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. Und wirklich, das war mal ein echter und rechter Sommer mit schönen warmen Tagen. Kein solch grün maskierter Winter, wie er es sonst meist ist. Im Frühjahr hatte es sich ordentlich ausgeregnet, und nun ließ sich der Sommer heiß und strahlend blau an. Es gab wohl mal ein Gewitter, daß der Wind nur so die Bäume kämmte, ein Prasselregen darniederfuhr und Blitze den Himmel mit feurigen Schwertern von einem Ende zum anderen zerfurchten. Und dann war es für vierundzwanzig Stunden kühler geworden. Aber schon übermorgen war wieder die alte schöne Glut, die dem Obst und dem Korn wohltat, und der die Rosen und Glockenblumen, die Nelken und die Malven mit ihren leuchtendsten Farben und ihrer reichsten Fülle dankten. Denn Pflanzen haben es gern recht warm, sie leben vom Licht, und je heißer und trockener es ist, desto mehr Knospen und Blumen treiben sie aus sich heraus.

Dieses Jahr war mal so ein rechtes Rosenjahr, und die Leute hatten Fritz Eisner nicht zu viel gesagt, wenn sie meinten, daß der Ort hier wegen seiner Rosen schon vor einem halben Säkulum berühmt gewesen sei. Eigentlich liebte Fritz Eisner Rosen nicht so sehr. Sie haben durch die Jahrtausende, schon von den Römern her, zu viel vom Menschen angenommen, sind oft leer, gespreizt und eitel ... überzüchtet. Aber der Doktor Fischer hatte wundervolle, ganz einfache Sorten, die sich auf sich selbst und ihr erstes ureigentliches Wesen, auf die homerischen Tage an ziegendurchkletterten, steilen Felsen über blauer Brandung besonnen hatten, ganz kleine weiße und ganz kleine gelbe Rosen, gefüllt wie Bällchen, ... und gelbe, ungefüllte, fünfblättrige Heckenrosen, ... und solche, die innen dann noch wie mit Wein, wie mit rotem Tiroler übergossen waren. Er hatte sich den Stamm aus Bozen einmal mitgebracht. Oder er hatte dann ganz, ganz hochkultivierte weiße Rosen, Rosen wie aus Blanc-de-Chine-Porzellan, die immer oben geschlossen blieben, nie ihre Blüten voll und geil und ganz auftaten, und die von einer eiseskalten Erotik waren. Fritz Eisner konnte sich für sein Annchen davon abschneiden, so viel ihm behagte, jedesmal, wenn er kam, neu ihr die Vasen füllen. Denn Doktor Fischer sah es gern, wenn etwas von den Sträuchern wegkam. Sie brauchten das, um weiterzublühen.

Sonst konnte Fritz Eisner aber nicht behaupten, daß dieser absonderliche Herr Doktor etwa allzu vertraulich mit ihm gewesen wäre. Den Spaziergang von neulich schien er ganz vergessen zu haben, und er sprach keine Silbe mehr zu Fritz Eisner, die in die gleiche Richtung wies.

Ja, er war sogar recht wortkarg und taute nur ein wenig auf, wenn er auf seine Pflanzen zu sprechen kam oder auf die Flora der Parks und der Umgebung von Potsdam, die Doktor Fischer bis ins genaueste kannte, besser vielleicht als Sammler und Professoren. Denn er wußte Fundstellen von Seltenheiten, die in den gedruckten Floren nicht genannt wurden und auch wohl unbekannt waren. Da er aber die Pflanzen liebte und gar die Namen der seltenen, und wenn ihre Träger noch so unscheinbar waren, schon wie mit wehmütiger Zärtlichkeit aussprach, so hütete er sich natürlich, seinen Lieblingen dadurch zu schaden, daß er etwa ihr bescheidenes Domizil verriete, auf daß jeder botanisierende Volksschullehrer hingehen konnte und sich ein Fuder davon für sein Herbarium einheimsen, bis auch das allerletzte Exemplärlein zwischen grauem Löschpapier geendet hätte.

Schon daß er Fritz Eisner – wie bemerkt: er dilettierte ja auch so ein wenig in Botanik – versprach, ihn einmal mitzunehmen auf einem seiner Sammelwege, war ein großes Entgegenkommen, auf das aber Fritz Eisner weniger stolz gewesen wäre, wenn er gewußt hätte, daß er es nur der Tatsache verdanke, daß Doktor Fischer sich überzeugt hatte, daß sein Partner doch botanisch nicht ernst zu nehmen sei und deshalb bei seinen geheimen Lieblingen kaum Schaden anrichten könnte.

Aber vorerst wurde noch gar nichts aus der Exkursion. Dafür ging Fritz Eisner desto eifriger mit Annchen die schönen kühlen Parkwege und die stillen Feldwege und die vergrünten Waldsteige, saß in Dorfgasthäusern und Sommerlokalen unter Linden und Rüstern; und besonders gern huschten die beiden gegen Abend noch einmal den Weg entlang, wo die Leuchtkäfer um die Holunderbüsche flogen und die Bänke aus Birkenästen standen.

Nun ja, immer waren sie ja nicht allein. Oft mußten sie Frau Luise Lindenberg und Tante Trautchen, diese Landplage, sittsam begleiten. Oft mußten sie Hannchen unter ihre Fittiche nehmen – das heißt, Frau Luise Lindenberg hielt eine Gardedame für angebracht; und wenn es Fritz Eisner auch sehr angenehm fand, sich so rechts und links von je einem hübschen Mädchen eskortieren zu lassen, so kamen doch immer Augenblicke, wo er Egi Meyer herbeiwünschte, damit er sie, wie das seine Pflicht, von Hannchen für einige Augenblicke befreie und diese angemessen anders beschäftige. Aber Egi Meyer saß voraussichtlich gerade fünfunddreißig Kilometer fern von ihnen im Hinterhaus bei Kinder- und Küchengerüchen, zwischen die beiden skalenübenden Musikhochschülerinnen eingekeilt, beim Quartett der Teppichklopferinnen – vier Höfe stießen zusammen – mit Gummipfropfen in den Ohren und bastelte an seiner Doktorarbeit. Denn die mitleidlose Woge der Zeit trug ihn auf ihrem Rücken, da half kein Zappeln und Sichgegenstemmen, unfehlbar weiter auf jenen Tag zu, wo ein Schlußpunkt gemacht und die Arbeit eingereicht werden mußte, sofern er nicht unter Beilegung eines ärztlichen Attestes eine nochmalige Fristverlängerung verlangen wollte. Lange schwankte Egi Meyer, ob er nicht der Wissenschaft zuliebe diesen Weg gehen sollte, aber Hannchen zuliebe beschloß er doch, von ihm Abstand zu nehmen, um noch in diesem Semester den Kopfsprung in das Examen zu wagen.

Aber Donnerstag gebe er die Arbeit ab, und Sonntag könnten sie dann auch endlich die Dampfertour machen. Er sehne sich danach, und er hätte es sich redlich verdient. Was nicht bestritten werden kann.

Ja – auch Tante Trautchen freute sich schon sehr darauf.

Eginhard Meyer und Fritz Eisner erklärten, daß ihnen der Verzicht auf ihre Anwesenheit nicht schwer fallen würde; und ob sich nicht vielleicht irgendwelche gute Seelen von Anverwandten finden ließen, die glaubten, diesen Tag ihres Lebens verloren zu haben, wenn sie Tante Trautchen gerade an besagtem Sonntag nicht bei sich zu Mittag sehen würden?

Aber Frau Luise Lindenberg liebte solche Reden über ihre Familie durchaus nicht und wurde kratzbürstig; dann wäre es ja auch nicht nötig, daß sie mitkäme. Worauf Fritz Eisner und Egi Meyer die eidesstattliche Versicherung abgaben, daß von ihr ja niemand gesprochen hätte.

»Ja, aber Kinder,« meinte Frau Luise Lindenberg – nachtragend war sie nicht – »ihr braucht nicht erst herauszukommen. Sondern wir treffen uns beim Bahnhofshotel an der Dampferanlegestelle. Was braucht ihr noch mal die zehn Pfennig für die Rückfahrt auszugeben?«

Und als am nächsten Sonntag – es wollte wieder recht warm werden, das spürte man schon (na, auf dem Wasser würde man es ja aushalten können) – Fritz Eisner und Eginhard Meyer sich früh schon getroffen hatten und herausfuhren, da war alles, Männlein und Weiblein und die Kinder, hell, dünn und luftig gekleidet und hatte nur wenige zarte Hüllen um das nackte Menschentum geworfen. In den Abteilen aber war man zusammengeknäult wie Feigen im Karton. Und wenn einer herauswollte, riß er, gerade wie das bei den Feigen geschieht, immer noch Teile und Stücke (Hüte, Schirme, Rockärmel) von den nächstliegenden mit.

Aber was verfing das? Es war ein so wundervoller Tag, daß man alles lachend in den Kauf nahm; und morgen und die ganze nächste Woche lang war doch leider schon wieder Montag.

An der Dampferhaltestelle standen schon Annchen und Hannchen und Frau Luise Lindenberg, alle drei in den gleichen hellen Kleidern, und winkten, sie sollten schnell machen, sie hätten schon Fahrkarten und hätten auch Plätze belegt. Aber vorn, damit der Schornstein die neuen Sommerkleider nicht einruße und man sie gleich wieder waschen müsse.

Fritz Eisner vermißte Tante Trautchen zuerst; Eginhard Meyer mußte nämlich Hannchen noch über das Schlußkapitel seiner Arbeit belehren.

»Na, meinetwegen«, sagte Fritz Eisner einlenkend, »hätte Tante Trautchen aber ruhig mitkommen können.«

»Es ist besser, wir sprechen nicht über Tante Trautchen,« sagte Frau Luise Lindenberg sehr verärgert.

»Aber so war es doch wirklich nicht von uns gemeint.«

»Ach,« fiel Annchen ein, »laß doch, Fritz! Du regst Muttchen bloß noch mehr auf.«

»Nein,« meinte Fritz Eisner dickköpfig – denn ein Dickkopf war er, und was für einer! – »ich sehe das gar nicht ein. Man wird doch das Recht haben, ein Mißverständnis aufklären zu können. Wozu sollen wir den ganzen schönen Tag über deswegen verstimmt sein?«

»O,« lenkte mit verhaltener Erregung und tränenschimmernder Stimme Frau Luise Lindenberg ein, »über euch habe ich mich gar nicht geärgert« – – – Und nun kam es an den Tag: Also aus Melsungen war zuerst ein anonymer Brief an sie gekommen: sie verschwende ihre Güte an eine Unwürdige und nähre eine Schlange an ihrem Busen.

Worauf Egi Meyer – er neigte zu equivoken Zwischenbemerkungen – Fritz Eisner zuflüsterte, daß die Schlange ihm aufrichtig leid täte, was Annchen pruschend aufschnappte.

Sie hätte natürlich von derartigen feigen Beschuldigungen – denn, wenn einer so etwas behauptet, muß er es doch mit seinem Namen vertreten – gar keine Notiz genommen. Aber am nächsten Tage wäre ein zweiter Brief des Anonymus gekommen mit dem kurzen Bemerk, daß er sie »tief bedaure«, und dieser Brief hätte als Anlage einen weiteren Brief enthalten von Tante Trautchens eigener Hand, der anscheinend in Melsungen zirkuliert hätte, denn das Papier wäre ziemlich abgegriffen und fettfleckig schon gewesen, trotzdem er erst vor fünf Tagen abgeschickt war.

Also dieser Brief wäre das Abgründigste an Gemeinheit gewesen, das je ausgeheckt worden sei. Nicht allein, daß Tante Trautchen Annchen und Hannchen Dinge nachgesagt hätte, die kaum andeutungsweise wiedergegeben werden konnten, und von Hannchen, »die über den vorletzten Mittwoch doch bei deiner Mutter draußen geblieben ist«, noch eigens geschrieben hätte, daß sie sich notorisch die Nächte herumtriebe ... nein noch ganz andere, viel schlimmere Niederträchtigkeiten hätte sie sich geleistet. Also, es wäre doch geradezu lachhaft. »Ich ließe sie hungern – hungern etwa die Menschen bei mir? – und nutze ihre Arbeitskraft aus. Einmal, einen Nachmittag hat sie mitgeholfen, Monogramme in die Wäsche zu sticken. Sonst hat sie nicht einen Finger gerührt, die ganzen fünf Wochen, sondern sich hinten und vorne bedienen lassen.«

Frau Luise Lindenberg war ziemlich erregt, und ihre Töchter beschworen sie, sich doch nicht aufzuregen. Das wäre die Sache nicht wert. Aber das hieß einen Blasebalg treten und dann der Schmiedeesse sagen, sie möchte nicht brennen.

Ja, sie brauchten sich ja nichts daraus zu machen. Aber was die Leute in Melsungen von ihr dächten! Und als sie Tante Trautchen in aller Freundlichkeit – diese Freundlichkeit wurde von Annchen und Hannchen, die drei Zimmer davon entfernt sich aufgehalten hatten, bestritten – es vorgehalten hätte, da hätte sie es erst geleugnet. Und dann, als sie ihr den Brief vorgewiesen, geschrien, daß sie bedaure, je einen Fuß in ihr Haus gesetzt zu haben. Worauf ein Wort das andere gab und Tante Trautchen unter Protest die ungastliche Stätte verließ und sich nun zu einer Freundin nach Berlin begeben hat, von der sie behauptet, eingeladen zu sein. Für sie existiere diese Person nicht mehr. Sie wäre mit ihr ein für allemal fertig.

Annchen und Hannchen sagten, sie hofften das aber nun endlich wirklich, das wäre noch jedesmal so gewesen.

Nein, das wäre – sie schwöre es hoch und heilig – der letzte, der allerletzte Versuch mit dieser Kanaille gewesen. Was Fritz Eisner dazu sage?

Fritz Eisner sagte gar nichts, sondern sang nur statt jeder Antwort Tante Trautchens Lieblingslieb: »Täubchen, das entflattert ist«.

Ja und dann (mit Tante Trautchen wäre das unmöglich gewesen, sie hätte ja alle Leute vertrieben), dann hätte sie noch die Frau Direktor Liebenthal zu heute aufgefordert, aber sie hätte gesagt, sie ginge Sonntag nicht gern aus. Da wäre ihr zu viel gewöhnliches Volk auf den Füßen. Und weiter käme es ihr doch ein wenig herzlos vor, wenn sie ohne ihren Mann, der zwar leider immer noch im Sanatorium sei, dem es aber gottlob doch in der letzten Zeit schon bedeutend besser ginge, und sei es auch mit noch so lieben Bekannten zusammen, Ausflüge machte. Andere mögen das können, sie könnte das nicht.

»Na ja,« meinte Egi Meyer trocken, »es geht dem Direktor Max Liebenthal nach den Bulletins der Presse ja sogar über Erwarten gut. Aber trotzdem wird er auf Wunsch der dirigierenden Ärzte wohl noch sein Halbjährchen in diesem Sanatorium bleiben müssen.«

Frau Luise Lindenberg aber, die diese Spitze – sie war zu sehr mit Tante Trautchen innerlich beschäftigt – im Augenblick nur halb gehört und gar nicht verstanden hatte, sagte nur: »Na ja, ein Gesunder hat es leicht, über einen Kranken zu spotten.« Eine Bemerkung, die nebenbei irgendeiner der Narren bei Shakespeare schon vor ihr prägnanter gemacht hatte.

Indessen hatte die Dampferglocke schon ein paarmal angeschlagen. Seltsam, der Ton solch einer Dampferglocke. Er ist mit keinem anderen zu verwechseln. Man glaubt immer, er käme aus dem Wasser selbst herauf, trotzdem er doch ganz hell ist. Es kann einmal eine Gabel oder ein Löffel vom Tisch fallen und einen ähnlichen Klang geben, und sofort sieht man einen weißen Dampfer, neben dem das Wasser grün und blasig aufbrodelt; sieht, wie er sich langsam vom Steg abdreht vor den Ufern von Lugano, mit weißen Häusern, die an den Bergen emporklettern; oder bei Bingen vor den gestuften, weinbewachsenen Lehnen; oder irgendwo hinten bei Glienicke und Nedlitz, allwo die weite Fläche der Havel in tausend wechselnden Abendfarben erzittert und hinter den schwarzgrünen und starren Kiefernwäldern der Himmel in roten und gelben Flammen sich verzehrt.

Der Dampfer war sehr voll, denn es war Sonntag. Und was für ein Wetter. Einfach strahlend. Und warm, warm. Die Leute sahen schon um zehn Uhr früh wie die Tomaten aus. Ein Männergesangverein war auch auf dem Schiff, jedes Mitglied mit einer goldenen Lyra am langen schwarzen Gehrock. Gesang muß danach eine sehr frostige Kunst sein. Der Hauptkräher aber trug eine Fahne, das heißt, es war eigentlich eine Kreuzung zwischen einer Fahne und einem Legionsadler, oder richtiger, es war auch kein Legionsadler oben drüber, sondern eine Lyra aus Goldblech mit einem grünlackierten Eichenkranz ringsherum. Aber der Gesangverein hatte nur noch am Ende des Schiffes Platz gefunden, und da der Schall die erfreuliche Eigenheit hat, mit dem Wind zu gehen und das Schiff – es sei dafür gepriesen – die Eigenheit hat, meist mit dem Heck, mit der Spitze, mit dem Schnabel voran das Wasserfeld zu furchen, so war der Gesangverein, wenn man Glück hatte und vorne saß, ziemlich unschädlich. Man hörte bloß immer: »Morgens«, »Hähne«, »Wachtelschlag«, »erschallt«, »Gott« – »Wald«. Die hinten saßen, waren übler dran; aber die letzten beißen ja stets die Hunde.

Und langsam löste sich das weiße Schiff. Es war gar nicht so klein. Nur echte Seebären belächelten seine Größe und sagten: »Da sollst du mal den ›Johann August‹ sehen, mit dem ich nach Helgoland gefahren bin.« Und es stapfte hinaus in die wundervolle blanke Fläche hinein, die, sich verbreiternd, wie ein mächtiges, blendendes Becken vor ihm lag.

Auf dem Wasser ging zwar Luft, aber von oben brannte auch dafür doppelt und dreifach die Julisonne. Wenn man gegen die Sonne sah, war das Wasser ganz silbrig und sprühend in hunderttausend glitzernden Fünkchen; und wenn man die Sonne im Rücken hatte, dann war das Wasser ganz blau, metallisch blau. Das heißt nur dort, wo der leise Luftzug es nicht kräuselte. Und da der neckisch mal nach hier und mal nach dort sprang, so gemahnte das weite Wasser mit seinen tiefmetallisch, blauen, ewig an anderen Stellen kommenden und gehenden Flächen an den Flügelglanz eines fliegenden Schillerfalters, der auch aufleuchtet, schwindet und wieder aufleuchtet in ewig zauberhaftem Wechselspiel.

Sehr belebt war das Wasser nicht. Irgendwo ganz hinten zog mit wehendem Rauchfähnlein auch so ein weißer Wasserpflüger, der eine Musikkapelle an Bord zu haben schien; denn man hörte eine Walzermusik ganz dünn und silberzart mit dem leisen Wind heranklingen. Ein paar Segelschiffe gab es, die faul in der Flaute lagen, und ein paar mahagonibraune Sportboote, die taktierten und von oben und von fern aussahen mit den langen Auslegern wie diese Insekten, die in den Teichen sich mit langen Beinen auf dem Wasser dahinschnellen. Die jungen Leute in den Booten waren nur bloße braune Arme und bloße braune Knie und Schenkel. Man vergaß vollkommen, daß sie Kopf oder Leib hatten. Sie waren ganz Arme und sich beugende und streckende Knie.

Fritz Eisner war begeistert und winkte zusammen mit Annchen herüber. Er liebte jeden Sport, wenn er auch selten Zeit und Geld genug hatte, sich ihm so hinzugeben, wie er es gewünscht hätte. Es kribbelte ihn ordentlich, wenn er ein Racket oder ein Ruder sah. Endlich gibt es doch nichts anderes in der Welt, in dem wir unser Ich so wonnevoll empfinden und vergessen zugleich, nichts, in dem wir so unbewußt und zugleich so bewußt dahinleben.

Egi Meyer aber, von der hohen Warte der Gelehrsamkeit aus, auf seinem Thron von Druckpapier, war keineswegs für Sportidioten. Die hätten ihr Hirn im Bizeps. Nein, das wäre eine niedere Stufe des Menschentums.

Und stampfend schnaufte so der Dampfer weiter hinaus, und man sah erst, wie groß und mächtig hier die Havel war, nach allen Seiten sich dehnend. Potsdam mit seinen Türmen sank zurück; oben der Brauhausberg schwand, schrumpfte ein; Landhäuser, die man nie gesehen, mit weiten Parks und Booten und Badehäusern davor tauchten auf und zogen vorbei. Die Schilfgürtel waren ganz hellgrün und unendlich lebhaft und flirrend im Sonnenglanz. Und hinter ihnen schlich mit leisen Schwankungen im feinen Auf und Nieder die Kontur der Wälder mit dem Dampfer mit.

An freien Stellen und vor den Landhäusern badete man. Überall badete man. Jungen, die planschten, bewarfen sich mit Silberspritzern und juchzten dem Dampfer nach. Männer, nackt und braun, warteten, daß er herankam, um dann von Gerüsten oder vom Dach ihrer Kabinen pitsch ins Wasser hinabzuschießen und in dem klaren Element eine ganze Weile noch, verschleiert und verschwommen, umherzugründeln, bis sie doch auftauchen mußten, pruschend und spuckend wie die Fischottern. Mädchen und Frauen mit festgezogenen Badekappen, in roten Kostümen, wußten nicht recht, ob sie, vom Dampfer überrascht, schamhaft flüchten sollten oder nicht (unsere Geschichte spielt ja 1899). Etwelche von ihnen sah man gern, auf andere hätte man lieber verzichtet, aber allen wurde doch lachend zugejubelt: denen aus reiner Begeisterung, jenen aus Höflichkeit.

Dieses von so vielen Badenden – immer wieder gab's neue – belebte Wasser hatte etwas Urtümliches – man mußte an die Pfahlbauzeit denken.

Und das Dämpferlein schnitt hin- und herüber über die großen Flächen, denn es legte hier und da an, nahm auf und entließ Gäste. Immer gab es andere Ansichten, andere neue kleine Erlebnisse. Drüben stand sogar mal an schilfiger Insel ein Fischreiher und wartete ganz regungslos und philosophisch mit eingezogenem Hals auf die Rotflossen, die da kommen sollten. Den Angler, der kaum hundert Schritt von ihm mit hochgestrichenen Hosen bis an den Bauch fast im Wasser stand, nahm er als Konkurrenten nicht ernst. Im Gegenteil, der ungeschickte Peter trieb sie ihm ja mit seinem ewigen Angelgeschlenker direkt in den Schnabel hinein. Siehst du, da hatte er schon wieder einen. Und was für einen. Der Fischreiher würgte ordentlich, bis er ihn herunterhatte. Er verstand gar nicht, wieso und aus welchen Gründen seine Frau immer so auf die Angler schimpfte. Auf den Angler da ließ er zum Beispiel durchaus nichts kommen.

Und dann tauchte drüben ein Ort auf – das Ganze war im Halbrund vor ein paar kahle Hügel gelagert –, ein Fischerdorf mit Lokalen und offenen Hallen am Wasser, die schon jetzt am frühen Vormittag bis auf den letzten Platz fast voll waren von essenden und trinkenden Menschen, und mit niedern Häusern dahinter an tiefversandeten Wegen. Die kleinen Häuschen lagen aber nach dem Wasser zu im Grün der Obstbäume, und die winzigsten Gärten waren voll von der Buntheit der Bauernblumen und voll von Himbeerstauden und Johannisbeerbüschen, die sich an die Zäune drängten, und in denen das schmackhafte Rot in tausend Pünktchen glühte. Man konnte es genau sehen, denn der Fluß verengte sich hier, ließ nur eine schmale Durchfahrt. Man glaubte überhaupt, es wäre zu Ende und ginge dahinter gar nicht mehr weiter.

Hier stiegen die meisten aus. Es wurde ordentlich luftig auf dem Dampfer, und selbst die Sitzreihen zeigten große Lücken. Auch der Gesangverein – ohne Damen – stieg aus im Schmuck seiner Gehröcke und stellte sich noch einmal am Ufer unter Kommandogewalt des Hauptkrähers und Standartenträgers im Bogen auf und sang, dem Schiffe zugewandt, auf eins, zwei, drei: »Weh, daß wir scheiden müssen« in mehrstimmigem Chorus sehr schön und sehr traurig. Diese Gefühle waren jedoch einseitig und wurden auf dem Dampfer nicht geteilt. Da war man froh, daß man den Gesangverein los war.

Und dann brodelte es wieder an den Flanken des Schiffes, und der Dampfer überwand unter vorsichtigem »Vorwärts« und »Rückwärts«, die der nußbraune Kapitän in einen Trichter hinabschrie, damit sie da unten im dunkeln Bauche des Schiffes sich in Taten umsetzten, die schmale Furt, und nun hatte er erst die richtige Wasserweite, herrlich breit und blau, vor sich. Waren doch vorher noch überall Menschen und Menschensiedlungen gewesen, so begann hier mit Hügelzügen und steigenden Seeufern, mit endlosen Wäldern (Laub- und Nadelwäldern), auch wohl seitlich einmal mit einem Blick in angebautes Land hinein, die weite grüne Einsamkeit der Welt, die zwar noch dem Menschen Untertan ist, aber für sich lebt und von dem Menschen nichts wissen will.

Annchen und Hannchen ließen sich warm von der Sonne bescheinen, lachten glückselig mit den Augen und sprachen nicht viel. Denn Worte sind doch ein sehr dummer Notbehelf, um das zu geben, was man fühlt; und sie sind kaum mehr ausreichend, um das anderen anschaulich zu machen, was man erblickt.

Selbst Egi Meyer, der die ganze Zeit über sich Gewissensbisse gemacht hatte, ob er den Abschnitt drei nicht doch noch einmal hätte überarbeiten sollen, schubste – nunmehr war ja doch nichts mehr zu ändern – in seinem Hirn diesen sich immer wieder vordrängenden Gedanken zurück und blinzelte stillvergnügt durch seine Kneifergläser in Licht, Fluß, Ufer und Wälder hinaus. Die Natur war zwar wohl eine nicht sehr geistreiche und auch etwas eintönige Angelegenheit, aber entbehrte doch als Ferment unserer Stimmung, oder besser: als Element der Betonung unseres Lustempfindens, keineswegs der Vorzüge. Nur Frau Luise Lindenberg saß immer noch vergnittert und verärgert: – über die Sache mit Tante Trautchen, da kam sie nicht drüber weg. In ganz Melsungen war sie jetzt jedenfalls unten durch.

Und langsam rückte hinten ein kahler Hügelrücken empor, von wenigen, mächtigen, allseits weit ausladenden Kiefern und Eichen bestanden. Wälder schlossen sich rechts und links im Halbrund an – die märkischen Seen haben so schöne, geschwungene Uferlinien – und verzitterten im Blau von Luft und Ferne. Auch ein kleiner Einschnitt wie ein Flußtal führte ins Land hinein mit grünen Wiesen. Man sah noch wenig Häuser. Ein paar Fischerhäuser und Bauernkaten mit veritablen Strohdächern guckten über eine Senkung, und zu ihnen gehörten wohl die Netze, die am Ufer aufgespannt waren. Ein paar modischere Villen waren verstreut hier und da, weit voneinander, jede für sich in großen, wenig gepflegten Nutzgärten; und irgendwo wies das ganz bescheidene Türmchen einer alten Dorfkirche mit kurzem, dickem Finger – es war mehr ein Daumen als ein Zeigefinger – zum blauen Himmel. Dort, wohin der Dampfer aber den Kurs hielt, war der altmodische Bau eines Gasthauses auf erhöhtem Ufer und vor ihm eine breite, ganz und gar laubberankte Terrasse, auf deren Brüstung viele, viele rote Geranien – sie konnten sich keinen besseren Platz gewählt haben – mit ihren roten Blütenbällen in der Sonne brannten.

Hier war es zu Ende, weiter ging's nicht mehr. Und hier wollte man bis zum Abend bleiben. Der Dampfer wurde leer, stellte die Maschinen ab und blieb weiß und ganz still liegen. Für den Vormittag hatte er genug getan, nun sollte er sich ein bißchen verschnaufen, bis er wieder durchs Wasser stampfen mußte. Er hatte sich seine Ruhe verdient, wie der Maschinist, der schwarz herauskletterte, die Augen vor der Sonne einkniff und über Bord spuckte.

Egi Meyer war jetzt ausgelassen, markierte Landpartie, zog sich sofort die Jacke aus, hängte sie über den Spazierstock, piekte den Strohhut oben drauf und schrie: »Jott, hab' ich 'nen Durst! Wo ist denn hier die Wirtschaft?«

Aber Frau Luise Lindenberg liebte solche Scherze nicht, und auch Hannchen hielt sie nicht mit der Würde und der zukünftigen Karriere ihres Bräutigams für vereinbar.

»Wollen wir nicht erst noch etwas gehen?« meinte Annchen, »es ist doch noch so früh.«

»Nein,« meinte Frau Luise Lindenberg, »jedenfalls muß man erst Plätze belegen und sich jetzt schon etwas zu Mittag bestellen.«

In der Halle, die nach dem Wasser ging, war es schon ziemlich voll, nur noch ein paar Tische, und die gefielen Frau Luise Lindenberg nicht recht.

»Schön, dann wollen wir in dem Gartenhaus nachsehen.« Denn es war noch etwas abseits ein Gartenhaus aus Borke und Birkenkloben – gotisch! mit Pfeilern, Krevetten und offenen Fenstern; und damit wechselten richtige Fenster ab aus buntem Glas, rotem, gelbem und blauem Glas: gelb wie Sonnenblumen, rot wie gefärbte Marmelade und blau wie Emailleeimer.

Und die Leute, die davor saßen, waren entzückt davon. Immer sah die Landschaft anders aus, je nachdem, durch welches Scheibchen sie sahen. Sehr schön war das, besonders für die Kinder, die nicht müde wurden, die Nasen dagegenzudrücken und zu staunen. Aber auch die Großen hatten ihren Spaß daran.

Und nur um seinem Vortrag über Kunsterziehung – denn das war gerade das letzte Schlagwort, über das Fritz Eisner, wie jeder, der auf sich hielt, sich spaltenlang in den Zeitungen vernehmen ließ (man vergaß gerade mal wieder, daß die volkstümliche Rolle der Kunstgüter eben eine gemachte ist, und daß zum Schluß doch nur eine sehr kleine Oberschicht wirklich an ihnen Gefallen findet und Anteil hat) – nur um dem zu entgehen, willigte man ein, zurückzukehren. Denn man wollte eher in der Halle mit einem schlechten Platz vorliebnehmen, als auf einem guten eine halbstündige Belehrung über Kunst und Volk – immerhin zwei ziemlich heterogene Dinge – über sich ergehen lassen.

Unter uns, gestört hätten die bunten Fenster niemand; auch Fritz Eisner nicht sehr. Aber irgendwie mußte er doch zeigen, daß er die Nerven eines Kulturmenschen hätte.

Und richtig, da war ja auch inzwischen ein wundervoller großer Tisch frei geworden, vorn an der Balustrade, gerade hinter den brennenden Geranien ... mit einem Blick an ihnen vorbei auf das blaue Wasser hinaus. Er wurde sofort belegt mit allem, was man mit sich führte. So, der müsse aber bis Mittag gehalten werden.

»Nein, Annchen, nimm nur den Platz,« sagte Fritz Eisner. »Ich nehme den. Wenn ich auch nicht auf das Wasser sehe, so habe ich dafür doch die schönste Aussicht von allen.« Annchen lächelte erfreut. Sie war schon für das kleinste und ungeschickteste Kompliment von Fritz Eisner, der in so etwas sehr plump war, dankbar. »Und seht mal, da drüben sitzt Doktor Fischer. Entschuldigt, da gehe ich mal hinüber. Er ist immer so freundlich zu uns mit den Rosen.«

Frau Luise Lindenberg kiekelte durch das Stielglas. »Ist er das?« sagte sie, »der sieht doch heute so anders aus?«

Ja, da drüben saß ganz allein der Doktor Fischer; und vor ihm auf dem Tisch lag ein Berg von allerhand Blumen, Gräsern und Binsen, richtiges botanisches Grünfutter! Und Doktor Fischer guckte mit seinen großen Leonberger Augen durch eine Lupe auf eine braune Rispe, in der er mit einem Nädelchen herumstocherte. Er sah nicht gut aus, der Mann. Blutlos, aufgedunsen und abgespannt. Und gut angezogen war er auch nicht, hatte so irgendeinen alten verknautschten, bis zum Hals geschlossenen Sportanzug mit sehr viel aufgesetzten Taschen an und einen großkrempigen Strohhut – wie einen Quäkerhut aus Stroh – auf, ... und dazu dann die strähnigen, langen Haare!

Aber da er eine schwarze Tasche neben sich hatte und man sah, daß er ein Botaniker war, hielt man ihn für irgendeinen berühmten, schrulligen Professor und gab ihm das Recht, komisch auszusehen. Ja, man hätte es ihm übelgenommen, wenn er anders ausgesehen hätte.

»Diese Juncusarten hat der Teufel gefressen,« rief Doktor Fischer statt jeder Begrüßung. »Kommen Sie mal her: Halten Sie das nun für neglecta oder für Wildenowii?!«

Fritz Eisner wußte es auch nicht und musterte den Berg Grünzeug, der auf dem Tisch lag. Manches kannte er, das meiste war ihm fremd. Aber daß er manches kannte, das machte schon Doktor Fischer mitteilsam – denn nichts schließt die Menschen so auf, als wenn sie sehen, ihre Puschel, ihre geliebte Narrheit, ihre wissenschaftliche Vorliebe für irgend etwas Abseitiges ist dem anderen nicht gleichgültig, und er kann wenigstens mitreden.

»Ach,« sagte er lachend, »das Selterwasser schmeckt multrig und nach Gummi. Wie Pfützenwasser, durch das ein Automobil gefahren ist.« Und damit goß er es im Bogen in einen der Kästen mit Geranien. »Hoffentlich gehen sie nicht davon ein.«

Ein paar Jungen, die hinten auf einer Bank sich gerekelt hatten – sich umhalsend, schubsend, knuffend, wie zwei Affen, die sich lausen – kamen scheu und linkisch heran, um die Pflanzen anzusehen. Denn sie hatten in der Schule Botanik, und außerdem imponierte ihnen dieser lustige, langhaarige Herr mit seinem abgeschabten Sportanzug gewaltig: Ferry, der Waldläufer. Wie aus »Lederstrumpf«!

Ob sie etwas davon kriegen könnten, sie möchten es in die Schule mitnehmen; – denn da sie bei dem gleichen Lehrer Latein wie Naturkunde hatten (in Vertretung), versuchten sie auf alle Weise, sich bei ihm Liebkind zu machen.

»Ach was, Jungens,« sagte Doktor Fischer lachend, »was tut ihr damit? Hier habt ihr 'nen Groschen jeder, geht 'rüber zum Automaten und zieht euch 'ne Tafel Schokolade heraus! Aber laßt die Finger von der Botanik.«

Die Jungen wußten erst nicht recht, ob sie es nehmen sollten; sie waren doch Realgymnasiasten. Aber endlich ist ein Stück Schokolade auch nicht zu verachten.

»Man muß die Jungen nämlich warnen.« Doktor Fischer wandte sich zu Fritz Eisner. »Sie sehen ja an mir, was dabei herauskommt.«

Die Jungen aber arbeiteten drüben an dem Eisenkästen des Automaten, traten mit Füßen gegen ihn, hieben mit ihren Jungenfäusten gegen ihn ... er hatte zwar ihre Groschen verschluckt, fühlte sich aber durchaus nicht zu einer Gegenleistung erbötig. Ein Kellner kam hinzu, der behauptete, sie hätten nichts hineingeworfen, und die Jungen fortjagen wollte.

Da ging Doktor Fischer heran: er hätte es gesehen, und der Kellner möchte den Automaten aufschließen.

Das könne er nicht; das könne nur die Gesellschaft. Aber er könne ja, wenn er sich geschädigt fühle, an die Gesellschaft schreiben.

»Kneseckes Schokolade, neunundsechzig Ehrenpreise, siebenundzwanzig Hofdiplome, überall erhältlich,« stand daran. Da aber die Schokolade nicht erhältlich war, mußten es doch wohl die Hofdiplome und Ehrenpreise sein.

»Na, Jungens,« sagte Doktor Fischer lachend, »ihr sollt keinen Schaden haben. Hier, kauft euch in Berlin welche.« Und damit wandte sich Doktor Fischer, um zum Tische zurückzugehen, und grüßte zu Frau Luise Lindenberg hinüber.

»Solch Automat in so einem Sommerlokal, lieber Freund« – der Ton war wieder sehr müde – »solch Automat in einem Sommerlokal ist, das beobachte ich nun lange, genau wie das Leben. Man kann so viel Geld hineinstecken, wie man will, es kommt nie etwas dabei heraus.«

»Das weiß ich nicht,« sagte Fritz Eisner.

»Aber ich,« meinte Doktor Fischer, indem er seine Pflanzen in graues Papier schlug und in seine Tasche schob. »Nun will ich nochmal sehen, ob da oben immer noch Linnaea borealis wächst. Vor drei Jahren war sie noch dort.«

Fritz Eisner horchte auf. Er hatte dieses kleine, feenhaft zierliche, großblumige Pflänzchen noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Denn im Grunewald war er längst ausgerottet, dieser uralte Gast aus der Eiszeit her, der noch oben im Norden bis Spitzbergen hinauf die Steine mit seinen Polstern überzieht, und der hier vielleicht einst gleich häufig gewesen war, als noch kleinhirnige Menschen mit Feuersteinmeißeln die Renntierknochen spalteten. Nun aber war Linnaea borealis bis auf wenige dürftige Fleckchen in kalten, kahlen Kiefernheiden von der märkischen Erde verschwunden.

»O,« sagte er, »wenn es nicht sehr weit ist, begleite ich Sie, Herr Doktor, denn ich muß bald zurück zum Mittag.«

»Ein paar Minuten,« meinte Doktor Fischer.

»Dürfen die anderen mitkommen?«

»Gern.«

Aber Annchen und Hannchen sollten bei ihrer Mutter bleiben – es wäre auch sehr heiß; (und außerdem, wem gegenüber sollte sie sonst ihr Herz wegen Tante Trautchen ausschütten?) Egi könne jedoch mitgehen.

Egi Meyer kam heran und stellte sich vor, indem er kommentmäßig dabei mit kurzer Handbewegung den Kneifer von der Nase riß und dann ihn mit gleicher – das heißt mit umgekehrter – Bewegung wieder heraufschnellte.

Es war ein halb sandiger, halb harter Fahrweg, den sie gingen. Ein Habicht hing über ihnen im Blau, und wenn er sinken wollte, dann nagelte er sich mit ein paar kurzen Flügelschlägen am Himmel wieder fest und blieb von neuem gleich reglos wieder hangen.

Von links strahlte die Havel, das breite Seenbecken herauf. Man sah durch Gärten und große Himbeerpflanzungen auf seine blaue Fläche hinab, die doch etwas Nordisches hatte und trotz ihrer märchenhaften Farbe nicht an südliche Seen erinnerte, sondern immer noch etwas von einem alten Gletscherbecken an sich trug: Linnaea borealis! Eiszeit! Nein, sie war nicht ganz verschwunden hier, die uralte Eiszeit. Sie hatte Muße. Sie wartete ganz still im Hintergrund – wie ein abgesetzter Herrscher, der ganz ruhig den Dingen zusieht, weil er genau weiß, daß der Thron ihm doch wieder einmal zufallen muß.

Der Weg war sandig und kahl. Nur in den Wagenspuren wuchs ein Streifen von Kamillen, die stark im Sonnenbrand dufteten. Denn die Kamille ist – das Sprichwort hat recht – wie das russische Volk: Je mehr sie gedrückt und getreten wird, desto besser gedeiht sie. Nur hat das Sprichwort den Begriff ein wenig zu eng gefaßt.

Und dann bog Doktor Fischer ab, auf die Hügel zu, die dürr mit ihren wenigen bizarren, alten Kiefern und Eichen im Licht lagen. Mühselig und schnaufend stapfte er herauf. So. Da oben sollte die Linnaea wachsen. Aber es war nicht eine Spur, nicht ein Blättchen mehr von ihr vorhanden, soviel sie auch suchten. Alles ausgerottet mit Wurzel, Stumpf und Stiel, bis auf das letzte Pflänzchen. Vor kurzem aber mußten noch Menschen hier gewesen sein. Man sah deutlich die Spuren ihrer Sammelwut.

Fritz Eisner warf sich enttäuscht ins Gras. In das starre, harte, bläuliche Gras. Am Thymian neben ihm saugten die Kaisermäntel und die Bläulinge, flatterten kurz auf, ließen ihre Buntheit in der Sonne spielen und sanken wieder in ihre herb duftenden Honigweiden hinab. Skabiosen mit blauen Köpfen, Wolfsmilch, gelb und giftig, samtene Katzenpfötchen und die weißrosigen Schmetterlingsblüten des Hauhechels wechselten mit den grellen Flecken des heißen, kahlen Sandes.

Weiter drüben lag ein anderer Hügel, unten kahl, oben dicht von Laubwald bestanden, ein wolliger Kegel, wie eine Herde junger Schafe, die sich zusammendrängt. Rechts herüber aber hatte man durch eine Waldlichtung einen Blick tief in das angebaute Land hinein. Einzelne Bäume standen auf den Karos der Felder wie Steine auf den Karos eines Schachbrettes. Kleine Weiden in Reihen wie die Bauern; Springer hier und da; schlanke Pappeln wie die Läufer; und dann noch zwei runde große Linden (es waren Linden der Form nach), die sich gegenüberstanden – eine die Sonnen- und eine die Schattenseite Fritz Eisner zukehrend – gerade wie die beiden Könige auf dem Schachbrett. Auf dem Feldweg hinten gingen aber schwarze Weiblein mit großen Kopftüchern, die wohl aus der Kirche kamen. Immer eine und zwei hintereinander, wie die Saatkrähen, die durch eine Ackerfurche stolzieren.

»Also, das wäre nichts!« meinte Doktor Fischer. »Und das war die letzte Stelle, die ich noch hatte. Die allerletzte. Ich glaubte, sie kennt keiner. Die anderen Menschen sind doch immer genau so klug wie wir ... aber sie sind fixer.«

Und damit hatte sich Doktor Fischer, etwas mühselig, auf den Boden gesetzt – ein junger Mensch hat noch keine steifen Knochen, aber ein alter – und streckte sich seitlich im Gras und zwischen den Blumen aus, während er in den vielen Taschen nach seinen Zigarren suchte.

Eginhard Meyer stand ziemlich dumm dabei. Was ging ihn zum Teufel auch Linnaea borealis an! Weder im römischen Recht, noch im altfränkischen oder im Sachsenspiegel ist davon die Rede. Wenn noch wenigstens die Rede gewesen wäre von den Bienen, die mit dem Geräusch eines kochenden Wasserkessels in den Blüten summten, dann hätte er sagen können, daß es im altgermanischen Recht: »die Biene ist ein wilder Wurm« heißt. Und dazu dann noch lauter solche lateinische Namen; wie bei Professor Bork auf dem Pennal! Und so einfach ohne alle Vorbereitung sich auf den Boden werfen! Da mußte man sich nachher doch wieder nur abklopfen. Aber wenn es die anderen taten – ausschließen wollte er sich nicht.

Und so zog er umständlich die langen Beine ein und ließ sich in das Gras fallen.

»Ach,« sagte Doktor Fischer und stellte das vergebliche Suchen nach seinen Zigarren ein, »ich möchte doch lieber jetzt keine Zigarre rauchen. Ich möchte gerade eine Zigarre geraucht haben. Denn das ist angenehmer. Was sind Sie, junger Herr?« Das galt Egi Meyer.

»Jurist, Herr Doktor.«

»Ach so,« sagte Doktor Fischer. Und in diesem »Ach so« lag schon, daß er vor Juristen keineswegs die gleiche Kochachtung hatte, wie sie zum Beispiel Tante Trautchen gehabt hatte. »Sie sehen so aus, als ob für Sie das niedrigste Lebewesen, das Sie sich vorstellen können, ein Sextaner ist.«

Egi Meyer lachte. »Nun ja,« sagte er, »ich habe jetzt etwas viel geschuftet in der letzten Zeit.«

»Arbeit hat wenig Sinn, junger Freund. Leistung hat ihn. Und vielleicht hat auch Leistung keinen Sinn. Denn zum Schluß hat sie ihn doch nicht für uns, sondern höchstens für andere.«

»Ja, aber Arbeit –« Eginhard Meyer war ein Rabulist. Er widersprach stets. Aus Beruf. Auch gegen seine Überzeugung. »Arbeit, Herr Doktor, ist dazu wichtig, um den Geist zu gewöhnen, mit geistigen Dingen sich zu beschäftigen.«

»Nein,« rief Doktor Fischer – »es kommt in der geistigen Welt gar nicht auf das Sich-damit-beschäftigen, nicht mal aufs Erfassen, sondern aufs Besitzen an. Man kann Kant halb auswendig können und doch ein Esel sein.«

»Das ist nicht meine Meinung, denn man würde sich ja mit Kant –«

»Nur bei anderen, junger Freund,« meinte Doktor Fischer, sich halb aufsetzend, »nennen wir die Meinungen Verranntheiten. Ich glaube, Sie nehmen die Wissenschaft noch zu wichtig.«

»O nein,« sagte Egi Meyer. »Ich weiß schon, Herr Doktor, daß sie doch nur ein Teil des Lebens ist, und daß das Leben –«

»O ja.« Doktor Fischer blickte über die weite Wasserfläche. »O ja, das Leben ist schon eine wundervolle Sache, wenn man die Schönheit liebt, und eine schreckliche Sache, wenn man den Kampf haßt. Unter allen ersinnbaren Gefahren ist das Leben die gefährlichste. Und vielleicht ist es doch das beste, wenn man den Schluß des Buches zuerst liest. Finis. Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht. Finden Sie nicht auch, daß es eine große Sprachdummheit ist, zu sagen: dann bin ich tot? Das Totsein fällt doch gerade mit dem Aufgehörthaben unseres Ichs zusammen. Erinnern Sie sich noch, wie Sie nicht geboren waren? Genau so ist's nachher wieder. Trotzdem – es ist hier manchmal doch ganz schön. Aber solche Tage wie heute gehen seit Urbeginn über die Erde weg. Und man ist ohne hunderttausende von ihnen ausgekommen. Man wird es weiter tun müssen ... Na« – er tippte mit seiner Hand Fritz Eisner auf die Schulter, der in die Luft starrte und eine Schwebefliege beobachtete, die stillstand, mit surrenden Flügelchen, wegschoß, so schnell, als wäre sie ausgelöscht; man sah sie nicht mehr, man sah sie nur wieder, wenn sie in der Luft anhielt und stehenblieb – »na – und was machen Sie? Kommen Sie weiter?«

»Nicht recht,« sagte Fritz Eisner. Und möglich, daß in ihm die Worte des anderen nachklangen, er begann ganz wider seine Art – denn er spielte stets mit verdeckten Karten – sein Herz auszuschütten: wie es ihm gerade nicht gut ginge, ja, schlecht ginge, und wie schwer es doch wäre, sich durchzusetzen und etwas zu werden. Er hätte keine materielle Hilfe, gar keine. Und er müßte etwas werden. Nicht nur seinethalben, aber er habe doch vor, lieber heute als morgen einen Hausstand zu gründen. Und gerade in seinem Beruf wäre alles so schwierig und ungewiß und wechselnd. Mit allem: mit Erfolg, mit Verdienst; – es ist schwer, etwas zu werden und aus dem Sumpf herauszukommen! Nein, es ginge ihm eigentlich schlecht.

»Ja, ja,« meinte Doktor Fischer und warf sich auf die Seite, wieder nach dem Wasser hin – »gewiß, es ist vielleicht angenehmer, von vornherein etwas zu haben und von vornherein etwas zu sein. Denn der Mensch, der emporkommt, lebt wie eine Kaulquappe – in einem ewigen Übergangsstadium. Und gerade, wenn die letzten Beine sich entwickelt haben – und gerade, wenn die Kiemen abgefallen sind, und die Lungen atemfähig geworden sind, und er heraus will aus dem Sumpf, in dem er geboren und bisher sein Dasein verbrachte – dann ist es sehr oft mit ihm zu Ende. Trotzdem – auch wenn's nichts werden sollte: ich tausche mit Ihnen! Sie haben doch einen schönen Beruf, weil er eigentlich kein echter Beruf ist. Denn ein echter Beruf ist langweilig; und Leute, die ihn haben, werden es auch.«

»Oho,« rief Egi Meyer – er gehörte zur Gilde der Zwischenrufer.

»Aber Sie brauchen sich nicht vom Leben tangieren, unterkriegen, zermalmen zu lassen, weil Sie als Schriftsteller ... wie soll ich das sagen ... einfach auf kaltem Wege alle Wesensmöglichkeiten und Glückserfüllungen Ihres Ichs ausnützen können, die in Ihnen liegen. Darum beneide ich Sie. Und warum sollen Sie keinen Erfolg haben? Gewiß, es haben ihn schon Dümmere gehabt und Klügere nicht gehabt ... Erfolg ist verdienter Zufall. Und warum soll es Ihnen nicht nochmal sehr gut gehen im Leben? Es ist sogar nicht ganz unwahrscheinlich. Aber das eine will ich Ihnen sagen: es wird Ihnen nie wieder in Ihrem Leben so gut gehen, nie wieder – wie jetzt, da es Ihnen noch schlecht geht. Ich kenne das ...«

Fritz Eisner, der ganz still die Schwebefliege beobachtet hatte, die immer noch in der niederbrennenden Sonne gaukelte, wandte sich plötzlich um, weil ihm der Klang der Stimme Doktor Fischers so sonderbar vorkam. Und da sah er, daß seine großen, dunklen Leonberger Augen ganz voll Wasser standen. Die Sonne blendete ihn wohl ...

Egi Meyer hatte nur gewartet, bis der Doktor Fischer schwieg. Er wolle nochmal auf etwas zurückkommen. Nein – er messe Büchern und Kunst und denen, die sie schufen, nicht die Wichtigkeit zu. Sie nehmen doch nur irgendeine Stelle außerhalb des großen Lebens ein. Bücher, die sich in Taten umsetzen, wie die Iherings – ja! Oder Taten wie die Versuche Lilienthals, oder wie die der beiden Brüder da drüben in Amerika ... oder der Kongreß, den sie da jetzt im Haag zusammenrufen ... das wären die größten Augenblicke des Jahrhunderts. Aber ein Buch oder ein Bild mehr oder weniger – darauf käm's nicht an.

»Ich glaube immer noch,« rief Doktor Fischer und setzte sich vom Boden hoch – Fritz Eisner und Egi Meyer rappelten sich auch auf: es war Zeit – »ich glaube immer noch, der größte Augenblick unseres Jahrhunderts ist in einer ganz beiläufigen Bemerkung nur irgendwo mal gestreift worden: Goethe ... wissen Sie, Goethe? ... gab dem Doktor Schopenhauer – Sie kennen ihn vielleicht dem Namen nach? – Goethe gab Schopenhauer eine Empfehlung an Lord Byron. Wenn ich das lese, wenn ich nur daran denke, dann zittre ich innerlich. Acht Worte, die durch die Welt der Seelen donnerten wie tausend Gewitter!«

»Nein,« meinte Egi Meyer, »nein, Herr Doktor, es geht eine Scheidung durch die Welt, die Scheidung zwischen Wort und Tat. Ich glaube, daß der Tat die Zukunft gehört und nicht mehr dem Wort.«

»Sie haben keine Grenzen untereinander, junger Freund.« Doktor Fischer hatte sich ganz aufgerappelt und nahm seine Tasche. »Meines Wissens geht nur eine wirkliche Scheidung, nur eine tiefe Grenze durch die Welt, eine Kluft, die niemand überspringen kann, und die nie zu überbrücken ist. Sie sind ja auch verlobt, Sie wissen es noch nicht, Sie glauben's auch wohl nicht, aber Sie werden es noch kennenlernen. Und das ist die zwischen Mann und Frau. Ich hatte mal einen Zahnarzt, an den erinnern mich die Frauen immer. Der hatte nämlich die Eigenschaft: Wenn er einem die Zähne ausbohrte und man sich vor Schmerzen wand, dann sang er immer dabei: ›Es lief ein Hund in die Küche ... rrr ... und stahl dem Koch das Fleisch ... rrr ... da nahm der Koch das Messer ... rrr ...‹«

Doktor Fischer blieb plötzlich stehen, schwieg mitten im Satz und starrte aus die Straße, die da unten vor dem Hügel und zwischen dem Hügel und dem blauen Wasser vorbeiging. Ein hübscher, kleiner, gelber Dogcart, ein Jagdwagen, solch federnder Zweisitzer, gezogen von einem recht feurigen Fuchs, der lustig die Beine auswarf, kam da herangewippt und machte reichlich Staub, der rot in der Sonne rauchte, und in dem ein Foxterrier auf und nieder sprang. Mal hinter dem Wäglein, mal bei den Rädern, mal vor dem Pferd. Ganz schnell kam er heran, auf dem blauen Hintergrund des Wassers; ein hübsches, elegantes Bild. Ein Titelblatt.

Thöny hätte es zeichnen können oder Reznicek. Das heißt: Thöny hätte es mehr auf den Offizier gestimmt, der da stocksteif, mit ellenhohem, weißem Kragen, blanken Knöpfen, weißrandiger Mütze über dem langen, schmalen Schädel – ein Gesicht, in dem man zuerst die Mundlinien und die hochgezogenen Nasenlöcher sah – stocksteif dasaß: odi profanum vulgus.

Reznicek jedoch wäre wieder der Dame neben ihm gerechter geworden, mit ihrem sandfarbenen Reitkleid, den angezogenen Ellenbogen, die Zügel und die wippende Peitsche in den sämischen Lederhandschuhen, mit ihrer fülligen und doch schlanken, in ein französisches Korsett eingepreßten hohen Figur, mit dem Turmbau kanarienfarbiger Haare, dem Hütchen mit dem kurzen, grauen Schleier und dem leeren, rotwangigen, schon ein wenig zurechtgemachten Gesicht eines Seifenplakats. Das hätte wieder Reznicek besser im Wesen erfaßt. Es lag ihm mehr.

Doktor Fischer war vorgetreten, als wollte er den Weg heruntergehen. Und plötzlich schlug er der Länge nach vornüber und kegelte ein paar Schritte (nicht viel) den Abhang hinab.

Fritz Eisner und Egi Meyer sprangen erschrocken zu, um ihn aufzurichten. Aber da kam er schon wieder von selbst hoch.

»Verdammt!« sagte er, »danke, danke Ihnen – ich bin wohl über eine Wurzel gestolpert. Eigentlich darf ein guter Stolperer nicht fallen.« Er klopfte sich die Knie. »Aber ich sage schon immer: Wo ein rechter Pechvogel hinfällt, ist stets Dreck ... Dreck – Dreck – Dreck,« knurrte er hinterher.

Hinten ganz klein, in einer Wolke von Staub, fuhr schon der Zweisitzer.

»Na, nu muß ich gehen. Sehen Sie, es war doch nichts mit Linnaea boralis. Adieu, meine jungen Herren. Ich habe heute noch ein schweres Stück Wegs vor mir bis nach Haus.«

Und Doktor Fischer schwankte davon. Er ging wie ein Sack voll Steine.

Fritz Eisner und Egi Meyer sahen ihm nach. Dieser müde Ton, nicht ersinnbar müde, lag ihnen noch in den Ohren.

»Na, wir müssen aber auch zurück,« meinte Egi Meyer. »Ich mache mir eigentlich nichts aus dem Mann. Das ist so einer, der durch jahrelange Konsequenz sich das Recht erworben hat, Dummheiten zu sagen. Die Sorte kenn' ich.«

Fritz Eisner antwortete nicht und ging still in Sand und Sonnenglut neben Egi Meyer her.

»Sage mal, das kam mir doch so vor,« meinte Egi Meyer, »als ob das da unsere Kapitänswitwe war, die Dame auf dem Dogcart. Oder habe ich mich geirrt?«

»Ich weiß nicht,« entgegnete Fritz Eisner. Er hätte gegen den Holzzaun da mit den Fäusten trommeln können, bis sie bluteten. So weh war ihm zumute.

Und langsam und mißgestimmt ging Fritz Eisner durch die Sonnenglut – sie war mitleidslos, ohne ein Fleckchen Schatten – zu dem Gasthaus zurück.

Egi Meyer, der pfeifend neben ihm schritt, schien gar nicht bemerkt zu haben, daß soeben der Vorhang nach dem vierten Akt eines Trauerspiels gefallen war, und daß er Zuschauer gewesen war.

Und selbst wenn er es bemerkt hätte, so hätte ihn das sehr, sehr wenig gerührt. Denn er war zwar keiner von den robusten Egoisten, keiner von den Herrenmenschen Nietzsches, aber er war einer von den unrobusten, nervösen Egoisten. Und die sind noch weit rücksichtsloser. Und weit schlimmer. Und sie halten noch weit zäher an der Eigenheit fest, die da Wilhelm Busch in »Plisch und Plumm« von den beiden Jungen berichtet, nämlich an der: sich fremder Leute Seelenschmerzen nicht zu Herzen zu nehmen.

Und Egi Meyer war noch zudem ein ganz besonderer Verehrer von Wilhelm Busch.

Aber wie peinlich: da hatten ja an ihrem schönen Tisch noch andere Platz gefunden. Und Frau Luise Lindenberg und Annchen und Hannchen waren schon im besten Gespräch mit ihnen. Sie mußten sich auch mit jedem gleich anfreunden!

Irgend solch Sonntagspärchen war das, das sah Fritz Eisner auf den ersten Blick.

Er ging ja wohl noch. Soweit Fritz Eisner von rückwärts her beurteilen konnte. Hatte eine schöne, breite Kehrseite, und in dem roten und eingebrannten Hals lief eine geschwungene Speckfalte wie bei einem hockenden Fettbauchbuddha. Über den schon etwas dünnbehaarten, sehr geschorenen Hinterkopf – der Strohhut hing an der Stuhllehne – zogen sich nebeneinander drei gerade, langgezogene Schmisse herab, ein breiter und zwei schmale. Wie ein Fahrdamm und rechts und links je ein Bürgersteig. Schöne Primen, wie mit dem Lineal gezogen, die ihm in jüngeren Studententagen irgend so ein langer Laban über den Schädel gejagt hatte. Wenn man eben zu klein ist, dachte Fritz Eisner, nützen einem die besten Durchzieher und Tiefquarten nichts.

Jetzt drehte er sich einen Augenblick. Richtig, so und nicht anders durfte er aussehen: ein lachendes, rotes, kreisrundes Gesicht – gerade als ob die rote Billardkugel sich über einen ungeschickten Spieler lustig macht. Gott ja – er ging wohl eigentlich noch an ...

Aber sie! Sie saß Fritz Eisner zugekehrt. Das war doch eine Dame von recht unfeinem Kaliber, von der man das unabweisliche Gefühl hatte, daß ihr Tag sich sonst aus vielen schwachen Stunden zusammensetzen müsse. Sie war – das sah man auf den ersten Blick – eine sehr triebhafte Dame, von kleinen Impulsen bewegt, ohne intellektuelle Hemmungen. Sie war sehr groß – (seltsam, daß so kleine Männer immer mit so langen Frauenzimmern herumziehen) – nicht jung, keineswegs mehr jung, mit einem Gesicht, das ganz in einer Fläche lag, als ob sie damit gegen eine Mauer gelaufen wäre; gemalt, breitnasig, vollippig; mit sehr gefärbten Haaren unter einem Wagenrad von Hut. Und sie trug ein sehr durchbrochenes Tüllkleid. Es hatte Fenster wie eine gotische Kirche. Es gehörte von der vergnügten Billardkugel schon ein tüchtiges Stück Mut dazu, mit solch einer Dame sich öffentlich zu zeigen. Denn, wie gesagt, die vergnügte Billardkugel schien gar nicht aus schlechtem Hause.

Außerdem – um der Wahrheit die Ehre zu geben – zeigte er sich ja gar nicht öffentlich mit ihr, sondern er war ja ihretwegen – seit zwei Jahren kam er nicht von ihr los! – schon über die Sonntage hier in diese letzte, für Berlin fast noch unbekannte Einöde geflüchtet. Und er hatte keinen kleinen Schrecken bekommen, als ihn Lindenbergs selbst hier noch aufgespürt hatten. Denn er hatte eine Heidenangst vor seiner alten Dame, der es wirklich sehr wehgetan hätte, wenn ihr diese recht fragwürdige Liaison zu Ohren gekommen wäre.

»Ach, Fritz, wo bleibst du denn?« rief Annchen. »Denke mal, wie nett: wir haben hier einen alten Bekannten getroffen.«

Der »alte Bekannte« sprang auf beide Beine mit der Elastizität der Dicken.

»Doktor Martini,« sagte er. Sonst nichts.

»Und das ist seine Schwägerin.«

»Nein, du machst ja alles falsch,« rief Hannchen. »Es ist die Schwester seiner Schwägerin: Fräulein Kuhlmei.«

Ach so, dachte Fritz Eisner, da hat der Bruder gewiß gegen den Willen der Eltern geheiratet.

Doktor Martini war wohl ein ziemlich trinkfreudiger Herr, und er bemäntelte das mit studentischen Sitten. »Komme nach,« brüllte er förmlich zu Egi Meyer herüber. »Erlaube mir einen ganz bedeutenden Streifen!« apostrophierte er Fritz Eisner. »Über Kreuz!« meinte er zu Annchen. Sie war von vielen Stiftungsfesten her erfahrungsreich. »Auf Ihr Spezielles, sine, sine!« Und er streckte eine halbe Minute lang das Bierseidel zu Frau Luise Lindenberg hinüber, ehe er es zu festen Schlucken an die Lippen setzte. Innerhalb von fünf Minuten führte er für sich allein einen ganzen Kommers auf.

Der Kellner schenkte ihm erhöhte Aufmerksamkeit. Solche Leute liebte er.

Ja – Doktor Martini fing sogar an zu singen: »O alte Burschenherrlichkeit« – in breiten, wie mit braunen Asphalttinten unterlegten Tönen, und rief: »Ein schönes Lied ex, ein Schmollis dem Sänger!« Und trank wieder.

Annchen fand das famos. Sie strahlte. Das lag ihr. War ihre alte Welt.

Hannchen hatte Fräulein Kuhlmei belegt und erzählte ihr von ihren pädagogischen Arbeiten. Die hörte mit beruflicher Freundlichkeit zu, denn sie war gewohnt, daß ihr Leute allerhand Dinge erzählten, von denen sie nichts verstand. Und außerdem hatte ihr Hänschen schon beigebracht, in kritischen Fällen nach Möglichkeit das Maul zu halten. Denn das Mir und Mich saß bei ihr wirklich nicht so ganz fest. Nur einmal warf sie etwas ein: »Ja, ja,« sagte sie ernst, »so etwas kann vorkommen, Fräulein, darf aber nicht passieren!«

»Na,« meinte Frau Luise Lindenberg, »was ist denn aus eurer herrlichen Exkursion geworden? Habt ihr wenigstens für eure Damen ein paar Blumen mitgebracht?«

»Keine Spur,« sagte Egi Meyer, »die beiden haben sich gegenseitig mit den längsten lateinischen Namen beworfen. Das war alles. Nicht einen Grashalm haben sie gefunden.«

»Ich habe das gewußt,« sagte Frau Luise Lindenberg sibyllinisch. »Du darfst das aber dem Mann nicht übelnehmen, er ist nämlich etwas geistesschwach.«

»Na höre mal,« rief Egi Meyer erstaunt, »den Eindruck macht er aber nun wirklich nicht.«

»Ich weiß es genau.« Frau Luise Lindenberg war in Erregung und wurde pathetisch. Wie stets, wenn sie auf Widerspruch stieß. Sie deklamierte ihn sozusagen nieder. »Ich weiß das leider nur zu genau. Aber er ist ganz gutartig. So schickt er zum Beispiel Annchen immer die schönsten Rosen ...«

»Aber weißt du,« sagte Egi Meyer, um das Thema zu wechseln, »weißt du aber denn, wen wir vorhin noch gesehen haben? Also auf einem Dogcart, das unten vorbeifuhr, todschick, mit einem Gardedukorps-Offizier neben sich, einem Gaul vor sich und einem echten Foxhund hinter sich? – Na? – Deine Kapitänswitwe!«

»O, das wundert mich gar nicht,« sagte Frau Luise Lindenberg stolz. »Die hat ja Beziehungen zu den besten Kreisen Potsdams.«

»Welcher Art?« fragte Egi Meyer trocken.

Aber Frau Luise Lindenberg überhörte es nicht, sondern sie hörte es wirklich nicht. Sie mußte nämlich Doktor Martini – ein reizender Mensch! (eigentlich begriff sie doch Annchen nicht; sie wäre trotzdem heute noch dafür ...) – dem Doktor Martini erzählen, wie nett sie es hatten. Und sie begann nun zu erzählen, wie und wo sie wohnten, und wie schön es da wäre.

»O, gnädige Frau,« sagte Doktor Martini, »es soll ja sehr, sehr hübsch dort sein. Ich kenne es leider nicht. Ich wollte immer mal herausfahren, bin aber noch nie hingekommen. Ich komme manchmal hier heraus in diese Gegend, zu den Schwiegereltern meines Bruders, die hier gemietet haben – sehr idyllisch! – aber da bin ich noch nie gewesen. So alt ich bin.«

In diesem Augenblick aber fiel es Doktor Martini ein, daß er ja Hannchen noch nicht zugetrunken hatte; und daß das doch eine arge Vernachlässigung gerade dieser jungen Dame bedeute und von ihr übel vermerkt werden könnte; und er reckte sich in Positur und brüllte über den Tisch: »Fräulein Hannchen, gestatte mir, Ihnen einen Salben vorzukommen!« und kluckerte dann mit festen Zügen und trefflichem Augenmaß – er irrte sich nie nach oben, nur nach unten (das aber darf man!) – den halben Inhalt eines Glases in sich hinein.

»Ja,« meinte Frau Luise Lindenberg, »und wir haben es so reizend dort. Sie sollten einmal herauskommen. Wir können jetzt sogar Logierbesuch aufnehmen. Denn wir haben durch einen merkwürdigen Zufall – es war da ein Arzt, der die Wohnung hatte, dessen Frau aber Gelenkrheumatismus bekam – unten in einem sehr lieben Gartenhäuschen noch zwei Zimmer hinzubekommen.«

»Ach?« meinte Doktor Martini interessiert.

»Ja – unsere Wirtin ist nämlich eine sehr scharmante und großzügige Frau, eine Kapitänswitwe, wissen Sie – direkt eine Dame! Sie hat es eigentlich nicht nötig, zu vermieten.«

»Da haben Sie aber bei ihr mehr Glück gehabt,« meinte Doktor Martini, »denn ich habe ...« – Doktor Martini trat sich selbst innerlich auf den Fuß – »habe gehört: die Schwiegereltern meines Bruders nämlich haben mit der Sommerwohnung hier draußen gar nicht sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Leute sind dort sehr hinter dem Geld her.«

»Ach Gott,« meinte Frau Luise Lindenberg, »das ist wohl bei einfachen Vermietern nicht anders. Ich gebe zu: wie wir es getroffen haben, ist wirklich eine Ausnahme. Sie müssen uns mal besuchen. Sie können ruhig Ihr Fräulein Schwägerin mitbringen.«

»Gern, gern, gnädige Frau!«

Doktor Martini sah sehr verlegen in sein Bierglas und erhob es mit plötzlichem Ruck, um Egi Meyer einen Hochachtungsschluck zu kommen. Immerhin – er hatte Glück. Er konnte nicht rot werden, weil er rot war. Ein Rot, in dem es keine Steigerung mehr gab. Aber innerlich war er furchtbar verlegen. Denn trotz seiner studentisch aufgetragenen Schneidigkeit und seinen Schmissen war er doch innerlich ein Junge. Sehr unentschlossen, ängstlich und ein ziemlich schwaches und hilfloses Kerlchen. Nie hätte ihn auch sonst die Person so unterkriegen und ihm den Fuß auf den Nacken setzen können.

»Und er war es doch,« tuschelte Annchen, die Fritz Eisner untergefaßt hatte und sich an ihn lehnte. »Aber was ist denn mit dir? Du sprichst doch gar nichts?«

»Ach nichts,« meinte Fritz Eisner. Er sah immer noch das Gesicht dieses Doktors Fischer, wie er vorhin da zu Boden gestürzt war.

»Hast du was übelgenommen? Bist du eifersüchtig? Auf den Fettfleck?« Annchen liebte eine etwas burschikose Ausdrucksweise. »Weil Muttchen so freundlich zu ihm ist? Ich mache mir gar nichts aus ihm.«

Aber da kam die Suppe: Sagosuppe auf Königinnenart. Wirklich, Königinnen haben nichts zu lachen, wenn sie immer solche Suppe essen müssen. Es war Wasser mit ein paar Klümperchen wie Froschlaich.

Und es gab Tauben. Niemals hätte man geglaubt, daß so elende und ärmliche Tierchen bei Lebzeiten so glänzende Flieger gewesen waren.

Frau Luise Lindenberg war entzückt, wie wunderbar die Bauernschwägerin von Doktor Martini, dieses Fräulein Kuhlmei, von oben herab mit eingezogenen Ellenbogen ihre Taube tranchierte und die Bruststückchen auf spitzer Gabel zum Mund führte. Auch verstand sie, einen Flügel zu knabbern, daß es geradezu ein ästhetischer Genuß war, ihr dabei zuzusehen ... wie Frau Luise Lindenberg später wortreich feststellte.

Und Frau Luise Lindenberg kam zu der Ansicht, daß diese Dame aus sehr gutem Haus sein müßte. Denn die Art des Essens war der einzige Kulturmaßstab, den sie an einen Menschen legte. Frau Luise Lindenberg vergaß eben, oder sie wußte es nicht, daß Essenkönnen bei dieser Dame, wie bei den Diplomaten, mit zu den Voraussetzungen ihres Berufs gehörte.

»Die Preißelbeeren bieten, mit Kiefernadeln, Blättern und Zweiglein durchsetzt, eine nette gedrängte Übersicht der Flora der Mark Brandenburg,« sagte Fritz Eisner. Er war noch bei Doktor Fischer und der Botanik.

»Das ist doch meine Speise,« rief Hannchen begeistert. Und richtig, sie sah aus wie Tuschwasser und schmeckte auch so.

Ja – und was sollte man nachmittag machen?!

Hannchen hatte sich zur Wut Egis so an Fräulein Kuhlmei, – die immer noch leidlich die Dehors wahrte und sich sagte: Maul halten! – attachiert, daß sie sie nicht von der Seite ließ.

Es täte ihm unendlich leid, sagte Doktor Martini – er hatte nebenbei zur Freude des Kellners den alten Komment wiederaufgenommen –, aber sie müßten leider zurückwandern. Denn die Eltern von Fräulein Kuhlmei würden sich ja ängstigen. Sie hätten sie ihm nur für ein paar Vormittagsstunden anvertraut. Nachher bekämen sie selbst Besuch, und da müßte sie zurück sein, um mit die Honneurs zu machen.

»Ach – bis zum Kaffee könnten Sie doch noch bleiben,« bat Frau Luise Lindenberg. »Ich koche selber und habe reichlich Kuchen mit. Und was für Kuchen! Sie werden staunen.«

»Ach ja, Hänschen, bleib' doch da,« sagte Fräulein Kuhlmei. Bisher hatte sie sich noch kein einziges Mal verschnappt, sondern immer »Herr Doktor« gesagt.

Drinnen in einem kleinen Saal begann irgendein klappriges Klavier mit einer quietschenden Geige sich über den Takt einer Tanzmusik zu streiten.

»Wissen Sie noch von dem Stiftungsfest, Herr Doktor?« sagte Annchen.

Fritz Eisner wurde es heiß um die Stirn. Er war durchaus gegen Vertraulichkeiten auf der Grundlage gemeinsamer Erinnerungen.

»Ach, wir wollen doch mal tanzen,« rief Hannchen. »Man verlernt es ganz.«

Wirklich, in ihren beiden sogenannten Bräutigams hatten sich Annchen und Hannchen keine Tänzer erworben. Sie mochten sonst vielleicht – nach ihrer Ansicht – ganz gute Jungen sein, aber als Tänzer waren sie verabscheuungswürdig und verächtlich, blamabel und eine Schmach. Während doch der kleine, dicke Doktor Martini eine gute, überraschend gute und vielseitige Schulung verriet.

»Es ist doch wirklich heute zu heiß zum Tanzen,« sagte Doktor Martini angstvoll und warf einen halb flehenden, halb beschwörenden Blick zu seiner Schwipp- oder Bauernschwägerin, Fräulein Leonis Kuhlmei, herüber. Aber es nützte gar nichts. Wenn es Tanzmusik gab, war sie nicht zu halten – das wußte er vorher.

»Nee,« rief sie – »ick muß scherbeln!«

(Frau Luise Lindenberg, die den Ausdruck »scherbeln« nie gehört hatte, fand ihn zwar etwas originell, aber sehr lustig.)

Und damit hüpfte Fräulein Kuhlmei – das Wort ist nicht richtig, es gibt das Bild nicht wieder; der Berliner würde sagen: sie »scheeste im Polkatakt«, also sie »scheeste im Polkatakt« quer über die Terrasse weg auf den Tanzsaal zu, während sie Doktor Martini hinter sich herzerrte.

Frau Luise Lindenberg erschien ihr Benehmen doch jetzt etwas eigentümlich.

»Ja,« riefen Annchen und Hannchen, »wir wollen auch tanzen.« Und sie nahmen Fritz und Egi unter den Arm und zogen sie lachend mit sich.

In der Tür versuchte – Fritz Eisner stellte das mit Genugtuung fest – Doktor Martini seine Bauernschwägerin, Fräulein Leonie Kuhlmei, nochmals zurückzuhalten und ihr ins Gewissen zu reden. Es mußte ja eine Katastrophe geben, rettungslos.

»Ach wat!« schrie Fräulein Kuhlmei, faßte Doktor Martini um und begann ihn herumzuwerfen. Umsonst versuchte er, Einhalt zu tun, die Führung an sich zu reißen – es nützte nichts.

Donnerwetter – die tanzte. Da war ja noch Annchen selbst eine lahmgeschossene Krähe dagegen. Und wie ulkig: sie tanzte geradezu mit Schikanen; Touren, die es gar nicht gab. Sie schmiegte sich ganz fest an Doktor Martini, daß einem schon beim Zusehen heiß wurde. Und dann ließ sie ihn etwas los, stampfte und schmiß die Beine, daß eine Tüllwolke von Dessous aufstäubte. Sie streckte den rechten Arm weit vor und taktierte mit ihm, die Hand halb hoch, mit abgespreiztem kleinem Finger. Sie sang Textworte zu dem Walzer, Textworte, aus denen ein Forscher wie Kraus für seine Anthropophyteia hätte sehen können, daß nicht allein die Südslawen in dieser Hinsicht interessante Kulturdokumente bieten. Und sie brüllte zu dem Klavierspieler 'rüber: »Schneller! – Mensch, schlaf doch nicht in!«

Also es war unmöglich. Katastrophal. Keiner tanzte mehr. Alle – es waren nur wenige Paare gewesen – hatten aufgehört. Und alle blickten, halb belustigt und unter Gelächter und halb geärgert, zu den beiden hin, zu dem dicken Herrn, dem der helle Angstschweiß auf der Stirn stand, und jener wohl sehr wenig feinen Dame, die hochstolz war, daß ihre Künste so viel Bewunderer fanden.

Selbst in der Tür drängte sich eine lachende Mauer von Gästen, die aufgestanden waren, nur um das mitanzusehen.

Alles kehrt wieder. Und was sich hier auf Erden vollzogen hatte, war eigentlich gar nichts anderes gewesen als die Sage von der Usume, der japanischen Göttin der Unzucht mit dem breiten, lasziven Kindergesicht. Die Sonne – so erzählen die Japs – hätte sich mit den Göttern verzankt, zog sich in eine Höhle zurück und beschloß, die Erde nicht mehr zu bescheinen. Aber da tanzte Usume, die Schützerin der Unzucht, einen Tanz vor, der so wild und gemein war, daß die Götter sich einfach vor Lachen schüttelten. Die Sonne aber, neugierig wie Frauen sind, wollte natürlich auch sehen, was es da zu lachen gäbe, kam aus ihrer Höhle heraus ... und nun scheint sie wieder.

Die Musik schwieg. Doktor Martini nahm seine Bauernschwägerin beim Arm und schob sie kategorisch auf die Gruppe Annchen, Hannchen, Egi und Fritz Eisner zu.

»Entschuldigen Sie, Herr Kollege,« sagte er zitternd und leichenblaß, »entschuldigen Sie mich dann bei Ihrer Frau Schwiegermutter, aber wir können nicht mehr zum Kaffee bleiben. Wir müssen gehen. Wir werden erwartet.« Und damit stülpte er seinen Strohhut über seine Schmisse, riß seine Bauernschwägerin, Fräulein Leonie Kuhlmei, unsanft herum und marschierte mit ihr zur anderen Tür des Saals heraus, begleitet vom Gejohle einer ziemlich ungehaltenen Menge.

»Wo ist denn Doktor Martini mit seiner reizenden Bauernschwägerin geblieben?« rief ihnen Frau Lindenberg entgegen. Sie trug eine mächtige Kaffeekanne, denn den Kaffee mußte man sich selbst holen. »Habt ihr vorhin beobachtet, wie sie die Taube aß? Es war wirklich hübsch anzusehen.«

»Ja,« sagte Fritz Eisner, »wir haben auch eben beobachtet, wie sie tanzte, das war sogar noch hübscher anzusehen.«

»Na ja,« versetzte Frau Luise Lindenberg, »ich glaube schon, daß sie Grazie hat.«

»Sie lassen sich nebenbei dir empfehlen,« meinte Egi Meyer.

»Hör' mal,« sagte Annchen, »ich finde es doch eigentlich eine Frechheit von diesem Doktor Martini, uns so etwas vorzustellen.«

»Na, ich fand sie doch ganz nett,« meinte Frau Luise Lindenberg, wie aus den Wolken fallend. »Wie fandest du sie denn, Egi?«

»Achtungsbedürftig,« sagte Egi Meyer.

Und während man sich zum Kaffee setzte und sich doch eigentlich freute, den ganzen Kuchen für sich zu haben, begann Hannchen die Szene von eben ihrer Mutter zu erzählen. Und sie machte so etwas ganz reizend, so daß sogar die Nebentische lachten.

Aber das eine blieb doch: Doktor Martini war unmöglich geworden, und Fritz Eisner atmete auf.

Die sogenannte Bauernschwägerin, Fräulein Leonie Kuhlmei, pflegte nebenbei später, als er einmal krank war, den Doktor Martini treu und hingebend, wich nicht von seinem Bett, wochenlang. Und aus Dankbarkeit hat er sie dann geheiratet. Und das hat ihn Glück, Vermögen, Karriere, gesellschaftliche Stellung und endlich das Leben gekostet. Man soll eben nicht dankbar sein, und zum mindesten nicht so weitgehend.

Der Nachmittag floß ziemlich still dahin. Man guckte in die alte, gemalte Dorfkirche hinein, die an eine der reizenden Sizilianen von Liliencron gemahnte; sah richtige Bauernkinder – selbst in Potsdam und Teltow und Barnim gibt es die noch nicht – in karierten Kattunkleidern, ganz weißhaarig, mit dicken Kämmen, auf denen in Goldbuchstaben »Gott schütze dich« stand, in den halblangen Strähnen; apfelbäckig und mit den blauen, scheuen, seit Jahrhunderten kulturfernen Augen. Man sah Schwalben zu, die über den Wasserspiegel flogen – zwei Stück, immer kreisend und stets an einer Stelle sich treffend – zwei Schwalben, die einen Augenblick nur, sich in den Flügeln aufrichtend, wie zu einem Kuß in der Luft zusammenhingen, und die sich einzig wieder lösten, um das Spiel verliebter Kurven von neuem zu beginnen. Man lagerte sich im Wald, inmitten hoher Farnwedel – nicht so nah voneinander, daß man sich gegenseitig nicht sehen konnte. Im Moos steckten kleine gelbe Pilze, wie Teppichnägel, die eine vorsichtige Hand dort eingeschlagen, damit nicht ein Windstoß einen Zipfel der grünen Decke etwas in Verwirrung brächte und aufrollte. Man sprach nicht viel. Wozu muß auch immer geredet werden? Und man war sehr glücklich. Und als die Dampferglocke wieder ihre Gäste zusammenrief, wäre man noch gern geblieben. Aber das ging nicht: wie sollte man nach Haus kommen?

O, war das schön! Über dem Wasser türmten sich Gewitterköpfe hinten hoch, mit ihren runden, weißen Ballen, die ganz feuerfarbene Ränder hatten von der untergehenden Sonne. Und die Sonne selbst legte sich groß und rund und gelbrot und feurig im Westen auf das farbige Wasser und schlug als Spiegelbild eine lange, glühende Brücke darüber fort.

»Sieh doch mal, Hannchen, wie recht die Bakairi-Indianer haben,« sagte Fritz Eisner, »die glauben, daß die Sonne ein Ball von den Federn des roten Arara und des gelben Tukanvogel ist.«

Egi hielt das für eine poetische Freiheit Fritz Eisners und bestritt überhaupt die Existenz der Bakairi-Indianer.

»O nein,« sagte Fritz Eisner, »du kannst darüber im Steinen nachlesen. Sie sind auch ein politisch sehr fortgeschrittenes Volk. Wenn sie zum Beispiel mit ihrem Häuptling unzufrieden sind, dann zieht der ganze Stamm einfach aus und bedeutet dem Häuptling, er möchte freundlichst ohne sie weiterregieren.«

Und langsam, mit schönen Farben, ging der Abend in die warme, tiefblaue Julinacht über. Der Wald stieg in breiten Baumreihen die sanften Hügel am See empor, wie eine geschlossene schwarze Masse, wie ein Festungsgürtel, dem Auge undurchdringlich. Aber – seltsam genug – im Spiegelbild der Wasserfläche glühte doch in sonnenroten Streifen das Abbild des Abendhimmels zwischen den schwarzen Strichen der Stämme. Dort nur eine einzige dunkle Mauer, war der Wald hier im Wasserbild ein Gitter, ein Zaun, hinter dem man die Esse eines Hochofens glühen sah.

Hinten aber, nach Berlin zu, lagen schwere Gewitter, und die Blitze zuckten unaufhörlich über den Himmelsrand. Donner hörte man nicht. Es war zu weit fort.

Auf dem Bahnhof, im Gewühl, nahm man Abschied. Die einen fuhren in die Ruhe, Kühle, den Duft von Heu, Blumen und Park, in Grillengezirp und das Geflüster der leise sich regenden Zweige hinaus. Und die anderen riß der Zug dem Lärm, Staub, Dunst, dem Jagen, den noch immer trotz leichten Gewitterregens glühenden Felsenschluchten der Stadt zu.

Fritz Eisner sah still vor sich hin. Er hatte einen Eckplatz. Starrte auf das Fenster des Abteils, an dem die ersten dicken Gewitterregentropfen beim Rütteln des Wagens entlangliefen wie Kaulquappen, die mit dicken Köpfen und schlenkernden Schwänzchen in einem flachen Sumpfwasser nach der Tiefe suchen, sobald sie die Erschütterung nahender Schritte spüren.

Und er mußte an sich denken, an all das Ungewisse seiner Zukunft, an den Vergleich von der Kaulquappe, den Doktor Fischer heute von dem werdenden und emporkommenden Menschen gebraucht hatte. Und er mußte an Doktor Fischer denken, und der Gedanke an ihn schnürte ihm plötzlich tief beängstigend und pressend die Brust zusammen.

Das war um halb Elf nachts; also zur gleichen Zeit, da sich Doktor Fischer – dreißig Kilometer von da entfernt – eine Kugel durch den Kopf jagte.

Egi Meyer aber saß ganz ruhig drüben in seiner Ecke und war eingeschlafen. Und nichts sieht dümmer aus als ein schlafender Mensch mit einem Kneifer auf.


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