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Wie kam das eigentlich, daß es in der Stadt so dunkel war? Und hier draußen ist doch überall elektrisches Licht. Sollen sie doch hinausgehen. Wozu ducken sich denn alle fünf Meilen Menschen in Städten zusammen? Eine große, grüne Bogenlampe, ein Scheinwerfer muß irgend wo sein über dem weißen Laken von Schnee, sonst könnte es ja garnicht so unirdisch, geistrig, katzengoldgrün hell sein, … die Bauminseln stehen wie schwarze Burgen in den Feldern … Ach nein, … ist gar keine Bogenlampe! Wie soll auch hier eine herkommen? ist ja der Mond, der alte Halunke, der da oben am Himmel grinst wie ein Nigger, der tanzt. Es ist kalt hier, ich friere. Habe die Reisedecke in den Koffer getan. Der da drüben im Pelz, der dicke Mann, friert nicht. Ich habe mich seit langem an den Gedanken gewöhnt, ohne die Insignien des wohlhabenden jüdischen Herrn gesetzterer Jahre, ohne Pelz und goldene Uhr, einmal zu sterben.

›Also rekapitulieren Sie,‹ sagte Professor K. P. Schulze in der Geschichtsstunde immer und stellte die Röllchen neben sich aufs Katheder … Um die Tatsache festzustellen, ich bin … ja, wer bin ich denn? … Ich war …, da liegt der Hase im Pfeffer: ich war der Doktor Alwin Herzfeld, und bin – als solcher – gestern früh von Berlin fortgefahren, um mich etwas aufzufrischen. Es gab da irgendwas, – das mir an die Nieren gegangen war, noch mehr als dieser Mist sonst, weil es mich selber traf: einen jungen Menschen, den ich vor Urzeiten einmal gekannt, hatte der Militarismus nicht geradeaus, sondern sogar auf Umwegen ermordet, was im Resultat das Gleiche besagt; wie man überhaupt, um ein bekanntes Wort zu variieren, einen Menschen mit einem Arzt ebenso sicher töten kann wie mit einer Axt. Ich habe dann in München Station gemacht und sitze jetzt im Zug und werde in einer guten halben Stunde in Garmisch sein. Ich habe da in der Pinakothek einige Bilder gesehen, die ich nicht kannte, oder die mir aus dem Gedächtnis geschwunden waren, dafür will ich dankbar sein. Endlich sind es doch noch die einzigen Sterne, die an diesem Himmel voll Blut und Wahnsinn heute noch blinken, und sie haben die uralte Kraft, wenn sie auch durch den roten Nebel unseren Augen trübe erscheinen. Ich habe mit Rehchen, – mit Frau Anna Bartelmeier – gesprochen; sie wird bald Mutter werden (wenn ich in Deutschland zu sagen hätte, würde ich in den Kirchen für sie beten lassen, wie das bei Kaiserinnen, so sich in gleicher Lage befinden, üblich war), und ich habe mich davon überzeugen können, daß sie in das gesicherte Leben hinübergewechselt ist, was wichtig ist, denn alle Dinge dieser Welt spielen sich dort unter geringeren Reibungen ab als in dem ungesicherten; ja, man stirbt selbst in seidener Wäsche angenehmer als in Barchent. Meine Absicht, sie mit mir zu nehmen, habe ich nicht ausgeführt; ja nicht einmal sie mit dem Schatten einer Silbe erwähnt.

Bis hierhin ist es eine ganz klare, continuierliche Kette von Geschehnissen. Jetzt fehlen etwas die Zwischenglieder; aber es ist eigentlich gar nichts besonderes gewesen. Nicht wahr, – dann bin ich ins Hotel gefahren, habe gezahlt, habe noch depeschieren lassen nach Garmisch an meine alten Wirtsleute, daß ich heute abend käme, und sitze seit einigen Stunden im Zug. Das muß festgestellt werden.

Und doch muß sich irgend etwas ganz Unerhörtes inzwischen ereignet haben: All diese Dinge haben sich mit einem Manne zu Beginn der Fünfziger, namens Doktor Alwin Herzfeld ereignet. Aber wer … wie … was dieser Mann war, kann ich mich durchaus nicht erinnern. Da ich aber nun genau weiß, daß diese Dinge ihm passiert sind und mir das niemand erzählt hat, so ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß ich es selbst bin. Wenn ich mich da in der Scheibe sehe und mein Gesicht sich spiegelt, so ist es das gleiche oder fast das gleiche, – es sieht nur etwas müder und schärfer aus – wie das, was ich vor vierundzwanzig Stunden in der Eisenbahnscheibe sah. Da ist auch die Reisemütze und da der Alexanderdenar in der Kravatte. Die hatte der Mann damals auch. Also: all diese Dinge sprechen dafür, daß ich mit ihm identisch bin. Wenn ich Kriminalist wäre, würde ich sagen, daß der Identitätsbeweis mir völlig geglückt ist … Aber irgend etwas klappt an der Sache nicht. Ich bin's nicht, es muß eine geheime Verwechselung passiert sein.

Ich bin sehr abgeschlagen, ich habe wenig geschlafen die letzten Tage; aber meine Nerven halten mich noch. Sicher, ich könnte jetzt nicht schlafen. Früher, wenn ich Nächte durchschrieb bei schwarzem Kaffee, da kriegt man zum Schluß, trotzdem man die Augen kaum noch aufhalten kann, auch solche Überwachheit; man ist ganz durchzogen von Drahtsaiten, die in sehr Hellen Tönen schwingen.

Vielleicht ist das der Grund, daß ich mein altes Ich verloren habe. Es ist fortgeflogen, irrt irgendwo umher in der Welt, und morgen wird es schon wieder in seinen früheren Seelenbehälter hineinkriechen. Ich bin sehr traurig. Ich wollte alles, was ich noch hatte, auf eine letzte Karte setzen und, wie ich noch in den Taschen meine letzten Goldfüchse zusammenkrabbele, da ruft der Croupier da oben: Rien ne va plus! Und nun kann ich nicht mehr mitspielen. Es ist ja gar nicht sicher, ob ich gewonnen hätte, man verliert ja fast immer; aber spielen, spielen hätte man mich doch lassen müssen! Es hat mich wohl so verwandelt, daß mir plötzlich klar wurde, daß ich gar nichts mehr in diesem Leben zu erwarten habe und daß ich mit all' diesem unsagbar Grausigen mich ganz allein herumschlagen müsse, daß es keinen Punkt der Welt und keinen Menschen der Erde mehr gäbe, zu dem ich mich flüchten kann davor. Die Erkenntnis hiervon ist plötzlich wie ein Steinschlag über mich weggepoltert und hat mich herausgeschleudert aus meiner Bahn, mich so gelähmt und traurig gemacht; ich sitze die ganze Zeit mit halboffenem Mund und habe einen Balken oben zwischen den Augen, und meine Blicke gehen durch die Dinge hindurch, zwei Parallelen, die ins Endlose laufen, ohne Hoffnung, irgendwo je ruhen zu können. Ich kann nicht sagen, daß ich an Rehchen denke, ich tue es nicht, ich habe nichts mehr im Hirn als ein dumpfes Vorwärtsdrängen auf einen Punkt hin, den ich nicht kenne; und doch weiß ich, ich habe die Vorstellung von Rehchen in mir, nicht mit Einzelerinnerungen; sie ist nur da, und sie soll mich auch nicht verlassen.

Aber gemerkt hat niemand etwas, ich habe mich fein verstellt, es soll auch niemand merken, daß ich eigentlich gar nicht Doktor Alwin Herzfeld mehr bin. Es wäre auch unangenehm, wenn es geschähe; dann würde nämlich meine Legitimation nicht mehr stimmen, und das gibt jetzt Peinlichkeiten. Man wird leicht verdächtig heutzutage!

O, ich habe auf alles geachtet, habe um mich gesehen. Nicht mal die bereiften Wellblechdächer der Nebenbahnsteige in Gauting sind mir entgangen. Ich bin vorhin dort entlang gefahren am Starnberger See, wo vor Jahren um die pflügenden Bauern die Möwen in ganzen Schneegestöbern flogen; ich habe sogar die Stellen zwischen den beiden Wäldern wiedererkannt, wo das geschah. Ich habe mit einem Soldaten gesprochen, er sagte, er wolle jetzt sehen, daß er mal wieder nach Rußland käme, nach dem Westen ginge er nicht mehr, nicht für einen Wald voll Affen. Aber die Russen – wir hatten russische Gefangene gesehen, einen ganzen Waggon voll, alle Gesichter durcheinander, von Petersburg bis Wladiwostok, von Archangel bis Odessa – die Russen sind wie die Kinder, sehr gutmütig und furchtbar dumm. Der Deutsche ist doch viel gebildeter. »Gewiß,« sagte ich, »in Rußland gibt es soviel Analphabeten, daß sie sogar jetzt eine eigene Zeitung für sie herausgeben.« Aber meinen funkelndsten Geistesblitz wußte der Soldat gar nicht zu schätzen, er sagte nur gutgläubig: ›Ah – sieh aner an, – da schaun'ns her!‹ Er war so stumpfsinnig, um mit ihm durch eine schiefe Wand zu gehen. Und dann erzählte er, daß er schon so lange führe, daß ihm beinahe der Arsch abfiele. Ja, ja, wir müssen, wie neulich ein Politiker sagte, unser Ohr an die Seele des Volkes legen und in sie hineinlauschen.

Mit dem Mann mit dem Pelz habe ich dann auch gesprochen. Er reichte mir eine Zeitung herüber und sagte nasal und glückstrahlend: »Wieder drei englische Schiffe versenkt, da geht einem ordentlich das Herz auf, wenn man so etwas liest!« Es war ein Hamburger. Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, wie schön der Rauhfrost an den Bäumen hing in Tutzing (oder war es Feldafing?). Alles war wie kandiert. Bäume und Sträucher glitzerten wie vom Zuckerbäcker und dazu das grüne Licht; es war wie eine Feerie, – wie in Flick und Flock.

Habe ich schon mal gesagt, daß ich mir aus der Natur als Kuriosität so wenig mache … wie aus einer schönen Aussicht? Es hat Sommer oder Winter zu sein, Morgen oder Abend und all das Tausenderlei, das sich daraus simpel ergibt. Das kann einen zur Raserei bringen, so inbrünstig und geheimnisvoll ist das: Ein schlichter Wachholderbusch im Sand ist tausend Tränen schön! Aber Spektakelstückchen, so besondere Mätzchen und Anstrengungen der Natur, Rauhreif oder Regenbogen langweilen mich auf die Dauer.

Und der Hamburger hat mir zum Dank dafür ein Hotel in Garmisch verraten, wo ich täglich um 12 Uhr Schlagsahne bekäme, – Friedensschlagsahne! Er wäre immer dort. Und ich mache mir doch gar nichts aus Schlagsahne.

O, es wird herrlich in Garmisch werden: ich kenne jedes Haus, jeden Schritt zu jeder Jahres- und Tageszeit. Ich habe es immer sehr gern gehabt, – selbst wenn es regnet. Und es kann da regnen, daß man in der Luft schwimmen kann! Die Regentropfen in Garmisch haben, wenn sie so herabtrommeln, einen ganz eigenen Takt, wild und monoton zugleich. Ich habe ihn nirgends sonst gefunden. Wenn ich Komponist wäre, ich würde aus der Musik der Regentropfen in Garmisch ein Quintett machen. Wer weiß denn auch, daß die Sonne nie auf den Schnee scheint, – auf einen Baum, ein Stück Boden, einen Stein scheint sie, bleibt darauf, – über Schnee gleitet sie nur hin, bleibt Licht, das darüber spielt mit Millionen von Fünkchen. Der Schnee leuchtet auch nicht durch sie, er kann rosig werden, mattgrün, violett am Abend oder Morgen, er kann tiefblaue Schatten haben, die Sonne selbst ignoriert er, verbindet sich nicht mit ihr. Das gibt das Prächtig-schwebende und Diffuse des Lichts, wenn man über die Schneeflächen hingleitet, das macht die beschneiten Matten von ferne drüben am Hausberg zu einem silbernen See, der zu Tal gleitet.

O, ich werde in meiner Glasveranda sitzen und werde wieder sehen, wie die Jungen auf dem Schulhof spielen und sich schneeballen. Ich habe immer einen Groschen ausgesetzt für den, der eine Apfelsine einem Schneemann vom Kopf warf; – und die Apfelsine kriegte er auch. Das war ein Lärm! Kinder sind die einzigen, die Vergnügen am Leben haben. Ich werde hören, wie die Abcschüler drüben lautieren, die ganze Klasse im Chor; und es wird herüberhallen von der Gesangsstunde, hoch und fistelstimmig und dünn: ›Die Wacht am Rhein‹ und ›Heil dir im Siegerkranz‹ … als ob es wirklich bei einem Herrscher nur das Einzige wäre, was man sagen könnte, daß er mit seinen Heeren das Morden noch besser verstände als seine Nachbarn! Da war immer einer dabei, der war ein kleiner Berliner, gut angezogen, aus irgend einer Villa, dem warfen die andern stets bei ihren Schneeballschlachten nur nach dem Gesicht. Untereinander zielten sie sich mehr nach den Beinen, – endlich waren es doch Bayern, … und eine Krähe hackt außerdem der andern nicht die Augen aus …

Und die ganze Kette des Wettersteins wird vor mir liegen mit ihren weißen Rillen, Schroffen und Rinnen, eine Zyklopenmauer von wilder Bizarrerie und doch so schöner Geschlossenheit. Was mich am meisten wundert, ist: … ich kenne sie schon dreißig Jahre und es hat sich gar nichts an ihr geändert. Wo eine Felszacke, eine Nase, eine Kluft, eine Schrunne im Gestein war, der Weg einer Schutthalde, da sind sie auch geblieben; und das uralte Grau ihrer Nacktheit lehnen die Felsen noch genau so gegen das blaue Kissen des Himmels wie damals, als ich sie zum ersten Mal sah. O, ich kenne das: jedesmal denke ich, es muß sich irgend etwas an ihnen gemodelt haben, ein kleiner Berg muß gewachsen, ein großer eingeschrumpft sein, ein schroffer sanft, und ein sanfter steil geworden sein. Und jedes Mal erlebe ich eine Enttäuschung damit: sie sind wie sie waren, und sie werden sein, wie sie sind. Ich kenne zum Beispiel genau die Stelle, wo die Sonne in die Berge sinkt von meinem Fenster aus; und ich sehe sie nun Tag für Tag etwas herüberrücken um nebenan herabzusteigen. Und lange wirft sie noch ihre Strahlenbündel über den Himmel, während die Felsen selbst schon in allen Farben zwischen blau, rot und violett, – mit Feuerkanten umzogen, – dahin schmelzen. Es ist ganz still dann, und der einzige Laut, den ich höre, ist das Picken und Klopfen der Meisen, die vor dem Fenster an der Speckschwarte hämmern, die ich ihnen herausgehängt habe. O, ich kenne das!

Ich werde mit dem Kind der Wirtin spielen, sie liebt mich; aber sie muß größer geworden sein, – mindestens sechs Jahre jetzt. Schade, daß ihr das Weltbild schon zu vertraut ist, als daß sie es noch in neue Prägungen brächte wie ehedem. Ich werde das nie vergessen, ich habe ihr vorgesungen: ›Wenn die Kinder schlafen geh'n, wachen auf die Sterne,‹ und da hat sie mich gefragt: Mach i denn da wirklich a' so an Lärm?' Sie hat mir immer versichert: ›I lieb net den Papa, i lieb net die Mamma, die hauen. I lieb nur den Onkel.‹ Und ich werde sie morgen bei der Hand nehmen und mit ihr Spielzeug kaufen gehen. Ich muß ihr immer ganz kleine Zelluloidpüppchen kaufen, von denen, die im Schaufenster bei Meier hinter der Apotheke über- und durcheinander verhakt in einem Glaszylinder lagen, … ganz unheimlich, diese Massenansammlung rosigen Fleisches, wie eine anatomische Sammlung einer Hebammenschule, wie der Teich, auf dessen Grund die kleinen Schläfer ruhen, wie ein Massengrab im Krieg! … Krieg! … Krieg! …

Ich sollte auch dem kleinen Jungen von geradeüber immer die standhaften Bleisoldaten kaufen, sie schlugen eine Bataille im Schaufenster, knallten und fielen, d. h. die Deutschen knallten und die Feinde fielen. Und der Offizier stürmte vor und zückte den Degen und piekte mit wilder Wut nach einer alten, fetten, toten, vorjährigen Fliege, die mitten zwischen ihnen verreckt war und nun dalag im Staub, monatelang, grau und groß, und die sechs Beine von sich streckte. Da nichts in dieser Welt verloren geht, wird sie wohl noch dort liegen. Warum habe ich sie ihm eigentlich nie gekauft? Warum soll auch der Mensch seinen Kindern nicht Soldaten zum Spielen geben! Alle Raubtiere bringen ja ihren Jungen totes und verreckendes Getier, das sie daran ihre Mordinstinkte üben können. Ich werde es morgen gleich tun, wenn sie sie noch haben; sie ihm in die Hand drücken.

Ich werde viel gehen. Es ist erfrischend, hier zu gehen. Es gibt ebene Wege, schöne Bänke da oben am Kramer, wo das ganze Tal mit den hunderten von Häusern zwischen den Schneeflächen unter einem liegt und die Berge geradeüber doppelt so hoch erscheinen als sonst. Ich erinnere mich an Wintertage auf ganz schmalen ausgetretenen Wegen, wo neben einem die Bäche – blau und rauschend – vorbeischossen zwischen dickbeschneiten Büschen, in denen – wie große, rote Beeren – die roten Dompfaffen aufgeplustert ganz still in der hellen Sonne saßen, … und an Nächte, da der ganze Himmel von einem sonoren, in sich schwingenden Enzianblau über dem Rand der Berge wie mit Perlmutterstaub beworfen war von den Millionen von Sternen.

Es gibt hier im Winter ganz altdeutsche Landschaften mit Durchblicken durch hohe, ästige Tannen, – über Wälder und Matten fort, – auf Berge, wie von Hirschvogel in Kupfer gestochen. Beinahe hätte ich über den mal eine Doktorarbeit gemacht.

Ich erinnere mich aber auch an einen Winter im Herbst hier, der plötzlich, dick und weiß und hell und sonnig klar dabei, auf eine fast noch grüne Landschaft gefallen war, … über Phlox und Chrysanthemen, die unterm Schnee weiter blühten, … über die weinroten amerikanischen Eichen und die gelben Ahornblätter, die feuer- und glutfarben durch die Schneepolster leuchteten, … über die fruchtschweren Apfelbäume, sodaß jeder Apfel wie in Watte gepackt war. Es hatte etwas von Japanzeichnungen, allwo der Mango unter dem Schnee blüht und der grüne Bambus sich unter weißen Lasten beugt. Und doch dachte man wieder an alte Stadtchroniken: ›im Jahre 1712 wollte es der Herrgott, daß schon im Oktober Unmenge Schnees, so sich die ältesten Leute nit erinnern, fiel, der an den Obstbäumen recht Schaden tat, da sie noch im Grün standen und voller Frucht hingen.‹ …

Und dann; wie ist das, … wenn der Schnee abtaut und am Rand der Schneefläche, ihnen folgend, die ersten ganz bunten Blumen kommen, die mit den jungen Trieben ihrer Blätter die Schneedecke durchstoßen und forttauen?! Ich werde bis zum Frühjahr bleiben; ich werde mich vergraben; ich werde nie mehr zurückkehren; ich werde keine Zeitung lesen und ich werde mit keinem Menschen sprechen. Und ich werde mir einzureden versuchen, daß die Dinge so sind, wie sie nicht sind. Warum ist man denn kein Baum? Der steht irgendwo eingewurzelt und läßt Sonne und Sterne, Regen, Wind und Schnee über sich hingehen und treibt die Wellen seines Lebens weiter; er hat nur das Gefühl des Seins, aber in einer uns unbekannten, jahrhundertelangen Kraft. Ob denn keine Stellung als Baum frei ist? Oben im Ettal gibt es so schöne Säulen von Grün, die den Himmel stützen, daß er nicht einfällt, da werde ich mal anfragen.

Ich sah einmal hier, wie ein Würger eine kleine Meise schlug und mit ihr ins Gebüsch flog, um sie ganz zu zerreißen, und plötzlich sprang ein schlankes weißes Etwas aus dem Schnee hoch wie eine zuckende Flamme, und man hörte ein Flügelschlagen und Piepsen und Flattern, … und dann hetzte mit ihm zwischen spitzen Zähnen ein Hermelin davon, … es hat etwas Schlangenhaftes in seinen Sprüngen. Und als ich nachher den Jäger traf, da zeigte er mir ein Hermelinchen, das er gefangen hatte. Es war ganz unverletzt, nur ein kleines Blutströpfchen klebte ihm an der roten Nase … Und heute ist wohl auch der Jäger der Gejagte. Es war wie in dem Lied, das sie bei meinen Eltern im Hause zu Ostern sangen, vom Feuer und vom Wasser, vom Ochsen und vom Schlächter und vom Todesengel und von Gott. Chagadjo! chagadjo!!!

Es scheint mir doch, als ob meine Gedanken etwas kreuz und quer laufen. Wollen nicht recht bei der Stange bleiben. Haben mir doch sonst immer gehorcht. Was ist das hier? – Schon Farchant? Dann sind wir ja schon lange zwischen den Bergen. Ach richtig! – vorhin gab's ja ein Echo, als der Zug plötzlich aufschrie. Es war als ob hüben und drüben andere Lokomotiven wie aus dem Schlaf ihr antworteten … Wie die weißen, bewaldeten Hänge unheimlich im Mondlicht liegen! Und was blinkt denn da? Nur ein vereister kleiner Wasserfall zwischen vermummten Kiefern in silbernen Pyjamas.

O, ich weiß genau; wie ich das letzte Mal fortfuhr von Garmisch, sah ich hier – es war ziemlich früh im Herbst, – klar und sonnenbestrahlt wie eine Abbildung auf dem Umschlag eines Schmetterlingsbuches – eine große, wundervolle, grün-violette, gestreifte und gehörnte Ligusterraupe aufgerichtet an einem Zweig sitzen, ein Prachttier, und meine ganze Jugend erwachte und überlohte mich im Augenblick mit einer brennenden Wut. Ich hätte aussteigen mögen und sie mitnehmen und immerfort betrachten.

Wie habe ich mich wieder beluxt, geradezu begünnt, als ob ich ein Roßtäuscher wäre: ich habe die letzten zehn Minuten auch nicht mit dem Schatten eines Gedankens an Rehchen gedacht. Das heißt … ich, … wozu wollen wir uns denn Komödie vorspielen?! … ich habe doch nur an sie, nicht mit einem Gedanken an etwas sonst … Die Leute behaupten zwar, man kann nicht zwei Vorstellungen, auf einmal im Hirn haben, aber das ist nicht richtig … Sie war sehr lieblich, wie sie dort saß im Stuhl mit dem altvioletten Sammetbezug, … wie ein letzter Falter in der Herbstsonne. Nie wieder hat es eine Frau gegeben, die so ihre Hand auf die eines Freundes legen konnte; ganz leicht ruhte sie darauf und doch spürte ich sie in dem feinsten Beben, in jedem Pulsschlag bis in den Kern meines Lebens hinein. Hätte ich ihr doch wenigstens einmal noch die Fingerspitzen geküßt! Ich möchte jetzt weinen, wenn ich daran denke, daß ich es nicht getan habe. O, es ist leer geworden, der schreibende Analphabet ist schon längst ausgestiegen, und es ist kalt im Zug geworden … dädädädädädä … Toms friert!

Der Hamburger Herr nimmt seinen Juchtenkoffer vom Gepäcknetz, sein Suitcase, sein Schirmfutteral (feine Leute haben feine Sachen!), zeigt Unruhe, macht sich fertig. Also endlich …, da sind ja schon die Lichter von Garmisch. Doktor Herzfeld nimmt seine Aktentasche unter den Arm mit seinem Schlafanzug und den Waschsachen, – das Gepäck hatte er aufgegeben. Wie groß die Orte geworden, hüben und drüben, sie sind ganz zusammengewachsen. Früher war es weit und einsam von einem zum andern. Man kann nicht recht sehen durch die Scheiben, sie sind etwas angelaufen, man sieht nur undeutlich das Blitzen der Lichterkette unter einem grünlichen Mondnebel und weiß, weiß, weiß … Ach, – lassen wir das Fenster herab, mag der Hamburger: ›E gitt, es zieht!‹ sagen, … mach los!

Der Bergkranz dahinten über den schwarzen Wäldern ist eine silberne Mauer. Wie violett der Himmel darüber! Trotz des Mondes, eigentlich viele und helle Sterne. Dahinten fährt ganz deutlich und groß der Wagen über den Himmel, – unser Wagen, Rehchen.

Ich erkenne die überhängende Schroffe der Alpspitze, sie blinkt im vollen Mondlicht mit einer weißen Kante. Da, dieser vorgelagerte Kegel ist der Waxenstein und dort im Höllental gleißen die Gletscherfelder. Eigentlich ist es gar nicht kalt, ganz warm, sogar … Diese glockenreine Luft! … Aber die Sterne blinken etwas tückisch, sie funkeln so, wie sie es nur in sehr scharfen Nächten tun.

Ich werde jetzt heimgehen und schlafen, oder ich werde mir sogar, in einem Anfall von Größenwahn, einen Schlitten nehmen wie Ludwig der Zweite, mit Fackelreitern. Der alte Graukopf von Dienstmann wird da sein, ihm gebe ich den Gepäckschein, mag er es morgen bringen; – soll heut' seine Ruhe haben, das Männchen! Und ich werde mir dann morgen als allererstes einen breiten Pinsel kaufen, und ich werde diese letzten Jahre meines Lebens damit … und das Bild von Kurt und Rehchen und all den Wahnsinn, durch den wir jetzt alle hindurchwaten mußten, … überstreichen wie in Venedig das Bild des Dogen überstrichen wurde, den man hinrichtete, weil er sein Vaterland verriet; so … einfach mit Pinsel und Farbe will ich diese zwei Jahre, die mein Leben verraten haben, jetzt überstreichen.

Es wird ganz still auf dem Bahnhof sein. Ich liebe stille Bahnhöfe, die ihre letzten Gäste entlassen, sie sind eigen und hallend, und ich gönn's den Beamten, daß sie mal zur Ruhe kommen, sich wenigstens für ein paar Stunden auf die Pritsche legen können, bis morgens der Dienst wieder anfängt. Der Knipser in seinem Verschlag ist mir nie menschlich so nahe, wie wenn er hinter mir als dem Letzten das Gatter zumacht, gähnt und mit schweren Filzstiefeln aus seiner Koje gekrabbelt kommt … Nur ein paar Leute werden aus dem Zug tröpfeln; jetzt ist es ja überhaupt noch leer hier oben.

»Also, auf Wiedersehen!« sagt der Hamburger im Pelz und drängt sich an Doktor Herzfeld vorbei. »Und passen Sie auf, Sie werden mir bis zehn Jahre nach Ihrem Tode dankbar sein für den Tip mit der Schlagsahne!«

Rrrrrrrrrrr …, man sollte einen Zug für Nervöse erfinden, der nur fährt, und der dann plötzlich ausläuft wie eine Kindereisenbahn, von selbst stehen bleibt. Aber diese Bremse und diese schleifenden Räder bringen ja auf die Dauer einen Schwergewichtsathleten um, denkt Doktor Herzfeld.

Halt, was ist denn das? Der ganze Bahnhof ist grell beleuchtet, – nein, hier spart man nicht mit Licht! Drüben vor den Steigen ist es schwarz von Menschen, Hunderte von Mädchen in weiten Röcken, gestreiften und großkarierten Kleidern, mit bloßen Hälsen und halbbloßen Armen sind darunter. Alles ruft, jodelt, winkt und schreit, wirft Blumen und Kußhände, und an zweihundert Soldaten mit Skiern – es sieht aus wie eine Herde von Säbelantilopen – haben sich formiert in voller Ausrüstung den langen Bahnsteig entlang … mit Offizieren und Unteroffizieren, die von Mann zu Mann gehen und noch irgend etwas nachsehen, die Tornister und das Riemenzeug. Man kommandiert, flucht auch, um es nicht ganz zu verlernen, ein wenig; aber niemand nimmt es ernst. ›Heda, – Kompagniemutter!‹ spricht ein blutjunges Bürschchen den Feldwebel an, einen dicken, netten Herrn mit trinkfreudigem Gesicht voller Schmisse.

Der Hamburger ist stehen geblieben. »O, sehen Sie nur,« sagt er begeistert, »wunderhübsch! So etwas habe ich mir immer gewünscht. Das ist eine Skikompagnie, die hier ausgebildet wurde und nun abrückt. Die kriegen sogar 'nen Extrazug. Die haben's hier gut gehabt, sage ich Ihnen, – denn die Burschen sind doch weg! Sehn Sie mal, ganz junge Kerlchen dabei. Über die dreißig nehmen sie keinen dazu. Sehr interessante Truppe! Vor allem für Vorpostengefechte und Aufklärungsdienste in den Vogesen und den Karpathen und unten in den Alpen, … überall brauchen sie sie jetzt. Nächste Woche kommt schon wieder eine neue zur Ausbildung hierher. Bei solchen Spezialtruppen, wissen Sie, ist nämlich immer sehr viel Abgang!«

Doktor Herzfeld ist tief erschrocken, er fühlt, wie ihm das Blut zum Herzen zurückströmt. Diese jungen Kerle, diese armen Teufel! Er geht ganz langsam an ihnen vorbei den Bahnsteig entlang, sieht jedem ins Gesicht, – sicher viele Studenten darunter, – denn es gibt viele mit Brillen und das ist ja ein Zeichen des Büchermenschen, heute, wo fast alle gleich aussehen! – Junges, hübsches, schlankes Blut mit rotbraunen Gesichtern, lachend meist und sorglos und den Mädchen zuwinkend, die da drüben am Gitter stehen.

Armer kleiner Kerl, dich werden sie aus dem Hinterhalt wegputzen. Du hast gewiß Gedichte gern? in deinem Alter hat man das! Kennst du den Vers von Liliencron:

›Das rote Blut auf weißem Schnee sticht trostloser ab als vom grünen Klee!‹ –?

Nein?! Armer Kerl – du wirst ihn noch sehr genau kennen lernen, – denn ich sehe dich mit zerschlagener Stirn.

Und du, schlanker, kleiner Gymnasiast, … ich glaube, deine Mutter wird sehr weinen …

Ihr zwei da scheint unzertrennlich. Wie lange seid ihr schon zusammen? Seit der ersten Ausbildung? Ihr werdet nicht um einander klagen brauchen, euch wird eine Granate zugleich zerfetzen, nur ein Blindgänger; – aber sie wird durch euch hindurchgehen, als ob ihr Luft seid. Ihr werdet ihr nicht mehr Widerstand bieten.

Du lieber Junge du, ich sehe an deiner Kopfhaltung, du warst einmal Wandervogel, bist heimlicher Kommunist und spielst schlecht und recht Volkslieder zu Laute. Landerziehungsheim … Du wolltest ein Mensch einer neuen deutschen Zukunft werden. Etwas beschränkt und einseitig magst du noch sein; aber du bist ja noch so jung, – gerade in die Garbe eines Maschinengewehrs wirst du hineinlaufen, armer lieber Junge!

Du siehst frisch und gut aus und hast schöne, weiße, starke Zähne, du bist ein Müllerssohn aus dem Schwarzwald, du konntest schon Skilaufen, wie du zehn Jahre wärest, … aber eines Tages, in ein paar Wochen schon, wirst du sehr still und starr im Schnee liegen, ohne eine Verletzung, nur etwas Schaum wirst du vor dem Mund haben und blau aussehen von den Cyangasen.

Doktor Herzfeld geht ganz langsam vor, an den Mannschaften vorüber. Er blickt jedem ins Gesicht. Es zwingt ihn, jedem, jedem nur ein Wort ins Gesicht zu schreien: Du, … du, … du, … fühlst du denn nicht, was in diesem einen Wort liegt, du junger Mensch du?! Fühlst du denn nicht, wie ich innerlich um dich weine, du Mensch du, den eine blinde Zufälligkeit gerade in diese wahnsinnige Zeit hineinschleudern mußte?!

Aber keiner erwidert seinen Blick. Ja, wenn er eines von den Mädchen drüben wäre, dann würde er ein ganzes Schnellfeuer von verständnisinnigen Blicken und Worten dafür eintauschen. Alle Augen sind entweder lachend oder sie sind stumpf, – die meisten Menschen haben ja nur Tieraugen! – und die jungen Kerle von Studiosen sonnen sich in ihrem neuen Sportstum.

»Gott, Doktor, wie kommen Sie hierher!« ruft es plötzlich. Ach richtig, dieser Vizefeldwebel war ja ein guter Bekannter von ihm aus Berlin, (aus dem Café) mit dem er manchmal gesprochen, war ein gescheiter Ingenieur, nüchtern, philosophisch, nicht politisch-radikal, aber voller Pessimismus und Verachtung für alles, wie Staat und Gesellschaft, von einer fast japanischen Lebensanschauung, rationalistisch und hingebungsvoll zugleich.

(Nichts merken lassen, – nichts merken lassen!) »Ich … ich bin nur etwas herunter und soll einige Tage ausspannen.«

»Na, Sie werden sich hier schon schnell erholen, wenn Sie weiter solch Wetter haben, wie wir es jetzt hatten. Gut sehen Sie ja gerade nicht aus, lieber Doktor. Ist Ihnen denn was Ernstliches?«

»O nein. – Und was machen Sie?«

»Na, ich war zweimal leicht verwundet, und da habe ich mich jetzt abwechselungshalber zu 'ner Skitruppe gemeldet.«

»Und sind Sie denn da so einigermaßen gesichert?!«

»Gesichert? Im Gegenteil, ich habe mir gesagt, zweimal bin ich so glimpflich weggekommen, das dritte Mal sicher nicht. Ich liebe Sport, Schnee, Sonne, ich vergesse dabei. Es ist so schwer, in dieser Paranoia der Welt, heute über manches eine Ansicht, aber keine Meinung zu haben. Ich werde also vier Wochen früher fallen und habe eben noch mal die Arme ausbreiten können. Fallen tut jeder, wenigstens jeder, der wie ich ist. Unsere Generation wird vernichtet. Ich bin gar nicht traurig darüber, – glauben Sie das nur nicht, Doktor. Der Tod ist der beste Erlediger aller Komplikationen; und jeder, der wie ich von Anfang an draußen war, weiß, daß es eine sehr einfache und schlichte Angelegenheit ist, über deren eigentliches Wesen man nur bisher in Unkenntnis sich befand.«

Da klingen Trillerpfeifen, – der junge Vize schüttelt Doktor Herzfeld die Hand, bevor er an seine Abteilung wieder heranspringt und sich zusammenreißt. – Kommandos werden weitergegeben, und die einzelnen Vierer klettern in die Wagen hinein, die wie Hochwald duften und über und über mit Kiefern und Knieholz behangen sind.

Doktor Herzfeld ist stehen geblieben. Plötzlich kehrt er um, reißt seine Zigarrentasche heraus und läuft dem jungen Vize nach. »Hallo, lieber Behrens, nehmen Sie die für unterwegs mit.«

Der Vize will sie öffnen, um sich eine Zigarre herauszunehmen; aber Doktor Herzfeld ruft: »Nein, Sie können mir ja das Etui mal wieder heranbringen, wenn Frieden ist, – behalten Sie es so lange als Andenken an mich.«

Der Vize ist schon wieder zum Zug zurückgesprungen. »Danke, danke«. Plötzlich dreht er sich. »Doktor,« ruft er, »haben Sie eigentlich mal etwas von den beiden jungen Gutzeits gehört, – wo sind die, im Osten oder im Westen

»Im Westen! – Soweit ich hörte, geht's ihnen bisher so leidlich,« ruft Doktor Herzfeld sehr laut zurück und dreht sich um. (Hat ihn da nicht eben jemand mit einer Bleikugel zwischen die Augen geschlagen?)

Und ganz langsam geht Doktor Herzfeld die Treppen herunter, tappt durch den Eiskeller von Unterführung, die Tanz weiß beschlagen vom Rauhfrost ist, tappt am andern Ende hoch zur Sperre, gibt seinen Fahrschein. Er ist ein Automat. Aber plötzlich hebt ein ›Juhu‹ an um ihn, ein Lärmen und Jauchzen und Tücherschwenken aus hundert Abteilen; … aus hunderten Kehlen schreit und jauchzt und jodelt es in die Nacht zu dem violetten, mondlichten Himmel empor, zu dem frierenden All mit seinen scharfen Funkelsternen.

Doktor Herzfeld wendet sich noch einmal, stützt sich mit beiden Armen auf das Holzgatter, das die Bahnsteige gegen die Vorhalle abschließt und blickt herüber, wie der Zug – mit flatternden Tüchern aus allen Fenstern! – Wagen für Wagen sich in die unendliche schneeige Weite langsam hinausschiebt, hell und vom Mond bestrahlt, der den schwebenden Rauch der Lokomotive regenbogenhaft durchleuchtet. Doktor Herzfeld starrt ihm eine ganze Weile nach, bis die roten Schlußlichter um eine Biegung verschwinden. Und plötzlich, – ohne Vorbereitung und Übergang! – bricht er in ein hemmungsloses Schluchzen aus, das ihn nur so würgt. Er muß sich ganz festhalten, um nicht zu fallen. Er weint so wild, wie man sonst nur im Traum weint, während ringsum alles juhuht, jodelt, Hurrat und Skiheil brüllt.

Solch ein Unfug, stehe hier und heule wie ein verprügelter Schuljunge! Erinnere mich nicht, daß jemals wir meine Nerven einen solchen Streich gespielt hätten, daß ich je solch einen – ganz unvorbereiteten – Zusammenbruch erlitten hätte. Bin mein ganzes Leben stolz gewesen auf meine Undurchdringlichkeit, auf meine Selbstzucht, auf mein abseitiges Orientalentum, das sich nicht erschließt und seine Regungen beherrscht; habe seit Jahrzehnten keinen Tag im Bett gelegen, ob ich krank war oder nicht, – auch damals nicht! – habe nur einmal geweint, (soweit ich es weiß!) in all der Zeit. Und plötzlich breche ich ein, knicke zusammen, stürze in mich hinein wie ein schlecht berechnetes Gerüst, sinke in mich selbst wie der abgehaspelte Garnknäuel auf der Nähmaschine, von dem einmal Rehchen sprach … Er sieht auf. Es ist alles leer um ihn. Von der Ferne klingen noch Stimmen ganz rein und hallend durch die dünne Luft, … ein paar Burschen, die jodeln und singen.

Doktor Herzfeld steht immer noch da, ganz allein, mit den Armen über das Gitter gelehnt. Weit drüben auf dem andern Gleis sind zwei Bahnbeamte, die irgendwie nach ihm hinzeigen und sich mit ihm zu beschäftigen scheinen; sie beobachten ihn gewiß schon eine ganze Weile. Nein, meine Freunderl, den Triumph gönne ich euch nicht … Adieu die Herren!

Eigentümlich, gar nicht kalt, ganz milde. Wieviel Grad mag es haben? Schau einer an, – was! – hier an dieser geschützten Stelle 14 Grad minus?! Gewiß, man irrt sich leicht, unterschätzt es; es geht einem ja immer so. Aber der Thermometer hier auf der Bahn renommiert, wechselt einfach jedes Halbjahr die Zahlenskala aus; im Sommer hat er eine mit zehn Grad mehr und im Winter eine mit zehn Grad weniger. Dann kommen sich die Kommerzienratsfrauen im Winter schon heroisch vor, wenn's gerade Null Grad sind, und finden es warm im Sommer, wenn sie abends, durchnäßt bis auf die Knochen, nach Hause schwimmen.

Ja, ja, Kurorte machen so etwas! In Kurorten stirbt auch niemand. Er hat plötzlich eine Depesche bekommen und mußte abreisen. Das ist gewiß richtig; nur, daß er das Sanatorium in einem Schrank über die Hintertreppe verließ. Diese kleine Selbstlüge, daß das Leben nicht durch den Tod gestört werden darf, habe ich von jeher das Sympathischste an Kurorten gefunden.

Schön! schön! wundervoll!! Wie schwarze, feine, japanische Färbeschablonen, – aus denen sie bei uns immer Lampenschirme machen – liegen die Schatten der Bäume auf dem Weiß des moosgrünen Schnees. Man könnte geradezu noch spazieren gehen. Was soll ich auch jetzt schon im Bett?! Könnte doch nicht schlafen. O, man müßte die Arme ausbreiten und tief atmen. Bald wird der Mond hinter die Dreitorspitze sinken; und dann wird plötzlich der Himmel ganz und gar voller Sterne sein. All die kleinen warten nur darauf, daß ihr großer Konkurrent fortgeht. Wenn die Katze nicht zu Hause ist, springen die Mäuse über Tische und Bänke … Wie der Schnee knarrt. Ich habe das gern, man ist nicht allein, glaubt stets, daß jemand neben einem geht. Wie hoch liegt er denn? Ich will doch mal mit dem Stock messen. Oh, bald einen halben Meter! Er ist ganz weich und glatt, ohne Spuren und Tapfen. Es muß gewiß auch neuer Schnee hier gefallen sein, heut nachmittag. Denn selbst Schnee bleibt nicht so lange jungfräulich. Diese phantastischen Figuren von den Büschen, die ganz eingemummt in den Gärten stehen. Halt mal: ich denke, … ja … ich müßte jetzt hier herüber, wenn ich in meine Wohnung will; – aber ich kann noch nicht schlafen gehen, ich kann noch nicht. Wie las ich doch einmal auf einem Marterl: ›Betet für die Emerenzia Ostler, sie ging um die Küh und kam im Schnee um.‹

Plötzlich packt Doktor Herzfeld das Wort und er beginnt mit ihm zu spielen, wie das seine Art, er trabt nach seinem Takte: Ging um die Küh, kam um im Schnee …, ging um die Küh, kam um im Schnee. Das Wort suggeriert ihn, er kann's nicht loswerden, spricht es vor sich hin, empfindet seinen Sinn kaum noch, während das wilde Rad seiner Gedanken sich immer weiter dreht.

Wie weit man sehen kann, und wie klar die Berge sind! So stelle ich mir mit solchem Licht die letzten Tage der erkalteten Erde vor, wenn die alte Sonne erloschen und am Himmel erstarrt ist, nur noch rötlich glimmt wie der Mond, der da über den Bergrand kuckt. Wie weit man das Wasser von der Partnach rauschen hört, – das friert nicht zu. Aber nur des nachts hört man es so weit.

Wer geht denn da immer neben mir? Krrr … krr … ich kenne den Schritt doch, krrr … krrr … ein wenig schwer, wie so eine Frau geht in ihrer allerletzten Zeit. Ach, Rehchen, bist du mir doch nachgereist?! Das ist unrecht, ich habe dir doch gar nicht gesagt, daß du mit mir gehen sollst, du dummer Kerl du. Frierst du?! Ach nein, du hast ja den langen Zobelpelz, – vier Jahre sagtest du, kann man dafür leben, – der hält warm. Siehst du, ich bin nicht ganz recht angezogen für hier, etwas sehr dünn. Ich habe die Wollsachen noch im Koffer; aber deine Schuhe sind auch zu dünn, fast noch dünner als meine. Es ist mir ein bischen kühl. Ich habe es nicht in diesem Leben zu einem Pelz gebracht! So weit hat's nicht gereicht. Und ich habe auch nur eine Stahluhr, – aber was hätte ich mit einer goldenen Uhr auch getan?! Paßt gar nicht zu mir. Warum hast du eigentlich nicht nach dem apfelgrünen Fläschchen gefragt? Und wie wirst du unser Kind nun nennen? Horace, wenn's ein Junge wird? Nein, … nenn es Kurt … nach einem jungen Menschen, den ich mal gern hatte. Und wenn es ein Mädchen wird, nenn es Ruth; so sollte meine kleine Tochter heißen, die gleich nach der Geburt damals starb. Ich denke dann, sie ist wiedergekommen. Nimm meinen Arm, Rehchen, du gehst schwer, komm her, ich stütz dich. So … so … ganz langsam krrr … krrr … krrr … Ich habe das immer so gern gehabt, wenn du deine Hand auf meine legtest, ich fühle dann dein ganzes Wesen. Sieh mal da, man erkennt es ganz deutlich, trotzdem der Mond schon fort ist, aber der Schnee leuchtet, sieh mal die dunklen Streifen von Tappen, … da gehen Hirschspuren entlang, die kommen im Winter herunter bis in die Gärten. In meinen Garten hier kamen sie früher fast jede Nacht und scharrten den Schnee von den Gemüsen.

Ach, du bist müde; es geht sich so schwer durch den Schnee, man sinkt bei jedem Tritt ein. Hier ist der Weg nicht mehr so ausgetreten wie im Ort. Das bißchen Steigen hat dich angestrengt. Ich höre ordentlich, wie dein Herz geht, Rehchen, durch die unerhörte Stille ringsum, … und dabei warst du früher so leichtfüßig! Weißt du noch, wie du die Treppen zur Dornburg raufliefst, alle die vielen hundert Stufen, und über mich lachtest, weil ich pustete. Und heute haben dich die dreißig Meter Steigung schon angestrengt. Komm, setzen wir uns ein wenig auf die Bank da, nur fünf Minuten, bis du weitergehen kannst. Sieh nur, wie köstlich die Aussicht von hier! das ganze Tal und deutlich das ganze Gebirge bis ins Karwendel. Und darunter die schwarzen, angestaubten Wälder, die in breiten Strömen zu Tal rieseln. Und der ganze Ort da unten mit seinen hübschen langen Lichtzeilen zwischen den Häusern, – wie er im Schneelicht dämmert! Ich habe hier oft gesessen, habe sehr oft des nachts die Glocken heraufklingen hören, sie kommen wie mit silbernen Schwalbenflügeln durch die Kristalluft … Wieviel schlägt's da? Eins, zwei, drei, vier … Eins! Soll das schon ›Eins‹ sein?! War doch noch garnicht zwölf? Aber die Kirchenuhren gingen ja hier von je falsch, … wenn man auch nie sagen konnte, daß sie der Zeit voran waren.

Wie nett die Leute sind; wir brauchen garnicht abzustäuben: es ist schon abgekehrt. Hier müssen welche vor uns am Nachmittag gesessen haben. Komm, mein gutes altes Rehchen, eigentlich mag ich die Kiefern nicht; – habe mich es nie zu sagen getraut: – die Kiefer ist ein proletarischer Baum, sieht aus – verzeih mir das Wort! – in ihrem langen Stamm und dem bißchen Krone da oben wie eine abgebrauchte Klosettbürste. Aber hier über uns, jetzt, lang ausgreifend mit dünnen, schwer verschneiten Ästen, da ist sie ganz japanisch, genau wie auf dem berühmten Blatt von Hiroshige, das dir immer so viel Spaß machte bei mir; das Schloß des Daimio im Schnee; auf dem auch am Hang die weißen, schrägen Zweige wie mit langen Armen in die Bergluft greifen …

Komm nur, … so, … nun sitzen wir. Du bist müde; lehn dich ruhig hier an, du wärmst mich auch ein bißchen mit deinem Pelzmantel noch. So angelehnt haben wir oft geschlafen, – erinnerst du dich, mal auf dem großen Stuhl? Ich saß drin und las, und du hocktest auf der Lehne und kucktest mit ins Buch, und plötzlich waren wir beide eingeschlafen; und wie wir aufwachten, da war es fünf Uhr geworden. Ssss … ssss … Wie ruhig du atmest. Siehst du, Rehchen, nun schläfst du schon …

Halt, was schlägt das jetzt da unten? … Eins, zwei, drei … schon drei? da muß ich doch wohl etwas gedrusselt haben! Wo ist denn Rehchen mit einem Mal hin?! … Eigentlich … müßte ich sie suchen gehen. Kalt ist mir nicht! gar nicht kalt! ganz warm, aber ich bin müde … Ich sollte doch besser eine Zigarre rauchen, um mich 'rauszureißen. Ja … wo sind sie denn? wo denn nur? wo denn nur?! Ich muß sie haben. Richtig, wirklich, ich habe ja dem Jungen vorhin, dem Behrens, mein Etui mitgegeben; war ein Erbstück, hätt's nicht tun sollen, war solch ein liebes Stobwasserbildchen drauf, … das werde ich nie mehr wiedersehen … Wie sagte er doch? ›Der Tod ist der beste Erlediger aller Komplikationen.‹ Kein übles Wort für einen so jungen Menschen.

Ich kann die Füße nicht mehr regen, wollen nicht, fünfzig Jahre sind sie gegangen wie ich wollte, plötzlich haben sie sich selbständig gemacht, sagen: nein! … Wie hieß es: Sie ging um die Küh und kam im Schnee um … Aber das war ich ja gar nicht, das war die ehr- und tugendsame Jungfrau Emerenzia Ostler.

O wie herrlich die Sterne jetzt sind! Jetzt ist der ganze Himmel wie mit Perlmuttstaub beworfen und schwimmt in einem ganz tiefen Enzianblau und Violett. ›Da ist's nun wieder, wie die Sterne wollten! …‹ Ich hab immer gewünscht, daß mein letzter Blick noch in den Sternen ruhen sollte, um sich eine Stelle für meine Seele auszusuchen … Wie der Schnee von den Sternen leuchtet, als ob er mit Phosphor bestrichen wäre! … Diese wundervollste und wahnsinnigste aller Welten!!!

Ach – Kurt, – da bist du. Es ist lieb von dir, mein Junge! Du willst nur die Bücher wiederbringen; behalt' sie dir. Den Omar Chajim lege ich dir ans Herz, du kannst ihn immer wieder lesen. Er ist wie ein kleiner See, der einen geheimen Zufluß hat, nicht auszuschöpfen.

Was ist da weiter?! Ich glaube: ich werde morgen schlafen, statt aufzuwachen. – A la joie, de ne vous revoir jamais! – Ich bin ja so müde, so schrecklich müde! … Wenn ich nur die Füße bewegen könnte, … die Füße!

 

Ende

 


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