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Sechstes Kapitel.
Zurückgelassenes Gepäck

Die kaiserlichen Gäste sollten um neun Uhr am folgenden Morgen in Breslau eintreffen, und um beizeiten zur Hand zu sein und den Vorteil, den ihnen ihre Fenster boten, für das zu erwartende Schauspiel auszunützen, hatten sich die Baronin und ihre Besucherinnen früh zurückgezogen. Wenn wir die Wahrheit sagen sollen, so hatten die drei Damen einen ziemlich langweiligen Abend hinter sich, denn Lady Metcalf war nicht übermäßig erbaut von der Rolle, die ihre unbesonnene Tochter dem angeblichen amerikanischen Millionär gegenüber gespielt hatte. Sie schmeckte ihrer altmodischen Anschauung nach etwas zu sehr nach Unabhängigkeit, und die Baronin hatte eine unangenehme Nervenerschütterung erfahren, wenn sie auch Laura zu lieb hatte, als daß sie ihr deswegen hätte zürnen können.

Die Schuldige selbst trat mit dem Bewußtsein, ihr Möglichstes gethan zu haben, um »Ilmas Schatz aus der Patsche zu ziehen«, und mit dem Gedanken, daß sie morgen ihre russische Freundin, wenn auch nur auf wenige Minuten wiedersehen werde, fröhlich lächelnd in ihr Schlafzimmer. Ihre Gemütsart war zu heiter, als daß sie sich viel um Lady Metcalfs eisige Blicke gekümmert hätte, und da sie selbst sozusagen gar keine Nerven hatte, war ihr der angegriffene Zustand der Baronin entgangen. Daß ihr Verlobter nicht zum Nachmittagskaffee gekommen war, wie er halb und halb versprochen hatte, war allerdings eine kleine Enttäuschung gewesen, aber selbst das brachte sie nicht aus ihrem geistigen Gleichgewicht.

»Mutter war heute abend etwas verschnupft, aber morgen wird wohl alles wieder in Ordnung sein, und was Spencer anlangt, so hat er sich wahrscheinlich mit einigen von diesen deutschen großen Tieren herumgetrieben. Der wird vorwärts kommen – dieser junge Mann – wenn er das Geschäft so ernst betreibt.«

Nachdem sie so mit den Schattenseiten des Abends fertig geworden war, schlug sie sie sich aus dem Sinne, vertauschte ihren Gesellschaftsanzug mit einem Hauskleide und setzte sich hin, um vor dem Zubettgehen noch eine halbe Stunde zu lesen.

Aber das Buch war so spannend, daß aus der einen halben Stunde deren vier wurden, bis Laura es aus der Hand legte, um zu finden, daß es schon Zwölf vorbei und daß sie nicht im geringsten schläfrig war. Ob die aufregenden Begebenheiten des Romans ihre Einbildungskraft entflammt hatten, oder ob es irgend eine geheimnisvolle Macht war, die diese junge Engländerin zum Eingreifen in eine der gefährlichsten Verschwörungen trieb, die jemals in Europa ausgeheckt worden sind, ist gleichgültig, kurz sie begann über den »Yank, den sie hinausgegrault hatte,« nachzudenken und sich zu fragen, ob er wohl wirklich etwas Böses im Schilde geführt habe.

»Wie ein netter Mensch sah er nicht aus, und doch hat er seine Medizin ganz artig hinuntergewürgt,« dachte sie. »Es schien beinahe so, als ob es ihm gar nicht unangenehm gewesen wäre, zu gehen. Hatte er am Ende schon vollbracht, was seine Absicht gewesen war, und war froh, einen Vorwand zu finden, sich zu drücken? Vielleicht habe ich ihm die Mühe erspart, selbst einen zu ersinnen.«

Dann fiel ihr der ungewöhnliche Ernst ein, womit ihr Fortescue die möglichen Folgen des Verbleibens Delavals im Hause der Baronin auseinandergesetzt hatte.

»›Ganz abgesehen von der Möglichkeit eines Verbrechens,‹ das waren die Worte, womit Spencer seine Predigt begann,« sagte sie zu sich selbst. »Das ist diplomatisch und heißt ins Genießbare übersetzt, daß er bestimmt ein Verbrechen erwartete. Hm, der Yank ist über eine halbe Stunde im Zimmer allein gewesen – da werde ich doch wohl eine Privatbesichtigung vornehmen müssen, ehe ich zu Bett gehe.«

Rasch öffnete sie die Thür, trat auf den Gang hinaus und blieb lauschend stehen. Nicht ein Laut war hörbar, und soweit nicht der Schein ihres Wachslichtes reichte, das sie vom Tische genommen hatte, war alles in Dunkelheit gehüllt. Wo das Zimmer lag, das der Amerikaner gemietet hatte, wußte sie: am entgegengesetzten Ende desselben Ganges. Bei Laura Metcalf war Entschluß und Ausführung eins, und wenige Augenblicke später stand sie mitten in dem von Oberst Delaval verlassenen Zimmer und hielt ihr Licht hoch über ihren Kopf.

Nach dem ersten Blick, der ihr nichts zeigte, als altmodische Möbel, verblichene Vorhänge und ein großes Himmelbett, lachte Laura laut bei dem Gedanken, daß sie ja eigentlich gar nicht wisse, was sie zu finden erwartet hatte. Die Stube war nach ihrer kurzen Benutzung augenscheinlich schon wieder gereinigt worden, und das hatte der zeitweilige Gast wohl voraussehen können. Wie unheilvoll seine Absichten deshalb auch gewesen sein mochten, er würde doch kaum etwas, was Laura »Schießpulver und solche Geschichten« nannte, haben offen umherliegen lassen, so daß sie das aufräumende Dienstmädchen finden mußte. Aber wie es schien, hatte er noch nicht einmal eine Zahnbürste zurückgelassen. Die an die zukünftige Wohnung des Zaren stoßende Wand war vollkommen unversehrt, und es war augenscheinlich kein Versuch gemacht worden, durch den in der Mitte liegenden düstern Kamin hindurchzutunneln.

Nachdem sie jedoch einmal so weit gegangen war, lag es nicht in Lauras Natur, das Feld zu räumen, ohne eine gründliche Durchsuchung vorgenommen zu haben, und erst als sie unter das Bett gesehen, den Kleiderschrank geöffnet und alle Schiebladen der Kommode herausgezogen hatte, warf sie einen letzten Blick um sich, um sodann wegzugehen. In diesem Augenblick schlug in der Stille der Nacht ein unerwartetes Geräusch an ihr Ohr. Irgendwo in ihrer Nähe tickte eine Uhr, und doch war nichts, was einer Uhr glich, im Zimmer sichtbar.

Allein ein Zweifel war nicht möglich – irgendwo, wenige Fuß von ihr entfernt, war ein Uhrwerk im Gange. Deutlich war in der Totenstille das regelmäßige Ticktack hörbar, das bei Tage im Lärm des Straßenverkehrs unbemerkt geblieben wäre. So schwach und gedämpft war das Geräusch, daß sie erst nach wiederholtem Stellungswechsel feststellen konnte, woher es kam, und als sie den Ort herausgefunden hatte, wo sie es am lautesten hörte, war dort nichts zu finden, was die Ursache erklärt hätte. Wenn es Geisteruhren gäbe, würde sie geglaubt haben, ein solches Uhrengespenst treibe auf dem Sims über dem höhlenartigen Kamin sein Wesen. Dann aber kam es wie ein Blitz der Erleuchtung über sie: die Uhr mußte im Kamin stecken! Zum erstenmal im Leben zitterten die Kniee unter ihr – nicht bei dem sich ihr rasch aufdrängenden Gedanken an eine Höllenmaschine, sondern wegen der plötzlichen Wichtigkeit, die ihre mitternächtliche Wanderung bekommen hatte. Im nächsten Augenblick kniete sie vor dem Kamin und schaute beim Lichte ihrer Kerze im Schornstein in die Höhe, wo sie einen Koffer entdeckte, der um eine Nummer kleiner war, als die, die Delaval mit fortgenommen hatte. Jetzt hörte sie das Ticken lauter und deutlicher, und es kam zweifellos aus dem Innern des Koffers.

Als sie sich erhob, war Lauras erster Gedanke, das Haus aufzuwecken und die Verantwortung für das weitere Handeln der Baronin Lindberg zu überlassen, deren klar vorgezeichnete Pflicht es wäre, die Polizei zu benachrichtigen und den geheimnisvollen Koffer entfernen zu lassen, ehe der Zar im Nachbarhause eintraf. Natürlich würde die Polizei dann sorgfältige Nachforschungen nach dem letzten Mieter der Baronin anstellen, und Laura war es sofort klar, welche furchtbare Bedeutung ihre Entdeckung für Ilma Vassili haben konnte. Wenn nicht um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen, so würde die Baronin zu ihrer eigenen Rechtfertigung genötigt sein, zu sagen, daß Delaval als anerkannter Freund Boris Dubrowskis Einlaß ins Haus gefunden habe.

»Nein, das geht keinesfalls,« dachte Laura. »Ehe ich das thue, will ich das Ding lieber selbst aus dem Kamin holen. Vielleicht kann ich das Uhrwerk daraus entfernen und den Koffer beiseite schaffen, nachdem ich ihn unschädlich gemacht habe.«

Wieder sank sie auf die Kniee und langte mit ihrem Arme im Kamin in die Höhe, aber sie konnte nur eben das Ende des Koffers berühren: den Ledergriff zu erfassen, war ihr Arm nicht lang genug.

In demselben Augenblick schlugen die Turmuhren Eins – in acht Stunden sollten sich der Zar und die Zarina nach ihrer langen Reise auf der andern Seite der Wand erfrischen.

»Die Polizei werde ich nicht rufen lassen, aber Hilfe muß ich haben,« sagte sie bei sich. »Wen soll ich jedoch mitten in der Nacht rufen lassen? Spencer kann ich nicht holen; seine Laufbahn wäre zu Grunde gerichtet, wenn er in diese Sache verwickelt würde. Außerdem könnte die Geschichte auch losgehen.«

In tiefe Gedanken versunken, trat sie ans Fenster, zog den Vorhang beiseite und sah in die schweigende Straße hinab. Der Fahrdamm war öde und verlassen: der einzige Fußgänger, der auf dem Bürgersteig zu sehen war, war ein Schutzmann, und die Polizei wollte sie doch gerade vermeiden. Aber wart' einmal! Wahrhaftig, dort lehnte ein Mann an dem vor dem Rathause stehenden Gaskandelaber und beobachtete das Lindbergsche Haus. Noch während sie ihn anschaute, drehte er den Kopf ein wenig, und als nun die Strahlen der Lampen voll auf sein Gesicht fielen, erkannte sie sofort Herrn Winkel in ihm, Spencers deutschen Freund.

»Was in aller Welt macht er denn da?« murmelte sie. »Er hat den Kandelaber wohl als Stütze nötig, nachdem er etwas stark diniert hat, fürchte ich. Doch nein! Er ist offenbar ganz nüchtern. Auch er hat mich gesehen und schaut noch immer nach dem Fenster herauf. Wenn ich nur sicher wäre, daß ich ihm trauen könnte!«

Einer raschen Eingebung folgend, winkte sie und wies auf die Hausthür, indem sie dem Untenstehenden durch Zeichen klar zu machen suchte, daß sie hinterkommen wolle. Ihre Gebärden wurden durch ein Nicken erwidert, und als sie vom Fenster zurücktrat, sah sie, daß der mitternächtliche Spaziergänger seinen Platz verließ. Wenige Augenblicke später stand Laura Herrn Winkel auf der Thürschwelle gegenüber.

»Wenn Sie ein wahrer Freund Mr. Fortescues sind, bitte ich Sie um Ihre Hilfe,« flüsterte sie. »Es handelt sich zwar nicht um seine Person, aber ich bin mit ihm verlobt, wissen Sie, und wenn Sie mir eine Gefälligkeit erweisen, so ist das gerade so, als ob Sie sie ihm erwiesen.«

»Mr. Fortescue einen Dienst zu erweisen, dürfte mir kaum soviel Vergnügen machen, als seiner zukünftigen Frau gefällig zu sein,« erwiderte Volborth in seinem täuschend nachgemachten gebrochenen Englisch.

»Dann kommen Sie mit und treten Sie nicht so laut auf,« sagte sie leise, indem sie die Thür schloß und ihn beim Scheine ihres Lichtes musterte. »Ich glaube, Sie werden stark genug sein,« fuhr sie fort, »aber wie steht's mit Ihrem Mut? Hoffentlich sind Sie kein Hasenfuß?«

»Stellen Sie mich nur auf die Probe. Deutsche pflegen keine Feiglinge zu sein,« antwortete Volborth, sich auf die Brust klopfend.

In seinem Tone lag eine ruhige Sicherheit, die trotz seines ältlichen Aussehens und seines spaßigen Englisch das Vertrauen des jungen Mädchens sofort gewann, und sie nahm ihn beim Worte.

Ob der Polizeibeamte jemals in seinem Leben eine Mitteilung erhalten hatte, die ihn in größeres Erstaunen versetzte, ist fraglich. Obgleich er etwas Derartiges erwartet hatte, war die Enthüllung doch an sich überraschend genug, aber noch mehr war es die Art, wie sie gemacht wurde, die ihm fast den Atem benahm. Hätte diese unerschrockene junge Dame ihn gebeten, ihr eine Hutschachtel tragen zu helfen, sie hätte nicht weniger Aufregung an den Tag legen können.

»In dem Kamin, das sich unmittelbar an der Rathausmauer befindet, steckt eine Höllenmaschine, und ich kann sie nicht herausbekommen,« hob sie an. Vielleicht gelingt es Ihnen besser, denn Ihre Arme sind länger als die meinen.«

»Ach, Sie haben es also schon selbst versucht?« antwortete Volborth, der in seiner Bewunderung sein Deutsch-Englisch fast vergaß. »Woher wissen Sie denn, daß es eine Höllenmaschine ist?«

»Na, für gewöhnlich schieben die Leute einen Koffer mit einem Uhrwerk darin nicht für nichts und wieder nichts einen Schornstein hinauf – wenn so ein großes Tier, wie der Zar an der andern Seite der Mauer wohnen soll,« entgegnete Laura. »Ich habe den Koffer gesehen und gefühlt.«

»Aber das ist doch Sache der Polizei. Warum rufen Sie denn die nicht?«

»Das zu fragen, haben Sie wohl ein Recht, aber wir verlieren so viel Zeit darüber,« erwiderte sie mit einem ungeduldigen Seufzer. »Weil die Geschichte geheim bleiben muß, Herr Winkel« fuhr sie eindringlich fort. »Russen sind Untiere – alle, mit einer oder vielleicht zwei Ausnahmen – und um dieser zwei willen wünsche ich zu verhindern, daß so eine eklige Schlange von einem russischen Spion seine Nase in die Geschichte steckt. Der Mann, der den Koffer dahin gebracht hat, ist dadurch ins Haus gelangt, daß er sich auf einen Offizier berief, der mit meiner Freundin verlobt ist. Aber Sie haben ja gehört, wie ich es Spencer diesen Morgen erzählt habe. Boris Dubrowski geriete in Satans Küche, wenn die russischen Behörden dahinter kämen.«

»Ach ja, und ich soll Ihnen helfen, den Spürhunden einen Maulkorb anzulegen,« meinte Volborth, wobei ein düsteres Lächeln um seine Mundwinkel spielte. »Nun zeigen Sie mir den Weg, und ich folge Ihnen.«

Weitere Worte wurden nicht zwischen ihnen gewechselt, bis sie vor dem Kamin in Delavals Zimmer standen, wo ihr Volborth das Licht abnahm und wartete.

»Na, warum machen Sie denn nicht voran?« fragte Laura. »Sie haben's doch nicht auf einmal mit der Angst gekriegt?«

»Ja ich habe es mit der Angst gekriegt, für Sie,« antwortete Volborth. »Sie müssen ans andere Ende des Hauses gehen – weit, weit weg. Es kann ein Unglück geben.«

Zum erstenmal war in Lauras Wesen Aufregung zu bemerken, aber diese nahm die Form gerechter Entrüstung an.

»Ach Papperlapapp!« sagte sie. »Meinen Sie, ich hätte einen netten alten Herrn in diese Patsche gebracht, um ihn nachher allein drin sitzen zu lassen? Vielleicht brauchen Sie ja auch Hilfe, und außerdem, wenn das Ding losgeht, so werde ich am andern Ende des Hauses auch nicht viel sicherer sein.«

Dabei hatte sie ein wenig lauter gesprochen, sonst hätte Volborth wahrscheinlich noch weitere Einsprache erhoben, allein aus besonderen Gründen, die von denen Lauras sehr verschieden waren, lag auch ihm sehr viel daran, den Koffer heimlich zu entfernen, und er fürchtete, ein freundschaftlicher Streit mit einer Dame so lebhaften Gemütes könne einen Schläfer im Hause erwecken. Deshalb wandte er sich ab, bekreuzte sich unbemerkt und machte sich an seine Aufgabe.

Einige Zeit war wenig mehr von ihm zu sehen, als sein Rücken, seine Beine und seine linke Hand, womit er das Licht hielt. Zuerst war sein Körper ganz unbeweglich, dann begann er zu schwanken, dann sich zu senken, und dabei erschien eine Schulter.

»Nehmen Sie mir das Licht ab,« hörte sie ihn gleich darauf sagen. »Ich brauche beide Hände.«

Rasch eilte sie ihm zu Hilfe, und vorsichtig, Zoll um Zoll zog er das schwere Stück in den Kamin herab und stellte es dann auf den davor liegenden Teppich. Hierauf brachte Volborth einen Bund kleiner Schlüssel der verschiedensten Formen zum Vorschein, und da das Schloß ein gewöhnliches Fabrikschloß war, gelang es ihm, beim dritten Versuche den Deckel zu heben. Das Innere des Koffers war in Abteilungen, eine kleinere und eine größere, geteilt. In jener tickte das Werk einer amerikanischen Uhr, das im Zusammenhang mit einer Schlagvorrichtung stand, während die größere mit viereckigen Stücken einer undurchsichtigen Masse ganz voll gepackt war.

Noch immer schweigend, legte Volborth, nachdem er das Werk genau besichtigt hatte, den Daumen unter den Hammer des Schlagwerks, zerriß mit der andern Hand die Verbindung der Uhr mit dem Hammer, so daß dieser unschädlich auf seinen Daumen fiel. Nachdem auf diese Weise die Gefahr beseitigt war, nahm er das Werk heraus, schloß den Deckel und erhob sich, um Laura mit einem frohlockenden Lächeln anzusehen. Jetzt, wo die Spannung vorüber war, standen Thränen in ihren Augen.

»Ich möchte Ihnen einen Kuß geben, Herr Winkel,« sagte sie einfach, und dadurch erweckte sie in Volborth eine der wenigen Regungen der Reue, die er jemals empfunden hatte. Der Gedanke, daß seine Unterstützung gerade das vereiteln werde, was seine furchtlose Gefährtin veranlaßt hatte, ihn in dieser tödlichen Gefahr zu Hilfe zu rufen, war ihm verhaßt, denn von dem Augenblick an, wo er von Fortescue, mit dem er zusammen gespeist, gehört hatte, wie bereitwillig Delaval das Feld geräumt, war der Argwohn in ihm aufgestiegen, daß ein Verbrechen vorbereitet sei, das ihm den Hauptmann Dubrowski vollends preisgeben würde. Aus diesem Grunde hatte er das Haus beobachtet und sich vorgenommen, sich beim ersten Lebenszeichen Eintritt zu verschaffen. Daß er seine Arbeit unter dem Schleier der Nacht hatte ausführen können, war mehr Glück, als er gehofft hatte, denn wenn er die Entdeckung bei Tage gemacht hätte, wäre es fast unmöglich gewesen, sie geheim zu halten. Aber während Lauras ehrliche Augen ihn dankerfüllt anblickten, widerte es ihn an, Nutzen aus dem Vorfälle zu ziehen, wozu er nichtsdestoweniger fest entschlossen war.

»Jetzt ist keine Zeit für Komplimente,« sagte er mit gemachter Barschheit. »Ich will diesen Koffer mitnehmen, wenn Sie mir gütigst leuchten wollen.«

Als Volborth mit dem Koffer in der Dunkelheit der Straße verschwunden war, nachdem er Laura nochmals Verschwiegenheit gelobt hatte, schloß diese die Thür und kehrte in ihr Zimmer zurück. –

Trompetengeschmetter und Trommelwirbel weckten sie, als die westfälischen Husaren, die die Ehrenbegleitung der kaiserlichen Wagen bilden sollten, nach dem Bahnhofe zogen, und während sie sich so rasch als möglich ankleidete, überlegte sie sich, ob sie Fortescue ihr nächtliches Abenteuer mitteilen solle, eine Frage, die sie in bejahendem Sinne entschied. »Daß Herr Winkel es ihm ohnehin erzählen wird, ist mehr als wahrscheinlich – natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, denn ich glaube, man kann dem alten Knaben trauen,« sagte sie bei sich. »Jedenfalls will ich keine Geheimnisse vor Spencer haben.«

Als Fortescue eine Stunde später erschien, um die Auffahrt von den Fenstern der Baronin anzusehen, drückte er ihr die Hand mit besonderer Innigkeit, woraus sie entnahm, daß er bereits von ihren Thaten gehört habe. So war es auch, denn er kam geradeswegs vom Kaffee, den er mit Volborth eingenommen hatte. Der russische Beamte war jetzt nicht mehr verkleidet, weil er sich dem Gefolge auf dem Bahnhofe wieder anschließen wollte.

»Du hast mit Herrn Winkel gesprochen,« sagte Laura bei der ersten Gelegenheit, wo sie außerhalb Hörweite der beiden älteren Damen waren. »Das kann ich an der Art sehen, wie du mich anschaust, du undiplomatischer Mensch du!«

»Ja, ich habe alles erfahren, aber erwarte keine Schmeichelei von mir, denn ich bin der Ansicht, daß du keine verdienst,« antwortete er mit einem Blicke, der seine Worte Lügen strafte. »Deine eigenen Angehörigen, mein Liebchen, haben doch schließlich höhere Rechte an dich, als dieser russische Offizier, für den du so viel gewagt hast.«

»Ach, zu wagen war gar nichts dabei; Herr Winkel ist ein sehr geriebener Kunde,« erwiderte sie, »und du darfst nicht eifersüchtig auf Boris Dubrowski sein, ebensowenig als auf nachgemachte Millionäre. Nebenbei gesagt, ich möchte wohl wissen, was aus diesem Teufel geworden ist. Er sollte zur Bestrafung gebracht werden, wenn es geschehen könnte, ohne Ilmas Schatz in die Sache zu verwickeln.«

»Wie du weißt, habe ich meine eigenen Nachrichtenquellen, und so kann ich dir mitteilen, daß er Breslau verlassen hat,« entgegnete Fortescue. »Von hier aus ist er geradeswegs nach dem Bahnhofe gefahren, und ein englischer Fahnder, der ihn wegen einer andern Sache beobachten soll, ist mit demselben Zuge abgereist. Monsieur Delaval wird also wohl schließlich kalt gestellt werden.«

Was er sonst noch von Volborth gehört hatte, daß, wie bei der kurzen Beratung zwischen diesem und dem Beamten von Scotland Yard an den Tag gekommen war, beide derselben Spur folgten, worauf sie an verschiedenen Punkten gestoßen waren, teilte er ihr nicht mit.

Doch ihrer Unterhaltung wurde jetzt durch lautes Hurrarufen ein Ende gemacht, und sie beeilten sich, zu Lady Metcalf und der Baronin ans Fenster zu treten. Die stattliche Reihe von Hofwagen mit ihrer glänzenden Bedeckung war in Sicht, aber infolge des großen Gedränges auf der Straße dauerte es noch einige Zeit, bis sie vor dem Rathause vorfuhren, und für Laura begann der interessanteste Teil des Vorgangs erst, als der deutsche Kaiser, nachdem er sich von seinem hohen Gaste vorläufig verabschiedet hatte, fortgefahren war und die Wagen, die das russische Gefolge brachten, rasch nacheinander ankamen.

»Siehst du, Spencer, dort im dritten Wagen ist Ilma mit ihrer Mutter!« rief sie. »Wie blaß und abgespannt sie aussieht! Jetzt hat sie uns erkannt und lächelt.« Laura schwenkte ihr Taschentuch, und die schöne Ehrendame warf ihr Kußhände zu. Bald darauf verschwanden die russischen Damen im Stadthause, und Laura bemühte sich, zu erraten, welcher von den Offizieren, die nun folgten, wohl Boris Dubrowski sein mochte. Spencer machte keinen Versuch, ihr dabei zu helfen, aber er vermutete nicht mit Unrecht, daß Ilma Vassilis Verlobter der junge Gardeoffizier sei, der, von Volborth in propria persona begleitet, aus einem der letzten Wagen stieg.

Der Vormittag wurde durch das unvermeidliche militärische Schauspiel in Anspruch genommen, und erst als der Zar und die Zarina von der Parade in Gandau zurückgekehrt waren, hatte Ilma Zeit, ihre Freundin im Lindbergschen Hause aufzusuchen. Aber sie fand mit Befremden die junge Russin der glänzenden und lebhaften Fremden sehr unähnlich, die in die Geheimnisse der Londoner Gesellschaft einzuführen und später in den Thälern von Blairgeldie zu unterhalten ein solcher Genuß gewesen war. Ihre jetzige Zurückhaltung und Verschlossenheit war ganz etwas Neues, und der letzte Mensch, über den zu sprechen sie geneigt schien, war Boris Dubrowski.

»Ich sterbe vor Verlangen, ihn kennen zu lernen,« rief Laura begeistert. »Wie oft habe ich ihn mir vorgestellt, und zwar stets als Ritter ohne Furcht und Tadel, denn nur auf einen solchen konnte deine Wahl fallen, Ilma.«

»Ja, ich glaube, an Mut fehlt es Boris nicht. Das ist eine Eigenschaft, die die meisten Männer mit zur Welt bringen. Sie können das ebensowenig ändern, als die Hunde, die auch von Natur tapfer sind, und,« setzte sie nach einer Pause hinzu, »treu.«

Mit der Raschheit, die sie kennzeichnete, wechselte Laura den Gegenstand der Unterhaltung und schlug gleich darauf vor, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen. –

Als sie zurückkehrten, war Ilma ihrem alten Selbst wieder so ähnlich, daß ihr Laura von Delavals Versuch erzählte, sich als Freund Dubrowskis einzuführen, ohne jedoch die Entdeckung der Höllenmaschine zu erwähnen.

»Spencer war der Ansicht, Ihr Zar könne dem Hauptmann den Kopf vor die Füße legen lassen, wenn es herauskäme, daß er als Bürge benutzt worden sei, und deshalb habe ich dem Yankee Marschbefehl gegeben.«

Ilmas Antlitz zeigte zuerst Beunruhigung, dann aber dankbare Liebe, als sie hörte, daß der Amerikaner infolge des Eingreifens ihrer Freundin abgereist war. Allein noch ehe sie ihrer Empfindung Worte leihen konnte, kam ein junger Offizier um die Ecke einer Nebenstraße und hätte sie fast angerannt. Beim Erblicken Ilmas fuhr er etwas zurück, als er jedoch sah, daß sie nicht allein war, legte er die Hand an die Mütze und versuchte zu lächeln.

»Dies ist der Ritter ohne Furcht und Tadel, Laura,« sagte Ilma in französischer Sprache und mit einem harten Klang in ihrer Stimme. »Erlaube mir, dir Herrn Hauptmann Dubrowski von der kaiserlichen Garde vorzustellen. Boris, dies ist meine liebe Freundin Miß Metcalf, von der du wohl schon gehört hast. Ihr schuldest du Dank für einen großen Dienst, von dem sie mir gerade erzählte, als du kamst.«

»So? Wirklich? Nun, dann sei Ihnen im voraus tausendmal gedankt,« sagte Dubrowski höflich, indem er sich den jungen Damen anschloß. »Aber ist es erlaubt, zu fragen, wofür ich Ihnen verpflichtet bin?«

Noch einmal erzählte Laura, was sie Ilma soeben mitgeteilt hatte, doch ging sie wieder nicht weiter, als daß sie Delavals Namen nannte. Sie war froh über die Gelegenheit und neugierig, zu erfahren, ob der Amerikaner wirklich ein Recht gehabt hatte, sich auf die Bekanntschaft mit dem Adjutanten des Zaren zu berufen.

»Delaval? Delaval?« wiederholte dieser, sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn klopfend. »Den Namen habe ich nie gehört, und ich kenne den Menschen ganz gewiß nicht. Das muß ein Schwindler gewesen sein, der böse Absichten hatte. Ich kann Ihnen nicht genug danken, Miß Metcalf, daß Sie Folgen von mir abgewandt haben, die mich ganz ohne mein Verschulden hätten treffen können.«

Jetzt war Laura an der Reihe, verblüfft zu sein – über das spöttische Lächeln, das um Ilmas klassisch schönen Mund spielte – aber sie scherzte nur über den Vorfall mit dem Amerikaner und versuchte, den überschwenglichen Danksagungen Einhalt zu thun, womit Boris sie überhäufte. Als sie kurz darauf an der Post vorbeikamen, blieb Dubrowski plötzlich stehen und sagte, er müsse nach einem Briefe fragen, und wenn die Damen ihn einen Augenblick entschuldigen wollten, würde er es als eine besondere Gunst betrachten, Miß Metcalf nach Haus geleiten zu dürfen. Ilma, die immer noch darauf bedacht war, den Schein zu wahren, entgegnete, sie wollten warten, und als er bald darauf wieder erschien, war er damit beschäftigt, einen Brief, den er gelesen hatte, in den Umschlag zu stecken, aber sein Wesen und selbst sein Aussehen hatte sich vollkommen verändert. Rote Zornesflecken brannten auf beiden Wangen, und seine Stirn war finster zusammengezogen. Die Veränderung war so auffallend, daß Ilma fragte: »Du hast doch hoffentlich keine schlimmen Nachrichten erhalten?«

»Ja, falls es schlechte Nachrichten sind, wenn man hört, daß man durch unberufene Einmischung zum Narren gemacht worden ist,« stieß er rauh hervor, wobei er so unverkennbar Laura anstierte, daß diese sich über die Bedeutung seiner Worte ebensowenig täuschen konnte, als sie die Absicht hatte, die Herausforderung unbeachtet zu lassen. »Arme Ilma! Also ist er doch nur Talmi!« dachte sie. »Haben Sie vielleicht erfahren, Herr Hauptmann,« wandte sie sich an Dubrowski, »daß Oberst Delaval doch ein einwandsfreier Gentleman und – Ihresgleichen war?«

»Ich habe erfahren, daß er mir durch – durch eine Freundin empfohlen worden war, für die seine Ausweisung eine grobe Beleidigung ist,« versetzte Dubrowski unwirsch, »Dieser Brief kommt von einer Dame aus der vornehmsten Gesellschaft Rußlands, die sich für ihn verbürgt und mich ersucht, alles für ihn zu thun, was in meiner Macht steht, wenn er sich in Breslau an mich wenden sollte. Deine Freundin ist fast ebenso mißtrauisch, als du selbst, Ilma.«

Man sah, daß er rasch die Herrschaft über sich verlor, und Ilma versuchte voll Scham und Kummer, ihre Freundin fortzuziehen. Allein die Geduld der jungen Engländerin war erschöpft, und da sie sich ihres Erlebnisses der vergangenen Nacht erinnerte, hatte sie keine Lust, sich von einem Menschen, für den sie so Großes gewagt hatte, beleidigen zu lassen, weil er einen »Dynamitarden« für achtbar hielt.

»Dann gestatten Sie mir, Herr Hauptmann, Ihnen zu sagen, daß Sie den Namen Ihrer vornehmen Freundin der Polizei anzeigen sollten, und zwar je rascher desto besser,« versetzte sie. »Wir – meine Freunde und ich – wollten um Ilmas willen nichts davon sagen, aber nun sehe ich, daß es am besten ist, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihrer Freundin amerikanischer Freund eine Höllenmaschine im Kamin seines Zimmers angebracht hatte, ehe er hinausgewiesen wurde, und sein Zimmer stieß an das des Zaren.«

Ilma stieß einen leisen Schrei aus und legte ihre Hand flehend auf Lauras Arm.

»Kümmere dich doch nicht um ihn, Liebste; er ist nicht bei Sinnen,« bat sie. »Ich habe mir so viele Mühe gegeben, ihn zu retten, aber er will mich ja nicht anhören. Wenn dies bekannt würde und bewiesen werden könnte, wovon ich vollkommen überzeugt bin, so bedeutete es Tod oder Verbannung.«

Laura kämpfte ihren Zorn nieder und bediente sich von da an wieder der englischen Sprache.

»Ich werde nichts verraten, mein armer Liebling,« erwiderte sie, »aber nach der Mühe, die ich hatte, das Ding unbemerkt aus dem Hause zu schaffen, ging mir dieses Gerede über den Herrn Delaval denn doch ein bißchen gegen den Strich, allein es soll weiter niemand etwas davon erfahren, als wir drei – und zwei gute Freunde von mir.«

Dabei hatte sie jedoch ohne Dubrowski gerechnet. Die Verunglimpfung der Schreiberin des Briefes hatte seine Wut zur Weißglühhitze entfacht, und er war augenscheinlich im Begriff, seine Beleidigungen zu wiederholen, als er eine Gelegenheit wahrnahm, seine Angriffsweise zu ändern. Sie waren nämlich an einem freien Platze angelangt, wo drei Straßen zusammenliefen, und in diesem Augenblick sah er Volborth, der Arm in Arm mit Fortescue auf sie zukam. Den Engländer kannte Boris nicht, aber seine Wut hatte die Oberhand über seine Lebensart gewonnen.

»Kommen Sie mal her, Paul!« rief er erregt. »Sie schreiben ja Romane. Hier ist eine junge Engländerin mit einer starken Einbildungskraft, die Ihnen einen sehr guten Stoff liefern kann. Sie glaubt, etwas Außerordentliches entdeckt zu haben, etwas über einen Amerikaner. Dieser soll, nachdem er sich Zutritt zu dem neben dem Rathause gelegenen Hause verschafft, eine Höllenmaschine in der an die Gemächer des Zaren stoßenden Mauer verborgen haben. Der verzweifelte Verbrecher soll sogar einen Empfehlungsbrief an mich selbst gehabt haben, das gehört mit dazu. Was halten Sie von diesem Blödsinn?«

»Eine so realistische Verwickelung auszuarbeiten, wäre ein Genuß,« erwiderte Volborth freundlich, und es war wenig Gefahr vorhanden, daß Laura den kleinen gewandten Deutschen in dem feinen vor ihr stehenden Herrn erkennen würde. »Wer weiß, ob ich das nicht später einmal versuchen werde? Aber im Ernst gesprochen, lieber Boris, das ist keine Erzählung, die Sie, mag sie nun begründet sein oder nicht, von den Dächern schreien dürfen. Dazu sollten Sie doch unsre russischen Gewohnheiten besser kennen. Wenn ein Hauch davon in die Nase der dritten Sektion stiege, so wäre das keineswegs angenehm für Sie.«

»Um Gotteswillen Fräulein Vassili!« rief Fortescue, indem er gerade zur rechten Zeit vorsprang, Ilma vor dem Hinfallen zu bewahren. Sie war ohnmächtig gegen das Gitter gesunken, das die Bäume umgab.

*


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