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Verbrechen und Leiden geschlechtlichen Ursprungs.

Es gibt Lebensgüter, die einem Volke selbst der grimmigste Feind, die mächtigste Entente nicht rauben kann. Dazu gehört neben manchem anderen die Freude an der Wissenschaft und das Glück der Liebe. Die wissenschaftliche Erkenntnis stellt auch dann noch eine Erhebung und Tröstung dar, wenn sie sich mit den Leiden der Menschen, im vorliegenden Falle mit dem Unglück der Liebe beschäftigt. Dies gilt namentlich dann, wenn der Gesichtspunkt massgebend ist, der in Fragen des Geschlechts- und Liebeslebens überhaupt der herrschende sein sollte: statt wer ist schuld, fragt was ist schuld? Der erste, der auf dem kriminal- und sexualpsychologischen Gebiet, welches wir hier behandeln wollen, bahnbrechend gewesen ist, war R. v. Krafft-Ebing. Seine Psychopathia sexualis hat unendlich viel Gutes gestiftet und vielen das Vertrauen zu sich selbst und ein ruhiges Gewissen wiedergegeben. Aber vom Standpunkt der vorgeschrittenen Forschungsarbeit stellt sein Werk doch mehr eine Fülle bemerkenswerter Einzelfälle, eine Summe von Wissen dar, als eine organisch zusammenhängende Wissenschaft. Es fehlt der grosse einheitliche Gedanke, der die einzelnen Erscheinungen mit einander verbindet, wie es überhaupt dem ganzen Gegenstande in nicht unerheblichem Grade abträglich war, dass es ein Psychiater, ein Irrenarzt, wenn auch von noch so umfangreichen Kenntnissen und noch so humaner Gesinnung war, der in dieses dunkle Gebiet zunächst hineinleuchtete. Unwillkürlich wurde damit die Vorstellung leitend, dass es sich bei pathologischen Sexualdelikten um den Ausfluss rein seelischer Abweichungen handle, unter deren Zwang Männer und Frauen Handlungen begehen, die sie und ihre Umgebung so oft in schwere Ungelegenheiten bringen.

Die Meinung, dass der zentrale Sitz des Fühlens, Denkens und Wollens, das Gehirn im Liebesleben souverän ist, stellte immerhin einen Fortschritt gegenüber früheren Anschauungen dar, die den Sitz der Liebe in das Herz verlegten. Noch frühere machten die Leber und deren Absonderungen für die Stimmungen und Empfindungen der Menschen, ihre Zu- und Abneigungen, ihre Liebe und ihren Hass verantwortlich. In alten Begriffen, die ihre Namen von der Galle ableiten, wie etwa dem der Melancholie (Chole = Galle) oder dem cholerischen Temperament, haben sich diese Auffassungen erhalten. Diese Anschauung erschien lange und erscheint den meisten auch heute noch absurd, und doch muss eine vorurteilslose Beurteilung zugeben, dass die heutige Lehre von der inneren Sekretion, die Annahme von Substanzen, die, von gewissen Drüsen abgesondert, in das Blut hineindringen, um nicht nur die körperliche, sondern auch die seelische Beschaffenheit zu beeinflussen, in gewisser Beziehung eine Rückkehr zu dem Ideengang der Alten bedeutet. Jedenfalls steht fest, dass wir dem Gehirn für die sexuellen Empfindungen nicht mehr die Alleinherrschaft zuerkennen dürfen, die ihm Krafft-Ebing oder gar Franz Joseph Gall beimass, der in seinem phrenologischen System das Kleinhirn als den eigentlichen Sitz des Liebes- und Geschlechtslebens bezeichnete. Nach unserer Auffassung ist es die Gesamtpersönlichkeit des Menschen, seine individuelle Konstitution, die seinem Leben und Lieben die Richtung gibt. Diese Konstitution oder Verfassung – wie für die Staatsgemeinschaft bedeutet für das Einzelwesen beides das gleiche – ist das für jeden zunächst wirksame Gesetz. Freilich bei dem, was der einzelne aus dem Mitgegebenen macht, spielt der Gehirnvorgang eine entscheidende Rolle.

Wir nehmen also eine Wechselwirkung an, die zwischen Seelischem und Stofflichem, zwischen den beiden oberen Hirn- und unteren Genitalhemisphären vorhanden ist, wobei jedoch einschränkend zu bemerken ist, dass es nicht die Geschlechtsdrüsen allein sind, welche die Konstitutionsformel bedingen, sondern dass ein ganzes System von Drüsen mit innerer Sekretion, weit im Körper verteilt, eine Art Drüsenorchester, ein Zusammenspiel von Säften und Kräften bewirkt, aus denen sich für jeden Menschen eine bestimmte Konstitutions- und Drüsenformel ergibt, als Keim und Kern, Ursprung und Ursache seiner Individualität.

Wir wollen einige Punkte angeben, die für den geschilderten Zusammenhang beweisend sind. Werden bei Menschen oder Tieren die Geschlechtsdrüsen entfernt, namentlich vor ihrer Reife, so entwickelt sich Körperbau und Seelenleben dieser Individuen völlig anders, als wenn diese Organe wirksam sind, vor allem ist auch ein Geschlechtstrieb nur in geringem Grade, vielfach überhaupt nicht vorhanden. Es würde zu weit führen, auf alle Einzelheiten dieser Abhängigkeit einzugehen, nur das sei hervorgehoben, dass die Ausfallserscheinungen zum grossen Teil dem normalen Zustand weichen, wenn es gelingt, die verlorenen Drüsensubstanzen auf künstlichem Wege dem Organismus wieder einzuverleiben.

Noch augenfälliger tritt dieser psycho-inkretorische Parallelismus bei zwischengeschlechtlichen Personen in die Erscheinung, die also weder dem voll männlichen noch dem voll weiblichen Typus entsprechen. Wohl das klassischeste Beispiel hierfür ist der Fall, dessen Veröffentlichung wir dem Stockholmer Aerzteehepaar Salén verdanken. Dieses hatte bei sich eine Köchin in Stellung von auffallend männlichem Gebaren, tiefer Stimme, Bartwuchs, burschikosem Wesen und heftiger Abneigung gegenüber männlichen Bewerbungen und Annäherungen. Sie starb an einer Lungenentzündung, als sie etwa Mitte der Vierziger war, und die Sektion ergab das zweifellose Vorhandensein eines Hodeneierstockes (Testovars). Dieser eine Fall, und es ist nicht der einzige geblieben, macht es zur Gewissheit, dass eine Verbindung besteht zwischen der Beschaffenheit der Gonaden und ihrer Sekrete einerseits und der Gestaltung des ganzen Organismus andererseits. Ein zufälliges Nebeneinander würde allen Gesetzen der Logik widersprechen.

Nehmen wir vollends die neueren Versuche Steinachs hinzu, dem es gelang, durch Einpflanzung entsprechender Keimstöcke jung kastrierte Männchen in Weibchen, Weibchen in Männchen und beide in Zwitter zu verwandeln, je nachdem er einen Hoden, einen Eierstock oder Teile von beiden übertrug, so scheint damit die Beweiskette für die inkretorisch bedingte Sexualkonstitution so fest gefügt, dass sich wohl schwerlich ein exakt-objektiver Forscher ihrer Wucht und Schlüssigkeit entziehen kann, selbst wenn nicht noch eine ganze Reihe weiterer Beobachtungen und Ueberlegungen ihre Annahme stützen.

Krafft-Ebing war von diesen Errungenschaften der Naturwissenschaften noch sehr wenig bekannt. Wohl waren schon zu seinen Lebzeiten die ersten Veröffentlichungen von Brown-Séquard erschienen, aber sie hatten wenig Anklang gefunden und von einer Durcharbeitung der neuen Lehre in grösserem Umfang war keine Rede, geschweige denn von einem Ausbau des Lehrgebäudes von der inneren Sekretion, wie wir es vor allem Biedl verdanken.

Legen wir die moderne Drüsenforschung der Betrachtung der verschiedenen Triebabweichungen auf geschlechtlichem Gebiet zugrunde, so ergibt sich daraus eine ganz zwanglose Einteilung, die recht eigentlich das sexuelle Wissen zu einer Sexualwissenschaft erhoben hat. Diese Einteilung geht von dem gänzlichen Ausfall der Geschlechtsdrüsen und ihren Folgeerscheinungen aus, greift dann auf andere geschlechtliche Entwicklungsstörungen bis zum Abschluss der Reife über, umfasst in einem zweiten grossen Hauptabschnitt diejenigen Erscheinungen, die eine Mischung männlicher und weiblicher Drüsensubstanzen und eine dementsprechende Mischung männlicher und weiblicher Eigenschaften zur Grundlage haben, und gelangt schliesslich zu den verschiedenen Störungen im Sexualstoffwechsel, die teils als vermehrte, teils als verminderte Sexualität auftreten oder aber unter dem Bilde der Sexualverdrängung oder gewisser verkümmerter Ein- und Ausdrucksformen erscheinen.

Es ist mir die Aufgabe gestellt worden, mich darüber zu äussern, wie diese abweichenden Sexualkonstitutionen und Sexualempfindungen sich zu jenen Handlungen verhalten, die wir als Verbrechen zu bezeichnen pflegen. Hier müssen wir uns freilich zunächst Klarheit verschaffen, was wir unter einem Verbrechen verstehen wollen. Das Kennzeichen einer verbrecherischen Handlung ist in erster Linie der Eingriff in den Willen einer anderen Person, die Anwendung von Gewalt, die Verletzung des Rechtes über sich selbst, jenes Grundrechtes, das jeder Mensch über seinen Körper und sein Eigentum besitzt. Diese Voraussetzungen sind auch auf sexuellem Gebiete vollgültig, nur darf man hier nicht übersehen, dass entsprechend dem Charakter erotischer Beziehungen bei Geschlechtshandlungen ein doppelter Wille gegeben sein muss. Es kann daher nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass, wer diesen Willen gewaltsam ausschaltet, etwa durch Anwendung von Betäubungsmitteln oder durch körperlichen Zwang, ein Verbrechen begeht. Nicht anders ist es auch, wenn bei einem Wesen ein Geschlechtswille überhaupt nicht vorhanden ist. Wir nehmen an, dass vor der Geschlechtsreife, also in den Kinderjahren, ein geschlechtliches Verfügungsrecht des Menschen noch nicht vorausgesetzt werden kann; es bedarf daher der Festsetzung eines Schutzalters, bis zu dem der noch in der Entwicklung begriffene Mensch vor sexuellen Annäherungen bewahrt bleiben muss.

Viel schwieriger liegt die Entscheidung der Frage, ob ein Verbrechen vorliegt, in solchen Fällen, in denen zwei erwachsene Menschen, gleichviel welchen Geschlechts, in freier Uebereinkunft zu Betätigungen schreiten, die an sich und für sich vorgenommen, keinen unmittelbaren Eingriff in die Rechte eines anderen darstellen. Immerhin gibt es gerade auf sexuellem Gebiet Verhältnisse, in denen die Uebereinkunft zweier Menschen eine so bindende Form trägt, dass selbst bei Einwilligung einer zweiten Person die Verletzung bestimmter Rechte und Vorrechte einer dritten nicht geleugnet werden kann, wie etwa beim Ehebruch.

Ich möchte mich meiner Aufgabe nun im einzelnen in der Weise unterziehen, dass ich, von einer Triebabweichung zur anderen gehend, untersuche und prüfe, und zwar unter Zugrundelegung der grossen Erfahrung, die ich im Laufe vieler Jahre habe sammeln können, inwieweit kriminelle Auswirkungen abnormaler Sexualkonstitution vorkommen.

Was zunächst den Geschlechtsdrüsenausfall betrifft, so ist theoretisch anzunehmen, dass sexuelle Delikte von Männern und Frauen, die keine Geschlechtsdrüsen und kein Geschlechtsverlangen besitzen, nicht begangen werden. Dies trifft tatsächlich zu. Immerhin werden in alten Schriften einige seltsame Fälle berichtet, so von einem Soldaten, der wegen Notzucht hingerichtet wurde, bei dem die Sektion trotz des schweren Sexualverbrechens einen völligen Mangel der Geschlechtsdrüsen ergab. Wir sind ausserstande, solche vielfach sensationell aufgebauschten Berichte nachzuprüfen, müssen sie aber auf Grund eigener Erfahrungen für höchst unzuverlässig halten. Eine Handlung gibt es allerdings, die gelegentlich von Personen ohne Geschlechtsdrüsen begangen wird, und die, ohne dass sie ein eigentliches Verbrechen darstellt, doch als erhebliches Unrecht bezeichnet werden muss; das ist unter den erwähnten Umständen das Eingehen einer Ehe. Ich habe verschiedentlich Fälle begutachtet, in denen Männer sich verheiratet haben, bei denen auch keine Spur von Geschlechtstrieb vorhanden war. Der eheliche Verkehr konnte nicht vollzogen werden und die Ehe wurde für nichtig erklärt. In den meisten Fällen, die ich beobachtete, lag diesem Vorgehen allerdings Unwissenheit zugrunde. Die betreffenden Personen hatten entsprechend ihrer körperlichen Mangelhaftigkeit wenig Interesse für sexuelle Fragen gehabt; sie nahmen, trotzdem sie teilweise den sogenannten gebildeten, in sexuellen Fragen aber trotzdem meist sehr ungebildeten Ständen angehörten, an, es würde sich innerhalb der Ehe alles Weitere von selbst ergeben, und waren erstaunt und bedrückt, als ihre Hoffnungen sich als unberechtigt herausstellten. An einen Fall erinnere ich mich, in dem allerdings ein Mann völlig über seinen Zustand unterrichtet, bereits einmal verheiratet war und trotzdem materieller Vorteile wegen sich nicht ablehnend verhielt, als man ihm eine neue Heirat nahelegte. Es ist wohl klar, dass ein derartiges Verhalten schärfsten Tadel verdient. Im übrigen habe ich oft von Personen ohne Geschlechtsdrüsen gehört, dass es ihnen aufgefallen sei, mit welcher Kälte weibliche Personen ihnen begegneten, als ob diese gewissermassen instinktiv empfänden, ohne Genaueres zu wissen oder auch nur zu ahnen, dass diese bartlosen Männer mit hohen Stimmen und breiten Hüften als Sexualwesen nicht in Frage kommen.

Einer ganz besonderen Beziehung zwischen Geschlechtsdrüsenausfall und Kriminalität möchte ich hier aber noch gedenken, nämlich der, dass die gewaltsame Entfernung der Geschlechtsdrüsen zweifellos eine der ältesten, wenn nicht die älteste Form der Strafe ist, deren sich die menschliche Gesellschaft bediente, um sexuelle Verbrecher unschädlich zu machen. Es ist höchst seltsam, dass gerade die Entfernung dieser Drüsen die erste Operation war, die Menschen an Menschen und Tieren vorgenommen haben, wissen wir doch, in welchem Umfang seit alters die Tiere verschnitten werden, um sie für irgendwelche menschlichen Zwecke nutzbar zu machen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Entdeckung dieser bedeutungsvollen Folgeerscheinungen darauf zurückzuführen ist, dass man bei strafweise kastrierten Menschen die Veränderungen beobachtete, die sich nach Verlust der Geschlechtsdrüsen körperlich und geistig einstellten. Es ist wenig über 100 Jahre her, dass noch vielfach in Europa in dieser Weise Sittlichkeitsverbrecher bestraft wurden und auch neuerdings haben sich, vornehmlich in Amerika, Personen für Wiedereinführung dieser Strafform eingesetzt.

Ich bin nun allerdings der Meinung, dass der Staat seine Befugnisse überschreitet, wenn er zu solchen gewaltsamen Verstümmelungen greift. Immerhin gibt es besondere Fälle, in denen man Angeklagten die freiwillige Entscheidung überlassen könnte, ob sie den Verlust ihrer Freiheit oder den Verlust ihrer Geschlechtsdrüsen vorziehen. Diese Fälle scheinen mir dann gegeben, wenn die Entfernung der Drüsen tatsächlich die Heilung einer gemeingefährlichen Triebstörung im Gefolge hat. Nach meiner Erfahrung ist dies nur bei einigen wenigen Anomalien erwiesen. Bei intersexuellen Männern und Frauen beispielsweise, die gelegentlich aus eigenem Entschluss diesen Eingriff an sich haben vornehmen lassen, um mit dem Gesetz nicht in Konflikt zu kommen, habe ich ein völliges Erlöschen ihrer Triebrichtung nicht beobachten können.

Eine Störung dagegen gibt es, bei der in der Tat dieser Eingriff einen ausgesprochenen Heilwert besitzt. Das ist die zweite Form der Entwicklungsstörung, auf die ich jetzt kommen will, der psychosexuelle Infantilismus. Personen, die an dieser Störung leiden, weisen in vierfacher Hinsicht eine Zurückgebliebenheit auf. Ihr allgemeiner Körperbau ist gewöhnlich unterentwickelt, sie sind kleine, schwächliche Menschen, oft mit geringem Bartwuchs, leerem oder kindlichem Gesichtsausdruck und anderen Zeichen körperlicher Minderwertigkeit. Dieser körperlichen entspricht eine geistige Hemmung; viele Infantile sind ausserordentlich beschränkt, mit 30 Jahren wie Zwölfjährige, wissen über die alltäglichsten Vorgänge nicht Bescheid, schreiben mangelhaft und bieten oft das Bild schwächerer oder stärkerer Geistesschwäche, mit der eine einseitige Begabung nur scheinbar in Widerspruch steht, weil sie sich bei genauerem Zusehen als mehr oder weniger mechanische Dressur herausstellt. Mit diesen beiden Entwicklungshemmungen verknüpfen sich zwei weitere Symptome. Es zeigen sich oft Anomalien an den Geschlechtsorganen; der eine oder beide Hoden sind in der Bauchhöhle stecken geblieben, oder es findet sich Azoospermie, völliger Mangel an Keimzellen. Und nun kommt das praktisch Bedeutsamste: der Geschlechtstrieb dieser Personen entwickelt sich nicht durch, wie er es bei einem gereiften erwachsenen Menschen getan hat, sondern behält einer spielerischen Charakter, der sich auf kindliche Individuen erstreckt. Zur Ehre der Menschheit sei es gesagt, dass die meisten Kinderschänder bei gewissenhafter Untersuchung sich nicht als willkürliche, bösartige Verbrecher erweisen, sondern als geistig, körperlich und genital zurückgebliebene Menschen.

Ich habe ausserordentlich viele dieser Personen zu begutachten gehabt und je mehr ich beobachtete, um so stärker hat sich in mir diese Ueberzeugung befestigt. Nur ein Beispiel sei von vielen angeführt. Vor mehreren Jahren wurde uns in unser Institut für Sexualwissenschaft ein Mann zugeführt, etwa 40 Jahre alt, der zum achten Male angeklagt war, an kleinen Mädchen unzüchtige Handlungen verübt zu haben. Er hatte einen grossen Teil seines Lebens in Gefängnissen und Zuchthäusern verbracht. Kaum entlassen, war er immer wieder rückfällig geworden. Ohne jemals körperlich untersucht zu sein, wurde er mit steigenden Strafen belegt. Es war ein arbeitsamer, stiller Mensch, der seine einfache Tätigkeit als Packer zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten ausführte. Er war verheiratet und hatte sich mit seiner Frau zu uns begeben, nachdem er es über sich gewonnen hatte, über sein Unglück mit seinem Chef Rücksprache zu nehmen. Die Untersuchung ergab einen typisch zurückgebliebenen Körper, hochgradige Beschränktheit trotz zufriedenstellender Arbeitsleistung, völlige Samenlosigkeit und einen spielerischen Sexualtrieb, der sich in der Betastung kleiner Mädchen erschöpfte. Auf das von mir und meinen Kollegen erstattete Gutachten musste von einer weiteren Bestrafung des Mannes mit Zuchthaus oder Gefängnis abgesehen werden, doch erklärte der Staatsanwalt sogleich, dass der Mann als gemeingefährlich in eine Irrenanstalt untergebracht werden sollte. Er erklärte sich nun seinerseits freiwillig bereit, seine Geschlechtsdrüsen entfernen zu lassen. Dies geschah mit dem Erfolg, dass bei dem so häufig vorbestraften Menschen von stundab jeder sexualkriminelle Drang aufhörte. Seit über drei Jahren habe ich ihn weiter verfolgt und darf er als geheilt, und zwar mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit als dauernd geheilt angesehen werden.

Trotzdem bin ich der Meinung, dass weder der Arzt noch der Richter selbst einem psychosexuell infantilen Menschen die Kastration aufoktroyieren sollte; er muss ihm vielmehr ganz genau die Vorteile und Nachteile der unterlassenen und vollzogenen Operation klarlegen und ihm die wichtige Entscheidung auf Grund dessen dann selbst überlassen.

Eine geringere kriminelle Bedeutung wie dem psychosexuellen Infantilismus kommt der gegenteiligen Störung zu, obwohl jene mehr einen Defekt, diese mehr einen Exzess, eine Gefühlssteigerung darstellt. Wir meinen die sexuelle Frühreife. Sie tritt uns in verschiedenen Abstufungen entgegen, bald überwiegt das seelische Moment erkenntlich an einem sehr frühen Erwachen des Geschlechtstriebes, bald stehen körperliche Zeichen allzu früher Genitalreife im Vordergründe; so beobachtete ich einen vierjährigen Menschen, der in jeder Beziehung geschlechtsreif war. Dass auch hier eine Störung der inneren Sekretion die Ursache war, zeigte die Sektion des mit sechs Jahren verstorbenen Knaben. Diese ergab eine Geschwulst der Zirbeldrüse. Besonders häufig ist ein sehr frühzeitiger Eintritt der Menstruation beobachtet worden. Auch über Schwangerschaften und Entbindungen im Kindesalter finden sich verbürgte Mitteilungen in der Fachliteratur.

Eigentliche sexuelle Verbrechen werden aber von diesen geschlechtlich Frühreifen nur selten begangen, wenigstens gelangen sie nur ganz ausnahmsweise zur Kenntnis der Behörde und zur Aburteilung. Am ehesten kommt es auf frühreifer Grundlage noch zu Sexualdelikten inzestuöser (blutschänderischer) Art unter jugendlichen Geschwistern.

Die häufigste Form sexueller Frühreife, die dem Arzte vorgetragen wird, äussert sich in frühzeitiger Selbstbefriedigung. Die Mütter beunruhigen sich oft ungemein, wenn sie sehen, dass trotz aller Mahnungen und angedrohter und ausgeführter Bestrafungen kleine Knaben und Mädchen nicht davon ablassen, sich an den Genitalien zu berühren und an ihnen oft bis zur Erschöpfung zu reiben. Häufig liegen die Gründe dieser frühzeitigen Selbsterregung auf mechanischem Gebiet. Die Kinder leiden an Würmern oder juckenden Hautaffektionen, die sie veranlassen, sich zu kratzen. Es gibt aber auch Fälle, in denen solche Ursachen, nach denen stets zunächst gefahndet werden muss, nicht nachweisbar sind. Man muss dann annehmen, dass psychische oder allgemeinkörperliche Gründe vorliegen, und zeigt die Erfahrung, dass diesem Uebel leider oft sehr schwer beizukommen ist. Durch strenge Behandlung stellt sich neben dem unwillkürlichen suggestiven Hinweis auf diese Organe meist auch noch bei den Kindern eine Neigung ein, die Unwahrheit zu sagen, und sind diese verschüchterten und verlogenen Kinder oft für die Eltern ein Gegenstand grossen Kummers. Zweierlei ist jedoch zu bemerken: Einmal, dass es meist geistig sehr regsame Knaben und Mädchen sind, die so frühzeitig der sexuellen Schwäche erliegen, und dann, dass eine grosse objektive Erfahrung zeigt, dass der Körper und Geist sich diesen Exzessen gegenüber oft bei weitem widerstandsfähiger erweisen, als man theoretisch anzunehmen geneigt ist.

Wenn wir von der sexuellen Frühreife sprechen, darf man nicht jene frühreifen Mädchen vergessen, die so oft vor Gericht mit der Beschuldigung auftreten, es seien an ihnen unzüchtige Handlungen verübt worden. Wieviel angesehene Männer in Amt und Würden, namentlich wieviele Lehrer und Geistliche sind auf diese Bekundungen hin nicht nur ihrer Stellung verlustig gegangen, sondern in tiefes Unglück gestürzt worden?

Man kann mit der Bewertung der Zeugenaussagen dieser Kleinen nicht vorsichtig genug sein. Betreten diese niedlichen Geschöpfe den Gerichtssaal, treten sie so verwundert scheu und doch zugleich naiv-unbefangen an den Richtertisch, erzählen sie so harmlos die Vorgänge, die sich mit ihnen abgespielt haben sollen, so können sich nur wenige Staatsanwälte, Richter und selbst Sachverständige und Verteidiger dem Eindruck entziehen, dass das, was in so schlichter »unschuldiger Form« hier vorgebracht wird, die lautere Wahrheit ist. Und doch sind es vielfach nur durch Befragen und anderweitige gewollte und ungewollte Beeinflussungen hervorgerufene eingelernte Märchen. Man muss Zeuge gewesen sein, wie die kleinen Mädchen während einer Verhandlung mit derselben Sicherheit Behauptungen aufstellten, von denen sie während einer zweiten Verhandlung das gerade Gegenteil mit der gleichen Bestimmtheit angaben, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, dass Kinderaussagen in geschlechtlichen Fragen subjektiv und objektiv eine äusserst geringe Bedeutung haben und dass, wenn nicht einwandfreie erwachsene Zeugen gleichzeitig vorhanden sind, man nicht so leichthin, wie es vielfach geschieht, ein Menschenleben vernichten sollte auf Grund von Bekundungen, von deren verhängnisvoller Schwere die kleinen, sich in ihrer Rolle so wichtig vorkommenden Personen natürlich nicht die geringste Ahnung haben.

Man wird vielleicht einwenden, dass es gerade die Beweiskraft kindlicher Aussagen erhöht, dass das Kind sich wohl seiner Wichtigkeit, aber nicht dessen bewusst ist, was von seinen Bekundungen abhängt. Dieser Einwand wird dadurch entkräftet, dass die Kinder meist ein starkes instinktives Gefühl dafür haben, namentlich wenn sie sich in dem feierlichen Raum, umgeben von ernsten Männern in schwarzen Talaren sehen, dass ihren Erzählungen ein höherer Wert innewohnt, wenn sie belastend, als entlastend lauten. Hinzu kommt die oft mehrere Stunden betragende Wartezeit zwischen dem Aufruf der Zeugen und ihrer Vernehmung, in der diese Kinder auf dem Korridor und in den Warteräumen einander erzählen von dem, was mit ihnen vorgekommen ist, und von den Angehörigen und meist auch von den Polizeibeamten, die sie zuerst vernommen haben, immer wieder auf das Schreckliche hingewiesen werden, was an ihnen verübt ist. Es ist keine Frage, dass Unzuchtsdelikte an Kindern einer ernsten Verfolgung bedürfen, obwohl man sich nicht verhehlen darf, dass das Uebel, dem man steuern will, nämlich früher Verdorbenheit entgegenzuwirken, durch den aufgebotenen Apparat meist keine Besserung erfährt. Nur halte ich es auf Grund jahrzehntelanger Erfahrung für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, dass sich niemals die Richter allein auf den »günstigen Eindruck« eines kindlichen Zeugen verlassen sollen, sondern pädagogische und ärztliche Sachverständige zu Hilfe nehmen müssen, um die Wahrheit zu ergründen.

Es ist sehr verdienstvoll, dass der Leiter des Leipziger Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie, Max Döring, es sich zur Aufgabe gesetzt hat, eine Verbindung zwischen Lehrern und Aerzten herzustellen, die sich mit dem Problem der Bewertung jugendlicher Zeugen in Sexualprozessen beschäftigen. Der Vortrag »Jugendliche Zeugen in Sexualprozessen«, den er auf dem internationalen Kongress für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage im September 1921 in Berlin gehalten hat, »Sexualreform und Sexualwissenschaft«, Vorträge, gehalten auf der I. internationalen Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage, herausgegeben von Dr. A. Weil, Berlin, im Auftrage des Instituts für Sexualwissenschaft, Berlin, J. Püttmann, Stuttgart, 1922, S. 260. sollte kein Strafrichter ungelesen sein lassen.

Auch hier möge ein Beispiel aus eigenem Erleben das Gesagte belegen. Ein Dorfschullehrer aus Thüringen wurde eines Tages verhaftet, weil er sich an Schülerinnen vergangen haben sollte. Er suchte mich auf Veranlassung des Dorfpfarrers auf, der ihm das denkbar beste Zeugnis ausstellte. Er sei der gewissenhafteste und pflichttreueste Lehrer, den er amtlich kennen gelernt habe. Der Angeklagte war glücklich verheiratet, hatte mehrere wohlgeratene Kinder und erfreute sich bei jung und alt grösster Beliebtheit. In seiner Schule befand sich ein etwa zehnjähriges Mädchen, das ihm wegen seiner Ungezogenheit viel zu schaffen machte. Das Kind, das oft in der Schule fehlte, lebte unter ungünstigen häuslichen Verhältnissen. Verschiedene Beschwerden des Lehrers hatten schliesslich zur Folge, dass die Eltern das Kind gänzlich aus der Schule nahmen. Es entstand ein Streit zwischen dem Lehrer und dieser Familie und eines Tages erfolgte die Anzeige, der Lehrer habe sich beim Zeichenunterricht an diesem Kinde und anderen unzüchtig vergangen, indem er sie an den Oberschenkeln und der Brust berührt hätte. Auf die Angaben des erwähnten Mädchens wurde zunächst wenig Wert gelegt. Dann gaben aber die Eltern eine ganze Reihe anderer Kinder als Zeugen für die behaupteten Straftaten an. Es wurden an hundert frühere und jetzige Schülerinnen vernommen. Mehrere bekundeten, sie seien in der Tat berührt worden. Der Lehrer gab zu, dass er wiederholt Kindern, die ihm die Zeichnungen vorlegten, die Hand über die Kleider an den Körper gelegt habe, dass es sich aber hierbei um keine geschlechtliche Annäherung, sondern nur um ein »Tätscheln« gehandelt habe, das vielleicht unvorsichtig, aber nach seiner Auffassung völlig harmlos gewesen sei.

Das umfangreiche Verfahren schien günstig für den Lehrer auszulaufen, als sich plötzlich ein zwanzigjähriges Dienstmädchen aus Berlin meldete, die unter ihrem Eide aussagte, dass sie vor acht Jahren beim Zeichenunterricht von dem Lehrer an den Oberschenkeln berührt worden sei. Dieses Mädchen blieb so fest bei ihrer Bekundung, dass das Gericht daraufhin den Lehrer zu zwei Jahren Gefängnis verurteilte. Vergebens wurde von uns Sachverständigen geltend gemacht, dass es höchst unwahrscheinlich sei, dass das zur Zeit der angeblichen Delikte 12- und jetzt 20jährige Mädchen mit solcher Genauigkeit sich der vorgenommenen Berührungen erinnern könne, selbst wenn man ihr den guten Glauben nicht absprechen wolle. Vergebens wies auch der Verteidiger darauf hin, dass das Mädchen inzwischen durch verschiedene Diebstähle den Beweis ihrer Unehrlichkeit erbracht habe. Der »Eindruck«, den sie auf das Gericht machte, beseitigte alle Bedenken und veranlasste sogar den Staatsanwalt, darauf aufmerksam zu machen, dass die Sachverständigen wohl über den Angeklagten ein Urteil abgeben dürften, nicht aber befugt seien, sich über geladene Zeugen zu äussern, deren Bewertung ausschliesslich Sache des Gerichts sei.

Ich erwähne dieses Beispiel, das nicht einmal den krassesten Fall darstellt, den ich auf diesem Gebiet vor Gerichten gesehen habe, um das Gewissen derer zu schärfen, in deren Händen nicht nur das Wohl und Wehe der Einzelmenschen, sondern der Familien liegt, deren Schicksal mit dem der Angeklagten so eng verbunden ist.

Nicht minder wichtig wie das Kapitel sexueller Frühreife ist für das Verständnis nicht nur der jugendlichen Kriminalität, sondern der sexuellen Delikte überhaupt der Erscheinungskomplex, dem wir nunmehr unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen: das Gebiet der Sexualkrisen. Alle Veränderungen innerhalb des allgemeinen Drüsensystems von den Reife- bis zu den Wechseljahren verursachen kritische Phasen im Leben der Menschen. Vor allem das Seelenleben wird, ohne dass dieser Zusammenhang immer deutlich in das Bewusstsein tritt, stark von allen Vorgängen innerhalb der Sexualsphäre beeinflusst. Diese Einwirkungen setzen mit den Pubertätskrisen während der sogenannten »Flegeljahre« ein, wiederholen sich, namentlich beim weiblichen Geschlecht, nicht nur vielfach bei den periodischen Abstossungen reifer Eier zur Zeit der Ovulation und Menstruation, sondern auch in den Zeiten der Befruchtung, der Fruchtentwicklung und der Rückbildung der Genitalorgane während Schwangerschaft, Wochenbett und Stillzeit und enden in den nicht nur beim weiblichen, sondern auch beim männlichen Geschlecht rudimentär vorhandenen » Wechseljahren«, dem »gefährlichen Alter« (Karin Michaelis), wenn auch keineswegs völlig.

So sehen wir bei Jugendlichen während der Reifeperiode häufig Drangzustände auftreten, die die Eltern mit Recht in grosse Sorge versetzen. Manchmal ist es mehr ein exaltiertes, nicht selten aber auch ein mehr deprimiertes Wesen, das namentlich bei Jünglingen die Oberhand gewinnt, gepaart mit Unruhe, Abenteuersucht und starkem Verlangen nach Ekstasen. Es öffnet sich damit zugleich oft eine Kluft zwischen den Eltern und den heranwachsenden Knaben und Mädchen gerade in einer Zeit, von der die Eltern gehofft hatten, dass ein innigeres Band des Verständnisses die Zusammengehörigkeit eher noch verstärken würde.

Dieser Gegensatz zwischen Vätern und Söhnen ist zu oft behandelt worden, um hier noch des längeren geschildert zu werden. Das klassischeste Beispiel ist wohl das neuerdings wieder von verschiedenen Dramatikern auf die Bühne gebrachte Verhältnis zwischen Friedrich II. von Preussen und seinem Vater. Gerade der feminine Einschlag bei jungen Männern und der virile bei jungen Mädchen wirkt oft auf ihre Erzeuger wie ein schreckhaftes Rätsel, umso mehr als alle Versuche, die Grundnatur, wie sie sich in der Sexualkonstitution äussert, mit der »Heugabel« ändern zu wollen, nur das Gegenteil erreichen. Je mehr aber das Verständnis und das Verhältnis zwischen den Eltern und Kindern leidet, je fremder und feindlicher sie einander gegenüberstehen, um so grösser wird die Gefahr, dass sich aus den seelischen Konflikten eigenwillige Handlungen ergeben, die schliesslich zu Verzweiflung und Selbstmord führen oder im Verbrechen enden. Pflicht der Eltern ist es in solchen Fällen, nicht mit der Güte nachzulassen und, so ausserordentlich schwer es auch oft ist, nichts unversucht zu lassen, um immer aufs neue das zerrissene Band zu knüpfen.

Viele Eltern machen sich ihre Aufgabe leicht, und der Staat leistet ihnen dabei eine wohlgemeinte Hilfe, indem sie die jungen Leute, die ihnen soviel Kummer bereiten, vor einer weiteren Schädigung ihrer selbst und ihrer Umgebung dadurch zu bewahren suchen, dass sie sie unter dem Stichwort: »gemeingefährlich« in eine geschlossene Irrenanstalt oder in Fürsorgeerziehung bringen. Meine Erfahrungen haben mir gezeigt, dass, so bequem und angenehm diese Wege für die Familie sind, sie doch nur in ganz seltenen Ausnahmefällen den richtigen Weg darstellen. Vor allem aber habe ich mich davon überzeugt, dass bei jugendlichen Kriminellen sehr häufig nach dem 20. Jahre, oft nach dem 25. und 30. noch eine Nachreife eintritt, die allein schon Grund genug sein sollte, die Hoffnung nicht, wie es so oft geschieht, zu früh aufzugeben.

Die Rettung und Hilfe bei schwer erziehbaren Menschen kommt sehr häufig kurz nach dem 20. Jahre von einer Person, von der es die Eltern vielleicht am wenigsten erwarteten, nämlich von einer, die der Sohn oder die Tochter aufrichtig liebt und die ihre Liebe erwidert. So wurde mir vor einiger Zeit ein 19jähriger junger Mann zugeführt, einziger Sohn aus wohlhabender Familie, welcher in keiner Stellung aushielt, durch dreistes Betragen allen Menschen, mit denen er zusammenkam, auffällig und schliesslich unerträglich wurde und durch seine Verschwendungssucht, Spiel-, Wett-, Rausch- und Rauchsucht seine Eltern an den Rand der Verzweiflung brachte. Er kam mit dem Bruder seines Vaters, einem Arzt, zu mir, der mit mehr subjektiver als objektiver Heftigkeit darlegte, dass nach seiner Ueberzeugung die Irrenanstalt die einzige Lösung des Falles sei. Ich vertrat einen anderen Standpunkt und erreichte es, dass man dem Patienten die Freiheit beliess und ihn unserer psychischen Behandlung anvertraute. Auch uns gelang es nicht, der starken Impulse des schwer neuropathischen Jünglings Herr zu werden, immerhin war es möglich, sein Vertrauen zu gewinnen und ihn dadurch mit sich und seiner Umgebung in ein harmonischeres Verhältnis zu setzen. Einige Monate später lernte er ein junges Mädchen kennen, die ihm sehr zugeneigt war und der er die stärkste Sympathie entgegenbrachte. Von nun ab trat eine völlige Wandlung ein. Der unstete Mensch wurde arbeitsam, alle süchtigen Zustände, mit Ausnahme der Eifersucht, von deren Grundlosigkeit er sich schliesslich aber auch überzeugte, schwanden und aus dem völlig unsozialen wurde ein nicht nur mit sich, sondern auch mit dem Leben zufriedener Mensch; schliesslich bildete sich auch zwischen ihm und den Eltern, die schon jede Hoffnung auf eine Besserung aufgegeben hatten, ein erträglicher Zustand heraus.

Freilich geben nicht alle Fälle von Neurosen und Psychosen der Reifezeit eine so günstige Voraussage und die extremst ungünstigen, welche uns als Jugendirresein (Schizophrenie) entgegentreten, spotten meist jeder Behandlung.

Was die kriminelle Bewertung der in der Pubertät begangenen Delikte betrifft, so ist auch hier in keinem Einzelfall die Mitwirkung geeigneter Sachverständiger zu entbehren. Das gilt für beide Geschlechter, vor allem auch für das weibliche, bei dem um die Reifezeit oft selbst bei Mädchen aus gutem Hause ein Hang zur Prostitution auftritt. Mit vielen unglücklichen Müttern habe ich gesprochen, deren Töchter trotz bester sozialer Verhältnisse nicht davon abzubringen waren, allen an sie herantretenden sexuellen Verlockungen zu folgen, ja solche aufzusuchen. Auch hier ist es weder mit Strenge noch mit Strafen getan, sondern, wenn eine Hilfe möglich ist – und sie ist es oft – kann sie nur durch eine Therapie erreicht werden, die unter Berücksichtigung der sexuellen Wurzel mit geschickter Vorsicht und milder Geduld von dem Seelenleben ihren Ausgang hat.

Es ist nicht möglich, auf alle kriminellen Handlungen einzugehen, welche mit Sexualkrisen in loserem oder festerem Zusammenhang stehen. Nur zwei Kausalitäten seien kurz gestreift: der Einfluss der Menstruation und die Bedeutung der Schwangerschaft. Auf die erstere hat vor allem Krafft-Ebing hingewiesen. Bereits in einem Artikel, den er im Jahre 1892 in der Zeitschrift für Psychiatrie veröffentlichte, und später in einer besonderen Schrift hat er über die forensische Beurteilung der Menstruationsdelikte Ansichten geäussert, die ich in meiner Spezialpraxis durchaus bestätigt fand. Er meinte, dass die geistige Intensität des menstruierenden Weibes stets »fraglich« sei. Er verlangt, dass bei weiblichen Gefangenen immer festgestellt werden müsse, ob die kriminelle Tat in die Zeit der Menstruation falle, wobei nicht nur die Tage der Periode selbst zu berücksichtigen seien, sondern auch die vorausgehenden und folgenden Tage. Auch dort, wo kein menstruelles Irresein nachweisbar sei, wünscht er bei der Strafbemessung Zuerkennung mildernder Umstände, wenn die Handlung zur Zeit der Menstruation begangen wurde; vor allem die Strafhandlungen Schwachsinniger, welche mit ihrer Periode zusammenfallen, sind hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit äusserst zweifelhaft. Personen, die bei menstrueller Geistesstörung straflos ausgegangen sind, sind jedoch sorgfältiger Ueberwachung zur menstruellen Zeit dringlichst bedürftig.

Auch hier ein Beispiel. Wir hatten in unserem Institut für Sexualwissenschaft eine in Berlin verheiratete Dänin zu begutachten, die wiederholt wegen Warenhausdiebstahls rückfällig geworden war. Die wohlsituierte Frau, der nicht nur von ihrem Mann, sondern auch von anderen grosse Gutmütigkeit und Anständigkeit nachgesagt wurde, war wiederholt in Berliner Kaufhäusern ertappt worden, als sie Gegenstände entwendete, die sie meist wegwarf oder verschenkte. Sie war etwas beschränkt und hatte selbst bisher noch niemals angegeben, dass diese Neigungen, bei deren Schilderung sie jämmerlich weinte, nur bei ihr auftraten, wenn sie unwohl war. Aus ihren Akten stellte ich die Daten zusammen, an denen die Handlungen vorgenommen waren, für die sie Gefängnisstrafen von steigender Dauer erhalten hatte. Die Zusammenstellung ergab zweifellos einen durch 28 teilbaren Abstand und die nähere Untersuchung liess keinen Zweifel, dass es sich tatsächlich um Trieb- und Hemmungsstörungen handelte, die bei der etwas schwachsinnigen Person nur während der Menstruation auftraten. Es erfolgte Freisprechung und die Frau hatte, nachdem ihrem Mann die Anordnung gegeben war, seine Gattin während der Menstruation nie allein zu lassen, bisher keinen Rückfall mehr.

Was die psychischen Alterationen während der Schwangerschaft und die aus ihnen sich ergebenden Delikte leichteren oder schwereren Grades betrifft, so ist zwar von Frauen- und Nervenärzten mancherlei von Wert darüber gesagt worden, und doch sehen wir, dass in vorkommenden Fällen dieser Zusammenhang meist übersehen wird.

Ein historisches Beispiel typischer Art bietet jener Fall, der seinerzeit viel Aufsehen erregte, weil er eine hochgestellte Persönlichkeit betraf, die ohne ihr Vergehen binnen kurzem einen Königsthron bestiegen haben würde. Wir meinen den Fall der Louise von Toscana, einst Kronprinzessin von Sachsen. Es unterliegt kaum einem Zweifel, dass hier die Schwangerschaft bei dem verhängnisvollen Entschluss, mit dem Lehrer ihrer Kinder zu entfliehen, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Wie hier, werden wir aber meist finden, dass seitens der Ehemänner nur eine geringe Neigung besteht, diesem ursächlichen Faktor für das Empfindungsleben und die ihm entspringenden Handlungen die Bedeutung zuzuerkennen, die ihm tatsächlich zukommt.

Wir gelangen nun zu einer Entwicklungsstörung, die, wenn auch nicht gerade als Verbrechen, so doch lange Zeit und auch heute noch vielfach als Sünde oder Laster aufgefasst wird, während sie in Wirklichkeit nur eine Schwäche darstellt; das ist die bei beiden Geschlechtern im jugendlichen Alter so weit verbreitete Ipsation oder Selbstbefriedigung. Vom kriminellen Standpunkt aus beansprucht sie kaum eine Bedeutung, da es ja schon in ihrem Wesen liegt, dass sie keinen Eingriff gegenüber einer zweiten Person darstellt, sondern eine Handlung, die am eigenen Körper vorgenommen wird. Sie erzeugt aber vielfach bei den Personen, die ihr ergeben sind, die Vorstellung einer schlechten Tat, und unendlich viel Menschen gibt es, die in dem Kampf zwischen guten Vorsätzen und schwer beherrschbaren Trieben, gepeinigt von Reue und Gewissensbissen, schliesslich infolge der Onanie jedes Vertrauen zu sich selbst verlieren. Manche legen dann Hand an sich selbst, und sicherlich gibt es viel jugendliche Selbstmörder, bei denen die Furcht vor den weit übertriebenen Folgen der Onanie den hauptsächlichsten Grund ihrer Verzweiflungstat ausmacht. Viel tragen zu diesen Vorstellungen gutgemeinte, aber in keiner Weise den Tatsachen entsprechende Schilderungen bei, die schriftlich oder mündlich dazu dienen sollen, die jungen Leute von der angeblichen »Sünde« frei zu machen.

In Wirklichkeit kommt es bei der Ipsation wie bei den meisten sexuellen Handlungen in erster Linie auf das Mass an, und nach meiner Erfahrung gibt es kaum eine Folge der Onanie, die nicht durch eine geeignete Lebensweise und entsprechende Behandlung beseitigt werden kann. Einige Fachleute haben die Ansicht vertreten, dass die Ipsation in dem Septennat der Reifung, also zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr eine physiologische Entspannung darstellt. Sie ziehen diesen Schluss vor allen Dingen aus der Tatsache, dass es nur ganz selten Menschen gibt, die nicht in diesem Alter in Ermanglung ihnen entsprechenderer Entspannung zeitweise dieser Schwäche unterlegen sind. Auf Grund umfangreicher statistischer Erhebungen, die sich über viele tausende Personen erstrecken, muss ich mich dieser Auffassung anschliessen. Ja ich habe sogar die Ueberzeugung gewonnen, dass bei den ein oder zwei Prozent der Menschen, die niemals der Ipsation verfallen sind, ein abnormaler Sexualzustand vorliegt, sei es mehr körperlich, etwa im Sinne eines Geschlechtsdrüsenausfalles, oder seelisch in der Richtung gewisser Hemmungen und Phobien hypochondrischer oder sonst psychopathologischer Art. Nicht selten greifen auch ältere Personen zu ipsatorischen Vornahmen, um nicht Antrieben zu erliegen, die sie mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt bringen könnten, und es lässt sich nicht leugnen, dass diese Ersatzhandlungen gewiss manchen Menschen mit reger Phantasie davon abgehalten haben, krankhafte Drangzustände in die Tat umzusetzen.

Eine Gruppe gibt es allerdings, und es ist die sechste und letzte, die wir bei Besprechung der Entwicklungsstörungen erwähnen müssen, bei denen die Autoerotik kein Surrogat und auch keine physiologische Durchgangsphase ist, sondern bei denen sie einen Dauerzustand darstellt, der ihrer konstitutionellen Eigenart entspricht. Das ist der Narzissismus oder Automonosexualismus. Hier haben wir es mit Menschen zu tun, bei denen der Sexualtrieb sich nicht auf ein anderes Objekt hindurchentwickelt, sondern bei denen eine krankhaft gesteigerte Eitelkeit sich mit der Liebe zu der eigenen Person begnügt. Deshalb ist auch der Narzissist keineswegs in der Weise unglücklich oder lebensüberdrüssig, wie die vorher genannten Menschen, die in Ermanglung einer anderen Person am eigenen Leibe Entspannungsakte vornehmen, sondern er ist sexuell ganz auf sich gestellt, liebt nur sich selbst, sei es, so wie er ist oder so wie er sein möchte. Aus diesen letztgenannten Umständen ergibt sich auch hier eine bestimmte kriminelle Einstellung. Wir finden nämlich nicht selten, dass diese an Narzissismus leidenden Menschen den Hang haben, sich in einem anderen, und zwar ihrer Meinung nach besseren Lichte erscheinen zu lassen, als es den Tatsachen entspricht. Sie legen sich Namen und Titel, Prädikate und Bezeichnungen bei, die ihnen nicht zukommen, und ich habe mich des Eindrucks nicht erwehren können, als ob sich unter den Hochstaplern oft Menschen dieser sexuellen Kategorie verbergen.

Wir wenden uns nun einem zweiten grossen Abschnitt sexueller Normalabweichungen zu, die, biologisch betrachtet, als solche zwar wenig mit Strafhandlungen zu tun haben, dennoch aber vielfach die Kriminal- und Zivilgerichte beschäftigen, weil sich aus ihrer unrichtigen Beurteilung Handlungen ergeben, die sie in aktiver oder passiver Weise mit Gesetzesparagraphen in Konflikt bringen. Es sind die verschiedenen Abarten zwischengeschlechtlicher Stufen, deren genauere wissenschaftliche Erforschung erst in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. Wohl kannten auch frühere Jahrhunderte und vor allem auch das graue Altertum die Tatsache, dass es männliche Wesen mit vielen körperlichen und seelischen Eigenschaften des Weibes gibt, und weibliche Geschöpfe mit männlichen Attributen, sie galten aber fast während des ganzen Mittelalters lediglich als Kuriositäten, Monstrositäten, zum mindesten als Raritäten, denen man meist mit Unbehagen gegenüberstand, ohne sich über ihre eigentliche Wesenheit klar zu sein. Der Satz: » Wer beiden Geschlechtern entstammt, enthält beide Geschlechter vereint«, war noch nicht Wissensgut geworden. Auch jetzt noch liegt es so, dass grosse Teile des Volkes gegen diese Erscheinungen Befremden und intensive Abneigung hegen und nicht begreifen wollen, dass es sich hier in der Hauptsache um naturgegebene Zustände handelt, die mit dem Begriff »widernatürlich« abzutun nur mangelnde Naturerkenntnis verrät.

Dabei stellt die Intersexualität kein vereinzeltes Vorkommnis dar, sondern umfasst ein grosses Gebiet, über dessen Ausdehnung man sich früher erheblich getäuscht hat. Wenn einige glauben, dass die Ausdehnung hierher gehöriger Empfindungen und Aeusserungen in letzter Zeit womöglich gar, wie manche behaupten, durch den Weltkrieg zugenommen hat, so liegt ein Trugschluss vor, denn tatsächlich hat sich nur die Erkenntnis der Erscheinungen vermehrt. Es ist nicht übertrieben, wenn wir annehmen, dass es kaum eine einzige grössere Familie gibt, in der nicht intersexuelle Varianten vorkommen. Freilich ahnen die Nächsten oft am wenigsten davon. Aus reicher Erfahrung kann ich aber bekunden, dass häufig erbitterte Gegner der von mir seit Jahrzehnten vertretenen Anschauung den Weg zu uns fanden, weil Fälle aus dem Kreise ihrer Angehörigen oder ihrer unmittelbaren Umgebung ihnen Anlass gaben, ihre Ansichten zu revidieren.

Die Einteilung der intersexuellen Konstitutionen stösst auf keine Schwierigkeiten, wenn wir uns die Unterschiede zwischen den Geschlechtern klar vor Augen führen und davon ausgehen, dass jede dieser Verschiedenheiten für sich variieren kann. Dies ist nicht verwunderlich, wenn wir berücksichtigen, dass alle Geschlechtsunterschiede aus derselben Grundlage hervorgehen und nur gradweise geringere oder stärkere Entwicklungsstufen einheitlicher Bildungen darstellen.

Wenn man weiss, dass in jedem weiblichen Wesen nach Gesetzen der Vererbung auch männliche Anlagen schlummern und in jedem männlichen alle weiblichen ruhen, so liegt die theoretische Vermutung nicht fern, dass diese latente Doppelgeschlechtlichkeit alles Lebendigen sich möglicherweise durch äussere Einwirkungen nach der einen oder anderen Richtung entfalten könne. Träfe dies tatsächlich zu, dann wäre auch der häufig gehörte Einwand nicht unberechtigt, dass durch Verführung, vielleicht sogar durch die Aufklärung über diese Fragen eine Abbiegung der Triebrichtung stattfinden könnte. In Wirklichkeit aber steht diese Vermutung mit den Tatsachen in stärkstem Widerspruch, denn es gibt kaum etwas, das so fest mit der Individualität verankert ist, als die Sexualkonstitution.

Die Zahl der intersexuellen Varianten, die ich persönlich kennen gelernt habe, zählt nun schon nach zehntausenden, und es ist mir bisher noch kein Fall vorgekommen, der mich in der Ueberzeugung erschüttert hat, dass es nicht ein äusseres Moment, sondern die innere, angeborene, zielstrebige, zwangsläufige Wesenheit des Menschen ist, die in geschlechtlicher Hinsicht sein Schicksal bestimmt.

Im wesentlichen sind es fünf Gruppen, die sich deutlich unter den sexuellen Zwischenstufen abheben, aber wie jede ist auch diese Klassifizierung nur ein Schema, und zwischen den Uebergängen sind immer wieder Grenzfälle vorhanden, so dass wir schliesslich zu einer uneingeschränkten Mannigfaltigkeit sexueller Konstitutionen gelangen. Trotzdem wird der wissenschaftliche Forscher und Sammler markante Formationen herausheben müssen, um die er sich die weniger markanten gruppieren lassen kann.

In körperlicher Hinsicht sind es die Geschlechts organe und der allgemeine Körperbau, die genitale und somatische Geschlechtlichkeit, die es uns ermöglicht, zwei Hauptgruppen zu unterscheiden, deren Vertreter die Hermaphroditen und die Androgynen sind. Das klassische Altertum warf beide zusammen, und fast alle Bildwerke, die uns als Hermaphroditen aus der Antike erhalten sind, würden wir nur als androgyn bezeichnen, da ihre Genitalien kaum je eine Zwitterbildung aufweisen, vielmehr nur der weibliche oder männliche Körperbau mit den Geschlechtsorganen nicht übereinstimmt.

Eine kriminelle Bedeutung besitzen diese körperlichen Uebergangsformen an und für sich kaum, aber die »Zwitterstellung«, die sie mangels fehlender Naturerkenntnis im Leben einnehmen, bringt sie nicht selten in Situationen, die sie schliesslich vor den Richter führen.

Ein Fall für viele. Eine Lehrerin hatte vor einiger Zeit ein Zeitungsinserat aufgegeben, in dem sie eine Freundin suchte. Die Chiffre, unter der sie die Antwort erbat, lautete »Skorpion«. Dies ist der Titel eines modernen, von Anna Elisabeth Weyrauch verfassten Romanes, der in künstlerischer Form die Liebe zweier Frauen zum Gegenstande hat. Es fand eine anonyme Denunziation an die Staatsanwaltschaft statt, die dahin ging, dass es sich hier offenbar um die Anbahnung gleichgeschlechtlicher, sogenannter »lesbischer« Beziehungen handle. Durch eine fingierte Antwort wurde die Lehrerin als Urheberin der Annonce festgestellt und Anklage aus § 184 (Verbreitung unzüchtiger Schriften) erhoben. In heller Verzweiflung, erfüllt von Selbstmordgedanken kam die Unglückliche zu uns. Sie war körperlich Hermaphrodit; bei ihrer Geburt als Mädchen eingetragen, hatte sie sich geistig und allgemeinkörperlich nach der Reife mehr und mehr männlich entwickelt, aber niemals hatte sie den Mut gefunden, sich ihrer Umgebung gegenüber auszusprechen. Sie war Lehrerin geworden, schon fast 30 Jahre im Schuldienst und hatte, wie sie glaubwürdig berichtet, nachdem ihre Einsamkeit durch den Tod der Mutter zugenommen, schliesslich der starken Sehnsucht nicht widerstehen können, wenigstens einmal im Leben entsprechend ihrer seelischen Männlichkeit eine Frau zu suchen, die ihrerseits frauenliebend sei und von der sie daher Gegenliebe erwarten könne, ohne das Geheimnis ihres Lebens zu enthüllen. Trotzdem die ärztlichen Begutachtungen diese angegebenen Zusammenhänge als durch die Untersuchung bestätigt erklären konnten, gelang es nicht, die Lehrerin vor gerichtlicher und disziplinarischer Verfolgung und Verurteilung zu schützen.

Die Fälle irrtümlicher Geschlechtsbestimmung nehmen innerhalb des Hermaphroditismus eine besondere Stellung ein. Bis zum Jahre 1900 befand sich in dem alten B. G. B. Preussens eine Bestimmung, die dahin ging, dass Personen zweifelhaften Geschlechtes im 18. Lebensjahre selbst entscheiden dürften, welchem Geschlecht sie zugerechnet werden wollten. Dieses, unseres Erachtens sehr vernünftige Gesetz ist in dem neuen B. G. B. in Wegfall gekommen, mit der Begründung, dass es nicht dem subjektiven Ermessen, sondern der objektiven ärztlichen Entscheidung überlassen bleiben müsse, welchem Geschlecht jemand angehöre. Hinzugefügt wurde, dass diese Fälle überhaupt zu selten seien, um eine besondere Berücksichtigung im Gesetzbuch zu verdienen.

Diese angebliche Verbesserung des Gesetzes bedeutete nach unserer Erfahrung eine sehr erhebliche Verschlechterung. Ich meine, dass in zweifelhaften Fällen der Geschlechtszugehörigkeit tatsächlich in erster Linie die betreffende Person selbst gehört werden müsste, denn sie besitzt mehr Kompetenz als der sachverständige Arzt. Gibt es doch genug Fälle, in denen weder das eine noch das andere Geschlecht mit Sicherheit als festgestellt erachtet werden kann. Die Seele, nicht der Körper sollte hier massgebend sein. Ich habe oft intersexuellen Varianten die Frage vorgelegt, ob sie ihren Körper nach der Seele oder ihr Gefühlsleben nach dem Körper umformen lassen möchten, und fast ausnahmslos die Antwort gehört, dass sie wünschen, man solle alles versuchen, um ihre körperliche Beschaffenheit ihrer seelischen anzupassen. Der umgekehrte Gedankengang ist sogar bei Geschlechtsübergängen, deren Genitalien keine Abweichung vom Typus zeigen, viel seltener, so häufig auch Aerzte ihn den betreffenden Personen als für sie aussichtsvoller und vorteilhafter nahelegten.

Wie schwierig in Fällen von Hermaphroditismus oft die Geschlechtsbestimmung ist, möge ein neuerlicher Fall aus meiner Erfahrung belegen. Vor etwa einem Jahre wurde unserem Institut ein wenige Tage altes Kind überbracht, dessen Geschlecht wir bestimmen sollten. Es sei, so erzählte man uns, nach der Geburt von der Hebamme als Mädchen bezeichnet worden, doch habe diese selbst nach den ersten Bädern Zweifel geäussert, und ein hinzugerufener Arzt habe gemeint, das Kind sei ein Knabe. Immerhin sei er seiner Sache nicht ganz sicher gewesen und habe daher empfohlen, den Fall uns vorzulegen. Ich untersuchte ihn in einem grösseren Kreis von Kollegen. Wir fanden einen Geschlechtshöcker und darunter einen Spalt; eine Geschlechtsdrüse war weder aussen noch innen fühlbar. Meine Kollegen, darunter hervorragende Sexualforscher, gaben der Meinung Ausdruck, dass das Kind männlich sei; die Geschlechtsdrüsen seien in der Leibeshöhle stecken geblieben und der Hodenbehälter habe sich nicht geschlossen, so dass eine männliche Entwicklungshemmung vorläge.

Da ich nach dem Tode meines langjährigen Freundes und Mitarbeiters Hofrat v. Neugebaur in Warschau wohl derjenige bin, der die grösste Anzahl von Fällen irrtümlicher Geschlechtsbestimmungen in seiner Spezialpraxis kennen zu lernen Gelegenheit hatte, äusserte ich Bedenken. Allerdings walte zurzeit der männliche Charakter vor, doch sei ein sicheres Urteil in diesem wie in manchem anderen Falle erst dann möglich, wenn mit der Geschlechtsreife der allgemeine Körperbau sich männlich oder weiblich gestaltet habe. Ein gewissenhafter Arzt könne das Kind nur als unbestimmten Geschlechts bezeichnen. Da das Standesregister solche Eintragungen aber nicht vornehme, empfehle es sich, aber nur aus praktischen Gründen, dem Kinde einen männlichen Vornamen zu geben und es dementsprechend anzumelden. Etwa vier Wochen später klingelte der Vater des Kindes, ein Gastwirt, telephonisch bei mir an; das Kindchen sei an einer Verdauungsstörung gestorben, und da er glaube, dass der Fall uns wissenschaftlich interessiere, sei er bereit, uns, wenn wir die Kosten der Beerdigung übernehmen wollen, das Kind zur Obduktion zu überlassen. Wir nahmen das Anerbieten gern an, und es ergab sich nun, dass im Innern eine Gebärmutter mit Eileitern und Eierstöcken vorhanden war, dagegen nichts von männlichen Geschlechtsdrüsen, so dass das verstorbene Kind offenbar ein Mädchen gewesen war. Es können sich eben hinter einer männlichen Front ebenso gut weibliche, wie hinter einer weiblichen männliche Geschlechtsdrüsen verbergen. Allerdings werden wir nach dem oben geschilderten Fall von Salén wie auf Grund anderer Beobachtungen und Erwägungen annehmen müssen, dass in Wirklichkeit in allen Fällen gemischter Geschlechtscharaktere auch gemischte Geschlechtsdrüsen vorhanden sind, wenn auch nicht immer makroskopisch, ja vorläufig nicht einmal immer mikroskopisch nachweisbar.

Dies gilt auch für diejenigen Geschlechtsübergänge, die zunächst nur einen rein seelischen Eindruck machen. Sie betreffen das eigene Geschlechtsempfinden und den Geschlechts trieb. Dem eigenen Geschlechtsempfinden entspricht die Neigung, ein mehr männliches oder mehr weibliches Leben zu führen, als Mann oder Weib zu erscheinen und sich entsprechend zu beschäftigen. Wir finden da männliche Personen, die völlig von dem Drang beherrscht sind, sich als Frau zu kleiden, und weibliche, deren ganzes Sinnen und Trachten ist, als Mann auftreten zu dürfen. Wohlgemerkt spielt dabei der Geschlechtstrieb zunächst keine Rolle, sondern nur das eigene Projektionsbedürfnis. Diese Wunschvorstellungen sind äusserst stark und nur wer täglich mit solchen Personen zusammenkommt, kann erkennen, welche grosse Gewalt diese Triebe besitzen. In meinem Buche über den erotischen Verkleidungstrieb habe ich diese Menschen Transvestiten genannt, habe mich aber mit der Zeit überzeugen müssen, dass sowohl der Ausdruck »Verkleidung« als »Transvestiten« dem innersten Kern dieser Phänomene nicht vollauf gerecht wird. Es ist keine Verhüllung, sondern eine Enthüllung des wahren Geschlechts, und wie von den Transvestiten selbst mit Recht hervorgehoben wird, ist auch die Kleidung, so bedeutsam sie ihnen erscheint, nur eine sekundäre Ausdrucksform ihrer eigenartigen Gesamtpersönlichkeit, die eben dem anderen Geschlechte zugehörig erscheinen möchte.

Hinsichtlich ihres Geschlechtstriebes habe ich fünf Arten von Transvestiten kennen gelernt, solche, bei denen ein eigentlicher Geschlechtstrieb überhaupt nicht nachweisbar ist ( asexuelle), solche, die als narzisstisch bezeichnen werden können, da sie niemanden ausser sich selbst, eben nur die andere in ihnen vorhandene Geschlechtskomponente lieben ( monosexuelle), dann solche, die als männliche Frauen ihre Ergänzung in weiblichen Männern oder als feminine Männer in virilen Frauen finden – wohl die häufigste Gruppe – ( metatropische), solche ferner, die als Männer mit weiblicher Seele den Mann und als Frauen mit männlicher Seele das Weib begehren ( homosexuelle), und endlich solche, die zwischen beiden Geschlechtern schwanken, wobei sie einem androgynen Typus jünglingshafter Weiblichkeit oder mädchenhafter Männlichkeit den Vorzug geben, der bei beiden Geschlechtern vorkommt ( bisexuelle).

Strafbare Handlungen, deren sich Transvestiten schuldig machen oder richtiger wegen derer sie verfolgt werden, ergeben sich entweder aus ihrer eigenen Natur oder aus ihrem Geschlechtstriebe. An und für sich ist es nicht strafbar, die Kleidung des anderen Geschlechtes anzulegen, wenigstens nicht zurzeit und nicht bei uns. Es gab Gesetzesvorschriften – auch in der Bibel finden sie sich – in denen diese Umkleidung auf das schwerste geahndet wurde, sogar mit dem Tode, und es gibt auch heute noch Länder, wenngleich nicht in Europa, in denen sie bestraft wird.

Wesentliche Voraussetzung ihrer Straflosigkeit ist, dass die Geschlechtsverkleidung nicht als solche unangenehm auffällt, denn liegt solches vor, so kann auch in Ländern, wo der Transvestitismus an und für sich erlaubt ist, wegen Erregung öffentlichen Aergernisses oder groben Unfugs eingeschritten werden. Auf alle Fälle empfiehlt es sich, dass Menschen mit transvestitischen Neigungen auf Grund eines Sachverständigengutachtens ihren Zustand der Behörde klarlegen und sich so gewissermassen als Transvestiten anmelden. Das Verfahren der Berliner Polizeibehörde kann in dieser Hinsicht als vorbildlich gelten. Die jahrzehntelangen guten Beziehungen, die zwischen dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee, dessen Vorsitzender ich seit 26 Jahren bin, und den zuständigen Abteilungsleitern im Berliner Polizeipräsidium bestehen, haben zu einem völligen Verständnis dieser eigenartigen Menschentypen und Vorkommnisse geführt, und namentlich die von dem letzten langjährigen Chef dieses Ressorts, Dr. Heinrich Kopp, ausgegangenen Bestimmungen tragen den Stempel wissenschaftlicher Erkenntnis und wahren Menschentums.

Freilich ist den Transvestiten mit der Lösung der Bekleidungsfrage nur teilweise geholfen. Nach dem Kampf um die Kleidung folgt der Kampf um den Namen; es ist vielen Uneingeweihten missliebig und für die Transvestiten im Berufsleben daher sehr erschwerend, dass jemand, der als Frau erscheint und von dem niemand vermutet, dass er ein Mann ist, einen männlichen Vornamen trägt und umgekehrt. Aenderungen des Vornamens, namentlich solche, die im Standesregister vorgenommen werden sollen, sind nur unter allerlei schwierigen Formalitäten erreichbar und so sind sehr häufig Transvestiten bestraft worden, weil sie eigenmächtig in ihren Papieren einen Buchstaben fortradiert oder hinzugefügt haben, etwa Louis in Louise oder Paula in Paul verändert haben. Vor einigen Jahren ist nun ein preussischer Justizminister auf eine wahrhaft salomonische Entscheidung verfallen. Er hat nämlich den Transvestiten gestattet, sich Vornamen beizulegen, die weder ausgesprochen männlich noch weiblich sind, wie etwa Toni, Gerd, Alix, Seppl. Von diesem Entgegenkommen haben bereits eine grössere Reihe männlicher und weiblicher Transvestiten Gebrauch gemacht.

Es sind nicht immer so harmlose Vergehen, wie Falschmeldungen oder dergleichen, die hier vorkommen, vielmehr sind es verschiedentlich auch ernstere Täuschungen gewesen, die als Vorspiegelung falscher Tatsachen Männer in Frauenkleidung und Frauen in Männerkleidung vor den Strafrichter geführt haben. Freilich ist es in solchen Fällen gewöhnlich der Geschlechtstrieb, der in Verbindung mit dem eigenen Geschlechtsempfinden sich verhängnisvoll erweist.

Viel Aufsehen machte in dieser Richtung ein Fall, der sich vor etwa 10 Jahren in Breslau ereignete und unter der Ueberschrift »Eine männliche Braut« durch die Tagespresse ging. Es handelte sich um einen jungen Brasilianer, der Ende der Neunzigerjahre nach Berlin gekommen war, wo er durch einen grossen Toilettenaufwand auffiel. Ich habe ihn damals selbst kennen gelernt und eine Anzahl seiner Bilder unserem Archiv einverleibt. Er gab an, homosexuelle Neigungen zu haben, lebte aber hier sehr zurückgezogen. Später ging er nach Paris. Dort lernte er in einer Pension einen deutschen Lehrer kennen, in den er sich verliebte. Niemand, am wenigsten der Lehrer, ahnte sein wahres Geschlecht. Es kam zu einer Verlobung und P. folgte seinem Bräutigam in die deutsche Heimat. In Breslau fiel seiner neugierigen Wirtin, die darüber ein Buch unter dem Titel »Mein Zimmerherr« veröffentlicht hat, allerlei Seltsames auf, vor allem, dass P. sich täglich rasierte. Sie erstattete die Anzeige, und eines Morgens trat überraschend ein Gerichtsarzt in P.s Schlafzimmer und forderte ihn auf, sich körperlich untersuchen zu lassen. Höflich bat er den Arzt, im Nebenzimmer zu warten, er wolle sich nur ankleiden. Wenige Minuten später hörte man einen Fall. Der Arzt kam zurück und fand P. bereits tot. Er hatte Zyankali genommen.

Ein nicht so tragisch endendes Seitenstück zu dieser Geschichte ist die der Gräfin Sarolta Vay, die Krafft-Ebing beobachtet und beschrieben hat. Hier hatte eine ungarische Aristokratin sich als Mann ausgegeben und mit einer Dame der Gesellschaft verlobt.

In meinen »Transvestiten« habe ich noch viele ähnliche Fälle zusammengestellt, aus denen hervorgeht, wie tief solche Handlungen in der Sexualkonstitution wurzeln.

Der endogen konstitutionelle Charakter des Transvestitismus geht auch aus der grossen Typenähnlichkeit der hier in Betracht kommenden Persönlichkeiten hervor. Es ist schwer, diesen Typus, der sich sowohl auf die Gestalt als auf das Gesicht erstreckt, genau zu beschreiben, noch schwerer, ihn objektiv festzulegen. Aber dass er vorhanden ist, ist für mich immer mehr und mehr zur Gewissheit geworden. So kenne ich einen transvestitischen Komponisten und Kapellmeister, dessen Aehnlichkeit mit Richard Wagner oft von unbefangenen Beobachtern betont wurde. Dieser Richard Wagner-Typus findet sich aber auch sonst in den Gesichtern vieler Transvestiten wieder, beispielsweise auch bei dem seltsamen Ritter d'Eon, dessen Schicksale als Vorleser in am russisch-französischen Hofe, Offizier und Diplomat, Gesandter in England und schliesslich als Hofdame der Königin Marie Antoinette seine Zeitgenossen vielfach beschäftigten. Auch auf dem Bilde, das sich im Kaiser Friedrich-Museum in Berlin befindet, gemalt von Reynolds, tritt dieser Typus deutlich hervor.

Dass Richard Wagner selbst Transvestit war, kann niemand in Zweifel ziehen, der seine in Druck erschienenen Briefe an eine Wiener Putzmacherin gelesen hat. Mit dieser Feststellung geschieht der Bedeutung seiner Persönlichkeit ebensowenig wie seinem Charakter Abbruch. Die Intelligenz der Transvestiten ist wie bei den übrigen intersexuellen Varianten durchaus auf der Höhe; ich sah jedenfalls mehr solche, die über, als solche, die unter dem allgemeinen Durchschnitt stehen. Namentlich finden sich oft künstlerische Fähigkeiten. Auffallend ist auch die Besonderheit und Aehnlichkeit ihrer Schriftzüge. Bei vielen sieht die Schrift wie lithographiert aus. Da sich die Transvestiten untereinander kaum kennen – erst seit Erscheinen meines Buches haben sich einige gruppenweise zusammengefunden und sich sogar zeitweise in einer kleinen Organisation, die den bezeichnenden Namen » Zwei Seelen« führte, vereinigt – erscheint bei dieser Schriftverwandtschaft jeder Zufall ausgeschlossen. Mit der Zierlichkeit der Schriftzüge, die übrigens auch nicht selten in zeichnerischer Begabung zum Ausdruck gelangt, kontrastiert das Aeussere vieler Transvestiten insofern, als sie oft in Skelett- und Schädelbildung ungewöhnlich robust sind. Viele von ihnen sind übermässig gross und stark, was ihnen selbstverständlich nicht angenehm ist, da sie dadurch in Frauenkleidern leichter auffallen. Man nennt in ihren Kreisen daher vielfach sehr grosse Damen scherzhaft » Transvestitentrost«.

Ein so markanter Typus, der übrigens in seinen Proportionen dem Eunuchoiden nicht unähnlich ist, kann nur inkretorisch bedingt sein, wobei allerdings neben den Geschlechtsdrüsen sicherlich auch noch andere Wachstumsdrüsen eine Rolle spielen dürften. Der Richard Wagner-Typus ist übrigens nicht der einzige, der sich unter den Transvestiten findet; es gibt auch noch eine bedeutend zierlichere Gruppe, aber auch hier weisen die einzelnen untereinander für den erfahrenen Beobachter neben seelischen Analogien verwandte Körpereigenschaften auf.

In früheren Zeiten nahm man ohneweiters an, dass Menschen, welche die Neigung haben, die Tracht des anderen Geschlechtes anzulegen, samt und sonders homosexuell seien. So standen fast alle Damen-Imitatoren der Variétébühnen in diesem Rufe. Meine Studien haben mir gezeigt, dass dies keineswegs zutrifft, und mit Recht weisen viele transvestitischen Männer und Frauen diese Behauptung mit Energie, oft sogar mit Entrüstung zurück. Auch hier hat die wissenschaftliche Forschung geradezu befreiend gewirkt. Nach der Veröffentlichung meiner Transvestiten haben mich wiederholt Ehepaare aufgesucht, die mir über diese Feststellung ihren besonderen Dank aussprachen, da durch sie ein wesentlicher Grund des Misstrauens gegen ihre Gatten beseitigt sei; auch später in Briefen haben sich Ehefrauen von Transvestiten vielfach ähnlich ausgesprochen. Ich möchte aber im Anschluss daran dringend raten, dass Transvestiten, die eine Ehe eingehen, sich hinsichtlich ihrer Neigung vorher vollkommen denjenigen anvertrauen, mit denen sie ihren Lebensweg gemeinsam zurückzulegen beabsichtigen. Es ist eine grosse Unterlassung, wenn jemand aus Scham sich nicht zu einem offenen Bekenntnis aufraffen kann, und Transvestiten sollten sich nicht wundern, wenn ihre Ehe sich dann sehr unglücklich gestaltet. Sicherlich gibt es Frauen, die sich nicht nur über solche feminine Neigungen hinwegzusetzen vermögen, sondern ihnen sogar mehr oder weniger freundlich gegenüberstehen, aber sie sind ebenso selten oder häufig wie die Transvestiten selbst. Nur völlige Klarheit führt hier, wie in Liebesfragen überhaupt, zum Guten.

Frauen, die zu Transvestiten neigen, stellen selbst einen abweichenden Typus dar, der uns zu einem weiteren Gebiet der Zwischengeschlechtlichkeit, nämlich dem des Metatropismus führt. Was ist darunter zu verstehen? Im allgemeinen ist im Sexualleben der Mann der werbende, abgebende, die Frau der wartende und empfangende Teil. Im ganzen Tierreich steht der männlichen Aggression die weibliche Anlockung, der ruhenden Eizelle die bewegliche Samenzelle gegenüber. Dies ist der normale Tropismus. Das Wort bedeutet in der Naturwissenschaft das unwillkürliche Sichhinwenden eines Körpers zu einem anderen (Heliotropismus, Chemotropismus etc.). Uebernimmt das Weib im Sexualleben die aktivere, der Mann die passivere Rolle, so nennen wir dies Metatropismus (meta bedeutet hier wie in Metamorphose »umgekehrt«.)

Der Metatropismus des Mannes trägt also einen weiblichen, der des Weibes einen männlichen Charakter, und die Literatur-, Kunst- und Weltgeschichte ist voll von solchen metatropischen Typen. Ein gutes Beispiel bietet die französische Schriftstellerin George Sand, die in ihrer Liebe zu dem weichen Dichter Alfred de Musset und dem noch weicheren Musiker Friedrich Chopin deutlich ihren metatropischen Charakter verrät, ebenso wie der Philosoph Jean Jacques Rousseau seinen Metatropismus in der Liebe zu Mme. de Warens. George Sand zeigte daneben transvestitische Neigungen, die sich auch in der Wahl ihres männlichen Vornamens aussprechen.

Dieses Zusammentreffen ist aber keinesfalls die Regel, denn alle Formen des Intersexualismus können sowohl isoliert als kombiniert vorkommen. Es gibt metatropische Männer und Frauen, und sie bilden die Mehrzahl, die nicht transvestitisch sind, wie wir bereits vorher von transvestitischen sprachen, die nicht metatropisch empfinden. Metatropische Männer wurden früher meist als Masochisten bezeichnet. Dieser Ausdruck stammt von Krafft-Ebing her, der ihn nach einer Persönlichkeit wählte, welche in ihren Romanen und Novellen die Unterwürfigkeit des Mannes unter das Weib besonders viel und kunstvoll behandelt hat: Leopold von Sacher-Masoch. Ich lehne in der Sexualwissenschaft diesen Ausdruck ebenso wie den in gleicher Weise nach Marquis de Sade gebildeten Sadismus ab, neben anderen Gründen auch deshalb, weil sexualpsychologisch der »Masochismus« und »Sadismus« bei beiden Geschlechtern vollkommen verschieden zu bewerten ist. Unterwirft sich eine Frau dem Manne bis zur sexuellen Hörigkeit, so stellt dies eine pathologische Steigerung ihrer an und für sich passiveren, also physiologischen Eigenart dar. Tut ein Mann das gleiche, so ist dies in erster Linie eine Aggressions-Inversion, er übernimmt die passivere weibliche Rolle, wie sich denn auch tatsächlich nicht nur im Charakter, sondern oft auch im Aeusseren des metatropischen Mannes viele feminine Züge finden.

Eine Beziehung zur Kriminalität zeigt der Metatropismus als solcher kaum, am ehesten noch dann, wenn er in sehr gesteigerter Form auftritt. Dann kann es allerdings vorkommen, dass der Mann ein völlig willenloses Geschöpf in den Händen eines aggressiven Weibes wird, die ihn zu allerlei Untaten missbraucht. Ein typischer Fall in der Kriminalgeschichte der letzten Jahrzehnte war der der Frau v. Sch. in A., einer Offiziersgattin, die einen an sie in Liebe fixierten jüngeren Offizier, der sich später das Leben nahm, veranlasste, ihren Ehegatten zu beseitigen.

In einem anderen hierher gehörigen Falle war ich vor kurzem Sachverständiger: ein wenig über 20 Jahre alter Soldat hatte den Gatten seiner Tante hinterrücks erschossen. Der Getötete, von Beruf Oberlehrer, früher katholischer Priester, hatte seine Frau vielfach misshandelt. Das Ehepaar lebte äusserst unglücklich. Als der Angeklagte vom Felde heimkehrte, besuchte er wiederholt seine Tante, die ihm ihr Leid klagte. Sein Mitleid wurde zur Leidenschaft, die einen besonders heftigen Grad erreichte, nachdem es zwischen Neffen und Tante zu sexuellen Beziehungen gekommen war. Er stand völlig im Banne der etwa 15 Jahre älteren Frau. Die Verhandlung klärte nicht auf, ob die Mitangeklagte den Mörder zu seiner Tat direkt aufgefordert oder nur durch permanente Klagen und Wünsche nach dem baldigen Tode des bedeutend älteren Mannes den Jüngling zu seinem Vorgehen veranlasst hatte. Sie war mit ihren Kindern schliesslich von dem verhassten Manne fortgezogen, und als er sich eines Tages bei ihr anmeldete, um Sachen abzuholen, war sie mit einer zweideutigen Bemerkung fortgegangen und hatte den mit einer Schusswaffe versehenen Neffen mit ihrem Manne allein gelassen. Als sie spät in der Nacht heimkehrte, war die Tat geschehen. Sie beteiligte sich an der Zerstückelung der Leiche ihres Ehemannes und sicherlich wäre dieser Mord niemals zur Kenntnis der Behörden gelangt, wenn nicht nach mehreren Jahren der Mittäter, wie er sagt, von Gewissensskrupeln, wie andere meinen, von Rachsucht geplagt, sich selbst und seine Mitschuldige angezeigt hätte.

Diese war, um ihre Tat zu verdecken, auf ein sehr raffiniertes Manöver verfallen. Nachdem die Leichenteile ihres Mannes teils verbrannt, teils anderweitig beseitigt waren und jede Spur von ihm vernichtet schien, gab sie ihn bei der Schulbehörde als vermisst an, um sich die Witwenpension zu sichern. Als kurze Zeit darauf in der Nähe von Berlin ein unbekannter Selbstmörder aufgefunden wurde, agnoszierte sie ihn als ihren vermissten Gatten, veranstaltete seine Beerdigung, legte Trauerkleider an und nur infolge eines Zwistes und der Trennung von ihrem jugendlichen Liebhaber kam schliesslich das Verbrechen zutage. Beide erfuhren eine verhältnismässig milde Beurteilung, da bei der Ehefrau nicht die direkte Anstiftung zum Morde nachgewiesen werden konnte und der Täter selbst nach übereinstimmenden Gutachten Zeichen schwerer psychopathischer Konstitution aufwies, verbunden mit Imbezillität und epileptischen Erscheinungen, verstärkt durch Kriegspsychose und die suggestive Einwirkung der Spartakusunruhen, in deren von Mord und Raub erfüllte Zeit gerade das Verbrechen fiel.

Den Typus der metatropischen Frau hat unter den neueren Dichtern besonders vielfach Frank Wedekind geschildert, so im »Erdgeist« (Lulu), in »Franziska«, ebenso Strindberg; aber auch die älteren Dichter, wie Kleist in »Penthesilea«, haben ihn vielfach behandelt. Es scheint, als ob für die feminine Eigenart mancher Dichter dieser teils mehr männliche, teils mehr mütterliche Frauentypus eine besonders grosse Anziehungskraft besitzt.

Bedeutet der Sadismus des Mannes eine pathologische Verstärkung der ihm innewohnenden Aktivität, so stellt der Sadismus des Weibes im Gegensatz zu dem Masochismus des metatropischen Mannes in erster Linie eine Umkehrung ihrer sexuellen Eigenart dar. Die Grenzen zwischen Physiologischem und Pathologischem sind auch hier wie so oft im Sexuellen keine scharfen. Wir werden eine 50jährige metatropische Dame, die einen 20jährigen Jüngling heiraten will, sicherlich nicht als krankhaft ansehen, wenn sie ihn aber als »Herrin« völlig zu ihrem »Sklaven« zu machen begehrt, wird leicht die Grenze des noch Normalen überschritten.

Auf alle oder auch nur auf die meisten der zum Teil höchst absonderlichen und oft nicht leicht als solche erkennbaren Erscheinungsformen des Metatropismus einzugehen, ist nicht möglich, und hier um so weniger notwendig, als ja die unmittelbaren Beziehungen des Metatropismus zur Kriminalität verhältnismässig gering sind. Auch gesellschaftlich erfährt diese sexuelle Variante bei weitem nicht eine so ungünstige Beurteilung wie diejenige, mit der wir uns jetzt noch zu beschäftigen haben, nämlich die sexuelle Gebundenheit an Personen des gleichen Geschlechtes, die, sexualpsychologisch betrachtet, im letzten Grunde nur eine Steigerung metatropischer Wesensart ist. Ein Uebergang zwischen metatropischer und homosexueller Neigung ist in der Bisexualität gewisser Personen gegeben, die zu Eigenschaften und Typen neigen, welche sich bei beiden Geschlechtern vorfinden. Sehr häufig ist uns von Frauen mitgeteilt worden, dass sie sich ausser durch feminine Männer durch virile Frauen gefesselt fühlen. Ich kenne verschiedene, die für völlig homosexuell galten und ihre Kreise eines Tages durch die Ehe mit einem Manne überraschten, der sich allerdings bei näherer Bekanntschaft fast als femininer wie die frühere Freundin herausstellte. Auch Männer, die zu Frauen mit männlichen, aber auch zu Männern mit weiblichen Eigenschaften neigen, sind keine Seltenheiten. Aber alles dies ist nicht etwas Willkürliches, durch Verführung oder andere äussere Einflüsse Entstandenes, sondern durch die eigene Natur der Betreffenden bedingt.

Nur eine Stufe von der metatropischen und bisexuellen entfernt liegt die homosexuelle Sexualkonstitution, die so geartet ist, dass sie nur in Geschlechtstypen, die dem eigenen Geschlecht angehören, ihre Ergänzung findet. Diese in den letzten Jahrzehnten viel besprochene Erscheinung stellt nun zwar nach unserer Auffassung nichts weniger als ein Verbrechen dar, nicht nur deshalb, weil sie ein zweifellos naturgegebener Zustand ist, den die meisten angesichts der auf ihm ruhenden Verfolgung gern aufgeben würden, wenn sie es vermöchten, sondern auch deshalb, weil, soweit es sich um erwachsene, willensfreie Menschen handelt, kein Eingriff in die Rechte anderer Personen stattfindet. Aus letzterem Grunde, zugleich allerdings unter Berücksichtigung, dass das Aergernis, dem man steuern will, viel weniger durch die Handlung als solche, als durch ihr Zerren aus dem Schlafzimmer an die Oeffentlichkeit gegeben wird, haben viele Länder nach dem Beispiel von Frankreich vor mehr als 100 Jahren die mittelalterlichen Gesetze gegen die Homosexuellen beseitigt, leider nicht Deutschland, Oesterreich, England, Amerika und einige andere Länder, die Anspruch darauf erheben, eine hohe Kultur zu besitzen, und behaupten, stolz auf die wissenschaftlichen Errungenschaften ihrer Naturforscher zu sein.

Seit fast einem Menschenalter erheben viele Gelehrte gegen diesen Justizirrtum ihre Stimme. Die Erkenntnis der Homosexualität ist heute soweit vorgeschritten und Gemeingut der Gebildeten geworden, dass man bald nicht mehr von einem Irrtum, sondern von einem Justizverbrechen sprechen muss. Auf das Wesen der meist auch in ihrer Betätigungsweise verkannten Homosexualität des Mannes und Weibes im einzelnen einzugehen, erscheint daher nicht angebracht in einem Vortrage, der dem sexuellen Verbrechen gewidmet sein soll, und überflüssig, da die auf diesem Gebiete vorhandene Literatur bereits eine sehr ansehnliche ist. Nur das muss hervorgehoben werden, was bereits vor Jahrhunderten ein grosser Jurist betonte, und was sich in diesem Falle so recht bewahrheitet, dass die schlimmste Folge eingebildeter Verbrechen die Erzeugung wirklicher Verbrechen ist. Der Homosexuelle leidet, bei Lichte besehen, viel weniger an der Homosexualität selbst als an ihrer unrichtigen Beurteilung.

Man hat geltend gemacht, dass der ganze Charakter einer homosexuellen Betätigung, die von zwei Personen unter sich und an sich vorgenommen wird, ein solcher ist, dass doch nur in ganz verschwindend seltenen Fällen diese Handlungen ruchbar werden, daher die Klagen der Homosexuellen über den noch bestehenden Gesetzesparagraphen übertrieben wären. Sogar Homosexuelle selbst haben unter Hervorhebung der Seltenheit ihrer Bestrafung den Standpunkt vertreten, dass sich gerade durch die grössere Aufklärung in diesen Fragen für sie das Risiko ihrer Erkennung und Verfolgung vermehren könne, indem man leichter einen Verdacht schöpfe, auf den in früheren Zeiten nur selten jemand gekommen wäre. Ich meine, ein Mensch mit Ehrgefühl solle derartige Einwände fallen lassen. Denn das ist ja gerade die schlimmste Ungerechtigkeit, dass nicht die Tat bestraft wird, sondern nur der ganz seltene Zufall, der sie an den Tag bringt, oder die naive Ehrlichkeit, mit der sie eingestanden wird.

Erst vor wenigen Wochen erlebte ich in einer süddeutschen Hauptstadt folgenden Fall: Durch ein zufälliges Vorkommnis, nämlich einen Brief, den man anlässlich der Haussuchung bei einer dritten Person gefunden hatte, geriet ein junger Mann in den Verdacht der Homosexualität. Er erhielt eine Ladung vor den Untersuchungsrichter. Sein Vater, ein biederer Handwerker, legte dem Sohn ans Herz, er solle vor allen Dingen bei seiner Vernehmung die Wahrheit sagen. Vielleicht war er der Meinung, dass sich nicht nur ein Zeuge, sondern auch ein Angeschuldigter durch unrichtige Aussagen strafbar mache. Auf die Frage des Richters an den jungen Mann über seine sexuelle Veranlagung gab er zu, homosexuell veranlagt zu sein. Auf eine weitere Frage nach homosexueller Betätigung erzählte er sämtliche bisher von ihm vorgenommenen Betätigungen, etwa fünf, mit gleichveranlagten Personen, von denen er nur teilweise Namen und Adresse wusste.

Er wurde nun auf § 175 angeklagt, und zwar nicht nur des Verkehres mit den von ihm genannten Leuten, die natürlich über ihre plötzliche Strafverfolgung höchst überrascht waren und ihrerseits den strafbaren Tatbestand in Abrede stellten, sondern auch wegen Verkehres mit » unbekannt«. In seinem Plädoyer machte der Verteidiger, Dr. Niemann, die nicht üble Bemerkung, dass es ihm zum ersten Male in seiner Gerichtspraxis vorgekommen sei, dass der Staatsanwalt den grossen » Unbekannten« als erwiesen ansehe, der bekanntlich gewöhnlich nur von den Angeklagten zur Entlastung ihrer Schuld herangezogen wird.

Die wirklichen Verbrechen, die durch die gesetzliche und gesellschaftliche Aechtung der Homosexuellen erzeugt werden, sind sehr schwere. In erster Linie kommen hier die Erpressungen in Betracht. Es fallen sicherlich weit über 100mal mehr Homosexuelle in die Hände der Erpresser, als in die der Behörden. Diese, nicht die Richter sind es, die die Verfolgung der Homosexuellen an sich gerissen haben und betreiben. Dabei begnügen sich nur wenige Erpresser damit, Geld- und Sachwerte unter Bedrohung aller Art für sich zu erzwingen, sondern auch Leib und Leben der Homosexuellen ist diesen wahren Unholden preisgegeben und nur selten findet jemand den Mut und die Kraft, der Gefahr zu trotzen und ihr entgegenzutreten; die grössere Anzahl geht seelisch und körperlich zugrunde.

Auf eine kriminelle Folge der Verfolgung Homosexueller möchte ich hier noch ganz kurz eingehen, weil sie wenig bekannt und in den einschlägigen Schriften verhältnismässig selten behandelt ist. Auch ich habe von ihr erst durch meine ausgedehnte Gutachtertätigkeit Kenntnis erhalten, und mich von ihrer wahrhaft entsetzlichen Wirkung überzeugt. Das sind die Meineide, die von homosexuellen Männern und Frauen als Zeugen begangen werden. Nicht dass ich behaupten möchte, wie beispielsweise von Moll geschehen ist, dass der Homosexuelle an sich mehr zur Lüge neigt, als irgend ein anderer Mensch in geschlechtlichen Fragen, aber aus seiner Beurteilung und Stellung ergeben sich für ihn Situationen, die in der Tat nicht selten dazu führen, dass er in wirklicher oder von ihm angenommener Notwehr den Weg der Wahrheit verlässt, selbst wenn ihm klar gemacht wird, welchen Gefahren er sich bei unwahren Bekundungen als beeideter Zeuge aussetzt. Hinzu kommt, dass die Frage eines Richters nach der Homosexualität eines Zeugen, besonders wenn sie ihn überraschend trifft, diesen in einen so erschreckten Zustand versetzt, dass, sei es aus Scham, sei es aus stärkeren psychischen Auswirkungen, die Zunge nicht selten wie gelähmt ist, oder er aber völlig die Uebersicht über das Folgenschwere seiner Worte verliert. Auch ist zu berücksichtigen, dass vielfach den homosexuellen Zeugen selbst die Begriffe, um die es sich handelt, nicht klar sind, vor allem, ob der Richter nur nach Empfindungen oder nach Handlungen, ob er nur nach strafbaren oder auch straflosen Betätigungen fragt.

Der klassische Fall in dieser Beziehung ist der Meineidsfall des Fürsten Eulenburg. Nie werde ich, als unmittelbar neben ihm sitzender Sachverständiger, den Gesichtsausdruck vergessen, der, als die verhängnisvolle Frage an ihn herantrat, sich in den gespannten Zügen dieses starken Mannes malte: dieses starre Entsetzen in den Augen, das Würgen in der Kehle, die Verfärbung der Haut, die anfängliche Unmöglichkeit, ein Wort hervorzubringen, bis das energische »nein, ich habe solche Schweinereien nicht gemacht«, hervorgeschleudert, fast möchte man sagen, mit explosiver Wucht aus dem gepressten Innern herausgeworfen wurde.

Seit diesem Falle habe ich öfter wegen Meineids angeklagte Homosexuelle zu begutachten gehabt; auch gegenwärtig bin ich wieder als Sachverständiger zu einem derartigen Prozess geladen; mehrere Personen könnte ich anführen – so den Besitzer eines grossen Berliner Kaufhauses – die den freiwilligen Tod der drohenden Meineidsklage vorzogen. Wenn ich an alle diese Gerichtsfälle zurückdenke, muss ich gestehen, dass die Folter- und Marterinstrumente des Mittelalters kaum eine grausamere Tortur gewesen sein können, als dieses Inquisitionsverfahren, das heute noch im Namen des Rechtes und des Volkes von Richtern geübt wird, die sicherlich keine Vorstellung davon haben, wie die Wohltat, die sie durch Wahrheitsfindung der Gesellschaft zu erweisen bemüht sind, in Wirklichkeit aussieht.

Noch ein weiteres Vergehen gibt es, zu dem die Verfolgung der Homosexuellen vielfach Anlass gibt. Und hier handelt es sich in den meisten Fällen um eine wirkliche Untat. Sie besteht darin, dass homosexuelle Männer und Frauen mit normalen gesunden Menschen eine Ehe eingehen, deren seelische und leibliche Voraussetzungen zu erfüllen sie nicht in der Lage sind. Hier wird tatsächlich einer zweiten Person ein Unrecht zugefügt und wenn wir an die erblich belastete Nachkommenschaft dieser Menschen denken, oft auch noch dritten und vierten Personen.

Auch hier könnte ich aus dem reichen Schatze meiner Erfahrungen eine sehr grosse Anzahl von Beispielen anführen, darunter Kriminalfälle schwerster Art, Kapitalverbrechen, die sich wohl hätten vermeiden lassen, wenn eine bessere Kenntnis und Erkenntnis menschlicher Sexualempfindungen vorhanden gewesen wäre, wenn nicht aus Unwissenheit geborene Vergleichsversuche die Ursache des Verbrechens begünstigt hätten. So habe ich zurzeit eine wegen Giftmordes angeklagte junge Frau zu begutachten. Sie hatte mit einer anderen Frau ein Geschlechtsverhältnis. Um mit ihr zusammenziehen zu können, kam sie auf den entsetzlichen Gedanken, ihrem Ehemann Gift in das Essen zu mischen. Die Frau, welche ich zu begutachten habe, war wiederholt ihrem Ehemann, mit dem sie sich sehr jung verheiratet hatte, fortgelaufen; von ihren Eltern immer wieder zurückgebracht, vertiefte sich in ihr der Entschluss, sich des gehassten Mannes durch Gift zu entledigen. Ohne mich über den Geisteszustand der Angeklagten zu äussern, über den ich, während ich dieses niederschreibe, noch kein abschliessendes Urteil habe, möchte ich nur betonen, dass auch dieser Fall, wie so viele andere weniger schwere, lehrt, wie sehr sich Dritte und seien es auch Vater und Mutter, hüten sollen, einen Menschen unter dem Stich- und Schlagwort von der »ehelichen Pflicht« an einen anderen fesseln zu wollen, für den er innerlich das Gegenteil einer Neigung empfindet.

Sexuelle Beziehungen zwischen Menschen, die einander nicht in Liebe zugetan sind, stellen ein Unrecht, zumindestens einen Fehler dar, der sich nur zu oft bitter rächt; eine echte und wahre Liebe zwischen reifen und erwachsenen Menschen, gleichviel welchen Geschlechtes sie sind, und gleichviel, ob sie sich nur geistig oder auch körperlich auswirkt, wird sich stets als nutz- und fruchtbringend erweisen; die Naturgesetze sind in diesen Fragen viel zuverlässiger; man könnte hier auch hinzufügen zweckmässiger, als alle von Menschen ausgeklügelten Paragraphen.

Die früher vielfach geäusserte Auffassung, es könnten Männer und Frauen infolge Uebersättigung im Verkehr mit Personen des anderen Geschlechtes sich allmählich mehr zu solchen des eigenen hingezogen fühlen, ist wohl jetzt allgemein als abwegig fallen gelassen, dagegen begegnet man auch jetzt noch selbst unter Aerzten nicht selten der Meinung, dass normalsexuelle Leute, besonders jüngere, durch Verführung älterer homosexuell werden könnten; scheint sogar, als ob diese Befürchtung gegenwärtig der hauptsächlichste Einwand ist, der viele, die sich der Ueberzeugungskraft der Gründe für die Abschaffung homosexueller Strafverfolgung nicht verschliessen können, dennoch veranlasst, an Strafmassregeln für Akte zwischen Geschlechtsgleichen festzuhalten oder wenigstens für Zubilligung ihrer Vornahme ein recht hohes Schutzalter zu befürworten.

Die Annahme einer Verführung steht mit der einer angeborenen Sexualkonstitution ohne Zweifel im Widerspruch, aber diese Feststellung allein würde nicht genügen, diesen immer wieder gehörten Einwand zu widerlegen, wenn er nicht durch die Selbsterfahrung und durch die Beobachtung an tausenden homosexueller Männer und Frauen gleichfalls als irrig erwiesen und ad absurdum geführt werden könnte. Tatsächlich wird ein Normal- oder richtiger Heterosexueller durch homosexuellen Verkehr ebensowenig homosexuell wie ein gleichgeschlechtlich Empfindender durch andersgeschlechtlichen Verkehr heterosexuell wird. Neben vielen anderen haben namentlich auch vielfältige Erfahrungen, die man während des Weltkrieges in Gefangenenlagern sammeln konnte, dieses bestätigt. Ich habe nach dieser Richtung hin viele Erhebungen angestellt und auch viele Berichte erhalten, aus denen immer wieder klar hervorgeht, dass es in allen Gefangenenlagern, gleichviel ob deutschen oder ausländischen, bei Personen, die während mehrerer Jahre des normalgeschlechtlichen Verkehres entbehren mussten, gelegentlich zu homosexuellen Surrogatakten kam. Aehnliches ist ja schon früher auf Schiffen, in Klöstern, in Zivilgefängnissen und überall dort beobachtet worden, wo einem Geschlechte für längere Zeit das andere fehlte. Von 100 Personen aber, die nun in dieser Weise erotische Beziehungen anknüpfen oder Verkehr pflegen, kehren über 95 Prozent wieder zu dem ihrer Naturanlage entsprechenden zurück, sobald sich dazu die lang entbehrte Gelegenheit bietet. Nur ein ganz kleiner Teil bleibt homosexuell, nämlich diejenigen, die es auch schon vorher waren. Ich besitze eine grosse Sammlung von Bildern aus Gefangenenlagern, welche Kriegsgefangene in Frauenkleidern darstellen. Sie sind gelegentlich der Theateraufführungen aufgenommen, durch welche man von Zeit zu Zeit im Kriege die furchtbare Einsamkeit hinter den Stacheldrähten zu unterbrechen suchte. Diese zum Teil oft verblüffend femininen Soldaten aller Nationen bildeten gewissermassen einen Herd, um den sich zuerst einige virilere Homosexuelle scharten, dann auch einige bisexuelle und schliesslich auch Menschen, deren wirklicher Neigung die Homosexualität keinesfalls entsprach, die sich aber nach dem derben volkstümlichen Sprichwort »in der Not frisst der Teufel Fliegen« schliesslich auch diesen femininen Typen zuwandten und an ihnen Gefallen fanden. Aber alles dies regulierte sich wieder in vollkommen normaler Weise und bog sich in die angeborene Zielstrebigkeit zurück, sobald die wiedergegebene Freiheit auch die freie Liebeswahl ermöglichte.

Andererseits habe ich freilich auch gerade in Gefangenenlagern Fälle beobachten können, die von der merkwürdigen Tiefe der von der Norm, oder sagen wir zutreffender, der von der Mehrzahl abweichenden Gefühlsrichtung Zeugnis ablegen. Besonders ist mir ein Fall in Erinnerung geblieben, der sich in einem englischen Gefangenenlager in Deutschland zutrug. Als im Laufe des Krieges der Gefangenenaustausch vorgenommen wurde, der viele Soldaten beider Seiten in neutrale Länder führte, wurde dort auch ein Freundespaar getrennt, das sehr innig miteinander verbunden war. Dem nach Holland überführten Engländer wurde die Trennung unsagbar schwer und sowohl sein Freund als er bemühten sich zunächst, zu bewirken, dass auch der zweite ausgetauscht wurde. Als sich dies nicht ermöglichen liess, versuchte nun der in Holland befindliche Freund auf alle Weise, wieder in die deutsche Gefangenschaft zurückzugelangen; auch ich erhielt von ihm Zuschriften, in denen er mich auf das inständigste bat, doch nichts unversucht zu lassen, um seine Rückkehr in das Gefangenenlager zu bewerkstelligen. Erst mit dem Ende des Krieges hörten diese stürmischen Hilferufe auf.

Das Nervensystem eines liebenden Mannes oder Weibes leidet auf die Länge der Zeit durch nichts so sehr, als wenn es aus irgendeinem Grunde veranlasst wird, einen ihnen nicht entsprechenden (inadäquaten) Verkehr auszuüben oder über sich ergehen zu lassen. Man muss immer wieder die offene Aussprache namentlich weiblicher Personen gehört und sie zu sehen Gelegenheit gehabt haben, diese durch die Umarmungen eines ungeliebten Mannes völlig zermürbten Frauen, um die ganze Bedeutung dieses Faktors zu ermessen.

Wir kommen damit zu einem dritten und letzten grossen Hauptabschnitt psychosexueller Leiden, die ich in meiner »Sexualpathologie« als Störungen im Sexualstoffwechsel bezeichnet habe. Was ist darunter zu verstehen? Für das Wohlbefinden und Wohlverhalten eines Menschen ist, wie bekannt, eine geordnete Aufnahme, Verarbeitung und Abgabe der Stoffe, aus denen sich sein Organismus aufbaut, ein unumgänglich notwendiges Erfordernis. Längere Zeit fortgesetzte Mängel in der Zuführung dessen, was die Organe brauchen, führen eine ebenso hochgradige subjektive und objektive Schädigung des Gesamtorganismus herbei, wie ein Verbleiben der zur Ausscheidung bestimmten Substanzen im Körper. Der Sexualstoffwechsel ist komplizierter als der Ernährungsstoffwechsel, aber auch hier ist das grosse Substanzgesetz, welches die gesamte Natur beherrscht, nicht aufgehoben, das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, nach dem fortwährend ruhende in lebendige Kräfte umgesetzt und lebende in latente verwandelt werden, nicht ausgeschaltet. Zunächst tritt dieses allumfassende Naturgesetz darin in die Erscheinung, dass Eindrücke, die von aussen die Sinnesorgane treffen und zum Gehirn geleitet werden, sich dort in einen Drang umsetzen, der nach einem Ausdruck strebt. Aber dieser Drang, diese nach Entspannung verlangende Spannung ist im Zentralnervensystem erst dann vorhanden, wenn es durch Stoffe erotisiert ist, welche von den Drüsen, vor allem den Geschlechtsdrüsen abgesondert durch die Blutbahn zu den entsprechenden Gehirnteilen gelangen.

Die Bildung dieser Stoffe ist von der Gesamttätigkeit des Organismus, die ihrerseits wiederum an die Zufuhr äusserer Nährstoffe gebunden ist, abhängig und es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine Stauung dieser endokrinen Sexualstoffe nicht auf die Dauer üble Folgen für das Allgemeinbefinden haben sollte. Es wäre dies ein Ausnahmezustand, wie er nirgends in der Biologie ein Gegenstück hätte.

Freilich der Sexualrhythmus ist nicht der gleiche wie der Ernährungsrhythmus und sicherlich auch individuell bedeutend mannigfaltiger abgestuft als dieser. Aber der grosse periodische Rhythmus, der allem Lebendigen innewohnt, der im Wachen und Schlafen, in der Ein- und Ausatmung, in Hunger und Sättigung, in der Pulsation des Herzens, wie in Ebbe und Flut der Menstruationswellen, kurzum in allem und jedem im Organismus zutage tritt, beherrscht auch das menschliche Geschlechts- und Liebesleben.

Ich kannte einen Gelehrten, der behauptete, die Liebe sei nichts weiter als eine Intoxikation (Vergiftung); dieser Ausdruck ist sicherlich nicht gut gewählt und beeinflusst von asketischen Traditionen und Suggestionen, von denen selbst scheinbar freie Geister sich nur selten frei machen können. Der Gedanke aber, der diesem »Naturphilosophen« vorschwebte, gewinnt etwas an Berechtigung, wenn man seinen Ausdruck durch das Wort »Rausch« ersetzt und an den Vergleich vieler Dichter von der Antike bis zur Moderne denkt, die die »Liebestrunkenheit« glücklich oder unglücklich liebender Menschen geschildert haben. Was Goethe in den Wahlverwandtschaften oder in Werthers Leiden nur für einen Vergleich ansah, zwischen chemischer und erotischer Wirkung und Anziehung, stellt sich nach unserer Kenntnis von der inneren Sekretion der Drüsenhormone immer als etwas Tatsächliches heraus. Ich hatte bereits in einem meiner älteren Bücher den »Naturgesetzen der Liebe« diesen spezifischen Substanzen einen Namen gegeben, sie Andrin beim Manne, Gynäcin beim Weibe benannt, und ein Naturforscher wie Haeckel, dem dieses Buch gewidmet war, erkannte diese Nomenklatur als nicht »vorschnell«, sondern wissenschaftlich wohlbegründet an, obwohl wir uns beide bewusst waren, dass sie, solange es nicht gelungen war, diesen Stoff für sich gesondert darzustellen, nur eine Fiktion bedeutete, aber keine grössere als die eines im periodischen System der Elemente noch nicht entdeckten Urstoffs. Mag es auch noch weite Wege haben, bis wir diese Substanzen, die wir bisher nur nach ihren Wirkungen substituieren, gesondert vor uns sehen, dass es einmal dahin kommen wird, sie isoliert in Händen und vor Augen zu haben, ist eine Hoffnung, die man nicht als utopistisch bezeichnen sollte.

Um die Störungen des Sexualstoffwechsels zu würdigen, ist es nötig, über die normalen Grenzen geschlechtlichen Fühlens und Handelns einiges zu sagen. Das hat seine Schwierigkeiten, denn wie in der Triebrichtung hat auch in der Triebstärke jeder sein eigenes Gesetz und das Sexualtemperament weist alle nur erdenklichen Gradstufen auf. Auf der einen Seite Cornelia, die Schwester Goethes, über deren Unsinnlichkeit und Begehrlichkeitsmangel sich der Bruder in Wahrheit und Dichtung äussert, auf der anderen eine Messalina, Faustina und alle die grossen Kurtisanen, deren ganzes Sein von der Sexualsphäre beherrscht wurde. Auf der einen Seite ein Mann wie der Maler Adolf Menzel der in seinem Testament schrieb, dass er niemals ein Weib berührt und nie für eine Liebe empfunden habe, auf der anderen die Don Juans und Casanovas, Marquis de Sade und die Figuren Boccaccios. Vor allem ist es nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, sich für einen einzelnen Sexualfall ein klares Bild über den Grad der nach Befriedigung ringenden Triebstärke zu machen. Dies ist von krimineller Bedeutung, denn oft tritt in Sexualprozessen an den Sachverständigen die Frage heran, ob ein Geschlechtstrieb, dessen Krankhaftigkeit der Gerichtshof an und für sich zugibt, beherrschbar gewesen ist oder nicht

Der alte, von mir sehr verehrte gerichtliche Sachverständige, Medizinalrat Hoffmann in Berlin, pflegte in solchen Fällen klarzulegen, dass der Arzt leider nicht über ein Instrument verfügt, mit dem er, wie er es mit dem Thermometer beim Fieber vermag, den Grad einer Leidenschaft objektiv festzustellen in der Lage sei.

Gerade das Gebiet, dem wir jetzt unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden haben, das der Störungen im Sexualstoffwechsel, hat für den Kriminalisten eine besonders hohe Bedeutung. Sahen wir nämlich, dass die intersexuellen Varianten an und für sich bei vorurteilsloser Würdigung ihrer Eigenart nicht als Verbrecher in dem gewöhnlichen Sinne der Gewalttätigkeit anzusehen sind, und wie die Transvestiten und Homosexuellen auch nur im indirekten Zusammenhang mit ihrer Anomalie kriminell werden, so liegt es ganz anders bei den Persönlichkeiten, die an einer ererbten oder erworbenen Störung des Sexualstoffwechsels leiden. Da haben wir es zunächst mit den Hypererotikern zu tun, den Männern und Frauen, deren Geschlechtlichkeit das durchschnittliche Mass, welches wir auch dann anzunehmen gezwungen sind, wenn wir die Breite des Normalen möglichst weit ziehen, überschreiten. Die Formen, in denen uns ein solcher Hypererotismus entgegentreten kann, von der Zotomanie und Koprolalie bis zur Notzucht, zum Lustmord und der Leichenschändung, von der übermässigen Fixation an eine zweite Person bis zu den stärksten Graden sexueller Hörigkeit, vom Pollutionismus bis zum Priapismus, der Liebesunersättlichkeit bis zur Nymphomanie und zur Satyriasis sind unendlich mannigfach; sie alle eingehend zu behandeln daher nicht möglich.

Greifen wir eine der furchtbarsten Formen gesteigerter Sexualität heraus, wie sie von Zeit zu Zeit die Oeffentlichkeit mit Entsetzen erfüllen, den sogenannten Lustmord, so darf uns das Schreckliche der Tat nicht davon abhalten, die Eigenart des Täters und die Besonderheit seiner Motive zu prüfen. Es zeigt sich dann zunächst, dass viele Tötungen, die anfangs als Lustmord erscheinen und als solche durch die Presse gehen, in Wirklichkeit diesen Namen nicht verdienen. Beispielsweise kann es sich um plötzliche Todesfälle in heftiger sexueller Erregung etwa bei Herzkranken handeln, ein mehr zufälliges Vorkommnis, dessen Spuren der einzige Zeuge des Unfalls zu vernichten sucht, um nicht als Todesurheber in falschen Verdacht zu geraten. Ich habe solche Fälle wiederholt begutachten müssen, beispielsweise einen Gerichtsfall, in dem ein Schiffer die Leiche einer Dirne, die, während er in der Kajüte mit ihr verkehrte, plötzlich verschied, in einen Sack genäht und dann ins Wasser geworfen hatte. Oder aber es liegen Tötungen vor, die auf Eifersucht oder Raubgier zurückzuführen sind. Vielfach sind Prostituierte solchen Absichten zum Opfer gefallen.

Unter einem echten Lustmord können wir nur einen solchen verstehen, der im Geschlechtsrausch vorgenommen zur Entspannung der Geschlechtslust dient. Und auch hier wieder wird ein gewissenhafter Sachverständiger bald inne, dass es zumeist Schwachsinnige oder Epileptiker sind, die im Affekttaumel und in geistiger Schwäche solche Untaten begehen. So wurde im Juli 1922 vor dem Berliner Schwurgericht ein Prozess gegen einen 60 Jahre alten Händler namens Karl Grossmann verhandelt, der wegen dreifachen Mordes angeklagt war, höchstwahrscheinlich aber noch mehrere ähnliche Verbrechen auf dem Gewissen hatte. Die Verhandlung wurde durch den Selbstmord des Angeklagten abgeschlossen; er wurde mit dem Taschentuch erhängt in seiner Zelle aufgefunden am Morgen des Tages, als die ausführlichen ärztlichen Gutachten über ihn beginnen sollten. Seine Opfer suchte Grossmann unter den halb verhungerten Mädchen, die sich aus Furcht als Prostituierte eingeschrieben oder um in Fürsorge zurückgebracht zu werden oder eine über sie verhängte Strafe abzubüssen, unangemeldet im Osten von Berlin umhertrieben. Er lockte sie in seine Wohnung, indem er ihren Hunger zu stillen versprach. Zuhause band er sie auf eine Bank fest, peinigte und tötete sie und zerstückelte ihren Körper. Es würde zu weit führen und zu entsetzlich sein, auf weitere Einzelheiten der ungeheuerlichen Vorgänge einzugehen, die sich sogar bis zur Anthropophagie (Menschenfresserei) gesteigert zu haben scheinen.

Ueber die Vorgeschichte dieses schrecklichen Menschen, die von den Gutachtern, vor allem Professor Strauch und Medizinalrat Störmer mit grosser Sorgsamkeit zusammengetragen wurde, berichtet mein Kollege am Institut für Sexualwissenschaft Dr. A. Kronfeld wie folgt: Grossmann ist der Sohn von einem Lumpenhändler, der als äusserst jähzorniger und brutaler Säufer geschildert wird und viel Krampfanfälle gehabt hat. Seine Ehefrau litt schwer unter ihm. Diese war ein gutmütiges Weib, das sich der Kinder nach ihren Kräften annahm. Sie wurde im Alter geistesschwach; vor der Ehe mit Grossmanns Vater war sie bereits einmal verheiratet. Aus dieser Ehe ging ausser zwei Töchtern ein Sohn hervor. Dieser beging als Unteroffizier die Schändung eines Dienstmädchens, erhielt 15 Jahre Zuchthaus, beging alsbald nach seiner Entlassung erneute Notzucht an einem Kinde und erhielt abermals 15 Jahre Zuchthaus. Während der Verbüssung dieser Strafe ist der Stiefbruder Grossmanns gestorben. In ihrer zweiten Ehe mit dem Vater Grossmanns hatte die Mutter fünf Kinder. Der Angeklagte ist der Aelteste; es folgt ein Bruder, der an Gehirnerweichung starb und von dessen vier Kindern eines geistesschwach ist. Dann folgt eine Schwester, die dem Arzt ebenfalls in psychiatrischer Hinsicht auffällig war. Diese hat eine Tochter, die an Geisteskrankheit leidet. Die anderen beiden Schwestern sind verhältnismässig gesund, nur hat die jüngste unter ihren Kindern eine epileptische Tochter.

Der Angeklagte selbst war in der Schule immer der Letzte. Einen Beruf lernte er nicht, da er von seiner ersten Lehrstelle entlief. Er ist 25mal vorbestraft. Die erste Strafe erhielt er mit 18 Jahren wegen Landstreicherei. Im Urteil dieser ersten Strafe heisst es, dass er schon mehrfach wegen Bettelns und Arbeitsscheu vorbestraft sei. Näheres hat sich darüber nicht feststellen lassen, nur dass die Asozialität Grossmanns sehr früh begonnen hat. Es folgen dann mehrere Strafen wie wegen Bedrohung, Sachbeschädigung, Diebstahls, versuchter Erpressung und vor allem vier Strafen wegen einfacher und qualifizierter Körperverletzung. Mit 24 Jahren erfolgte die erste Zuchthausstrafe wegen Sittlichkeitsverbrechen. Es handelte sich um eine gewaltsame Notzucht mit einem vierjährigen Mädchen. Es folgten dann wieder viele Strafen wegen Erpressung und Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch und dann vom 30. bis 35. Lebensjahre ab drei schwere Strafen wegen Sittlichkeitsverbrechen. Grossmann erhielt damals 15 Jahre Zuchthaus. Nach Verbüssung dieser Strafe ging er nach Berlin und verübte die Verbrechen, deretwegen er angeklagt war. Während seiner 15jährigen Zuchthausstrafe erhielt er 55 Bestrafungen wegen Widersetzlichkeit. Monatelang legte man ihn in Ketten. Aus den Akten über die Vorstrafe geht eine ungewöhnliche Affekterregbarkeit hervor, die noch durch Alkoholwirkung eine sehr erhebliche Steigerung erfuhr.

Die Beziehung des Alkohols zum Hypererotismus wie zum Geschlechtsleben überhaupt ist ein grosses Kapitel für sich. Seine Wirkung vermehrt nicht, wie vielfach angenommen wird, die Geschlechtslust als solche, sondern lähmt die Kritik, die Ueberlegung, die bei allen Sexualdelikten so wichtigen Hemmungen. Grossmann stand bereits als 20jähriger auf der »Säuferliste« derjenigen Personen, denen keine Getränke verabreicht werden sollten. Einem Wirt, der ihm Getränke verweigerte, gab er eine solche Ohrfeige, dass eine Anschwellung der Backe eintrat. Sämtliche Gerichtsgutachter waren sich darüber einig, dass es sich um einen schwer belasteten Mann handle, von Kindheit asozial und antisozial mit starken Defekten des ethischen Verhaltens und Gefühlslebens, mit ungeheurer affektiver Erregbarkeit und abnorm gesteigerter Sexualität von sadistischem Charakter.

Trotzdem konnte sich kein Gutachter entschliessen, die Zurechnungsfähigkeit Grossmanns für die in Frage stehenden Delikte zu verneinen. Selbst das berühmte Wort Friedrichs: »die Ehre des Menschengeschlechtes verbietet es, ein derartiges Subjekt als gesund zu bezeichnen«, vermochte sie nicht in ihrem Urteil zu erschüttern. In den Bemerkungen, die Kronfeld über diesen Prozess in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1922, 5. Heft) veröffentlicht hat, fasst er seine eigene Meinung dahin zusammen, dass Grossmann ein epileptoider Imbeziller mit stärksten moralischen Defekten und erotischer Hemmungslosigkeit gewesen sei, dessen sadistische, hypererotische Disposition durch seinen Lebenslauf, insbesondere die 15jährige Zuchthausstrafe mehr vermehrt als vermindert sei.

Ich bin auf dieses Beispiel näher eingegangen, weil es so recht anschaulich lehrt, wie doch die Schuld der Väter an den Nachkommen heimgesucht wird, oder, aus der biblischen in die naturwissenschaftliche Sprache übertragen, wie sehr sich Defekte der Vorfahren an den Nachkommen rächen und wie sehr die Eugenik bestrebt sein sollte, die Entstehung und Entwicklung dieser wahren Verbrecher bereits vor ihrer Geburt und zwischen Geburt und Reife zu studieren, um ihre Verhütung kennen und bewirken zu können.

Es ist oft sehr schwierig, die begreiflichen Widerstände zu überwinden, die angesichts der furchtbaren und oft so überaus ausgeklügelt und raffiniert erscheinenden Grausamkeiten sexueller Morde nicht nur bei den Staatsanwälten und Verhandlungsleitern, sondern auch bei den Geschworenen auftauchen, sobald von der Verteidigung die Zweifelsfrage der Zurechnungsfähigkeit gestellt wird. Das geht so weit, dass wiederholt Gerichte auf Todesstrafe erkannten, trotzdem sämtliche Sachverständige mit Bestimmtheit die Tat unter ihrem Eide als Ausfluss einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit erklärten, durch die die freie Willensbestimmung des Täters ausgeschlossen war. Beispielsweise geschah dies bei dem epileptischen Lustmörder T., der nur dadurch der Vollstreckung der Hinrichtung entging, dass er auf dem Weg zum Richtplatz von einem schweren epileptischen Anfall betroffen wurde.

Ausser der Brutalität sind es gewöhnlich die Begleitumstände der Tat, die schlaue Anlockung des Opfers vorher, das geschickte Verwischen der Spuren und die vorsichtige Selbstsicherung nachher, die das Gericht veranlassen, trotz zugegebener psychischer Erkrankung die volle Ueberlegung zu bejahen. Dabei wird aber bei sexuellen Verbrechen häufig übersehen, dass das zielbewusste Vorgehen, mit dem der Täter an sein Verbrechen herantritt, bereits einen Teil der Tat selbst bildet, die, wenn die Hemmung fehlt, aus ihrem Anfang nach Zweckmässigkeitsprinzipien zwangsläufig weiter abrückt. Die Schutzmassregeln aber, mit denen der Täter sich vor Strafverfolgung zu entziehen weiss, werden aus dem Selbsterhaltungstrieb geboren, der selbst dem schwersten Sexualverbrecher niemals völlig abhanden kommt.

Dass ein geordnetes Verhalten, welches ganz den Eindruck der Planmässigkeit macht, auch bei Aufhebung der Ueberlegung vorkommen kann, lehren die zahlreichen Beobachtungen leichterer oder schwererer Verbrechen, die im Alkoholrausch oder in epileptischen Dämmerzuständen begangen werden. Namentlich während des Krieges habe ich häufig an Kriegsgerichten Offiziere zu begutachten gehabt, deren Straftaten im schweren Rausch begangen waren, die sich aber vorher oder nachher so diszipliniert und korrekt benahmen, dass ihnen niemand aus der Umgebung etwas von sinnloser Betrunkenheit anmerkte. Ebenso machen ausgesprochene Epileptiker bei Begehung langwieriger Strafhandlungen nicht selten durchaus den Eindruck völlig normaler Geistesbeschaffenheit. Der Sexualrausch aber steht seinem ganzen Wesen nach anderen Rauschzuständen sehr nahe; beiden ist die Einwirkung chemischer Substanzen auf die Hirnganglien gemeinsam, nur dass sie in dem einen Falle von aussen, in dem anderen Falle von innen in die Blutbahn gelangen.

Dabei ist keineswegs nötig, dass, wie vielfach vorausgesetzt wird, die Rückerinnerung an Taten, die unter Ausschluss der freien Willensbestimmung begangen werden, völlig fehlt oder auch nur wesentliche Erinnerungslücken vorhanden sind. Wenn wir davon absehen, dass ja keineswegs die rekonstruierten Angaben der Angeschuldigten völlig der Wahrheit entsprechen brauchen, denn die sexuelle Selbstbezichtigung stellt durchaus kein so einwandfreies Geständnis und keinen so sicheren Beweis dar, wie vielfach geglaubt wird, so lehrt doch die Erfahrung, dass sowohl alkoholisierte als epileptische und ebenso auch hypererotisierte Täter oft sehr genau die Einzelheiten ihrer Erlebnisse im Gedächtnis behalten und reproduzieren können, etwa ungefähr so, wie jemand sich an die Einzelheiten eines Traumes erinnern kann, der ja in ganz analoger Weise einen von dem Willen des Menschen unabhängigen Gehirnvorgang darstellt.

Ich hatte einmal eine Kindesmörderin zu begutachten, eine hysterische Gouvernante, die eines Nachts ein heimlich von ihr geborenes Kind erwürgte, zerstückelte und vergrub, und zwar alles so sicher und folgerichtig, dass niemand auch nur das Geringste ihrer Entbindung und ihres Verbrechens bemerkt hatte! Erst fünf Jahre nach dem entsetzlichen Vorkommnis erstattete sie, wie sie schrieb, von Gewissensbissen gepeinigt, eine Selbstanzeige. Sie wurde hart bestraft, trotzdem die Sachverständigen sich dahin aussprachen, dass die Tat in einem hochgradigen Erregungszustand, in dem die Angeklagte höchst wahrscheinlich ihrer selbst nicht mehr mächtig gewesen sei, begangen wurde. Es nützte ihr auch nichts, dass sie sich darauf berief, sie sei vergewaltigt worden; der 18jährige Sohn der Familie, in der sie Erzieherin war, hätte sie, die genau doppelt so alt war, fortgesetzt stürmisch mit Liebesanträgen bedrängt. Sie hatte sich lange gesträubt, sei aber eines Abends, als sie bereits schlafen gegangen war, von dem plötzlich in ihr Zimmer eindringenden Jüngling überrascht worden und seinen Küssen und Umarmungen erlegen; wie sie behauptete, wäre durch die Ermüdung und den Schreck ihr Wille so gelähmt gewesen, dass sie nicht mehr Widerstand zu leisten vermochte.

Nicht nur bei Kindesmord, sondern auch bei der Fruchtabtreibung, die diesem nähersteht, als sich die meisten Frauen bewusst werden, wird das Moment einer wider eigenen Willen geschehenen Befruchtung vielfach von den Tätern und Täterinnen zu ihrer Entlastung angegeben. Auch hier bewegen wir uns ja auf einem strittigen Gebiet. Die Verbrechen gegen das keimende Leben gehören wohl zu den häufigsten Sexualverbrechen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass Millionen unreifer menschlicher Früchte gewaltsam dem Untergang geweiht werden, weil ihre Trägerinnen sie nicht haben wollen.

Frauenärzte berechneten, dass drei Viertel aller Fehlgeburten kriminell, das heisst absichtlich herbeigeführt werden, andere gaben schätzungsweise allein für Deutschland die Zahl der Abtreibungen im Jahre auf 500.000 an. Besonderes Aufsehen erregte vor etwa zwanzig Jahren (1904) die Schrift einer Gräfin Gisela v. Streitberg, die mit Energie für die Frauen das Recht zur Beseitigung keimenden Lebens forderte; sie führte an, und auch von anderen Frauen sowohl wie Männern, Laien wie Aerzten und Juristen (z. B. Kurt Hiller in seiner Schrift »Das Recht über sich selbst«) ist gelegentlich dieser Standpunkt vertreten, dass die entstehende Frucht noch keine selbständige Persönlichkeit, sondern nur ein Teil der Mutter sei, das ginge daraus hervor, dass nach § 1 des B. G. B. die Rechtsfähigkeit des Menschen erst mit der Vollendung der Geburt einsetze. Es sei auch ein Widerspruch, das uneheliche Kind und die uneheliche Mutter zu ächten und die Entfernung der unehelichen Frucht zu verbieten. Vor allem forderte man, dass ein Mädchen sich einer Frucht entledigen dürfe, die ihr in einem Notzuchtsakte aufgedrängt sei. Im Krieg wurde diese Forderung besonders von den und für diejenigen Frauen erhoben, die von dem Feinde vergewaltigt zu sein behaupteten; so meldeten sich in Ostpreussen nach dem Einfall der Russen 366 weibliche Personen als geschändet. Rund 50 Kinder wurden als aus diesen Schändungen hervorgegangen gemeldet, für welche der Staat die Aufzucht übernehmen sollte.

So sehr ich in der Frage der Empfängnisverhütung der Meinung bin, dass es vom Standpunkte menschlicher Geschlechtsfreiheit dem eigenen Ermessen überlassen bleiben müsste – namentlich in wirtschaftlich so ungemein schwierigen Zeiten wie die unsrigen – ob Schutzmittel in Anwendung gezogen werden, so sehr ich nach meiner Erfahrung davon überzeugt bin, dass es sich in der Mehrzahl der Fälle hier tatsächlich nicht um Leichtfertigkeit, sondern um ein gesteigertes Verantwortungsgefühl handelt, so notwendig ich es halte, dass für alle Menschen die sozialen Vorbedingungen geschaffen werden, die zu der natürlichen Fruchtbarkeit den lebensbejahenden Willen zum Kinde führen, so sehr man dementsprechend bestrebt sein sollte, nicht die Mittel – ein ohnehin ganz fruchtloses Bemühen – sondern die wirklichen Ursachen des Geburtenrückganges zu bekämpfen: so wenig habe ich mich bisher davon überzeugen lassen können, dass die befruchtete Eizelle, der Embryo, nicht bereits ein lebendiges menschliches Wesen ist, über das, nachdem es einmal vorhanden, auch die Erzeuger nicht mehr frei verfügen können.

Biologisch betrachtet steht jedenfalls die Fruchtabtreiberin der Kindesmörderin näher als der Empfängsverhüterin. Wenn man allerdings bedenkt, wie hunderttausende Mütter straflos ausgehen, die ihre Kinder in den ersten Wochen und Monaten durch mangelhafte Pflege mehr oder weniger absichtlich dahinsiechen und sterben lassen, wenn man berücksichtigt, wie schwer die sogenannten »Engelmacherinnen« zu fassen sind, die aus der Herbeiführung eines »natürlichen« Todes ein Gewerbe machen, und weiterhin in Betracht zieht, dass diejenigen Frauen und Mädchen, die nach den Strafvorschriften des § 218 des Reichsstrafgesetzbuches abgeurteilt werden, meist nur solche sind, die, einige wenige unter vielen Tausenden, es an der notwendigen Vorsicht haben fehlen lassen, so wird man in der Mehrzahl der Fälle doch wiederum zu einer anderen, und zwar milderen Auffassung gedrängt.

Ich habe auch hier in meiner Gerichtspraxis Fälle erlebt, die, wenn sie nicht so traurig wären, geradezu als grotesk bezeichnet werden müssten. Hiezu gehört namentlich die Verurteilung von Mädchen, die »mit untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt« ihre Tat verübten. So bildete sich einmal ein armes Mädchen im Norden Berlins ein, sie sei guter Hoffnung, fragte angsterfüllt ihre Nachbarin um Rat, erhielt von ihr einen unschuldigen Tee, der zwar angeblich zur Abtreibung, in Wirklichkeit aber nur zu ihrer Beruhigung diente, und bekam dann rechtzeitig ihre Periode. Trotzdem sie nicht schwanger gewesen war, es allerdings glaubte, und trotzdem sie keine Abtreibungsmittel erhalten hatte, sondern nur annahm ein solches bekommen zu haben, wurde sie wegen versuchter Abtreibung zu Gefängnis verurteilt. Solche Entscheidungen ehren mehr den Juristen als den Menschen.

Ich glaube, dass diese Fragen nicht eher eine befriedigende Lösung finden werden, bevor nicht die Fragen der Unehelichkeit wie der Nachkommenschaft überhaupt in einer sozial zufriedenstellenden Weise gelöst sind. Ohne Beeinträchtigung elterlicher Empfindungen sollte die Kinderaufzucht mehr und mehr eine Allgemeinpflicht der Gesellschaft darstellen, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Damit steht keineswegs im Widerspruch, dass die Sexualfreiheit Erwachsener als eines ihrer persönlichsten, privatesten Rechtsgüter so wenig wie möglich von staatswegen angetastet wird.

In Einzelfällen, namentlich, wenn es sich in Ehescheidungsprozessen darum handelt, welchem von beiden Eltern die Kinder zugesprochen werden sollen, ist es oft sehr schwierig, die Rücksicht auf die Mutterliebe in Einklang zu bringen mit gewissen Gefahren, die darin erblickt werden können, dass eine Frau in geschlechtlicher Hinsicht, sei es nach Seite der Triebrichtung oder Triebstärke von der Norm abgewichen ist. Die Wichtigkeit und Schwierigkeit einer solchen Entscheidung kann nur ein Sachverständiger bemessen, der wiederholt die heftigen und erbitterten Kämpfe miterlebt hat, die von Frauen geführt werden, denen von Ehemännern und deren Anwälten wegen Ehebruch oder ehewidrigem Verhalten das Recht auf ihr Kind abgesprochen werden sollte.

So habe ich gegenwärtig eine hypererotische Frau zu begutachten, die zugegeben hat, ihrem Mann wiederholt die Ehe gebrochen zu haben. Es bleibe dahingestellt, inwieweit auch hier in den einzelnen Fällen eine Beeinträchtigung ihrer freien Willensbestimmung vorgelegen hat; der Mann, ein Alkoholkapitalist, verwöhnte die aus einfachen Verhältnissen stammende Frau in höchstem Grade und liess sie viel starke Weine und Liköre trinken, von denen die an und für sich nervöse zarte Frau behauptet, dass sie hauptsächlich dazu beigetragen hätten, sie Verlockungen gegenüber willfährig zu machen. Wir wiesen schon darauf hin, dass dem Alkohol für das Geschlechtsleben eine sehr nachteilige Bedeutung zukommt und zwar nicht sowohl durch Erregung der Sexualität, als durch Lähmung der Kritik und Schwächung der Widerstandskräfte. Ich habe mich in meinen kleinen Schriften »Alkohol und Familienleben« und »Alkohol und Geschlechtsleben« darüber eingehender verbreitet. In dem erwähnten Falle beanspruchte der sittlich entrüstete Mann, und das pflegt gewöhnlich so zu sein, dass der ungetreuen Gattin vor allem ihr Kind entzogen werden solle, und es wird einer sehr eingehenden Analyse der vorgekommenen Ehebrüche bedürfen, um diesen Anspruch auf das richtige Mass zurückzuführen.

Wir wollen uns nicht verhehlen, dass die Rechts- und Wahrheitsfindung auf geschlechtlichem Gebiete oft nicht leicht ist; ein natürliches Schamgefühl hindert viele Menschen an einem offenen Bekenntnis sexueller Verfehlungen und die grosse sexuelle Heuchelei trägt das Ihrige dazu bei, dass Männer und Frauen bemüht sind, ihr intimstes Leben vor Einblicken gleichviel ob befugter oder unbefugter Personen zu schützen. Es stellt einen grossen Rückschritt gegenüber der früheren deutschen Gesetzgebung dar, dass bei Eheunstimmigkeiten nicht mehr der freie Entschluss zweier Menschen, ihre gegenseitige »unüberwindliche« Abneigung, einen ausreichenden Scheidungsgrund bildet, sondern dass sogenannte objektive Scheidungsgründe gefunden werden müssen. Wer Ehescheidungsakte vor dem Jahre 1900 mit den späteren nach Einführung dieser neuen Bestimmungen vergleicht, wird entsetzt sein, in wie geradezu schamloser Weise Eheleute seitdem die Schleier vor den geheimsten Dingen hinfortziehen, die klarzulegen und auszusprechen ihnen früher höchst unschicklich und unanständig erschienen wäre. Jetzt sucht einer den anderen an Enthüllungen zu übertrumpfen, um ihn als den an der Ehezerrüttung schuldigeren Teil hinzustellen.

Wieviel besser wäre es auch hier, mehr den Aerzten die Rolle der Richter, als den Richtern die Rolle der Aerzte zuzuerteilen.

Unter den hypererotischen Frauen sind übrigens die Unersättlichen, die man früher auch wohl als Nymphomaninnen bezeichnete, entsprechend dem monogameren Charakter weiblichen Sexualempfindens, verhältnismässig nicht so häufig als die im Uebermass an eine einzige Person fixierten. Als »Liebesverfolgerinnen«, wie Birnbaum sie nannte, haben diese aufdringlichsten aller Geschöpfe schon manchen Mann zur Verzweiflung gebracht, namentlich wenn er die Folgen anfänglicher Nachgiebigkeit tragen muss. Im allgemeinen ist ja die gesteigerte Aggression mehr eine Form des männlichen Hypererotismus, wenngleich jeder Fall eines behaupteten Notzuchtsverbrechens einer sehr sorgfältigen Prüfung bedarf, ob tatsächlich der Wille der angegriffenen Frau ausgeschaltet und gebeugt wurde, wie sie es darstellt, doch lehrt die Erfahrung, dass auch bei weiblichen Personen abnorm gesteigerte sexuelle Angriffslust und Angriffstätigkeit keineswegs selten ist.

Die häufigere Form verstärkter weiblicher Sexualität ist freilich diejenige, die uns in der sexuellen Hörigkeit entgegentritt. Wir sahen, dass sie auch bei metatropischen Männern vorkommt, aber bei weitem nicht so häufig wie bei Frauen, die tatsächlich oft zu willenlosen Werkzeugen in der Hand gewisser Männer herabsinken. Wie sehr sie dadurch bei Delikten aller Art zu Mitschuldigen männlicher Krimineller werden können, vor allem auch bei Eigentumsvergehen, bedarf kaum hervorgehoben zu werden.

Den hypererotischen Abweichungen vom sexuellen Mittelmass in bezug auf Triebstärke und Triebbetätigung nach der Plusseite entsprechen nach der Minusseite mannigfache Zustände von partieller, temporärer, relativer und völliger Impotenz. Auch hier müssen wir uns mit Hinweisen begnügen. Was zunächst die Einteilung dieser peinlichen, wenn auch oft zu Unrecht mehr als nötig beschämend empfundenen Sexualdefekte betrifft, so halten wir uns am besten an den Verlauf der Potenzbahnen, von den psychischen Führungs- bis zu den genitalen Ausführungsorganen. Da heben sich vier Gruppen ab: Potenzstörungen, die vom Gehirn, von den Rückenmarksverbindungsbahnen, von den Geschlechts organen und den Geschlechts drüsen abhängen. Ueberall kann der Schwächezustand Sitz und Ursprung haben und dementsprechend muss in jedem Einzelfall auch die Untersuchung methodisch vorgenommen werden.

Die wichtigste und häufigste Form der Impotenz ist die cerebral bedingte; hier liegen entweder Trieb- oder Hemmungsstörungen vor. Erstere sind überall dort vorhanden, wo einem geschlechtsreifen Menschen eine geschlechtsreife Person des andern Geschlechts sexuell nichts bedeutet. Da dieser negativen Seite meist eine positiv abnormale entspricht, sind diese Menschen streng genommen nicht impotent, sondern besitzen nur keine normale Potenz. Nicht minder bedeutsam und vielleicht noch verbreiteter sind die seelischen Hemmungsstörungen; vielen Menschen fehlt das sexuelle Selbstvertrauen, andere leiden an sexuellem Lampenfieber, sie glauben, sie könnten »sich blamieren« und versagen dann im Banne dieser Vorstellung auch tatsächlich. Manche Hemmungen sind ganz eigentümlicher Natur; so suchten mich verschiedentlich Männer auf, die zwar an und für sich potent waren, aber in der Ehe versagten, was sie damit begründeten, dass ihre Frau, die sie über alles verehrten und liebten, so hoch stände, dass ihnen der sexuelle Akt wie eine Art Entweihung, wie eine Erniedrigung des Weibes erschiene. Offenbar eine Hemmungsvorstellung, die mit der falschen Beurteilung des Sexuallebens als »niedriger Sinnenlust« in Beziehung steht. Ein Patient berichtete, dass sein Defektzustand in der Nacht nach der Hochzeit aufgetreten sei, als er wahrnahm, wie seine junge Gattin sich vor Vollziehung des ersten Verkehrs sorgfältig eine Gummiunterlage unter das Gesäss breitete; diese Vorbereitung hätte seine »Illusion« vernichtet. Ein anderer erlitt das gleiche Schicksal, wurde, wie er sagte: »aus allen Himmeln gestürzt«, als er in der Brautnacht entdeckte, dass die »herrlichen« Zähne seiner Frau nicht echt waren. Ich könnte diese seltsamen Begründungen, die sich durch die angegebene Ursache allein nicht erklären, sondern durch eine eigenartige Hypersensibilität bedingt sind, noch bedeutend vermehren. Oft ist es auch das mangelnde Entgegenkommen der Frau, ihre »Frigidität« oder Kälte, welche die Potenz des Mannes ungünstig beeinflusst.

So sehr die Impotenz geeignet ist, das Glück einer Ehe zu beeinträchtigen, und so viele Ehen schliesslich daran gescheitert sind, so bestehen doch zwischen Impotenz und Kriminalität verhältnismässig nur geringe Beziehungen, es sei denn, dass man den bei vielen Völkern strafbaren Ehebruch schlechthin als Delikt erachtet. Nur die Erfahrungstatsache sei erwähnt, dass manche Straffälle zunächst als Ausfluss einer gesteigerten Sexualität erscheinen, die in Wirklichkeit die Folge einer herabgesetzten sind. Ein sexualpsychologisch in vieler Hinsicht bemerkenswerter Fall möge dies illustrieren. Ein Herr der besten Gesellschaftskreise war angeklagt wegen Notzucht und Kuppelei; er war beschuldigt, eine Anzahl junger Mädchen, ebenfalls aus guten Kreisen, betäubt und vergewaltigt zu haben, und zwar im Beisein seiner jugendlichen Gattin. Es ergab sich, dass der Angeklagte seit einigen Jahren mit einer jungen Frau verheiratet war, die er aus inniger Liebe geheiratet hatte und die anscheinend seine Zuneigung in gleicher Stärke erwiderte. In der Ehe stellte sie sich als gänzlich frigide heraus; sie hatte mit 12 Jahren begonnen, nachdem sie während einer Turnstunde durch Klettern am Tau einen geschlechtlichen Kitzel verspürt hatte, sich der Selbstbefriedigung zu ergeben und zwar in ungewöhnlich hohem Grade. Der eheliche Verkehr löste ähnliche Empfindungen in ihr nicht aus, so dass sie immer wieder zu ihrer üblen Schwäche und Gewohnheit zurückkehrte. Der Mann war infolgedessen sehr unbefriedigt. Seine eigene Potenz hatte durch eine Verletzung im Kriege erheblich gelitten.

Als er das erste Mal während der Ehe spät nach Mitternacht heimkehrte, fand er seine ihn in Sehnsucht erwartende und von Eifersucht gepeinigte Gattin in Tränen aufgelöst. Er gab die vorgekommene Untreue zu, versicherte aber, dass es sich nur um eine Abkehr seines Geschlechtstriebes, nicht seiner Liebe handelte. Schliesslich kamen auf Anregung der Frau beide überein, dass die Frau während der sexuellen Betätigung des Mannes zugegen sein sollte, einmal, um, wie sie meinte, sich zu überzeugen, dass es sich tatsächlich nur um eine rein körperliche Entspannung bei ihm handelte, dann aber auch, wie sie glaubte, durch den Anblick selbst sexuell erregt zu werden. Es ist möglich, dass hierbei ein masochistischer Zug bei der Frau mitspielte.

In der Sexualwissenschaft sind derartige Vorgänge unter dem Namen Triolismus bekannt, ein Name, der sich aus der Musik herleitet, wo man mit Triole das Eintreten dreier kürzerer Töne für zwei längere bezeichnet. Es ist den meisten unbekannt, dass ein derartiger Verkehr von dem Gesetz als Kuppelei angesehen werden kann und auch häufig angesehen wurde, indem nach dem Wortlaut des Paragraphen eine Person der »Unzucht« der anderen Vorschub leistet. Beiläufig sei hier bemerkt, dass auch der Kuppeleiparagraph – wohl der einzige übrigens, bei dem die Beihilfe zu einer an sich nicht strafbaren Handlung unter Strafe steht – einer Revision bedarf, die mehr den biologischen und soziologischen Erfordernissen der Sexualwissenschaft als blosser »moralischer Entrüstung« Rechnung trägt.

Das sexuelle Verhalten des erwähnten Ehepaares wäre wahrscheinlich niemals an die Oeffentlichkeit gekommen, wenn nicht eine der beteiligten jungen Damen, eine Kusine der Ehefrau und Professorentochter, nach einigen Monaten entdeckt hätte, dass sie guter Hoffnung sei. In hochgradiger Erregung vertraute sie sich einer Verwandten an mit dem Bemerken, dass sie von F. betäubt und vergewaltigt wäre. Die Schwangerschaft wurde ärztlich unterbrochen und eine Anzeige erstattet, die zu einer Verhaftung des Ehepaares führte. Als nach einer etwa 20 Monate währenden Untersuchungshaft die Hauptverhandlung, der ich als Sachverständiger beiwohnte, stattfand, war die Kernfrage, um die sich alles drehte, die Entscheidung, ob bei den Beziehungen zwischen dem Ehepaar und den jungen Damen, folgenschweren Beziehungen, deren Tatsächlichkeit von keiner Seite in Zweifel gezogen wurde, künstliche oder natürliche Betäubungsmittel des Geschlechtstriebes in Anwendung gezogen waren.

Der berühmte Pharmakologe der Berliner Universität, Professor L. Levin, setzte seine ganze wissenschaftliche Autorität dafür ein, dass die bei den Mädchen eingetretenen »Ausfälle in der Empfindungs-, Bewegungs- und Willenssphäre« nur durch Einschüttung von Morphium in den ihnen vorgesetzten Tee, Kaffee oder Likör entstanden sein könnten. Er gab eine hochinteressante Schilderung von der ungeheuren Verbreitung der Betäubungsmittel in früherer und jetziger Zeit und stellte die Behauptung auf, dass in einer Stadt wie Berlin täglich mindestens einige Personen von ihrer Umgebung mit Morphium, Arsen oder anderen Stoffen vergiftet würden, ohne dass jemand davon etwas wüsste oder ahnte. Erleichtert würde dies dadurch, dass äusserlich die meisten Vergiftungen wie Krankheit erscheinen, da ja auch die meisten Krankheiten in Wirklichkeit Vergiftungen seien. Noch weiter ging ein anderer Sachverständiger, der berichtete, dass er in seinen Unterrichtskursen über die sexuelle Frage den Damen einschärfe, dass sie niemals, wenn sie in Gesellschaft eines Herrn im Restaurant sässen, hinausgehen sollten, da stets die Gefahr bestünde, es könne ihr Begleiter, wenn er allein zurückbleibe, ein Betäubungsmittel in das ihnen dargereichte Getränk schütten.

Trotzdem die Verteidiger des angeklagten Ehepaares, die Anwälte Bahn und Wronker, immer wieder darauf aufmerksam machten, dass doch tatsächlich weder in den Getränken noch in der Wohnung des Angeklagten Morphin gefunden, auch dass der angeblich bittere Geschmack ein höchst unzuverlässiges Kriterium sei, verharrte der erste Sachverständige, auf dessen Gutachten sich die Anklage aufbaute, auf seiner Meinung, dass, wenn auch keine Gifte gefunden wären, nach den bekundeten körperlichen Anzeichen der Uebelkeit, Erschlaffung, Müdigkeit usw. die Vergiftung ausser Zweifel stände.

Diesem »Indizienbeweis« gegenüber wurde von uns geltend gemacht, dass alle Angaben der Mädchen, die wörtlich lauteten: »ich fühlte mich wie gelähmt«, »ich stand wie unter einem Druck«, »wie unter einem Bann«, »wie unter einem Zwang«, »ich hörte Stimmen wie aus weiter Ferne«, »mir schwanden die Sinne«, »ich hatte nicht mehr die Kraft, mich aufzuraffen, sonst hätte ich es getan«, »mir war so komisch«, »ich war ganz perplex«, »verdutzt«, dass alle diese und ähnliche Aeusserungen ebensogut auf Erotisierung als auf Narkotisierung schliessen liessen. Erotisierung ist eine Art Narkotisierung; Lust ist Rausch.

Schon in meinem Buche »Naturgesetze der Liebe« habe ich auf die nicht nur als bildlichen Vergleich aufzufassende Analogie von Sehnsucht, Eifersucht und Morphinsucht hingewiesen und in meiner »Sexualpathologie« heisst es: »Wir dürfen kaum fehlgehen, wenn wir uns die Wirkung des Andrins und Gynäcins ganz ähnlich wie die eines Opiats vorstellen, eines sich im Organismus bildenden, fein differenzierten Narkotikums.« Der Körper selbst erzeugt unter dem Einfluss adäquater äusserer Reize rauschartig wirkende innere Sekrete, welche die Widerstandsfähigkeit herabzusetzen, Willen und Ueberlegung zu schwächen geeignet sind, um so leichter, je höher der Grad der »reizbaren Schwäche« des Zentralnervensystems bei der erotisierten Person ist. In den fraglichen Fällen waren diese Vorbedingungen einer natürlichen Milieuwirkung auf einem neuropathischen Boden – nicht einmal der Einfluss der Musik fehlte – in so ausreichendem Masse gegeben, dass es weder eigentlicher Hypnose – auch hiervon war die Rede – geschweige denn einer toxischen Ausschaltung der Gefühls- und Willenssphäre bedurfte; am allerwenigsten betäubender Substanzen. Die Geschichte des menschlichen Sexuallebens zeigt, dass Persönlichkeiten vom Typus des Angeklagten sich wohl zur Unterstützung des Liebesspieles gelegentlich erregender Mittel (»Liebestränke«, »Aphrodisiaca«) bedienten, aber kaum je Stoffe anwandten, die den Partner in eine gefühllose Masse verwandeln.

Die Geschworenen entschieden sich in der Frage »Erotisierung oder Narkotisierung?« für erstere Lösung, nicht nur aus sexualpsychologischen, sondern auch aus kriminalpsychologischen und strafrechtlichen Erwägungen, auf die hier einzugehen zu weit führen würde. Sie haben auf Grund eines Beweismaterials von vorbildlicher Lückenlosigkeit recht daran getan. Was sollten die Lehren dieses Falls, wie so vieler, die auf sexuellem Gebiet die Gerichte beschäftigen, für andere sein? Dass man endlich auch in gutbürgerlichen Kreisen mit der Anschauung aufräumt, die »Unschuld« eines Mädchens nach dem Grade seiner Unwissenheit zu ermessen. Der sexuelle Wille muss im sexuellen Wissen wurzeln. Fort mit der sexuellen Phrase und Lüge, der allgemeinen wie der persönlichen, der bewussten wie der unbewussten, auch mit der sich aus einer Notlage nur zu leicht ergebenden Notlüge! Die reine Wahrheit ist die wahre Reinheit. Nicht mit »moralischer Entrüstung«, mit Klagen und Anklagen ist es bei so tieftragischen Vorgängen getan, sondern mit einer sich auf sexualwissenschaftlicher Grundlage aufbauenden Sexualreform.

Schwerer als das Dürfen und Nichtkönnen fällt für die sexuale Kriminalität das Können und Nichtdürfen ins Gewicht. Den sich daraus ergebenden Zustand bezeichnen wir, wenn wir ihn vom Ursachengesichtspunkt aus betrachten, als Sexualverdrängung, wenn wir sein eigentliches Wesen in Betracht ziehen, als Sexualneurose, ein Leiden, das gekennzeichnet ist durch Beschwerden und Störungen des Zentralnervensystems, welche infolge inadäquaten Sexualverhaltens auftreten. Jeder Mensch hat sein sexuelles Gesetz und Mass; folgt er diesem inneren Gesetz nicht, weicht er von dem, was seiner Natur entspricht, zu weit nach oben oder unten ab, in einem Grade, der für seine Individualität ein Zuviel oder ein Zuwenig bedeutet, in einer Richtung, die gegen sein innerstes Empfinden geht, so leidet er, wenn sich das fehlerhafte Verhalten lange fortsetzt, nicht nur subjektiv, sondern erkrankt auch objektiv. Der Sexualstoffwechsel ist gestört. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass es sich hierbei um die Folge einer Sexualverstopfung handelt, die eine Art Selbstvergiftung darstellt. Erinnern wir uns an die Erscheinungen anderer Autointoxikationen, etwa der Harnvergiftung oder der bei Kotstauung entstehenden nervösen Alterationen, und anderweitiger Schädigung des Allgemeinbefindens, so hat die Annahme einer toxischen Natur der sexuellen Neurose sicherlich manches für sich.

Zu ihren ersten Symptomen pflegen Beklemmungen und Angstzustände zu gehören, die vor einigen Jahrzehnten von Gattel, Breuer und vor allem Freud als verdrängte Libido erkannt wurden, aber auch schon von Aerzten im Altertum mit mangelnder Sexualentspannung in Zusammenhang gebracht worden sind. Diese Beklemmungen, die sich so leicht in Unruhe umsetzen, diese Depressionen, die mit allen möglichen Erregungszuständen wechseln, erhielten bereits von Hippokrates den Namen von den weiblichen Genitalorganen (Hysterie von hysterom = Gebärmutter). Am deutlichsten tritt uns dieses Bild chronischer Sexualverdrängung bei denjenigen Frauen entgegen, die noch vor einem Menschenalter in einer in dieser Hinsicht unverständigeren Zeit so viel verspottet wurden und doch in Wirklichkeit nur ein Gegenstand tiefsten Mitleids sein sollten, bei den Frauen nämlich, die über das dritte Lebensjahrzehnt hinaus durch die Anschauungen ihrer Umgebung veranlasst sind, jeder seelischen und körperlichen Liebe zu entsagen. Es ist der Typus der »alten Jungfer« mit ihrem verbitterten, erregbaren, oft exaltierten und oft verzweifelten Wesen, dem Nachlassen der körperlichen Elastizität, der zarten und weichen Hautbeschaffenheit, mit den eckigen Körperlinien und der so oft sich nur schlecht hinter einem gekünstelten Lächeln verbergenden inneren Wehmut und Zerrissenheit. Wie oft haben wir gesehen, wie dieses freilich meist nicht als Sexualneurose erkannte Erscheinungsbild verschwindet, sobald sich das kaum noch erhoffte Glück der Liebe in vorgerückteren Jahren einstellte, und dem Wiedereintritt seelischer Harmonie, lebensfreudiger Ausgeglichenheit und körperlichen Aufblühens Platz macht.

Bleibt jedoch diese Naturheilung aus, so vertiefen und verschärfen sich die Abstinenzerscheinungen. Bald überwiegt – und zwar gilt auch hier für beide Geschlechter das gleiche – der mehr hysterische Charakter, bald mehr die Sexualneurasthenie oder eine nervöse Grübelsucht, bald stehen mehr Symptome der Hypochondrie oder Zwangs- und Verfolgungsideen im Vordergrund. Verbunden sind diese Erscheinungen vielfach mit sehr unruhigem Schlaf, mit schweren Träumen und Alpdrücken. Der Inhalt dieser Träume trägt vielfach rein erotischen Charakter, häufiger aber noch sind es Verfolgungs- und Angstträume mit Aufschreien und Hin- und Herwerfen im Schlaf. Am Tage führt das mit der Sexualangst verbundene Einsamkeitsgefühl zu einem motorischen Drang, der sich in allerlei Fluchtzuständen äussert. Bald ist es die Flucht in Rauschmittel verschiedenster Art, vornehmlich Alkohol, Morphin und Kokain, bald die Flucht in eine Krankheit, bald die Flucht in die Weite oder in irgend eine Ekstase oder Sucht, um aus den Unlustempfindungen herauszukommen; allerdings wird diese sexuelle Kausalität meist weder dem Leidenden noch den Aerzten deutlich bewusst. Körperliche Beschwerden von heftigen Kopf- und Kreuzschmerzen bis zu der ausgesprochenen Kreislaufstörung, der »Herzneurose«, treten hinzu, bei anderen wiederum steht die nervöse Dyspepsie im Vordergrunde mit Sodbrennen und Uebelkeit, Koliken und Diarrhoe oder es kommt zu Zittern, Stottern, Errötungsfurcht und Hemmungszuständen mannigfachster Art oder zu Zwangsideen, Kleinheitswahn, Menschenscheu, auch hysterische Lähmungen machen sich geltend. Der Charakter vieler dieser Leiden wird erst klar, wenn man beobachtet, wie prompt die Störungen bei Regelung des Sexuallebens schwinden.

Die Beziehungen zur Kriminalität ergeben sich bei der Sexualverdrängung teils aus der mit ihr verbundenen Hysterie, teils aus der Willenslähmung, die noch wesentlich gefördert wird, wenn diese unzufriedenen, verbitterten Männer und Frauen zu einem der vielen Narkotika ihre Zuflucht nehmen. Es bildet sich dann jene unglückselige Wechselwirkung zwischen Neurose und Narkose; die Beklemmung erweckt die Sucht zur Betäubung und die allmählich wieder nachlassende Betäubung vermehrt die Beklemmung. Alles dies ist besonders verhängnisvoll, wenn es Personen betrifft, die an und für sich infolge ungünstiger Abstammung oder Lebensverhältnisse labil, neuropathisch-psychopathisch sind oder bei denen sich Willensschwäche und Urteilsschwäche mit nicht unerheblicher Geistesschwäche verbindet.

Sexualverdränger werden auch leicht Sexualverfolger und überhaupt Verfolgernaturen. Bald äussert sich dies mehr in einer Neigung, andere zu beleidigen, zu beschimpfen, bald mehr in gewissen Formen des Fanatismus, der die Quelle zahlreicher Verbrechen ist. Können wir auch nicht so weit gehen wie einige Schüler von Freud, die selbst im Kriege eine Art verdrängte Sexualität erblicken möchten, auch nicht so weit wie Wulffen, der zahlreiche Gewalttätigkeiten als verkappten Sadismus und erotische Verdrängung beschreibt, so zweifeln wir doch nicht, dass viele Fälle von Verfolgungswahn und von Verfolgungssucht eine sexuelle Wurzel haben.

Um von den vielen Verbrechertypen, die hier in Frage kommen, nur eine einzige anzuführen, sei auf die anonyme Briefschreiberin hingewiesen. Wiederholt sind von mir und anderen höchst frappante Fälle beobachtet worden, in denen sich die weibliche Sexualität, gelegentlich aber auch die männliche, besonders die femininer Männer, in anonymen Briefen auslebte, die von Beleidigungen und sexuellen Gemeinheiten strotzten. Meist ist es ganz ausserordentlich schwer, den raffinierten Tätern auf die Spur zu kommen; so wurde vor einiger Zeit in einem Ort in der Provinz Sachsen ein älteres Mädchen verhaftet, die in Verdacht geraten war, viele äusserst beleidigende anonyme Briefe an zahlreiche Personen geschrieben zu haben, deren sexueller Ursprung unverkennbar war. Der Verdacht war besonders von einer ihrer Freundinnen geschürt worden, die selbst zahlreiche derartige Briefe erhalten hatte. Schon war die Anklage erhoben, als es den scharfsinnigen Ermittlungen des ausgezeichneten Berliner Kriminalkommissärs Dr. Heinrich Kopp gelang, den Beweis zu erbringen, dass diejenige Person, an die selbst die meisten anonymen Briefe gerichtet waren, selbst die Schreiberin der inkriminierten Schriftstücke war; sie hatte, um die Schuld von sich abzulenken, die Mehrzahl der Briefe an sich selbst gerichtet.

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die Beweiskraft brieflicher Unterlagen insofern vielfach überschätzt wird, als es sich gerade auf sexuellem Gebiet häufig um Phantasieprodukte Hysterischer handelt, um Erzählungen und Mitteilungen ohne tatsächlichen Untergrund; sie sind nur geschrieben, um sich selbst oder andere sexuell zu erregen. Erst vor kurzem hatte ich wieder einen hierher gehörigen Fall zu begutachten. Ein Mann, dessen starkes Scham- und Feingefühl unverkennbar war, hatte in einer Berliner Zeitung eine Anzeige erlassen, deren erotischer Charakter zunächst nur denen verständlich wurde, deren eigene Neigung in ihr einen Resonanzboden fand, oder denen, die als Kriminalisten oder Sachverständige mit diesen seltsamen Dokumenten viel zu tun haben. Die kurze Annonce lautet etwa: »Früherer Offizier zu jeder Nebenbeschäftigung bereit«. Wie es nicht selten in solchen Fällen geschieht, versuchte die Polizei dem Urheber eine Falle zu stellen, indem sie, scheinbar auf die Anzeige eingehend, ihn aufforderte, sich näher über seine Wünsche zu äussern. Ahnungslos schrieb er nun einen Brief, in dem er sich zu obszönen Handlungen, die er eingehend detaillierte, zur Verfügung stellte. Durch eine weitere Antwort wurde er darauf auf einen bestimmten Platz bestellt, wo er von den Beamten, die ihn in das Netz gelockt hatten, festgenommen wurde. Wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften und Beleidigung angeklagt, beschwor er, dass er keinerlei ernstliche Absichten mit seiner Anzeige verfolgt habe, sondern in Ermanglung jeder sexuellen Verkehrsmöglichkeit sich auf diesem Wege erotische Sensationen zu verschaffen gesucht hatte. Zahlreiche bei ihm beschlagnahmte Schriftstücke schienen diese Angaben zu bestätigen.

Wir kommen nun noch zu den zwei letzten Triebstörungen, deren kriminelle Bedeutung wir besprechen müssen. Zu den Störungen im Sexualstoffwechsel rechnen wir sie deshalb, weil sie rudimentäre Ein- und Ausdrucksformen der Sexualität darstellen. Es sind der Fetischismus und der Exhibitionismus. In dem einen Falle ist es nicht die Person als solche, die erregend wirkt und begehrt wird, sondern nur ein Teil von ihr. In dem anderen ist es nicht die Besitznahme des geliebten Menschen, die gesucht wird, sondern die Kranken begnügen sich mit läppischen Entblössungen, die gewissermassen nur die Andeutungen eines Sexualaktes darstellen. Zur Kriminalität haben beide Anomalien starke Beziehungen.

Die Fetischisten suchen sich nicht selten mit Gewalt in den Besitz des von ihnen begehrten Gegenstandes zu setzen, wobei oft, wie beispielsweise beim »Zopfabschneider« die juristische Entscheidung schwer zu fällen ist, ob es sich um Diebstahl, tätliche Beleidigung oder Körperverletzung handelt. Der Fetischismus ist das krankhafte Uebermass einer an und für sich keineswegs abnormalen Empfindung. Der normal Sexuelle liebt auch am Gegenstande seiner Liebe einige Eigenschaften mehr als andere. Sie sind es, die ihn vor allem anziehen. Der Fetischist überträgt aber nicht die Liebe von solchen Eigenschaften auf die ganze Persönlichkeit, sondern bleibt in den Teilen stecken. Das Nebensächliche wird für ihn zur Hauptsache. Ein bestimmtes Attribut fesselt ihn so, dass er gegen alle sonstigen Eigenschaften blind ist.

Die Bezeichnung Fetischismus wurde zuerst von dem Franzosen Binet für diese Anomalie angewandt (»du fétichisme dans l'amour«, Revue philosophique 1887), von welchem Lombroso und Krafft-Ebing den Ausdruck übernahmen. Letzterer erklärte es in der Einleitung seiner berühmten »Psychopathia sexualis« für wahrscheinlich, dass der individuelle Fetischzauber den Keim jeder physiologischen Liebe bildet. Ich selbst habe in dem Buche »Vom Wesen der Liebe« aus verschiedenen Gründen vorgeschlagen, sich statt der Bezeichnung Fetischismus lieber des Ausdruckes »Teilanziehung« zu bedienen, oder »partielle Attraktion«, wenn man auf eine fremdsprachliche Ausdrucksweise, als »wissenschaftlicher« klingend, Wert legt.

Man kann die physiologische Teilanziehung von der krankhaften so unterscheiden, dass man, während unter der ersteren der verschieden starke Einfluss einer beliebigen, an einer Person haftenden Eigentümlichkeit zu verstehen ist, als krankhaft nur anzusehen hätte, wenn eine solche Eigentümlichkeit auch ohne die Person erregend wirkt. Natürlich führen vom Gesunden zum Kranken auch hier Uebergänge, etwa von dem Gefallen an blonden Haaren, vom leidenschaftlichen Versenken in die »goldene Haarflut« bis zu deren Raub, von dem Manne, der die Haarlocke seiner Liebsten im Medaillon trägt, bis zu dem, der die Hotelbediensteten besticht, um des Morgens aus den Betten der Damen ausgegangene Haare zusammenzulesen.

Auch die kühnste Phantasie kann sich von der unendlichen Mannigfaltigkeit der Kleinigkeiten, Nuancen und Schattierungen, welche für einen Fetischisten Bedeutung gewinnen können, kaum eine Vorstellung machen. Wenn vielfach von Sittlichkeitsfanatikern gegen das Nackte in Kunst und Leben geeifert wird, so übersehen sie meist die Tatsache, dass keineswegs der grössere Teil der Menschen, wie sie selbst, sexuell von dem nackten Körper besonders erregt werden, sondern dass viele der verhüllte oder der zum Teil verhüllte Körper erotisch bedeutend stärker erregt. Würden solche Fanatiker objektiv oder zum mindesten logisch verfahren, so müssten sie wie die Orientalen beanspruchen, dass vor allen Dingen das Gesicht des Menschen verhüllt getragen wird, da dieses verhältnismässig immer noch die stärkste erotische Anziehung ausübt, zum mindesten müssten sie, wie für die Verhüllung des nackten Körpers, auch für die Verhüllung des Gesichtes, der Augen und Haare eintreten. Krafft-Ebing berichtete von einem Schuhfetischisten, der die Aufstellung der Damenstiefel in Schaufenstern als höchst unmoralisch empfand. Mir berichtete einmal ein Korsettfetischist, dass für ihn die Auslagen der jetzt so zahlreichen Korsettgeschäfte den Gipfel der Unmoralität darstellen.

Seltsam sind auch jene sonderbaren Fälle, in denen Menschen durch körperliche oder geistige Defekte anderer angezogen werden. Sind doch in der Literatur Beispiele überliefert, in denen sich Männer ausschliesslich zu lahmen und hinkenden Frauen hingezogen fühlen, ja Lydston (»A lecture on sexual perversion«, Chicago 1890) beschreibt einen Fall, in dem ein Mann in Liebe zu einem Weibe entbrannte, der ein Unterschenkel amputiert war; als er diese verloren hatte, suchte er unablässig nach Frauen, an denen diese Operation vorgenommen war.

Einen eigentümlichen Fall von Kleidungsfetischismus vertraute mir ein den besten Kreisen angehöriger Herr an. Derselbe wurde durch nichts so sehr angezogen, als durch den Anblick von Frauen in Trauerkleidern; begegnete ihm eine Dame mit dem Witwenschleier, so ging er ihr oft lange nach. Schliesslich verliebte er sich in eine tieftrauernde Witwe so stark, dass er sie ehelichte.

Krafft-Ebing hat die Fetischisten ziemlich oberflächlich in zwei Gruppen unterschieden, nämlich in solche, die einen Körperteil, und in solche, die einen Bekleidungsgegenstand als Fetisch lieben. Zu ersteren gehören ausser den Haarfetischisten namentlich auch die sehr zahlreichen Handfetischisten. Zu letzteren gehören Wäsche- und Schuhfetischisten, für die der kürzlich verstorbene hervorragende Sexualforscher Iwan Bloch nach dem berühmtesten Vertreter dieser Anomalie, Rétif de la Brétonne, den Namen Rétifismus vorgeschlagen hat, ferner gehören hierzu alle diejenigen, die von bestimmten Stoffen, wie Seide, Pelz, Gummi, Leder, erotisch angezogen werden. Besser als diese äussere Einteilung dürfte aber diejenige sein, welche den Fetischismus nach den Sinnesorganen unterscheidet, je nachdem es sich um Sexualeindrücke optischer und akustischer Natur, oder um einen Geruchs-, Geschmacks- oder Berührungsfetischismus handelt.

Wenige Worte noch über die Ursache dieser auf den ersten Blick so befremdlichen Anomalie. Wer wie ich Anhänger einer inkretorisch bedingten Sexualkonstitution ist, könnte in seiner Ansicht noch am ersten durch den Fetischismus schwankend werden, der sich häufig sogar auf Gegenstände erstreckt, die es bei der Geburt der Fetischisten überhaupt noch nicht gegeben hat. Aber wer die Entstehung dieser Neigungen bis auf die Wurzel verfolgt, wird doch erkennen müssen, dass die blosse Annahme eines zufälligen Zusammentreffens, wie sie von Binet und auch von Krafft-Ebing vertreten wurde, keine zureichende Erklärung abgibt, wenn nicht das dispositionelle, konstitutionelle Moment hinzugenommen wird. Schon die blosse Erwähnung der Tatsache, dass der Fetisch an sich unendlich verbreitet, die fetischistische Wirkung aber im Verhältnis hierzu äusserst selten ist, lässt vermuten, dass hier mit der konstitutionellen Triebrichtung ein wenn auch nicht unmittelbar durchsichtiger Zusammenhang besteht. Es handelt sich um die Vorliebe für Eigenschaften, die für den begehrten Typus als Symbol empfunden werden, um Ideenassoziationen, die nicht einfach auf einem äusseren Erlebnis beruhen, sondern auf Vorstellungen, die der Liebende, ohne sich dessen bewusst zu werden, mit dem begehrten Gegenstande verknüpft. Nehmen wir das Beispiel des Zopfabschneiders. Die blonden Zöpfe versinnbildlichen für ihn das Zarte, Anschmiegende, den Gretchentypus, in so hohem Grade, dass sie für ihn schliesslich auch unabhängig von ihrer Trägerin zum Fetisch wurden, wobei sehr wohl wirksam sein kann, dass die erste ihn fesselnde Erscheinung blonde Zöpfe trug.

Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht die Ausführungen des Zopfabschneiders St., der sich am 5. Mai 1906 vor dem Berliner Schöffengericht wegen 12 Fällen körperlicher Misshandlung und tätlicher Beleidigung sowie 16 Fällen von Diebstahl – als solche wurden namentlich diejenigen angesehen, in denen er Zopfbändchen mitnahm – zu verantworten hatte. Auf die Frage des Vorsitzenden: »Was haben Sie mit den Zöpfen gemacht?« sagte der Angeklagte: »Ich habe sie zu Hause ausgeflochten, ausgekämmt und in einem Kästchen verwahrt, welches die Aufschrift trug: ›Erinnerungen‹, ich habe das Haar auch manchmal hervorgeholt und geküsst, manchmal es auch auf mein Kopfkissen gelegt und mein Haupt darauf ruhen lassen.«

Auf eine weitere Frage des Vorsitzenden erklärte der 23jährige Angeklagte, dass er einem studentischen Keuschheitsbunde angehöre und bisher keinen sexuellen Verkehr gehabt habe. Die abgeschnittenen Haare habe er sich auch oft auf die Brust und das Herz gelegt und dabei herrliche Träume gehabt; er habe geträumt, dass ihm in allen Ländern Frauen und Mädchen mit schönen Haaren dienstbar seien und er sie ihrer Haarfülle berauben dürfe. Auf die Frage: »Haben Sie schon in früheren Jahren solche Neigungen gehabt?« berichtete der Angeklagte, dass er etwa im Alter von 16 Jahren abends seiner 13jährigen Schwester die Haare heimlich abgeschnitten und sie behalten habe. Er erinnere sich noch an die Haare mancher Mädchen aus seiner Thorner Zeit, als er acht Jahre alt war; an die Trägerin der Haare habe er garnicht mehr gedacht, um so mehr an deren Haare.

Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er auch an weissen Haaren Interesse habe, entgegnete er, dass er sich nur für blonde Haare interessiere. Dieses sei immer in ihm vorhanden gewesen und schliesslich so stark aufgetreten, dass er dem Triebe nicht mehr habe widerstehen können.

Was nun die Entscheidung anbelangt, ob bei den Zopfabschneidern und den anderen Fetischisten, welche sich an fremdem Eigentum vergreifen, im Sinne des § 51 unseres Reichsstrafgesetzbuches eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit vorliegt, durch welche die freie Willensbestimmung als ausgeschlossen zu erachten ist, so kann man zwar die Geistesstörung, nicht aber kurzweg den Willensausschluss bejahen. Es wird jede in Frage kommende Handlung für sich zu beurteilen und vor allem zu entscheiden sein, ob neben der Triebanomalie noch andere, die freie Willenskraft beeinträchtigende Zustände, etwa Nervenschwäche (Neurasthenie) höheren Grades vorhanden ist. Bei vielen dieser Personen scheint dies in der Tat zuzutreffen. In den meisten Fällen wird ein gewissenhafter Sachverständiger die Frage der Zurechnungsfähigkeit mit einem »non liquet«, das heisst, es lässt sich nicht objektiv feststellen, beantworten, und ein gerechter Gerichtshof wird dementsprechend nach dem Grundsatze: »in dubio pro reo« auf Freisprechung erkennen.

Aber auch wenn sonst kein neuropathischer Zustand besteht, werden infolge der Triebanomalie geistige Minderwertigkeit und deshalb mildernde Umstände angenommen werden müssen. Immerhin darf man nicht ausser acht lassen, dass es sich bei den Straftaten der Fetischisten um Gewaltakte handelt, zum Unterschied von denjenigen zurzeit noch strafbaren Handlungen, die Erwachsene in gegenseitiger Uebereinstimmung, ohne die Rechte Dritter zu verletzen, begehen. Der Fetischist vergeht sich doch nun einmal am Besitztum anderer, und dafür kann ihm ein Freibrief nicht ausgestellt werden. Er muss, und zwar als Irrer oder Kranker, auf längere oder kürzere Zeit, je nach dem Grade seiner Schädlichkeit und Gemeingefährlichkeit, ausgeschaltet werden, wenn auch lediglich, um einen Versuch zu machen, dadurch eine Verstärkung seiner Hemmungsvorstellungen herbeizuführen. Antwortete doch auch der Zopfabschneider S. auf die Frage des Vorsitzenden: »Wenn nun heute die Untersuchungshaft aufgehoben würde und Sie in die Freiheit zurückkehren würden, würden Sie dann dasselbe wieder tun?« »Ich glaube nicht, dass ich es noch einmal tun würde, da ich jetzt erfahren habe, was es für Folgen hat,« fügte jedoch auf weiteres Befragen hinzu, dass er »eine Garantie nicht übernehmen könne«.

Eine kriminelle Bedeutung beansprucht auch das Gegenstück der sexuellen Teilanziehung, der Antifetischismus, die gesteigerte Abneigung gegen bestimmte Körperteile, wie etwa Brüste des Weibes, Vollbart des Mannes, oder Körperbedeckungen, wie es etwa beim Manne der Frack oder beim Weibe bestimmte Stoffe sind. Nimmt der Fetischismus leicht eine masochistische Färbung an, so beobachten wir beim Antifetischismus oft einen sadistischen Einschlag, der sich in dem kriminellen Drang äussert, Gegenstände der Aversion zu zerschneiden, mit Farbe zu bespritzen oder anderweitig zu zerstören. Immer wieder lesen wir ja in den Zeitungen von Fällen, in denen Damen Kleider zerschnitten oder mit Tinte bespritzt werden; im Roman »Fetischhass« von Gustav Adolph Weber wird sogar ein Fall geschildert, in dem eine Dame eine so intensive Abneigung gegen den Frack hatte, dass sie nach einer Liebesszene in plötzlicher Aufwallung den Mann mit einem Revolverschuss tötete, als er sich dieses Kleidungsstück wieder anlegte.

Steht die fetischistische und antifetischistische Anomalie nur in gewissen Beziehungen zur Kriminalität, so stellt die jetzt noch zu beurteilende letzte Anomalie, der Exhibitionismus, an und für sich einen gewaltigen Eingriff in die Rechte einer zweiten Person dar. Wenn auch der objektive Schaden im allgemeinen für diese andere Person nicht so bedeutend ist, wie er vielfach angenommen wird, abgesehen von gewissen Ausnahmefällen, in denen der exhibitionistische Schreck nicht nur als Schamverletzung, sondern als seelischer Schock (sexuales Trauma) wirkt, so lässt es sich doch nicht leugnen, dass diese Handlung zum mindesten eine Beleidigung derjenigen Person darstellt, gegen welche die Schamlosigkeit verübt wird. Andererseits ist der Exhibitionist aber ein Kranker, und es sträubt sich unser Gewissen, einen solchen, der ohnehin schon seelisch schwer leidet, auch noch gerichtlich zu bestrafen. Ihn ohne weiteres herumlaufen zu lassen, geht aber auch nicht an; das Richtigste wäre es also wohl, einen ertappten Exhibitionisten einem Arzte zuzuführen oder in eine Heilanstalt zu bringen und ihn von dort wieder zu entlassen, wenn man hoffen darf, dass sein Nervensystem und seine Willenskraft sich seinem unseligen Trieb gegenüber genügend widerstandsfähig erweisen.

Auch der Zeigezwangstrieb, wie man den Exhibitionismus verdeutschen kann, ist wissenschaftlich erst seit einigen Jahrzehnten studiert worden; die erste Arbeit über ihn wurde im Jahre 1877 von dem französischen Professor Lasegue unter dem Titel »Les exhibitionistes« veröffentlicht. Ich selbst habe auch bereits in meiner Gerichtspraxis über 200 Fälle von Exhibitionismus schriftlich oder mündlich zu begutachten gehabt, darunter manche wiederholt, und ich bin zu einem Ergebnis gekommen, das sich im wesentlichen mit der Auffassung deckt, zu welcher fast alle Erforscher dieses Gebietes im Laufe der letzten Jahrzehnte gelangt sind.

Es gibt drei Gruppen von Exhibitionisten; die eine, nach meiner Erfahrung an Zahl die geringste, wird gebildet von geistesschwachen Menschen, meist senil dementen Männern oder Frauen, welche sich in alberner, läppischer Weise entblössen. Die zweite Gruppe bilden Epileptiker, bei denen entweder die Zwangshandlung die Stelle des epileptischen Anfalles vertritt oder aber die unbewusste Nebenerscheinung eines epileptischen Anfalles ist. So wurde unserem Institut für Sexualwissenschaft vor mehreren Monaten ein Mechaniker zugeführt, der wiederholt im Hofe einer Fabrik exhibitioniert hatte. Es ergab sich, dass der Mann an epileptischen Absencen litt, bei denen sich ein starker Harndrang einstellte, der ihn automatisch veranlasste, sich im Dämmerzustand die Beinkleider zu öffnen.

Die dritte und hauptsächlichste Gruppe zeigt keinen ausgeprägten Dämmerzustand und auch selten eine so starke Bewusstseinsstörung, dass die Rückerinnerung fehlt. Es sind gewöhnlich schwere Neurastheniker, welche im übrigen geistig oft recht hoch stehen (so nahm sich einer der berühmtesten Schauspieler des Deutschen Theaters das Leben, weil er von diesem Drang, dem er wiederholt im Berliner Tiergarten unterlag, besessen war), bei denen dieser Drang mit allen Zeichen einer Zwangsneurose auftritt: Angst und Unruhe vorher, oft ein längerer innerer Widerstreit, der von den Richtern vielfach fälschlich als Zeichen der Ueberlegung angesehen wird, dann Vornahme der Entblössung, meist ohne, nicht selten aber auch mit eigenartigen Zurufen und dann eine Entspannung, die ein Mittelding zwischen Ruhe und Reue ist. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass vorangegangener Alkoholgenuss bei diesen Kranken wie bei allen Sexualanomalien oft den Rest der Widerstandsfähigkeit nimmt. Meist stehen die Schamhaftigkeit des Täters und die Schamlosigkeit seiner Tat im denkbar grössten Widerspruch zueinander.

Der Exhibitionist betätigt seinen eigentümlichen Trieb in verschiedener Weise. Die häufigste ist, dass er auf der Strasse, im Walde, hinter einem Gebüsch, im Eisenbahnwagen, auch am Fenster plötzlich vor Frauen, jungen Mädchen oder auch Kindern seinen Rock oder Mantel zurückschlägt, um seine Blösse zu zeigen. Auch hier entspricht dem materiellen ein mehr geistiger Exhibitionismus, welcher sich beispielsweise in dem Bemalen der Aborte mit unanständigen Bildern, in dem Gefallen an schamlosen Reden äussert.

Einige Autoren sehen in den exhibitionistischen Handlungen einen »Demonstrations-Sadismus«. So bezeichnet ihn Merzbach als symbolischen, Bloch als eine abgeschwächte Form des Sadismus; einen ähnlichen Standpunkt vertreten Wulffen in der »Psychologie des Verbrechens« und Freud in den »drei Abhandlungen«, wobei er auch hier auf die infantile Sexualität Bezug nimmt; dem das Gefühl der Scham fehle, zeige mit Vergnügen seine Nacktheit. Ich kann mich auf Grund meiner Erfahrung diesen theoretischen Konstruktionen nicht anschliessen. Wer eine grössere Anzahl von Exhibitionisten zu sehen Gelegenheit gehabt hat, kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass es sich hier meist um scheue und weiche Charaktere handelt, die sadistischer Instinkte gänzlich zu ermangeln pflegen. Es ist diesen verschüchterten Menschen sicherlich nicht darum zu tun, einen Schrecken einzujagen oder einen Gewaltakt vorzunehmen, der den Geboten der Sittlichkeit widerspricht, vielmehr wünschen sie ihren Opfern und dadurch sich selbst Lust zu verschaffen.

Eher könnte man die Handlung als masochistisch auffassen, da die Entblössung immerhin Gefühle der Demütigung und Beschämung in dem Handelnden auslöst. Nach meiner Ueberzeugung hat aber der Akt weder mit Sadismus noch mit Masochismus zu tun, sondern bildet einen eigentümlichen sexuellen Zwangszustand für sich, andererseits scheint es mir auch abwegig zu sein, wenn namentlich französische Autoren den sexuellen Charakter der Entblössung als rein zufällig ansehen, indem sie meinen, es handle sich um eine Zwangshandlung wie jede andere, die im Grunde genommen keinen eigentlich sexuellen Charakter trägt.

Der eigentliche Exhibitionismus stellt eine in sich abgegrenzte Anomalie dar, deren Kern eine krankhafte Reaktion auf fetischistisch wirksame Reize ist. Die sexuelle Handlung selbst, um die es sich hier handelt, hat etwas kindisch-läppisches an sich. Damit stimmt auch überein, dass wir sie ausser bei geschlechtlich zurückgebliebenen Infantilen bei senil Dementen wiederfinden, in der zweiten Kindheit; dort allerdings weniger in ausgesprochenen Anfällen, als mehr gelegentlich oder periodisch.

Manche Autoren haben den Begriff des Exhibitionismus erheblich zu erweitern gesucht; sie vertreten den Standpunkt, dass jeder Schaustellung der eigenen Person eine exhibitionistische Wurzel innewohne. Nicht nur jeder Schauspieler und Tänzer, auch jeder Redner und Künstler sei im letzten Grunde Exhibitionist. »Alle Kunst- und Schriftwerke,« so verallgemeinert beispielsweise Wulffen, »seien ›psychische‹ Entblössungen mit sadistischem Charakter.« »Man zwinge der Mitwelt sein Erleben auf.« Es ist zutreffend, dass viele Schaustellungen gleichzeitig Blosstellungen sind, doch ist von hier bis zu einem exhibitionistischen Anfall ein sehr weiter Weg. Ebensowenig erscheint es gerechtfertigt, in der Schaustellung körperlicher Reize im allgemeinen einen exhibitionistischen Vorgang zu erblicken; etwa im Décolleté der Damen oder im Barfusstanzen. Auch im Tierreich sind ähnliche erotische Schaustellungen zur Anlockung der Liebespartner weit verbreitet, beispielsweise beim Pfau, wenn er sein Rad schlägt. Aber alle diese Formen sexueller Eitelkeit haben mit dem eigentlichen Exhibitionismus nur eine gewisse äussere Aehnlichkeit gemein.

*

Grau und trübe ist das Seelengemälde, das ich vor Ihnen entrollte, tief traurig und tief erschütternd sein Inhalt. Und dabei ist es nicht einmal ein vollständiges Bild, denn was ich Ihnen hier schilderte, gibt nur in grossen Zügen, meist nur in Umrissen den ganzen Jammer wieder, der aus derselben Quelle strömt, aus der bei der Mehrzahl der Menschen die höchsten Güter des Daseins hervorgehen, Liebe und Leben. Wo bleibt da die Tröstung und Erhebung durch die Wissenschaft, von der ich Ihnen einleitend sprach!

Dass sie dennoch vorhanden ist, kann am besten ein Mensch beurteilen, der tagein, tagaus, jahrein, jahraus mit diesen Schattenseiten der Sexualität zu tun hat. Er kann allein schon durch die Klärung angeblicher Schuld viel Tränen trocknen. Denn wie oft – um mit der Bibel zu reden – ist es nur die Schuld der Väter, die an den Kindern heimgesucht wird; wie oft kann jemand mit Recht ausrufen: »Ich brach die Ehe, aber vorher brach sie mich;« wie oft ist eine anscheinend subjektive Schuld ein objektiv unverschuldeter Defektzustand!

Muss sich da nicht unser Zorn in Kummer, unsere Empörung in Mitleid wandeln? Sollte es vor allem nicht bei denen der Fall sein, die die gleiche Leidenschaft, aus der hier tiefstes Unglück entsprang, zum höchsten Glücke leitete; wohl denen, denen die Natur mit guter Erbmasse ein normales Sexualleben mit auf den Weg gab, den Frauen, die an der Seite eines geliebten und liebenden Mannes, den Männern, die eng verbunden mit einem treuen Weibe Jahre und Jahrzehnte der Harmonie verbringen, gesegnet durch gute und gesunde Kinder.

Menschen, denen dies unvergleichliche Glück beschieden ist, sollten duldsam sein; leider aber sind sie es oft nicht, weil sie sich das, wodurch sie bevorzugt sind, als Verdienst anrechnen, das nach ihrer Meinung andere nicht besitzen, die doch in Wirklichkeit nur weniger bevorzugt sind. So stellen sie sich auf ein hohes Piedestal, von dem sie meist nur herabsteigen, wenn ihre Kinder oder andere Menschen, die ihnen teuer und von deren gutem Charakter sie überzeugt sind, strauchelten. Es hat mich oft ergriffen, wenn ich in Gefängnissen zugegen war, wenn die Mütter ihre Söhne oder Töchter besuchten, die wegen eines schweren Sexualverbrechens verhaftet waren, mit welcher Liebe sie zu ihnen sprachen, und wie ihr Naturinstinkt ihnen förmlich verbot, anzunehmen, dass es sich bei ihnen, die sie doch nur von der guten Seite kannten, um wirkliche Verbrecher handelte.

Der mütterliche Naturinstinkt scheint mir hier im wesentlichen auf dem richtigen Wege zu sein. Er spürt das Krankhafte, das seelisch Abnormale heraus. Gewiss, wer das geschlechtliche Verfügungsrecht eines Menschen über sich beugt und verletzt, wer sich willenlose Kinder zu eigen macht, muss als Schädling ausgeschaltet werden, auf längere oder kürzere Zeit, je nach dem Grade seiner Gemeingefährlichkeit; aber auch diese Schädlinge sind meist nicht Verbrecher im gewohnten Sinne, sondern unglückliche Kranke, die daher nicht in Gefängnisse, sondern in Heilanstalten gehören. So unverständlich uns heute die Tatsache ist, dass man noch vor wenig mehr als einem Jahrhundert Irre als Besessene an Ketten legte, so wenig werden es unsere Nachkommen in hundert Jahren verstehen, dass man Menschen mit krankem Geschlechtstrieb in Gefängnisse sperrte. Per scientiam ad iustitiam – durch Menschenkunde zur Gerechtigkeit.

 

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Ig. Steinmann, Wien, IX., Universitätsstr. 6-8.

 


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