »Verteidige Dich!«
»Ich kann nix für, uann böse Jungen neidisch sein und mein Livree uollen! Schufte! Ha!« Er spuckte vor den Weißen aus.
»Willste eene jelangt haben? Mohrenkopp? Wat?« schrie Max.
Bill hob auch die Faust. »Niggervieh elendes! Wir machen in Amerika kurzen Prozeß mit euch Niggers!«
»Ruhe!« Herr Kuschel wurde ganz blaß vor Zorn. Aber Mungos Redestrom war nicht mehr zu bändigen. »Alles überfallen! Tee und Zucker und Sahne, Silber, Porzellan! Alles ersetzen – ich – von mein Gehalt! Hätten mich totgeschlagen, Hunde, wenn nicht gutes Mann gekommen uär und hätte mich geholfen!«
»Aha! Das gute Mann! Da steht er ja! Den wollen wir uns mal in der Nähe besehen! Sie 238 heißen Pinkert? Sie bedienen in der historischen Ecke?«
Pinkert stand mit eiserner Ruhe da. »Ja – wat se so nennen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ick meene man bloß – in de richt'je Ecke, da bin ick vierzig Jahre jewesen.«
»Beim alten Herrn Below?«
»Im alten Haus – jawoll.«
»Wie kommen Sie denn dazu, Ihren Posten zu verlassen und eine so wüste Szene in der Halle aufzuführen? In Gegenwart unserer vornehmsten Gäste?«
»Ick intressier' mir for den Schwarzen da. Ick wollte mir mal ansehn, wat der Bengel da zu tun hat. Und daß die beiden Lausejungen da hinter ihm her sind, det wußt' ick ooch. Nu sah ick se alle zusammen verkeilt, und der Schwarze hat schon jeblutet. Wat tut da 'n anständ'jer Mensch? Ob det nu in de Halle is oder uf'n Wedding, und ob eener zukuckt, der sechs Dreier hat oder 'ne Miljon, det is mir vollständig schnuppe. Hier hat sich's ums Recht jehandelt, nich wahr. Der Kleene kann ebenso wenig dafor, daß er schwarz is, wie ick for meene Jlatze. Hetzen is immer jemein. Und wenn Se mal wieder wat brauchen –« Pinkert machte kehrt.
»Hier geblieben!« donnerte Kuschel. Aber er kam nicht dazu, sein Urteil auszusprechen, denn der Generaldirektor betrat in diesem Augenblick das 239 Zentralbureau. Auch Below kam mit seiner Sorgenmiene. So verstummte alles. Rudolf war schlecht gelaunt und ließ sich nicht erst berichten. Er hatte bereits von Pinkerts Streich erfahren. Doch als er des alten Sünders ansichtig wurde, mußte er lachen. »Pinkert! Sie machen ja schöne Geschichten! Haben Sie noch so viel Temperament? In Ihren Jahren? Gratuliere! Aber nun begeben Sie sich gefälligst ohne zu mucksen auf Ihren Posten zurück, und daß mir das nicht noch einmal vorkommt! Verstanden?«
»Is det allens?« fragte der Alte langsam.
»Selbstverständlich! Erwarten Sie vielleicht noch eine Gratifikation?«
»Nee, Herr Below . . . Det nich . . . Aber . . .« Pinkert richtete seinen traurigen Hundeblick auf den Vater. Der wandte sich ab und studierte eine Eisenbahnkarte. Pinkert sah ihn eine Weile an, dann schüttelte er den Kopf, machte kehrt und ging.
»Nimm mir's nicht übel, Vater,« sagte Rudolf nach einer Weile, »aber Dein treuer Jottlieb wird eine Plage.«
»Wir sind vielleicht 'ne Plage für Gottlieb.«
»Das kann ich aber nicht tragisch nehmen. Raus mit Euch Jungens! Was steht Ihr noch da? Macht Euch sauber! Sofort in die Halle! Und wenn Ihr den Mungo nicht in Ruhe laßt – wehe Euch! Ich seh' Euch jetzt auf die Finger!« Die Grooms verschwanden. »Portier, Sie sind auch nicht auf Ihrem Posten! Bitte!« Mit devoter Verbeugung 240 entfernte sich Fabri. Dieser Mann hatte ein besseres Einkommen als mancher Geheimrat! Aber vom Generaldirektor, der sein Schicksal war, ließ er sich jederzeit wie ein Hausknecht behandeln.
Nur Alphonse, der Oberkellner mit dem Lordsgesicht, schien der üblen Laune Rudi Belows Trotz bieten zu wollen. Dies ließ darauf schließen, daß er irgend einen Vorsprung hatte. In der Welt der Interessenwirtschaft herrschte nur, wer eben gebraucht wurde.
»Alphonse! Sie haben es sich hier bequem gemacht? Ist für das japanische Gesandtendiner alles vorbereitet?«
»Pardon, Herr Generaldirektor – ich habe auf Sie gewartet.«
»Meine Sprechstunde ist zwischen zwei und drei!«
»Ich wollte nur höflichst um meine Auslagen ersuchen. Herr Kuschel behauptet, daß die Kasse schon geschlossen ist. Ich muß aber 5000 Mark haben für Zigarren- und Zigarettenlieferung.«
»Morgen früh, lieber Alphonse!« rief Kuschel mit dringender Bitte. Seine Kasse schien nicht sehr ergiebig zu sein.
»Was heißt das?« entschied Rudolf Below, der einen roten Kopf bekam. »Warten Sie doch gefälligst, bis ich das ordne! Hier! Ein Scheck auf mein Guthaben in der Deutschen Bank! Sie sollen 241 sofort zu Ihrem Geld kommen! Und am ersten April sind wir geschiedene Leute!«
Alphonse nickte mit seinem Stierschädel und verschwand.
»Verfluchte Kellnerkreatur!« flüsterte Rudolf. »Mit dem Gesindel räum' ich auf!«
»Wozu is das überhaupt? Daß ein Angestellter solche Lieferungen übernimmt? Das paßt sich doch gar nich. Mir wär' es niemals eingefallen, einem Kellner irgend was schuldig zu sein.«
Rudolf warf seinem Vater, der diese Worte halblaut eingeworfen hatte, einen zornigen Blick zu. Aber er bezwang sich. »Lieber Vater – zwischen Alphonse und Pinkert ist ein kleiner Unterschied. Herr Kuschel!«
»Herr Generaldirektor?«
»Wie steht es heute in den Ressorts? Ich konnte leider erst nachmittags kommen, und dann wurde ich von der Gräfin Harrach aufgehalten. Besuch in den Restaurants? Warum zögern Sie?«
»Mittelmäßig, Herr Generaldirektor . . . Aber das Lunch will nicht viel besagen – vielleicht ersetzt das Diner . . .«
»Gut, gut. Wo geht es am besten?«
»Relativ in ›Amerika‹, Herr Generaldirektor.«
»Wir werden ›Amerika‹ vergrößern.«
»›Frankreich‹ scheint vollständig tot zu sein. Den Berlinern ist es dort zu teuer, und die Fremden glauben es nicht.«
242 »Was heißt das?«
»An etwas Pariserisches in Berlin, mein' ich. Ganz sicher nicht . . .«
»Genug . . . Das weiß ich besser . . . Paris ist immer gut. Ich werde Maxim kopieren. Nur Champagner. Soll getanzt werden. Meinetwegen Kokotten. Wenn man einen großen Standpunkt hat . . .«
»Ein Treffer aber scheint die deutsche Bierabteilung zu sein . . .«
»Zum Donnerwetter, Kuschel! Lassen Sie mich damit zufrieden!«
»Aber warum denn, Herr Generaldirektor?«
»Das ist Rechtsanwalt Wechslers Gründung! Das geht mich nichts an! Ich will keine Biersauferei!«
»Aber die Leute wollen es doch. Sie sitzen mittags und abends wie gerammt. Sogar die Studenten trauen sich hinein.«
»Ich will davon nichts wissen! Ich verpöble mein Haus nicht!«
»Täglich werden dort die Delikatessen der Weinabteilung gefordert – immer dringender –«
»Keine Auster kommt mir hinüber! Zu Tucher und Pilsner! Das fehlte noch! Was ist denn im ›Schiller‹ los?«
»Die Revue wird gehen. Direktor Raffler rät nur zu so etwas. Keine Gastspiele mehr. Im günstigsten Falle arbeitet man für die Tageskosten. 243 Außerdem sagen die bedeutenden Künstler ab, wenn sie bei der Probe die miserable Akustik merken.«
»Quatsch! Das war doch in der ›Harmonie‹! Ich spreche jetzt vom ›Schiller‹!«
»Ach so – pardon – vom ›Schiller‹ Wie gesagt – allabendlich Revue, Herr Generaldirektor.«
»Also Tingeltangel! Na! Und das Wilde-Theater?«
»Da sieht es traurig aus.«
»Wir haben doch neulich erst 50 000 Mark hineingesteckt?«
»Trotzdem. Das Beste verbietet uns die Zensur.«
»Was ist denn in der Halle los? Da haben wir den Zigeuner Bela Iljy, der die russische Großfürstin entführt hat . . .«
»Bela Iljy spielt gut, aber er ist immer besoffen.«
»Das schadet nichts. Wer redet heute in der ›Harmonie‹?«
»Professor Wendland aus Leipzig. Ueber sexuelle Zwischenstufen. Wird ziehen.«
»Und im Kleinen?«
»Da liest der Dichter Moritz seine Novellen vor. Drei Reihen.«
»Wir bringen keinen Dichter mehr.«
»Man sollte eher für Forschungsreisende sorgen, Herr Generaldirektor.«
»Da haben Sie recht! Tibet und Südpol! Das muß jetzt 'ran!«
244 »Auch Aviatik wäre zu empfehlen.«
»Das kommt erst bei den Schauflügen, die ich arrangieren werde. Uebrigens, Sie haften mir dafür, Kuschel, daß keine technische Erfindung gemacht wird, ohne daß ich die Hand auf die Reklame lege.«
»Selbstverständlich, Herr Generaldirektor. Dazu haben wir ja unser Bureau.«
»Technik ist die Zukunft! Praktische Errungenschaften! Bezwingung der Natur!« Rudolf verkündete seine Erkenntnisse laut und an alle Anwesenden gerichtet. Er schritt nervös auf dem dicken Teppich umher. Der schöne Raum lag in feierlichem Goldschimmer. An den gelbseidenen Fenstervorhängen wallte das sanfte Licht verhüllter Kronen nieder.
Das hübsche Tippfräulein hatte zu klappern aufgehört und betrachtete anbetungsvoll ihren Gebieter. Rudi Below blieb vor Fräulein Giesicke stehen.
»Marion,« sagte er wohlgefällig. »Sie heißen von heute ab nicht mehr Marie, sondern Marion. Kommen Sie. Ich habe Ihnen Briefe zu diktieren.«
Doch zu Rudolfs Ueberraschung trat Below dazwischen und sagte mit schwerem Blick: »Is das eilig? Du hattest mir doch versprochen –«
»Ach so! Ja richtig, Vater! Entschuldige! Du wolltest mir etwas sagen! Also später, liebe Marion 245 – später . . . Komm, Vater. Wird hoffentlich nicht lange dauern?«
Sie gingen in Belows Privatkabinett. Rudolf schloß die Tür ab, dann wandte er sich sofort zu Joachim Friedrich. »Vater, ich bitte Dich nur um eins – laß diese Angstaugen! Steh' nicht immer so düster dabei, wenn ich mit meinen Leuten rede! Das macht einen furchtbar schlechten Eindruck! Die Leute müssen ja glauben, daß Du uns für bankerott hältst!«
»Dafür halt' ich uns noch nicht.«
»Ich danke Dir bestens! Warum bist Du dann so misepetrig? Herrgott noch mal, daß mal ein schlechterer Monat kommt, das ist bei einem derartigen Unternehmen ganz selbstverständlich! Bedenke doch, wie wir fundiert sind!«
»Das weiß ich, offen gesagt, sehr wenig, Rudi. Aber mir brummt der Kopf, wenn ich Dich mit dem Kuschel verhandeln höre. Herrgott, was is das alles für ein Klimbim, Junge!«
»Du nennst es Klimbim, ich nenn' es anders! Wir stammen aus verschiedenen Welten, lieber Vater! Also das war Dein Schmerz! Na, dann höre doch einfach nicht zu! Dich geht's ja auch nichts an!«
»Was mich angeht – das is meine Sache. Ich bin schließlich Dein Vater. Aber davon wollt' ich nicht reden –«
246 »Ist was mit Mutter los? Wie geht's eigentlich Mutter? Habe sie lange nicht gesehen! Richtig, seit dem Krach nicht! Das war 'ne Szene! Na, Du hast Dich doch sehr nett mit ihr eingerichtet, hab' ich gehört? Ihr seid in 'ne hübsche kleine Wohnung gezogen, in der Burgstraße? Martha findet es reizend bei Euch. Ich komm' ja leider nicht dazu –«
»'s is gut . . . Bei uns in der Burgstraße – das paßt auch nicht für Dich. Bleibe Du man Unter'n Linden. Und Mutter – Mutter geht es nicht gut. Die is wie 'n Baum, der aus der Erde gerissen und anderswo eingesetzt worden is. Sie träumt immer. Sie hat 'ne schreckliche Angst vor der Straße. Aber laß das. Das is meine Sache. Ich bin ja bei Mutter. Das haben wir nu wenigstens davon. Nee, nee, Rudolf. Ich wollte mich nicht beklagen – nur über was rein Geschäftliches –«
»Was denn, Vater! Ich habe wirklich nur sehr wenig Zeit!«
»Du denkst wohl an Fräulein Giesicke –?«
»Erlaube!«
»Nee, nee, das wollt' ich auch nicht sagen . . . Auch daß ich die letzten Zinsenraten noch immer nicht bekommen habe. Ich bin Dein Vater, ich prolongier' es Dir. Aber Du blamierst mich. Du läßt mich das Weinlager leiten, und wenn ich durch die eine Tür was bestellt habe, kommt durch die andre 'ne Riesenkiste mit Sachen, die Du bestellt hast. Weil Dir's ein Geldgeber angedreht hat. Für Beteiligung an 247 der Firma nimmst Du Ware. Is das kaufmännisch anständig?«
»Es ging nicht anders. Ich bitte Dich übrigens um Entschuldigung. Du meinst gewiß den Hoffmannschen Bordeaux. Hoffmann ist ein Schwager von Meyenfeld. Es handelt sich um 70 000 Mark. Ich mußte Meyenfelds Sohn engagieren und von Hoffmann Wein kaufen. Vergaß es Dir nur zu sagen.«
»Aber das is ja ein Labyrinth, wenn das so weiter geht. Wozu läßt Du denn unsereinen arbeiten, wenn Du immer selber zwischenfährst? Willst Du denn allmählich Deine sämtlichen Lieferanten zu Gesellschaftern machen?«
»Interessengemeinschaft! Selbstverständlich! Aber ich bitte Dich um einen anderen Ton, Vater. So kann ich nicht mit mir sprechen lassen. Ich habe Dich um Entschuldigung gebeten. Nun Schluß damit. Was ist sonst noch?«
»Sonst noch? . . . Ja, lieber Rudolf . . . Du machst mir Sorge.«
»Vollständig unnötig!«
»Du siehst sehr schlecht aus! Du kommst immer erst mittags ins Bureau! Ja, lieber Junge! Bevor die Gäste da sind, muß man arbeiten! In solcher Riesengeschichte! All die Leute hier, die lungern ja stundenlang rum! Und die haben auch gar kein Interesse fürs Geschäft! Bloß ich habe welches, weil's mich – nichts angeht!«
248 »Na ja, und wenn ich komme, stimmt alles, in zehn Minuten! Laß doch das Geklöne, Vater!«
»Ich denke an Dich! Du willst ja auch immer hören, was ich denke! Tu doch nicht so, als ob Du das nicht willst?«
»Gewiß, gewiß – aber Du hast nicht mein Tempo, Vater. Du –«
»Ich weiß. Sei man stille. Ich kenne Dich auch besser als alle andern. Meine Bewunderung is echt, lieber Junge. Du hast Phantasie, aber sie geht mit Dir durch. Du denkst Dir was, und es kann dann praktisch nicht gemacht werden.«
»Beweise!«
»Siehst Du denn nicht ein, daß Wechsler zum Beispiel tief unter Dir steht?«
Nach diesen Worten sah Rudolf seinen Vater nicht empört, sondern aufleuchtend und überrascht an. »Ist das Dein Ernst? Fühlst Du das, Vater? O, das freut mich!«
»Aber Junge . . . Wechsler is doch Dein Beirat . . . Um Gottes willen . . .«
»Er schafft mir Geld. Das ist sein Wert, Vater. Er läßt meine Sache nie ins Stocken kommen. Vertrauen muß ich zu ihm haben. Ich kann nicht jedesmal erst fragen, wie er zu Geld kommt. Wenn's nur da ist. Das verstehst Du eben nicht. Im übrigen bist Du mir als gutes Gewissen willkommen. Oller Below, bleibe nur auf Deinem Posten . . .«
249 »Das tu' ich! . . .«
»Herrgott! Da liegen ja noch Zeitungen! Bin tatsächlich noch nicht dazu gekommen! Und das ist die Hauptsache!«
Rudolf riß das Bündel an sich. Er überflog nur die Feuilletons und die Vergnügungsanzeigen. Kuschel hatte ihm alles Interessante angestrichen. Plötzlich aber starrte er auf eine Annonce; seine Augen erweiterten sich, und er schlug mit der ringgeschmückten Faust auf den Tisch. Lange hatte Below nicht solche reine Freude in seinen Zügen gesehen.
»Nanu? Was hast Du denn?«
»Vater! Rate mal, wer nach Berlin kommt!«
»Wie soll ich das raten? Ich interessier' mich nicht für Deine Berühmtheiten.«
»Haha! Aber für die! Erna Paulana! Erna Paulana tanzt im Wintergarten!«
»Um des Himmels willen! . . . Das auch noch!«
»Aber Vater! Standpunkt, Vater! Moralpauken überlaß dem Zweisiedler von Arendswalde! Mein Bruder Hermann kann dagegen sein! Aber Du!«
»Ich glaube, Du tust Hermann unrecht. Ich bin dagegen. Erna hat jahrelang nichts von sich hören lassen. Ihr is es wahrscheinlich ganz gleichgültig, ob ihre Eltern am Leben sind oder nicht. Vor dieser Aufregung muß ich Mutter schützen. Mit einer Varietédame haben wir nichts zu schaffen.«
250 »Herrgott – na wartet doch erst ab! Wenn Ihr sie sehen werdet! Ich bin überzeugt, daß sie Euch besucht!«
»Meinst Du? Is sie so gnädig?«
»Frei ist sie! Selbständig! Ein Prachtgeschöpf! Ganz anders als Ihr und doch etwas von Euch! Ach, ich freu' mich, daß sie kommt! Für mich ist das geradezu 'ne Erlösung! Sie wird mir Flügel geben!«
»Fliege bloß nicht davon . . .«
»Dies Weib ist voll Schönheit! Wenn ich so wär', als Mann!«
»Ich freu' mich, daß Du so von ihr sprichst. Das is das erste Mal, daß ich Dich so von einem Menschen sprechen höre.«
»Erna! – Wann tritt sie denn auf? Am 15. Februar? Ach, sie wird mir ja telegraphieren! Wechsler!«
Der Rechtsanwalt schob sich eben, Geschäftspapiere unter dem Arm, ins Bureau. Sein abirrender Blick war nur auf das gerichtet, was er dem Generaldirektor mitzuteilen hatte. Auch Fork, der Architekt, erschien. Er machte den Eindruck eines Mannes, der für seine Sorgen zu viel Likör hatte. Seine verquollenen Augen richteten sich empört auf Rudi Below. Aber Wechsler ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Konnte nicht früher hier sein! Tag, Herr Below! Bis Mittag war ich Viktoria-Luisen-See, die neue Villenkolonie, die ich gegründet habe! Bei 251 Schmöckwitz! Kolossale Zukunft! Sollten Sie Terrain kaufen! Um vier Uhr hatte ich in der Motorboot-Aktiengesellschaft zu sprechen! Im Automobil begleitete mich ein Japaner hierher, will mir ein Patent übergeben – höchst originell – Erfindung einer selbstspielenden Violine!« Er warf sich in einen Sessel.
Fork wollte losfahren, doch Rudolf unterbrach ihn. »Denken Sie, Wechsler, meine Schwester kommt nach Berlin!«
»So? Wo soll sie denn tanzen? In der U. B.?«
»Sind Sie verrückt? Ich freu' mich nur so kolossal – das Mädel tanzt im Wintergarten – sie kriegt tausend Mark für den Abend –«
»Die paar Hopser? Gutes Geschäft. Was ich sagen wollte . . . Meyenfeld ist in Ordnung – und die Dessauer Bank wahrscheinlich auch –«
»Gott sei Dank!«
»Die Provinzonkels wollen immer Fühlung mit Berlin haben – das kenn' ich. Für ein Passepartout tun sie alles.«
»Was is denn eigentlich mit Berthold Aschers Beteiligung, Herr Rechtsanwalt?« warf Below schüchtern ein. »Noch immer nicht?«
»Wir brauchen keinen Ascher! Der Herr Kommerzienrat hat sich zu lange besonnen!«
Below schwieg. Die verlegene Pause benutzte Fork, um endlich zu Wort zu kommen. »Rudi, ich muß Ihnen schon sagen – Sie wissen doch – Sie 252 dürfen hinter meinem Rücken nich mit Baulieferanten verhandeln – da kann ich Sie direkt belangen, Rudi!«
Rudolf zündete sich gelassen eine Zigarette an. »Ihnen mangelt der weite Horizont, lieber Fork.«
»Ach was! Mir mangelt Jeld! Weiter nischt! Ich muß jetzt reinen Tisch machen! Die Leute müssen bezahlt werden! Zweijährige Forderungen! Is ja ein Skandal!«
»Schreien Sie lieber nicht so, sondern wenden Sie sich an Kuschel. Das ist Kuschels Ressort.«
»So! Und wenn ich zu Kuschel jehe, dann schickt er mich zu Simon! Und Simon is wie 'n neujeborenes Kind und schickt mich zu Müller! Es is wie im Polizeipräsidium! Man kann durch 70 Zimmer loofen! Sie sind unsichtbar! Aber heute hab' ich Sie mal beim Wickel! Heute jeh' ich nich eher weg, als bis –!«
»Wollen Sie nicht gefälligst –«
»Ich will meinen Kredit nich verlieren! Sie sind mein Auftragjeber! Ihre Schiebungen kümmern mich nichts!«
»Wollen Sie nicht gefälligst meinen nächsten Rechenschaftsbericht abwarten!?«
»Ach wat, Rechenschaftsbericht! Der macht den Kohl nich fett! Nee, nee, ich bin es satt, Rudi! Ich schlafe keine Nacht mehr! Hätt' ich mich bloß nich einjelassen!«
253 »Aha, jetzt kommt das Lied, das ich am meisten liebe. Sie haben für Ihre Orgie von Geschmacklosigkeiten 300 000 Mark bekommen. Sie sind in allen illustrierten Blättern abgebildet worden. Aber ehe wir davon reden, lassen Sie sich mal erst von meinem Vater zeigen, wo die große Halle wackelt. Die Baupolizei war schon zweimal hier. Die versteht keinen Spaß.«
Fork schien aus seinem Wutrausch zu erwachen. Er glotzte Rudolf wie ein erschrockenes Kalb an. »Is was nich in Ordnung? Ernsthaft?«
Jetzt faßte Below ihn beruhigend unter den Arm und zog ihn fort. »Kommen Sie, Herr Baumeister. Es handelt sich, glaub' ich, um 'ne schiefe Säule.«
Als Rudolf mit dem Rechtsanwalt allein war, ging er erregt auf und nieder. »Wechslerchen! Wechslerchen! Der Fork hat recht! Bloß nicht zu viel Schiebungen! Sie manschen zuviel! Wir müssen klaren Kopf behalten!«
»Was heißt Schiebungen? Das sind Transaktionen!«
»Nennen Sie's, wie Sie wollen! Wir beide haben die Verantwortung! Sie und ich!«
»Gewiß! Und wenn Sie Ihren Belowschen Dickschädel aufgeben würden, ginge alles!«
»Fangen Sie vielleicht auch noch von der famosen Bierabteilung an?«
254 »Menschenskind! Wo leben Sie denn! Sie wollen doch dem Publikum gefallen!«
»Einem Publikum, das ich mir erziehe!«
»Aber wir müssen doch unbedingt einen festen Fond kriegen, wo ein reeller Umsatz gemacht wird, ein Verdienst, zum Donnerwetter! Um so mehr können Sie dann Ihr Steckenpferd reiten! Um so exklusiver können Sie wo anders sein! Bloß die Menge – die muß es bringen! Das Gros darf sich nicht vernachlässigt fühlen!«
»Wir Belows sind aristokratische Wirte, keine Plebejer!«
»Lächerlich! Und das Geld? Wo soll das Geld herkommen? Für Ihre Phantastereien?«
»Das Geld werden Sie herbeischaffen!«
»Ich danke sehr! Bei dem Diskont! Ich habe mehr zu tun, als Herrn von Itzenplitz und Mister Beefsteak zu füttern!«
»Wechsler, Sie müssen doch einsehen, daß die Hauptsache bei uns der gesellschaftliche Stil ist! Der Großberliner Stil! Den schaff' ich, den will ich nicht zerstören!«
»Großberliner Stil –«
»Ich habe vorhin erst mit Frau Bankdirektor Gutbier darüber gesprochen – die Frau hat ihre Tees bei uns, die weiß, was los ist. Sie versichert mir, daß ich mich auf dem richtigen Wege befinde. Ich soll mich ja nicht von den Philistern irre machen lassen.«
255 Rudolf ließ seinen juristischen Beirat stehen und ging. Der Rechtsanwalt warf sich wütend in einen Sessel. »Frecher Kerl!« flüsterte er. »Ein unglaublich frecher Kerl! Aber schließlich kann man was durch ihn verdienen! Er ist doch ein Genie!«
Mit zorniger Miene schritt Rudolf durch das Zentralbureau. Er brauchte sonst Widerstand, aber heute schmerzte ihn alles, heute war er weich gestimmt. Sein Blick fiel auf Fräulein Giesicke, die noch an ihrer Schreibmaschine saß. »Marietta!« rief er, das anmutige Namenspiel fortsetzend. »Kommen Sie mit! Ich diktiere Ihnen in meiner Wohnung!«
Der Sultan hatte gerufen, und das Fräulein erhob sich als gehorsame Favoritin. Rudolf half ihr in ihr Pelzjackett. Die Schönheit des Mädchens berauschte ihn. Was kümmerten ihn die Mienen seiner Beamten? Er nahm, was ihm gehörte. Indem er seinen Arm in den Mariettas schob, schritt er mit ihr zum Automobil hinaus. Rudolfs Chauffeur war an wunderliche Fuhren gewöhnt. Er grüßte mit steinerner Miene, und surrend flog das Gefährt davon. –
»Unerhört!« flüsterte Herr Meyenfeld. Er schnob die zornigen Worte durch seine dicke Nase. »So was Offenkundiges!«
Kuschel machte ein vornehmes Gesicht. »Was meinen Sie damit?«
256 »Ich meine, man sollte dem Herrn Generaldirektor die Manieren abgewöhnen! Der Herr denkt sonst, er kann hier machen, was er will!«
»Ich möchte Ihnen ein für allemal untersagen, Herr Meyenfeld, irgendwelche Kritik an dem Herrn Generaldirektor zu üben!«
»Und ich möchte Ihnen ein für allemal untersagen, irgendwelche frechen Bemerkungen zu machen!«
»Was erlauben Sie sich?! Ich bin Ihr Vorgesetzter!«
»Wo steht das geschrieben? Mein Vater ist Teilhaber der Gesellschaft! Zu Ostern krieg' ich Prokura! Sind Sie Teilhaber? 'ne Wanze sind Sie!«
Nach diesen Worten verließ Herr Meyenfeld das Bureau und schlug die Tür hinter sich zu. Er liebte Fräulein Giesicke. –
Als Rudolf und die Sekretärin etwas zerrauft in der Wohnung am Kurfürstendamm erschienen, kam ihnen zu ihrer Bestürzung nicht der treue Joseph, sondern Martha entgegen. Sie maß das höflich grüßende Fräulein mit einem kalten Blick. Dann wandte sie sich zu ihrem Mann. »Im Salon sitzt ein Besuch, Rudi! Das wirst Du nicht raten!«
Er riet es doch. »Erna!« rief er jubelnd. Sofort lief er in den Salon. Fräulein Giesicke stand ganz versteinert. Aber Martha blieb Herrin der Situation. Sie strich über das glatte Haar und sagte lächelnd: »Wollte mein Mann Ihnen vielleicht 257 diktieren? Heute wird bestimmt nichts daraus. Seine Schwester ist gekommen.«
»Verzeihung, gnädige Frau . . .«
»O, bitte. Das Auto kann Sie wieder in die U. B. fahren. Ich werde gleich hinunterläuten.«
Sie tat es, und Fräulein Giesicke verschwand. Martha ging in den Salon zurück. Hier sah sie Bruder und Schwester auf einem Diwan sitzen. Sie lachte leise. »Na, Rudi? Das ist doch das Wahre!«
Er warf ihr einen unbestimmten Blick zu. »Martha – ich bin ja selig! Da sitzt sie nun plötzlich! Ohne die geringste Nachricht zu geben! Wenn ich nicht zufällig in der Zeitung gelesen hätte . . . Schwesterchen! Nee, ich werde ja toll!« Er zog das merkwürdig schöne Mädchen, das große Aehnlichkeit mit ihm hatte, an seine Brust. Sie hielt seinen Kopf in ihren Händen und sah ihm glücklich lachend in die Augen. »Es sollte 'ne Ueberraschung sein! Hättest Du mich auch erkannt, wenn Martha Dir nichts gesagt hätte, Rudi?«
»Aber auf den ersten Blick!«
»Hab' ich mich gar nicht verändert?«
»Kerlchen, Du bist noch viel schöner geworden!«
»Ach, Martha macht ein eifersüchtiges Gesicht! Sogar, wenn's sich um die leibliche Schwester handelt!«
»Nein, Erna – da irrst Du Dich. Es macht mich nur froh, daß Du da bist.«
258 Nach diesen Worten verließ Martha schnell das Zimmer. »Famoses Menschenkind,« flüsterte Erna. »Das Spröde an ihr hab' ich so gern. Aber sie sieht nicht gut aus – in der Hauptsache. Das sah ich sofort . . . Rudi – dafür müßtest Du sorgen.«
»Laß das, Erna! . . . Fred hört jedes Wort!«
»Das arme Kerlchen – so zart ist er geblieben . . .«
»Erna, ich bin – ich bin sehr allein, Erna. Das merkst Du nun wohl . . .«
»Jetzt noch?«
»Trotz meiner Arbeit! – Aber womit spielt denn der Junge? Was hat er denn da für eine wunderschöne Eisenbahn?«
»Hat mir Tante Erna mitgebracht,« sagte der Kleine und richtete seine dunklen Augen dankbar auf die fremde, schöne Frau.
»Damit hast Du Dich geschleppt?«
»Aber ich mußte doch meinem Neffen was mitbringen! Was denkst Du denn! Sieh Dir's mal an, Rudi! Die Pacificbahn! Ganz getreu!«
»Entzückend! Aber das mußt Du doch aufziehen, Bengel! Das läuft doch in der Stube 'rum!«
»Geht nicht, Papa!«
»Er hat gar kein Talent! Lauf' – Fräulein wird Dir helfen!«
Fred nickte und entfernte sich eilig. Nun waren Bruder und Schwester allein. Rudolf nahm Ernas Hände. Er sah sie an, in jeder Linie, jeder 259 Schwingung – in allem, was sie war. Dann neigte er traurig den Kopf. »Ja, das ist das Leben . . . Du siehst wie das Leben aus . . . Nun weiß ich erst, was mir gefehlt hat.«
Jetzt geschah es dem kecken Geschöpf vor ihm, daß es rot wurde. Sie entzog ihm ihre Hände und erhob sich. Erna war so hoch gewachsen wie Rudolf. Etwas Vollendetes lag in dieser reifen Gestalt. Tanzfreude war über ihrem ganzen Wesen, auch wenn sie still stand. Dies gab ihr den Schimmer, das, was Rudolf, ohne sie gesehen zu haben, dem Vater geschildert hatte. Aus der internationalen Künstlerin sprach noch immer Erna Below, die »höhere Tochter«.
»Also Du wirst im Wintergarten auftreten?« fragte er gedämpft.
»Zum erstenmal in Berlin! Zum erstenmal auf dem Kontinent, Rudi! Ach, ich bin toll vor Aufregung!«
»Was wirst Du bringen?«
»Ich habe einen neuen Trick! Gleich das erste Auftreten! Da komm' ich in Trikot und sitze auf einem riesigen, lebendigen Bären! Ja wahrhaftig, Rudi! So sing' ich ein ulkiges Lied! Und wenn die zottige Bestie unter mir brummt, lach' ich!«
»Das wird Berlin in Atem halten! So steckst Du Dir alle in die Tasche!«
260 »In Amerika hab' ich 100 000 Dollars damit gemacht! Nur schade, daß ich Dir Konkurrenz machen muß! Aber in der U. B. kann ich doch nicht auftreten! Ihr habt da vornehme Kunst!«
»Darauf pfeif' ich! Konkurrenz darfst Du mir machen! Du bist die einzige, Erna! Also, es geht Dir gut? Du verdienst was –«
»Ich habe was verdient.«
Erna wandte sich ab. Sie näherte sich dem Erker. Dort sah sie dem Schneetreiben zu.
»Was heißt das?« fragte Rudolf erstaunt.
»Es ist mir peinlich, davon zu sprechen. Ich hänge von Hammond ab. Er hat meine Engagements in Europa vermittelt. Du kannst Dir ja denken . . .«
Rudolf zuckte zusammen. »Erna! Der schmutzige Mulatte! Warum denn, Erna!«
»Irgendwie muß man leben. Und Hammond hat Temperament. Ein schauderhaft hübscher Kerl.« Sie lachte wieder. »Ich komme nicht los von ihm. Er bringt mir alles Geld durch, aber er sorgt auch für mich. Ich habe was durchgemacht, Rudi. Uebrigens tut er mir leid. Er hat wieder Pech gehabt und ist drüben geblieben. In Florida, glaub' ich.«
Rudolf schwieg und starrte in das wunderliche, wilde Leben, das auch er so lange gelebt hatte. Er hatte es in der Heimat trotz aller Glücksjagd nicht vergessen.
261 »Tingeltangel heißt das, wo Du auftrittst,« flüsterte er und hielt seine schmalen Hände vors Gesicht.
Sie lachte hell auf. »Was sagst Du da?! Was meinst Du damit? Ich bitt' Dich! Wo, ist doch egal! Uebrigens kann ich gar nichts! Ich habe jetzt in Paris auf Montmartre ein häßliches Mädel gesehen! Die bettelt sich in den Kneipen 'rum für ein paar Francs! Die will keiner! Aber tanzen kann sie! Ach!«
Erna lief zum Diwan und warf sich darauf. Sie lag jetzt hingestreckt – die kleinen Füße in den Silberschuhen waren rührend, wenn sie die stolze Gestalt nicht trugen. In ihren Händen, die durch das reiche Haar fuhren, lag Kraft. Und einen Glanz sah Rudolf in ihren dunklen Augen, als ob sie heimlich weinte. »Dingsda!« rief sie. »Nun ist man doch wieder in Dingsda! Berlin ist ein Nest! Nimm Dicht in acht, Rudi!«
»Das tu ich – –«
»Du reißt die alte Ecke ab! Und baust einen fabelhaften Palast! Ich hab' ihn schon gesehen! Und das alte Zeug? Verflogen, in alle Winde? Wo sind Vater und Mutter? Sind die Bäume noch da?«
»Merkwürdig – wer nach den Alten fragt, der fragt nach den Bäumen. Die sind geblieben.«
»Ach, ich will sie gar nicht mehr sehen! Vater und Mutter!«
262 »Nicht, Erna? . . .«
»Ich glaube nicht! Oder später! Jedenfalls, nachdem ich aufgetreten bin! Denn sonst – das ist das einzige, was mich irritiert! Und Hermann? Warum lachst Du?«
»Der sitzt in Arendswalde an der Knille!«
»An der Knille?«
»Ich glaube, so heißt der Fluß. Ein Nebenstrom der Panke. Laß mich mit dem falschen Apostel zufrieden.«
»Hermann ist sicher ein anständiger Mensch!«
»Er drückt sich aber vor mir. Ich muß mich schweigend von ihm mißbilligen lassen. Ich habe Stimmungen, wo sich die ganze U. B. unter einer Kritik von Hermann windet. Er soll mir nur 'mal in die Quere kommen. Dann werd' ich ihm beweisen – –«
»Rudi – wohin verirrst Du Dich? Du sagst ja beinahe, daß er recht hat?«
»Recht?!«
»Ich interessiere mich für Hermann. Er hat weiter nichts als seine Arbeit und seine junge Frau. Das liebt sich, das stirbt zusammen. Aus. Vorbei. Ich schätze Hermann.«
»Erna!«
»Laß ihn doch herkommen! Ich will Euch zusammenbringen! Ich will, daß Ihr Euch versteht! Und er soll verlegen werden! Ich treibe ihn aus seiner Bravheit 'raus! Herrgott noch mal! Die 263 Frau mag ein Engel sein! Aber er! Er muß ins Getriebe!«
Erna sprang auf und lief zum Flügel. Leise glitten ihre Hände über die Tasten hin. Rudi lauschte wie gebannt. »Die alte Bude,« flüsterte sie, ihre Augen schließend. »Schade ist es doch, daß ich sie nicht noch 'mal sehe. Der Hof und die Galerie! Und mein Zimmer, wo ich für die Baltazzi geübt habe! Die ist jetzt tot. Ach, wenn doch alles tot wär'. Alles, Rudi.« Sie weinte und lehnte den Kopf an seine Brust.
Er nickte mit harter Miene. »Wenn wir wollen, ist es tot. Laß Hermann in seinem Nest. Das ist Selbstbetrug. Das können wir beide nicht brauchen.«
»Aber ich bin ja Halbwelt, Rudi –,« flüsterte sie mit einem Lachen, das hold war und doch einen Mißton enthielt. Sie schloß ihre Augen, und ihre Zähne funkelten.
»Unsinn . . . Was heißt das . . . Ich verbiete Dir, daß Du so etwas von Dir sagst! Von meiner Schwester!«
»Ausgezeichnet!«
»Du bist eine große Künstlerin! Das hebt Dich aus jeder halben Welt in die ganze, in die einzig wahre! Du sollst meine Fahne sein! Schluß machen endlich mit allem Versunkenen und Verschollenen! Darin kann ich mich nicht irren! Das will Berlin! Was sich verkriecht, soll sich verkriechen! Ich gehe mit Dir zusammen!«
264 »Schwärmer, Schwärmer! . . .«
»Heute abend führe ich Dich ein. Die ganze U. B. soll Dich begrüßen! Sie hat auf Dich gewartet!«
»Tu das nicht, Rudi – ich will Dir doch nur nützen!«
»Ja!«
»Dein Publikum – die wollen unsereinen kopieren – aber neben uns sitzen? Nein!«
»Wie lächerlich! Ich lasse mich von keiner Feudalgesellschaft tyrannisieren! Ich will meine Macht zeigen! Wem's nicht paßt, der bleibe weg!«
Er lief zum Orchideengarten und riß mit heißen Händen die ganze hängende Pracht herab.
»Was tust Du?!«
»Das sollst Du tragen heute abend! Das ist für Dich!«
»Rudi – all Deine Orchideen – –«
»Alle!«
Er wand sie ihr ums Haar, und sie lachte. Dann küßte sie ihn, wie sie nur ihren Bruder küssen konnte. Martha schreckte wie geblendet zurück, als sie wieder eintrat. So schön war Erna in dem Kranz der ängstlich gehüteten Blumen. – –
Wie alle Träume Rudi Belows, mußte auch der um seine Schwester durch spekulative Reflexion gehen. Er sah nach einigen Stunden Ernas Erscheinen in der U. B. wie eine Premiere an. Er ließ es nicht früher dazu kommen, als bis den 265 Berlinern ihre Person oder vielmehr der Trick ihrer Person durch die Plakate des Wintergartens vertraut geworden war. Allmählich wurde in den eleganten Plauderstunden der Halle bekannt, daß Erna Paulana, das Weib auf dem Bären, Rudolfs Schwester war. Man nahm es zwar nicht ernst. Man ließ sich Ernas Lebensgeschichte wie einen Roman erzählen, dessen Inhalt in bequemen Sesseln verschlungen wurde. Alles aber, was mit dem Wirt der U. B. zusammenhing, hatte Reiz. Rudi war der bequeme Traumheld für die Frauen, die viel zu denken und wenig zu tun hatten. Die das ganze Leben serviert bekamen, in Schönheit wohlanständig präpariert. Aber der entzückende Romantiker beging den Fehler, plötzlich Realist zu werden.
Nach der Wintergartenpremiere erschien Rudi Below in seinem Etablissement und führte tatsächlich Erna Paulana, die man eben noch fast nackt gesehen, wie eine Königin durch die Säle. Man war auf der vornehmen Terrasse des Wintergartens gewesen, wo man die Zufälligkeit interessanter Hotelgäste spielen konnte. Man hatte begeistert applaudiert und das Wagnis nur als künstlerische Offenbarung angesehen. Aber nachher, in der U. B.? Da wollte man unter sich sein. Rudi Below war hier nur der begünstigte Wirt. Er hatte sich vollständig nach seinen Gästen zu richten. Was erlaubte sich der Mann? . . .
266 Er führte durch die geweihten Räume, wo abgestempelte Vermögen saßen, eine Brettldiva. Und es gab einen unverbesserlichen Trottel, den Grafen Putz-Lammsdorf, der ihm nachwackelte und sich danach drängte, vorgestellt zu werden. Nein, es war ein unverzeihlicher Faux pas. Man merkte sich zwar genau, wie Erna Paulana angezogen war, vom Kopf bis zur Zehe, wie sie sich bewegte, lachte, grüßte. Man taxierte den Wert ihres Schmucks, aber man war entrüstet.
Erna hatte ihren Bruder mit Recht gewarnt. Ihr Pessimismus war Lebenserfahrung. Doch als sie den alten Dünkel in neuer, komplizierter Form erkannte, trotzte sie ihm mit ihrer ganzen Rücksichtslosigkeit. Sie zog sich nicht zurück und beklagte sich bei Rudolf nicht. Sie begann seinen Fehler auszunützen und bewog ihn, auch ihre Kolleginnen vom Varieté einzuladen. In voller Pracht sollten die Sisters und Sennoras vorgeführt werden. So erschien der Herr Generaldirektor jeden Abend mit einem Gefolge. Es wurden weiter eifrige Toilettenstudien gemacht, man lächelte mit duldsamer Anmut. Hinter Rudolfs Rücken aber stieg die Entrüstung. Schließlich mußten die begeisterten Ehemänner ein Veto einlegen. Was sollte das Treiben? Brettldamen konnten sie auch anderswo sehen – dazu gingen sie nicht mit ihren Frauen in die U. B. Es war eine Unverschämtheit von Rudi Below, das gesellschaftliche Bild so zu verschieben. Das hätte man ihm 267 nicht zugetraut. Sein Streben, die billige Genußsphäre nicht einzulassen, rechnete man ihm ja als Verdienst an. Doppelt warf man ihm nun den verirrten Montmartre vor. Andere Weltstädte sahen Königinnen mit Zirkusdamen befreundet. Berlin besann sich im entscheidenden Augenblick auf seinen Kastengeist.
Bald mußte Rudi Below merken, daß er den Wagen in den Sumpf gefahren hatte. Das Publikum der Restaurants veränderte sich auffallend. Wie auf Verabredung ließ der Besuch nach, und was kam, hatte die Physiognomie von Leuten, die sich nur hineintrauten. Es war das Genre, dem jeder selbstbewußte Kellner mißbilligend begegnete, bis ihn ein hohes Trinkgeld milder stimmte. Auch lugten die »Verbotenen« immer begehrlicher herein. Sie hatten alle viel Geld auszugeben, mehr oft als die Feudalen, weil sie gern einmal nobel waren. Doch die hohen Preise blieben das einzige, was den letzten Zusammenstrom noch aufhielt.
Mit langer Miene sah Rudolf täglich Absagen der gesellschaftlichen Veranstaltungen kommen. Seine Gönnerinnen zogen sich zurück. Keine sagte, was sie ihm eigentlich übelgenommen, aber die Kränkung war offenbar. Am schwersten traf es Rudolf, daß er Frau Generalkonsul Gutbier und die schöne Gräfin Auersberg verlor.
Beide Damen hatten am treuesten zu ihm gestanden. Die Gattin des Industriellen hielt ihre 268 Monstretees in der U. B. ab. Dort kam alles, was in Kunst und Wissenschaft etwas vorstellte, zusammen. Die Aristokratin dagegen hatte ihr Bureau für humanitäre Bestrebungen in der U. B. aufgeschlagen. Ihr vor allem war es zu danken, daß immer noch Hofequipagen vorfuhren. Rudolf war der Vertrauensmann der verschiedenartigen Patronessen. Er wurde von beiden geliebt. Diese Buridanstellung hatte ihn schon immer mit Sorge erfüllt. Er wußte nicht, für wen er sich entscheiden sollte. Es war hart, seine glänzendsten Eigenschaften so verschleudern zu müssen. Und fürs Geschäft tat Rudolf schließlich alles. Sollte er es mit der schöngeistigen Jüdin oder mit der wohltätigen Aristokratin halten?
Da rissen ihn die Nebenbuhlerinnen selbst aus dem Konflikt, indem sie ihn auf die Probe stellten. Frau Gutbier hielt es mit Erna Paulana, sie leistete es sich, so freigeistig zu sein, sie warnte Rudi, sich von den Moralischen einschüchtern zu lassen. Die Gräfin jedoch drohte mit dem Auszug sämtlicher Wappentiere, wenn die empörende Halbweltwirtschaft nicht ein Ende nähme. Es war ein entsetzliches Dilemma. Rudi wußte nicht, bei welchen Weisen er sich erkundigen sollte. Er entschloß sich, heute Frau Gutbier, morgen der Gräfin recht zu geben. Die Folge davon war natürlich Feindschaft beider, und ganze Kreise zogen sich zurück.
269 Das gab ein klaffendes Manko. Auch merkte Rudolf jetzt erst, wieviel Feinde er sich durch seine Erfolge gemacht hatte. Man hatte schon überall gegen ihn vorgearbeitet. In den geschädigten Hotels und Restaurants, in den Theater- und Konzertagenturen saß man und predigte gegen die U. B. Ueber Rudolfs Vater schritt man hinweg. Der Alte hatte keinen Zusammenhang mit den geschmacklosen Spekulationen. Warum hatte er sein vornehmes Haus dafür hergegeben? Um ein Geschäft damit zu machen? Das war mehr als zweifelhaft. Er hätte es ruhig stehen lassen sollen, das alte Wahrzeichen. Below hatte eine unverzeihliche Sünde gegen die Tradition begangen. Und auf Traditionen hielt man ja in Berlin.
Doch Rudolf ließ sich nicht einschüchtern. Er holte sich keinen Rat, auch bei Wechsler nicht, der über seinen Reorganisationsplan nicht hinauskam. Er ging auch nicht zu Ascher. In sich allein blieb Rudi Below und fühlte sich dort am sichersten. Er wußte, daß Berlin noch immer zu erobern war. Es flog ihm überall zu, was Reiz und Sensation war. Er konnte aus dem Nichts das Etwas schaffen. Darum blieb er auch kühl, als Herr von Wiesenlattich und Baron Troll in feierlicher Deputation erschienen, um die Zimmer des Klubs zu kündigen. Man wolle zu seiner Hölle nicht mehr durch das Fegefeuer der Friedrichstraße wandeln, sagte Baron Troll mit seinem Lächeln und doch so grob, wie nur ein Aesthet 270 werden konnte. Herr Below habe sich offenbar in der Gegend geirrt. Man wünsche ihm nicht sein Geschäft zu stören. Wiesenlattich aber, die lange, müde Grazie, sah sich melancholisch um, bevor er zum Zylinder griff und ging. Er schien von alten Illusionen Abschied zu nehmen. Rudolf begleitete die Herren nicht hinaus. Es schwirrte ihm vor den Augen. Er wollte jetzt allein sein. Wie wenn der letzte Ratgeber, der sein eigenes Ich war, als zweite Person vor ihn hinträte, wandte er sich fragend ins Dunkel und flüsterte: »Was meinst Du? Könnte man . . .?« 271