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Die Nacht ist herabgesunken auf das schweigende Nordmeer.
Noch lustwandeln auf den Promenadendecks des Luxusdampfers fröhliche Menschen in heiterem Geplauder, und aus den Rauchsalons schallt das Lachen lustiger Zecherrunden. Aber die Macht der Gewohnheit berührt sie an der Schulter, und die Menschenlust wird müde, die sich nur an sich selbst zu entzünden vermag in der lauten Vielheit. Das Leben erlischt über der lautlosen See.
Auf Achterdeck lehnt eine Gestalt gegen die Brüstung und träumt in die schaumweiße Kielspur nordische Märchen hinein. Scheu ist der Schlafgott an dem Manne vorübergegangen, als spürte er den Widerpart der alten, starken Götter, die in der Nacht über das einsame Nordmeer schweben. Und auch der sinnende Mann spürt ihre Gegenwart. Das Wunderbare, Rätselvolle, Nie-Gelöste in Luft und Wasser. Und seine Menschenseele möchte sehnend sich dehnen in dem unsagbaren, schmerzlich süßen Empfinden und unsichtbare Bande sprengen, um zu verschmelzen mit der Allmutter Natur, und sie ringt vergeblich nach einem armseligen Wort …
»Gute Nacht, Herr Doktor!«
Der Träumer fuhr herum und blinzelte mit den Augen in den Lichtstreifen der Schiffslaterne. »Sie sind noch auf, gnädige Frau? Sie werden morgen das Frühstück verschlafen.«
»Selbst auf die Gefahr Ihrer Ironie hin.«
»Meiner Ironie –? Was hätte wohl meine Ironie damit zu tun?«
»O, bitte, keine Entschuldigung. Daß Sie sich über die ganze Schiffsgesellschaft lustig machen –«
»Pardon, meine Gnädige, ich denke nicht daran.«
»Nun also, Sie denken nicht einmal daran; das wäre Ihnen schon zuviel der aufgewandten Ehre. Sie verachten sie ganz einfach.«
»Sie gefallen sich heute in starken Ausdrücken, gnädige Frau. Ich tue weder das eine noch das andere, was Sie mir unterstellen. Wenn ich mich während der Nordlandsfahrt, die leider ihren Kurs nun wieder heim nimmt, für mich gehalten habe, so bedeutet das keinerlei Affront gegen die Reisegesellschaft, so wenig, als sie mich affrontieren kann. Keine Berührungspunkte zu finden, ist doch kein Verbrechen.«
»Weshalb suchen Sie sie nicht?«
»Meine gnädige Frau, ich bin trotz meiner verhältnismäßig jungen Jahre viel auf Reisen. Wenn ich den Gang des gesellschaftlichen Lebens beobachten wollte, könnte ich zu Haue bleiben. Aber gerade weil ich anderen Stimmen, unverfälschten und ergreifenderen, lauschen wollte, zog es mich aufs Meer. Da haben Sie den Unterschied. Frühstücken, dinieren, soupieren, Musik oder ein Spielchen machen und von Zeit zu Zeit einen Erholungsblick in die Natur tun – ja, dazu brauche ich nicht nach dem Nordkap zu segeln. Eine Reihe von festlichen Veranstaltungen finde ich überall. Wenn ich könnte, wie ich wollte, so ließ' ich mir hier auf dem Achterdeck ein primitives Bett aufschlagen, nähme hier ganz nebenbei meine Mahlzeiten ein und rührte mich im übrigen nicht von der Stelle.«
»Ohne jede Unterhaltung?«
»Ich plaudere den ganzen Tag, wenn auch wortlos. Und wenn ich nicht plaudere, so staune ich.«
»Über was, Herr Doktor?«
»Über das, was mir die Elemente zu sagen haben.«
»Und was sagen sie Ihnen gerade jetzt, Herr Doktor?«
Hans Steinherr blickte lächelnd die elegante Fragerin an, die, den Saum ihrer reichen Abendtoilette gerafft, auf den Spitzen der weißen Glacéschuhe stand und in die schäumende Kielspur sah.
»Hören Sie es nicht selbst? Sie wundern sich, daß die große Weltdame ihre Nachtruhe einer Kaprice opfert und sich einen Schnupfen holt, um ein Viertelstündchen Naturkind zu spielen!«
»Das kann nicht alles sein«, erwiderte sie, »damit vertreiben Sie mich nicht. Haben Sie keine stärkere Beschwörung?«
»Wenn Sie sie hören wollen?«
»Ich will.«
»Sie wissen, es ist die erste Reise, die das Schiff macht. Es ist seine Hochzeitsreise, seine Vermählung mit dem Meere. Und nun hat sich die Nacht gesenkt und die Neugier hat die Augen geschlossen. Verstehen Sie jetzt, was das Meer wünscht? Es wünscht, daß man die Mysterien der Brautnacht ehrt und das Schiff allein läßt in den Umarmungen der See. Schnell, schließen Sie schamhaft die Augen und fliehen Sie in Ihre Kajüte.«
»Und Sie?«
»O, ich – –. Nehmen Sie an, ich kenne in diesen Dingen keine Scham. Nehmen Sie an, ich sehe darin nur die Kraft und den Stolz der Kraft. Alles das, was wir Menschenkinder verloren haben und was ich für meine Person so gerne wiedergewinnen möchte. Da! Da! Schauen Sie, wie die Welle das Schiff bei der Flanke packt. Wie das Schiff zittert und in die Umarmung hineintaucht. Was liegt ihm an dem Flüstern, das über die Wasser läuft! Die Wasser verrinnen … Gute Nacht, gnädige Frau, es ist Zeit, daß Sie zu Bett gehen.«
»Lassen Sie mich hier. Die Nacht ist herrlich.«
Er gab es auf, sie zu verscheuchen, und zog einen bequemen Triumphstuhl aus Segeltuch heran, in dem sie sich ausstrecken konnte. Dann wickelte er seinen Plaid um ihre Schultern und hüllte ihre Füße in eine Reisedecke.
»Ah – –« machte sie und rekelte sich wohlig.
Schweigend lehnte er wieder an der Brüstung und lauschte in die schwarzblaue See unter dem endlosen Nachthimmel. Aber eine Unruhe trieb in seiner Stimmung umher wie ein unter dem Wasserspiegel verborgener Wirbel. Er fühlte, daß er beobachtet wurde, und diese Empfindung lenkte ihn von der Vertiefung des Genusses ab.
»Weshalb sind Sie nur ein solcher Sonderling?« hörte er die Frauenstimme wieder neben sich fragen. »Wenn Sie wollten, könnten Sie der vollendetste Weltmann sein.«
»Ich mache weder auf das eine, noch auf das andere Anspruch, gnädige Frau.«
»Sie haben Trauriges im Leben erfahren?«
»Ich – –? Ich glaube, es war umgekehrt. Das Leben hat von mir Trauriges erfahren. Und das ist schlimmer.«
»Bah, man muß das Leben zuweilen en canaille behandeln, damit's einmal einen anderen Ton von sich gibt.«
»Sie spielen jetzt die Frivole wie vorhin das Naturkind.«
»Wenn Sie das Spielerei zu nennen belieben – Für mich ist es jedenfalls keine Spielerei. Vielleicht liegt darin unsere individuelle Verwandtschaft, die uns von der Allgemeinheit entfernt: wir haben, jeder für seine Person, unsere Separatwünsche.«
»Sie sind bei gutem Humor, gnädige Frau. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich lange mit Wünschen abgeben. Für Sie gibt es doch wohl nur Erfüllungen.« Er sah mit seinem leisen, ironischen Lächeln nach ihr hin, und es war ihm, als hätte es in ihren schwarzen Augen aufgeflammt.
»Ihre Komplimente haben einen Beigeschmack, Herr Doktor; aber besser Beigeschmack als das fade Einerlei.«
»Das ist eine Freinacht hier oben. Die Kultur liegt unter Deck und schnarcht.«
»Sie sehen, daß ich nicht unter Deck liege. Ich verlange daher auch durchaus nicht nach Rücksichtnahme. Erkennen Sie das an?«
»Sie ebnen mir so sehr die Wege zur Erkenntnis, daß es eine Rücksichtslosigkeit wäre, sie nicht zu betreten.«
»Wohlan? Und Sie machen mir nicht den Hof?«
»Das wäre doch paradox. Ich halte Sie für eine so schöne und so kluge Frau, daß Sie alles Recht haben, sich nach Laune zu langweilen. Daß ich Sie daran nicht hindere, das ist die eine Seite der Freinacht.«
»Und die andere Seite?«
»Die andere? Logischerweise muß sie darin bestehen, daß man sich gegenseitig nicht langweilt. Auch nicht mit Hofmachen. Die Woge schwillt empor, und das Schiff stürmt ihr entgegen. Die Schriften der unendlichen Natur sind alle so einfach. Nur wir Endlichkeitsgeschöpfe suchen sie zu komplizieren und haben die wenigste Zeit dazu.«
»Sie reden wie ein dichtender Philosoph oder wie ein philosophischer Dichter.«
»Das sind beides Leute, die ihren Beruf verfehlt haben, denn sie vergessen in ihrer Doppelbeschäftigung das eine über dem anderen.«
»Und so haben Sie es auch gemacht? In die Sterne geguckt und dabei Blumen zertreten?«
»O, Eva, Eva! Das Paradies und die Schlange! Und wenn ich nun, um Ihren Wissensdurst zu stillen, ja sagte?«
»Ich könnte Ihnen zum Äquivalent aus meinem Leben erzählen.«
»Meine Gnädige, ich bin ein ebenso schlechter Beichtvater wie ein uninteressantes Beichtkind.«
»Wer weiß – –?« meinte sie zögernd und ließ ihren Blick aufmerksam über ihn hinstreifen. »Es stände ja nichts im Wege, daß Sie sich in beiden Beziehungen besserten. Vielleicht habe ich den Ehrgeiz, Sie zu entdecken.«
Er verbeugte sich zeremoniell und schwang sich auf die Schiffsbrüstung.
»Ich bin ganz Ohr, meine gnädige Frau«, sagte er, als er seinen Platz eingenommen hatte.
»Der Vorbereitungen bedurfte es wirklich nicht«, versetzte sie leichthin. »Die Geschichte ist kurz und verständlich. Ich war zehn Jahre lang an einen kranken Mann gefesselt, der mich tyrannisierte. Einen Schritt aus dem Zimmer, und ich stand mitten in der Welt. Aber er ließ nicht zu, daß ich den Schritt auch nur einmal tat. Aus Eifersucht, aus Selbstsucht. Was nutzte mir da alle Schönheit und aller Geist, wenn ich meine Waffen nicht in den Kampf tragen konnte! Draußen rief das Leben, und in mir rief das Leben, und neben mir hielt mich der Kranke an der Kette.«
»Und Sie kamen nie darauf, Schönheit und Geist zu benutzen, um dem Kranken eine Welt aufzubauen?«
»Ich war ja selbst krank. Krank danach, mir selbst eine Welt aufzubauen. Glauben Sie, ich wollte mich besser machen als ich bin? Wenn nichts anderes, so sollen Sie wenigstens den Mut der Wahrheit bei mir anerkennen. Zu einer duldenden Samariterin tauge ich nicht.«
»Ihr Gatte starb?«
»Vor einem Jahre. Nun bin ich auf der Fahrt ins Leben.« Sie stützte sich auf den Arm und sah ihn mit ihren strahlenden Augen fest an. »Herr Doktor, lassen Sie es meine erste Tat sein, daß ich Sie Ihren Grübeleien entreiße, daß ich Sie ins Leben zurückführe, in das Sie hineingehören wie ich. Seien Sie mein Herold!«
»Ich bin nicht gewohnt, die Posaune zu blasen,« murmelte Steinherr und verließ seinen Platz.
»Aber die Zither zu schlagen. Verstellen Sie sich nicht; ich habe die Künstlernatur gleich in Ihnen entdeckt.«
»Die Zither?« Es lag ein spöttischer Ton in seiner Stimme. »Meine verehrte Forscherin, alle Märchen beginnen mit: ›Es war einmal …‹ Sie reden von Märchentagen der Jugend, in denen jeder ein Instrument spielt. Aber Sie tun recht daran, von Märchen zu sprechen. Ist das nicht märchenhaft um uns her?«
Er deutete in die nächtliche See hinaus, die sich wenige Meter vom Schiff wie ein Geheimnis im Dunkel verlor.
»Dort liegt das Asenreich, das einst dahin mußte vor ›Buch und Kreuz und Mönchsgebet‹, wie Scheffels Waldfrau singt. Aber es liegt nur im Traum, wie alles, was einmal war. Der Gedanke ist ewig. Und eines Tages werden sich die Menschen zurückbesinnen auf die Tage der Kraft und Ursprünglichkeit.«
»Und Sie werden dazu die Zither schlagen.«
»Ich? – Ich bin ein stagnierendes Wasser, das langsam aber sicher verschwindet.«
»Mein Herr Doktor: Sie und Sentimentalitäten? Ich nehme an, das ist ein bißchen Pose.«
»Wie Sie befehlen, gnädige Frau. Wenn es Sie nur unterhält.«
»Ein stagnierendes Wasser – –«, wiederholte sie. »Mir fällt ein, ich wanderte im Sommer einmal an einer wasserarmen Stelle des Werraflüßchens. Da hatte sich ein stagnierendes Wasser gebildet, und ein graues, moosiges Gespinst überzog die ganze Fläche. Das war ein trauriger, trostloser Anblick. Und als ich wenige Tage darauf wieder an den Ort kam, traute ich meinen Augen nicht. Das Grau war verschwunden, Sonne lag auf dem Wasser, und der Fluß – ja, denken Sie – der Fluß blühte! Tausende und aber Tausende weißer Blumen bedeckten ihn wie ein prangender Sternenmantel. Der Gott war in das stagnierende Wasser gefahren und hatte es gezwungen, zu leben, seine Wunder zu offenbaren. Das war eine seltene Überraschung. Seit dem Tage, Herr Doktor, geben mir die stagnierenden Wasser am meisten zu denken. Es sammelt sich darin in der Stille eine ungeheure Materie, und fährt der Gott hinein, so gibt es ein überwältigendes Prangen …«
»Sie schlagen ja selbst die Zither, gnädige Frau.«
»O nein, ich bin nur eine begeisterte Zuhörerin. Heraus und heran mit allem, was das Leben schmückt!«
»Die Sonne«, sagte Steinherr leise und wies in die Ferne, die einen fahlen, roten Streifen zeigte, der rasch anwuchs und die Linie des Horizontes scharf markierte. »Sonnenaufgang«, wiederholte er. »Ah, sehen Sie, wie im Osten Funken aufspringen und sich jagen und vereinigen. Jetzt ringeln sich feurige Schlangen blitzschnell um den Horizont. Jetzt schießen Strahlengarben empor, fliehen sich, suchen sich und verdichten sich zu einem golden umsäumten Purpurbaldachin, unter dem die Majestät der Sonne wie das segnende Auge Gottes emporsteigt.«
Er berauschte sich an dem Schauspiel der Natur und an seinen eigenen Worten.
»Ich freue mich mit Ihnen«, sagte die Frau im Triumphstuhl und streckte in heimlichem Kraftbewußtsein die Glieder. Doch sie blickte nicht über das Meer. Sie sah nur den Enthusiasmus des sonst so unnahbaren und überlegenen Mannes und forschte, wie weit ihr Anteil an der Erweckung ginge.
»Ja«, fuhr Steinherr hastig fort, »eine wundersamere Stunde heiliger Morgenfrühe kann es hienieden nicht geben. Wie das Schiff so sanft und glatt dahineilt! Als wollte es die Weihe des Schauens durch nichts unterbrechen und den Gedanken an seine Existenz verschwinden machen vor dem Atmen der Weltenseele.«
»Wo nehmen Sie die Worte her – –?«
»Ist das so schwer? Da stehen sie ja alle aufgezeichnet, wohin sie blicken, da, da und da! Dort tritt auch die Felsenküste Norwegens wieder hervor. Und nun liegen sie vor uns in ihrer Weltabgesondertheit, die granitenen Häupter und Zacken, von der See bedrängt und zerrissen, und das schwerlastende Einsamkeitsgefühl ausströmend, das unsere Altvorderen bewog, den Sitz Odins und Asathors, des Hammerschwingenden, in das wilde Reich Norge zu verlegen. Das Land der Asen … Soweit das Auge reicht, Wasser und Felsen. Das Geschlecht der Menschlein nirgend zu verspüren. Ein Wasserrabe streicht einsam über die Flut. In der Ferne ein Zug wilder Eiderenten. Sonst nichts Lebendiges …«
»Nichts Lebendiges?«
Er wandte sich nach der Fragerin um. Der Ton hatte ihn stutzig gemacht. Und nun sah er die kapriziöse Reisegefährtin, die mit ihm eine Nacht Kameradschaft geteilt hatte, mit der er wie mit einem nächtlichen Schemen Rede und Antwort getauscht hatte, im Dämmer des Morgens vor sich als ein Wesen von Fleisch und Blut, als ein üppiges, bestrickendes Frauenbild. Er sah die elfenbeinfarbene Haut, das vom Wind über die Stirn gewehte schwarze Haar, die großen, schwarzen Augen, die fest seinem Blick begegneten und ihn zwangen, stillzuhalten. Und den blaßroten Mund, der ihm am rätselvollsten schien.
Seine überwachten Sinne, von der gewaltigen Schönheit der Natur überwältigt, strafften sich mit verdoppelter Kraft. Was er sprach, empfand er nicht. Er empfand nur das neue Bild in der Einsamkeit der Frühe.
»Was soll das?« hörte er seine Stimme, »was wollen Sie mit der Frage?«
»Wissen, ob Sie glauben, ich sei neben Ihnen gestorben.«
Sie sahen sich immer noch an, mit demselben festen, fast finsteren Blick. Er vornüber gebeugt, die Hände an der Lehne ihres Stuhles; sie ausgestreckt, regungslos daliegend.
Da atmete sie tief auf. Und mit einer jähen Bewegung hatte er seine Hände unter ihr Haar geschoben.
Noch eine Sekunde starrten sie sich an, ganz nah, ganz dicht – – Und sein Mund preßte sich auf ihre Lippen, die sich unter dem Drucke öffneten und seinen Kuß tranken. – –
Dann sprang sie auf, drückte die Hand auf die Augen, ließ den Arm sinken und strich mechanisch die Toilette glatt, ging bis an die Brüstung und blickte über das Meer.
Als sie sich umwandte, war sie ruhig.
»Kommen Sie, wir machen Dummheiten, lieber Freund! Bringen Sie mich bis zur Kajütstreppe. Ich danke Ihnen. Gute Nacht! Nein, Guten Morgen! A bientôt!«
»Auf Wiedersehen, Frau Bettina Wittelsbach – –«
Sie lächelte vor sich hin, als er ihren vollen Namen aussprach. War es doch, als ob er damit beweisen wollte, daß auch sie ihm aus dem Kreise der Reisegenossen längst aufgefallen sei.
Als sie gegangen war, blieb er einen kurzen Moment emporgerichtet auf dem Fleck stehen. Dann schwand das Leuchten aus seinen Augen, die ironisierende Kälte kehrte in den Blick zurück, und mit langsamen Schritten begab auch er sich in seine Kajüte, um die Vorgänge der Nacht zu verschlafen. Als kurz nach sieben Uhr die Trompeten durch das Schiff den Morgengruß schmetterten und zum Frühstück luden, erwachte er frisch und gekräftigt. Nur in seinem Blute war ein leises Vibrieren zurückgeblieben. Aber er empfand es nicht unangenehm.
Während der Toilette fiel sein Blick in den Spiegel. Heute morgen betrachtete er sich aufmerksamer als sonst.
Hm, mein guter Hans, dachte er nachdenklich, die Jahre sind schneller über dich gekommen, als du über sie. Mit achtundzwanzig Jahren pflegt man in der Regel noch nicht nach den ersten grauen Haaren an den Schläfen auszuspähen.
Der Spiegel warf das Bild eines scharf ausgearbeiteten Kopfes zurück, aus dem die weiche Rundung der Jugendformen längst verschwunden war. Der wehende Schnurrbart beschattete den zum Sarkasmus neigenden Mund. Die Stirn war breit, und die Wölbungen erschienen wie gemeißelt. Nur in den dunkelgrauen Augen loderten zeitweilig noch die alten, heißen Flammen auf, wie Wachtfeuer der Jugend.
Ob man mich in Düsseldorf noch wiedererkennen würde? flog es ihm plötzlich durch den Sinn. Und ich die Menschen dort? In fünf Jahren ändert sich die ganze Welt von Kopf bis zu Fuß. Das ist eigentlich gar nicht auszudenken. Also denken wir doch nicht immer daran …
In einem leichten Promenadenanzug ging er an Deck, ließ sich eine Viertelstunde lang die frisch aufspringende Brise durchs Haar wehen und begab sich dann in den Frühstückssalon. Mit dem ersten Blick stellte er fest, daß Frau Bettina Wittelsbach noch nicht sichtbar geworden war. Erst gegen Mittag gewahrte er sie in einem Kreise lebhaft flirtender Berliner Herren. Sie trug ein fest anliegendes russisch-grünes Tuchkleid, denn die Temperatur war plötzlich gesunken, und der Wind kam in kurzen, kalten Stößen aus Nordnordwest. Als er gleichmütig vorüberschritt und höflich den Hut lüftete wie alle Tage, ließ sie die Gesellschaft stehen und kam auf ihn zu. »Guten Morgen, Herr Doktor! Ich wünsche Ihnen das heute schon zum zweiten Male.«
»Guten Morgen, meine gnädige Frau! Ich hoffe, daß die Freinacht in Ihrer zarten Konstitution keine Spuren zurückgelassen hat.«
»O doch«, sagte sie ruhig und hielt seinen Blick aus. »Aber das wird Sie schwerlich interessieren.«
»Mache ich einen so wenig Vertrauen erweckenden Eindruck, meine gnädige Ungnädige?«
»Ich habe das Frühstück richtig verschlafen«, lenkte sie ab, »wie Sie es mir prophezeit hatten. Und auch nachher konnte ich mich kaum zum Aufstehen zwingen. Ich habe selten den halbwachen Zustand als so schön empfunden.«
»Geträumt, gnädige Frau?«
»Ja, geträumt.«
»Darf man Näheres wissen?«
»Nein, man darf nichts Näheres wissen.«
Er nahm ihre Hand, die in seinem Arm lag, und führte sie an die Lippen. Es lag keine Veranlassung zu einer Huldigung vor, aber sie empfanden beide das Unzeitgemäße durchaus nicht.
»Wie mir vorhin der Steward mitteilte, wird das zweite Frühstück um ein Uhr heute mehr den Charakter eines Diners tragen. Die Windstärke steigt verdächtig. Da sorgt der kluge Hausvater vorzeitig für die nötige Widerstandsfähigkeit. Sehen Sie nur, wie boshaft die kleinen Wellen hüpfen. Jede Welle eine kleine Grimasse. Das kann zum Abend lustig werden. Sie fürchten sich doch nicht, gnädige Frau?«
»Ich ernenne Sie einfach zu meinem Ritter. Da bin ich aller Furcht ledig.«
»Befehlen Sie, daß ich meinen Dienst bereits bei der Tafel antrete?«
»Wie? Ist es möglich, Herr Doktor? Sie wollen Ihren einsamen Eckplatz aufgeben und gar eine Tischdame wählen? Das ist sehr schmeichelhaft für mich. Nur eine Bedingung: Fragen Sie mich nicht immer, ob ich befehle. Wenn ich befehlen dürfte, hätte ich doch nicht die Freude, zu sehen, daß man mir freiwillig etwas entgegenbringt. Kennen Sie uns Frauen so wenig, daß Sie nicht wissen, worin unser größter Triumph besteht?«
Der sarkastische Zug erschien um seinen Mund.
»Sie treffen ganz meinen Geschmack, gnädige Frau. Auch ich sehe den besonderen Liebhaberwert einer Sache im Geschenk, in der persönlichen Widmung. Also auf Gegenseitigkeit, wenn Sie geruhen.«
Sie nickte kurz, als dächte sie schon an anderes.
Dann riefen die Trompeten zu Tisch, und unbekümmert um die verwunderten Gesichter der Tafelrunde pokulierten sie heiter miteinander, und mit der heiteren Gravität des alten Kavaliertums, das mehr und mehr aus der Zeit verschwindet und doch durch die Form auf den Inhalt wirkt, bediente Hans Steinherr seine Dame. Seine Art fiel ihm selbst auf. Woher hatte er sie nur? Und vor seinen Augen stand Herr Friedrich Leopold von Springe, stand Düsseldorf, das gastfreie, stand das schlanke, scheue, hingebungsvolle und aufbegehrende Mädel, das in seligen Zeiten auf den Namen Hannes hörte …
Düsseldorf – Burg Springe – Pempelfort – – die Worte wurden zu Begriffen, die Macht über ihn gewannen, die sein ganzes Denken und Empfinden zu absorbieren drohten. Er wurde schweigsam und stierte in sein Glas.
»Mein Herr Ritter – –« erinnerte neben ihm die schöne Frau.
Da nahm er sich zusammen und wurde, wie er zu Beginn der Tafel gewesen war. »Ich rate Ihnen, sich für ein paar Nachmittagsstunden hinzulegen, gnädige Frau. Der Himmel ist zwar noch klar, aber die See beginnt verdächtig unruhig zu werden. Sollten wir zum Abend Sturm bekommen, ist es doch um Ihre Nachtruhe geschehen.«
»Weil Sie mich nicht für wetterfest halten?«
»Nein«, sagte er, »weil ich Ihnen auch diese Nacht entreißen würde, um Sie auf Deck zu halten. Weil ich Sie mit Beschlag belegen würde, damit Sie das Meer in der Leidenschaft sehen. Das ist ein guter Maßstab, schöne und verehrte Herrin aller Kulturstätten.«
Sie hatte sich von der Tafel erhoben, zum Gehen bereit.
»Hoffen wir, daß Sturm kommt«, sagte sie leise, verneigte sich gegen ihn und suchte ihre Kajüte.
Auf den Promenadendecks stand die Reisegesellschaft in Gruppen umher. Man lachte, schwatzte und fühlte sich zu Hause, als ob man statt der Schiffsplanken den Parkettboden der heimatlichen Salons unter den Füßen hätte. Morgen abend hoffte man in Hamburg zu landen, und noch einmal wurden die Eindrücke der Fahrt rekapituliert. Wer genauer hinzuhören verstand, konnte wahrnehmen, daß die bleibendsten Eindrücke nicht durch die Wunder der Natur, daß sie bei der Mehrzahl dieser Modereisenden durch die – glänzende Verpflegung an Bord geschaffen worden waren. Ein rundlicher, beweglicher Herr, dem die Wonne des Lebensgenusses auf den glattrasierten Wangen geschrieben stand, ereiferte sich am meisten.
»Ja, ja, meine Herrschaften, für unser Zeitalter gibt es keine Höhen und Tiefen mehr. Flugs setzt sich so ein Techniker hin, schlägt die Brücken und gleicht alles aus. Ist denn das ein einsam dahinsausender Dampfer, auf dem wir uns befinden, der uns allen menschlichen Wohnstätten entführt? Ein erstklassiges Hotel hat uns seine Pforten geöffnet und führt uns mit jeder erdenklichen Selbstverständlichkeit einen Luxus vor Augen, wie er selbst dem Verwöhntesten unter uns nicht vollendeter an Land geboten werden könnte. Glauben Sie mir, meine Herrschaften, ich verstehe mich ein wenig darauf. Aber das versichere ich Sie: Zeit meines Lebens, wo es nur angeht, werde ich das Reisen per Dampfer vorziehen. D-Zug mit Speisewagen ist ein überwundener Standpunkt.«
Hans Steinherr schlenderte weiter. Auf dem Sonnendeck war es ruhiger. Hier ließ er sich nieder und beobachtete das aufgeregte Hasten der vor Stunden noch so glatten See. Dann verfiel er, ohne sich dagegen zu wehren, in eine Art Halbschlaf. Ein paar Stunden wohl mußte er verträumt haben. Er hörte zwei Matrosen miteinander verhandeln, und als er aufblickte, sah er, wie der eine verstohlen auf einen dunklen Punkt am Horizont deutete, der sich rasch vergrößerte und sich mehr und mehr zur Wolke auswuchs.
Sturm in Sicht!
Es wurde dunkel. Schwarze Schleierfetzen flatterten, wie von einem boshaften und schadenfrohen Meeresgesindel emporgeblasen, am Himmel auf, und die See machte einen Buckel wie ein fauchender Kater. Eine steife Brise sprang auf. Plötzlich schwieg sie. Einen Augenblick Stille ringsum; nur die See tanzte weiter in unregelmäßigem Hüpfwalzer. Da – hui! – pfiff es daher, ein Windstoß, so wütend und kreuz und quer einherspringend, daß die Passanten an Deck jäh ihren Stützpunkt verloren. Ein Flüchten begann nach den Kabinen, den Salons. Nur wenige hielten sich an Deck. Eine Leidenschaft war in ihnen erwacht nach vieler, vieler frischer Luft …
Wieder setzte ein Windstoß ein; heftiger als der erste. Hans Steinherr zog seinen Wettermantel an und stülpte die Kapuze über die Ohren. Dann stieg er die Stufen zum Promenadendeck hinab, um sich die Tragikomödie, die hier bereits ihren Anfang genommen hatte, aus der Nähe anzusehen.
»Gottlob, daß ich Sie finde. Ich hätte Sie in Ihrer Vermummung fast nicht erkannt.«
»Ah – – meine Gnädige – –«
Sic klammerte sich an seinen Arm, denn der Wind packte rücksichtslos an. Wie er, war sie in einen langen Gummimantel gehüllt, und die Gummikapuze, die sie über den Kopf gezogen hatte, ließ nur Augen, Nase und Mund frei.
»Ich wäre da unten verrückt geworden«, sagte sie rasch, denn der Wind benahm ihr den Atem. »Unmöglich, in den Kabinen zu bleiben. Dort haben sich – unsichtbare – Karussells – etabliert.«
Der nächste Windstoß warf sie hart gegen seine Schulter. Sie schrie auf.
Er lachte und faßte sie fest um den Leib. »Das war ja nur die Ouvertüre. Das eigentliche Konzert soll erst beginnen. Da! Schauen Sie hin! Da taucht der Nickelmann grinsend aus der Flut. Mit den Flossenhänden stützt er sich auf den Kamm einer Riesenwelle, und sein plusterndes Gesicht will platzen vor Vergnügen über den gelungenen Streich. Sehen Sie es, schöne Sturmfrau? Jetzt – jetzt! Als rühre er eine Pauke, so fallen plötzlich seine Tatzenschläge auf die See, und soweit das Auge das fahle Licht durchdringt, schlagen weiße Nixenleiber Kobolz mit den schwarz heranstürmenden Fluten, schwingen sie sich auf die Wogenkämme, daß sie so blendend scheinen wie schneeiger Schaum, heben sie sich bis an den Bordrand und werfen unter tollem Gelächter den verblüfften Festgenossen Kübel voll Salzwasser über den Kopf. Hoppla, der Guß war für uns!« Er riß Frau Bettina hoch, die unter der Wucht des Sturzbades in die Kniee sinken wollte, und ergriff mit der freien Hand einen Eisenring an der Bordbrüstung.
»Ich habe den Mund voll Salz«, entrüstete sie sich, »das ist ja unerträglich.«
»Sie werden sich schnell daran gewöhnen«, beschwichtigte er. »Äußerten Sie nicht in vergangener Nacht selbst, jeder Beigeschmack wäre Ihnen noch lieber als das fade Einerlei? Der Himmel hat Ihre Bitte erhört.«
»Spotten Sie nicht, Sie gräßlicher Heide. Da kommt eine neue Sturzwelle.«
»Diesmal gilt es den anderen. Schwupp – und sie hat ein Dutzend Triumphstühle übergossen. Empfinden Sie nicht das Groteske des Vorspiels? Ganz wie bei den alten Meistern. Erst die Rüpelkomödie, dann das Drama. Ach du mein lieber Gott, das Publikum hier ist ja viel zu ungebildet für die ganze Veranstaltung, oder zu dekadent. Wenn sich die Natur einen Witz erlaubt, nennen sie's Gemeinheit; und wenn sie selbst sich Gemeinheiten gestatten, nennen sie's einen Witz. Treten Sie näher, meine schöne Dame. Entree gänzlich frei.«
»Na«, lachte sie zornig, »Tribut scheint mir doch zur Genüge gezollt zu werden.«
»Ja«, bestätigte er, »die Ästhetik ist vorläufig von der Tagesordnung abgesetzt. Sehen Sie nur, wie die tadellosen Helden und Heldinnen vom Turf und Tennisplatz sich verzweifelt winden, um ihrem Schicksal zu entrinnen. Hilft nichts. Jetzt grassiert das reine Menschentum. Dort ziehen flinke Stewardshände die Erblassenden aus den Salons auf Deck – denn die Smyrnateppiche sind kostbar, und Holzplanken noch nie diffizil gewesen. Gehen wir hin, kondolieren.«
»Um Himmels willen, hören Sie auf. Gleich wird sich der Spieß umkehren.«
»Unbesorgt. Ich setze meinen rheinischen Dickkopf auf.«
»Und ich?«
»Sie –?« gab er zurück, ließ einen Augenblick den Eisenring los, schob ihr die Kapuze aus der Stirn und sah ihr in die Augen. »Sie sind bis auf weiteres ein Teil von mir.«
Wieder sprühte ein Salzwasserregen über sie hin. Die Wellen fegten über das Bugspriet; auf Vorderdeck war der Aufenthalt unmöglich geworden, und auf Promenadendeck wurden starke Seile gezogen als Halt für die tastenden Hände. Wie Mumien eingepackt, still und starr und frierend, lagen die Reisegenossen in langer Reihe in den Triumphstühlen. Aber die horizontale Lage war auf die Dauer nicht zu ertragen. Einer nach dem anderen erhob sich wieder, mit übernatürlich glänzenden Augen, um, wie weiland Graf Ernst von Mansfeld, stehend und in voller Rüstung zu sterben. Und endlich schwankten sie hinweg, von samariterhaften Matrosen geleitet.
Der rundliche Herr, der am Mittag so enthusiastisch die Wonnen der Dampfer vor allen anderen Transportmitteln gefeiert hatte, war wie eine Kugel an Steinherr und seiner Gefährtin vorbeigeschossen. Nun klammerte er sich, ohne den Kopf zu wenden, mit einer Innigkeit an die Bordbrüstung, als hätte er tiefe Geheimnisse mit der zu ihm aufspringenden See. Als er sich endlich mit schwerem Atemzug dem Bann des Meeres entriß, drückte er erloschenen Auges Steinherr die Hand.
»Doch, doch! D-Zug ist auch was Schönes. – Glauben Sie's mir. Jetzt versteh' ich mich darauf.«
Ein Matrose brachte ihn unter Deck.
Die Nacht brach herein, und der Sturm tobte mit voller Kraft. Kein Passagier war an Deck zurückgeblieben. Nur Steinherr stand mit seiner Gefährtin an der Bordbrüstung. Er hatte ein Tau durch die Eisenringe gezogen, so daß sie fest angeseilt gegen die Planke gedrängt waren.
Die Frau an seiner Seite sprach schon seit langem nicht mehr. Sie trieften beide vor Nässe, und bei jeder neuen Sturzwelle spürte er, wie sie erschauerte, wie sie sich unwillkürlich an ihn preßte. Dann beugte er sich zu ihr hinab und sah ihr starr in die Augen. Der Wind heulte um die fauchenden Schlote des Schiffes herum.
»Nun, meine gnädige Frau«, fragte er leise, »was sagen Sie zu diesem Pendant der gestrigen Nacht? Nach dem weichen Sehnen die tolle Leidenschaft. Haben Sie ein Gefühl für die wilde Größe?«
Sie hob den Kopf, und ihre Nasenflügel vibrierten.
»O – –« stieß sie hervor, »Sie sind ein Lehrmeister – –«
»Wir Menschen müssen Künstler sein«, sagte er, »und wenn nicht mehr, dann doch Lebenskünstler. Damit betrügen wir uns selbst, zu unserem Heil, als hätten wir wahrhaftig Gottähnlichkeit.«
»Wir haben sie«, entgegnete sie, »wir brauchen nur zu wollen.«
Er überhörte den Einwurf. Der Künstler in ihm war geweckt.
»Was für ein Pathos liegt in dem Bilde vor uns! Man denkt nicht daran, über den Stil zu lachen, man wird selbst pathetisch. Aber Größe verspürt man. Wie sie aus weiter Ferne heranrollen, die Wellenungetüme, näher und näher jagen, von anderen gefolgt. Und wie ein Kommandeur in der Schlacht links und rechts die Regimenter an sich reißt, zum Sturm auf die feindliche Hauptmacht, so schlingt die heranstürmende Woge links und rechts kleinere Wellenberge in sich hinein, wächst wie eine Lawine, bäumt sich dicht vor dem Bug des Schiffes haushoch empor, unten die schwarzen Massen, darüber eine kristallgrüne Kappe, die wieder von schneeweißem Gischt gekrönt, der sich in sausenden Fontänen auflöst – heißa! jetzt fegt's über Deck wie ein Schwarm von nadelscharfen Pfeilen. Sie sind getroffen, meine Allergnädigste?«
Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Der Sturm hatte ihr die Kapuze heruntergeweht, und sie griff mit beiden Händen in den Nacken. In ihrem schwarzen Haar glitzerten die Salzspuren wie Diamanten. Brust an Brust standen sie.
»Wissen Sie noch, was Sie mir heute mittag zuriefen? ›Hoffen wir, daß Sturm kommt.‹ Der Sturm ist da! Und ich warte.«
»Nein, ich warte!«
Sie küßten sich unter dem Sprühregen der See auf den Mund, auf die Augen, und wieder auf den Mund. Kein Wort hatte Raum zwischen ihnen. Kaum, daß sie sich sahen in der Dunkelheit. Nichts von Erblassen, nichts von Erröten. Mitten im Meersturm: zwei Menschen.
»Wohin mit uns?«
»Wohin? Willst du vor meiner Kajütentür Schildwacht stehen?«
»O, selbst Tristan –«
Sie hielt ihm den Mund zu.
»Ja, wenn ein König Marke existierte. Nur die Gefahr entzückt. Wart's ab, bis sie kommt.«
»Hüte dich.«
»Hüte du dich.«
Und wieder küßten sie sich.
»Auf morgen denn.«
»Nein, nicht hier. Das wäre eine blasse Kopie. Nicht eher, als bis ich daheim bin.«
»Du reisest weiter, ohne in Hamburg zu bleiben?«
»Übermorgen bin ich in Berlin. Vielleicht – weißt du mich zu finden?«
»Und unterdes? Das ist eine Wartezeit von Jahrhunderten!«
»Voneinander träumen. Lebenskünstler sein, wie du sagtest.«
Er zog das Tau aus den Ringen, um sie frei zu geben. Sie tat ein paar Schritte, blieb stehen, öffnete den durchnäßten Wettermantel und schöpfte, die Arme dehnend, Atem.
Da war er bei ihr und riß den Mantel ganz herab. »Ich muß deine Gestalt noch einmal sehen. Ob du dich nicht in eine fischschwänzige Nixe verwandelt hast. Das ist jetzt mein Eigentum.«
»Verteidige es«, lachte sie und wollte ihm entfliehen.
Aber er fing sie in den Armen und preßte sie an sich. Sie schloß die Augen in der ungestümen Umarmung.
»Gute Nacht, wilder Mensch!«
»Gute Nacht, Sturmfrau!« – – – –
Am nächsten Tage sah er sie wieder. Der Morgen war sonnendurchleuchtet.
Hoheitsvoll, in eleganter, duftiger Toilette, schritt sie, wie eine unnahbare Fürstin von einer alten Exzellenz geleitet, an ihm vorbei. Kaum merkbar zuckte es in ihren Wimpern, als sie ihn erblickte, und die Spitzen um den zarten Halsausschnitt zitterten eine Sekunde lang. Sie war, wie vorher, die Dame der großen Welt.
Und Steinherr, den alten ironischen Zug um den Mund, zog mit kalter Höflichkeit den Hut.
Als sie zum zweiten Male an ihm vorüberkam, kannten sie sich nicht mehr …
Das Schiff war in die Elbmündung eingelaufen. Mit der einbrechenden Flut ging es stromauf. Am Abend war der Sankt-Pauli-Landungsplatz erreicht; die Schiffsbrücken rasselten nieder und bildeten den Steg.
Hans Steinherr stand mitten im Gedränge. Die Passagiere stießen an ihn an und machten Bemerkungen über den Sonderling, der sich durch seine Art auch beim Abschied nicht verleugnete. Er hörte nichts.
Jetzt erschien Frau Bettina, von einem ganzen Kreise eskortiert. Er streifte sie mit gleichmütigem Blick. Er hatte sich völlig in der Gewalt.
Als sie neben ihm war, tat sie, als würde sie von dem Menschenstrom gegen ihn zurückgedrängt. Wie unbeabsichtigt lehnte sie sich einen Moment fest an seine Schulter. Da spürte er ihre suchende Hand in der seinen. Er biß die Zähne zusammen. Sie hatte ihm die Nägel in die Handfläche gedrückt.
Um den Wagen, der sie zum Bahnhof brachte, sammelte sich die Gesellschaft. Sie erteilte gnädig Abschiedsaudienz. Hans Steinherr reckte sich in den Schultern: Ich hab' sie in den Armen gehabt!
Aus der Ferne flatterte ihr Tuch. Das galt ihm: Folge mir!
Lange noch stand er an der stiller werdenden Hafenstelle. – –
*