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Warm, übermäßig warm war es heute eigentlich durchaus nicht. Trotzdem die Luft fast unbewegt schien. Aber der Sonnenschein dabei ganz weiß, unwahrscheinlich hell und ohne Schatten fast. Er spülte mit seinen Wellen von Licht über alle Dinge hin und zeichnete mit Silberstift hunderttausend Einzelheiten auf einmal. Derart sonnendurchflutet war dieser allerletzte Junitag, dass man wirklich hätte glauben können, es wäre eben noch hoher Mittag, wenn der auch lange vorbei war, sicherlich vier, fünf Stunden schon, und die Sonne also beträchtlich nach Westen herübergerückt war ... Schritt vor Schritt über den heute sehr hohen Himmel hin, dessen leere Unendlichkeit nur von einer einzigen flaumigen und verblasenen Schwanenfeder von Wolke getrübt war (wie auf einem Münchener Bild von Kobell). Leise und nur unmerklich wandernd schwamm diese silberne Feder da hoch oben über der Ebene durch ein völlig unglaubhaftes, nach Norden verirrtes Tizianblau dahin. Nur, wenn sie in die Nähe der Sonne mit ihrem flaumigen Rand kam, dann begann der regenbogenhaft zu spielen. Ganz dünn war die Luft dabei. Nichts, dachte man, könnte dünner, heller und flüchtiger sein als diese Föhnluft, die da von Italien über die Alpen herüber kam.
Aber über den Bäumen war trotzdem noch eine eigene Kante für sich. Eine breite Kante einer ganz besonderen und eisklardünnen Helligkeit, die metallisch fluoreszierte, wie der erhitzte Dunst über den Teerkesseln der Asphaltleger. Und diese breite, lichte Kante schien nicht von der Sonne zu kommen; sondern es war, als ob die hohen blühenden Linden selbst sie ausstrahlten, soweit man auch die Allee herunterblickte.
Und die gleiche Lichtkante zitterte ebenso hinten auf der andern Seite über den Baumlinien des alten Parks; und sie zog zwischen ihnen das Dach des Schlosses nach, das mit seiner weißen, vornehmen Front starräugig aus vielen Fenstern über Wasserbecken und Kieswege die Lindenalleen hinabsah. Und sie versilberte gleichfalls, diese Lichtkante, die beiden Halbkreise niedriger Bauten, die vor Park und Schloß sich wie ein paar geöffneter Arme weit auftaten.
Ja ... sie schwankte sogar noch, diese zweite, lichte Kontur, über den braunen und vergrünten Dächern der einstöckigen Häuser hier am Wasser.
Selbst die Silbertauben auf den Dachfirsten, die in ihr gurrend und flügelschlagend sich zusammendrängten, machte sie noch weißer.
Und den Bogen einer kleinen gewölbten Brücke, die sich mit alten, dicken Eisengeländern über ein grünliches, ziehendes Wasser tastete, umzog ebenfalls diese Lichtkante. Auch das strömende flache Wasser unten, das aus den breiten Becken vor dem Schloß seinen Ursprung nahm und den ewig spielenden Widerschein seiner Wellchen unter dem Brückenbogen hin und her huschen ließ, vergaß es nicht einmal. Nichts, rein gar nichts wurde hier übersehen. Jegliches Ding hatte heute seinen eigenen sprühenden Heiligenschein. Auch die letzte alte morsche Bank aus vergangenen Zeiten mit der hohen Lehne, die drüben gleich an der Brücke stand, für Leute, die schon vorher müde wurden, ehe sie zum Park und zum Schloß kamen.
Aber am stärksten und überzeugendsten war dieser Privat-Heiligenschein von heller Luft eben doch um die hohen blühenden Linden gezogen. Beinahe so, als ob ihr Duft Licht geworden war. Eben um jene alten Linden, die in vier langen Reihen an dem Wasser und an den breiten Fahrwegen, die zum Schloß hinführten, Wache hielten und riesenhohe Sommerzelte aus gelb-grünem Taft über Wasser, Wege und Häuschen geschlagen hatten.
Nirgends gibt es heute so schöne alte Linden, wie auf Wegen, die zu alten Schlössern hinleiten. Das ist Tatsache und ungeschriebenes Gesetz. Denn es mußte ehedem so sein, daß es breite und lange Anfahrten geben mußte für die Adelskaleschen und für die Hofkutschen. Und diese Anfahrten hatten mit Linden bepflanzt zu sein. Vor hundertfünfzig Jahren wohl und noch früher waren es erst kleine, kugelförmig geschnittene oder zu Pyramiden gestutzte Bäumchen am Wasser vor den niederen Häuschen der Ausspannungen, der Lakaien, Köche, Pastetenbäcker und Perückenmacher an den langen und sonnigen Straßenzeilen gewesen. Abwechselnd Kugeln und Pyramiden. Denn man liebte so etwas. Man spielte mit allem. Mit den Menschen als Untertanen und Soldaten. Den Blumen in Teppichbeeten. Den Bäumen. Den Tropfsteingrotten. Den Marmorbädern. Den Frauen. Den Einsiedlerklausen. Mit den Kriegsgöttern und den Liebesgöttern der alten Heidentage. Gerade, als ob das, Krieg und Liebe, nur ein Spiel, und nicht sehr ernste Dinge wären. Und sogar mit dem Wasser spielte man, das man ableitete, umleitete, hochpumpte, in Fontainen aufschäumen und zu breiten Becken hinabrieseln ließ.
Doch das Spielen mit den Dingen und den Elementen, mit Göttern und Menschen hatte hier endgültig aufgehört. Dazu waren jetzt die Menschen, die Welt, die Bäume hier viel zu alt geworden. Sie ließen sich nicht mehr in Formen pressen. Die Linden und das Wasser hatten endlich alles überdauert. Die Perückenmacher. Die Pastetenbäcker mit den italienischen Namen. Die Porzellanskulpteure. Ihre Herren. Und die Erben und die Urenkel eben dieser Herren. Sofern es diese noch gegeben hatte. Erst waren wohl die Perückenmacher verschwunden. Dann die Pastetenbäcker. Und endlich waren aus den Ausspannungen Sommerlokale und Tanzböden für die »Leiber« aus der Türkenkaserne, der verwanzten, für die Cheveaux-legers und die »schwaren Reiter« geworden. Und vor dreiviertel Jahren hatten nun sogar auch die letzten Herren von Park und Schloß hier das Feld geräumt, sich ihr Teil auszahlen lassen, und sich, Gewehr bei Fuß, zurückgezogen.
Wem das jetzt nun alles gehörte, wußte man nicht. Man wußte überhaupt noch nicht in Deutschland – und nun gar erst in Bayern, oder ganz besonders nicht hier in München – wer Koch und wer Kellner war. Vielleicht alle, vielleicht keiner. Nur das eine ahnte man, dem bayerischen Volk gehörte das hier sicher nicht. Vielleicht gehörte es der Fiktion des Volksstaats. Vielleicht auch der alten Nymphenburger Schloßverwaltung. Vielleicht dem Rentamt und der Schuldentilgungshauptkasse. Den Ministerien. Der Porzellanmanufaktur. Wer kann so kniffliche juristische Fragen entscheiden? Man konnte aber immer – wenn sie nicht geschlossen waren – in den Park und in die Amalienburg hineingehen, und in die Badenburg und in die Pagodenburg. Das heißt in die letzten nur, sofern man Eintrittsgeld zahlte.
Vielleicht auch, wenn man Glück hatte, konnte man mal in das Schloß selbst. Doch das lohnte sich nicht, hieß es, und deshalb hatte man zumeist Büroräume daraus gemacht. Oder wollte es doch machen. Man konnte sich dann, in Filzschuhen sie durchwandelnd, ehrfürchtig ausmalen, wie Menschen eigentlich leben können, wenn man selbst nicht wie ein Mensch lebt.
Aber das hatte man früher doch auch schon gedurft. Heute aber – das war der Unterschied – konnte man es aus eigener Machtvollkommenheit.
Fast fünf Jahre Krieg hatte die Menschen überall sehr müde und sehr gleichgültig endlich gemacht. Man lebte, lebte noch, und das genügte vollkommen. Das andere spielte eigentlich keine Rolle weiter. Man hatte zwar gerade einen Krieg als zweiter Sieger hinter sich gelassen. Man hatte seine Kinder, seine Brüder und Väter verloren. Und das Vermögen war ein Schneemann in der Märzsonne geworden. Es schmolz unaufhaltsam weiter. Aber all das war ja eigentlich auch nicht so schlimm, wie es aussah. Man lebte. Die Sonne schien. Die Weißdornhecken blühten trotzdem. Die Bienen summten trotzdem wieder in den Linden, wie kochendes Wasser im Teekessel. Man ging trotzdem spazieren. Man arbeitete sogar etwas. Mancher verdiente auch Geld, viel Geld. Schob und kaufte. Man fuhr neue Kinder in Sportwägelchen durch die Sonne auf den Kieswegen. Die Straßenbahn rollte trotzdem fern drüben auf den alten Schienen. Soldaten mit Patronengürteln und Handgranaten gingen immer noch wie in Feindes Land bis an die Zähne bewaffnet, gleich knurrenden Bulldoggen, denen keiner zu nahe zu kommen wagte, durch die Ludwigstraße. Und gewesene Soldaten mit schiefen, kokardenlosen Mützen hatten ihre alten grauen Uniformen, in denen sie so viel erlitten hatten, immer noch am Leib. Einfach, weil sie daran gewöhnt waren, trugen sie die alten Uniformen noch, und weil sie keine Zivilkleidung mehr hatten. Hin und wieder wurde auch einer so nebenbei erschossen. Ein Menschenleben galt noch nicht allzu viel wieder.
Aber sonst war es doch eigentlich schon wunderschön ruhig geworden. Man wurde nicht mehr eingezogen. Nicht mehr von garnisons-dienstfähig plötzlich k. v. geschrieben und in die vordersten Graben geworfen. Die Aushebungslisten waren verbrannt, hieß es. Die Gefangenen ... wenn sie nicht was besonderes getan hatten ... waren auch schon fast alle wieder daheim. Bis auf die, die dabei geblieben waren. Ja, man fing sogar schon allgemach an, wieder satt zu werden. Und mancher wuchs sogar langsam schon wieder in die zu weiten Kleider von vor dem Krieg hinein.
Denn Anzüge, Strümpfe, Stoffe, Hemden, Unterzeuge, da haperte es. Ach, eigentlich haperte es überall. Mit Wohnungen zum Beispiel. Ein Rätsel: Zehn Millionen Menschen fehlten gegen vorher, und Millionen hatten keine Wohnung mehr, oder doch keine richtige Wohnung mehr. Küchenmöbel fehlten. Porzellan. Selbst Emaillegeschirre und Nägel fehlten. Nichts war da. Und was da war, verschwand von heute auf morgen. Der Teufel wußte, wohin. Der Warenhunger, der plötzlich die Welt gepackt hatte, war unstillbar. Nicht mal für viel Geld war etwas zu haben. Und was da war, kriegte man nicht. Sondern es bekamen immer die andern. Die Fixeren. Und die mit den besseren Beziehungen. Es gab nichts, womit nicht gewuchert wurde. Aber die kleinen Betrüger waren zum Schluß doch jedesmal die Betrogensten. Nur die Wirklich-Großen reüssierten wie immer. Aber man lebte doch wieder, und das war die Hauptsache. Man hatte nicht mehr das ferne Grollen der Geschütze im Ohr, wo immer man war. Tag und Nacht. Man ängstigte sich nicht mehr um den andern und um sich selbst. Und man begann, sich langsam damit abzufinden, wenn jener andere tot war ... der Freund, der Vater, der Bruder, der Mann und der Sohn und der Liebste.
Das Leben hatte eben doch wieder so gemach von neuem zu atmen begonnen, und es marschierte wieder weiter. Das war eine große, gewaltige, garnicht auszudenken – schätzenswerte Errungenschaft.
Es war allen gegangen ungefähr wie einer Reihe von Menschen, die sich zusammen in das Wasser geworfen hatten und einen reißenden Strom überqueren mußten, über den es keine Brücke und kein Boot und kein Nichts gab, und über den man doch hinweg mußte, um nicht von Verfolgern erschlagen zu werden. Jeder konnte plötzlich nur noch für sich schwimmen. Helfen konnte niemand dem andern. Wenn einer müde wurde, nun, so konnten ihn die andern eine kurze Zeit noch stützen und ein Stückchen weiter ziehen. Aber sie mußten ihn endlich eben doch untergehen lassen. Wenn sie es nicht selbst mit jenem tun wollten. Oder von jenem mit hinabgezogen werden wollten. Viele ... ja die meisten ... sanken auch lautlos und unbemerkt. Und das waren nicht die Schlechtesten gewesen.
Als man aber jetzt endlich drüben das andere Ufer des Stroms erreicht hatte, blickten die Emporklimmenden sich um, sahen einander an, und wurden sich mit einem leisen Schauder bewußt, daß jeder Dritte fast fehlte. Und, daß es nur ein Zufall war, daß sie nicht eben dieser Dritte gewesen waren, der von den Schwimmern fehlte, sondern, daß sie wirklich und wahrhaftig zu den andern zwei gehörten und jetzt am andern Ufer standen. Einen Augenblick sahen sie noch auf den Strom, in das reißende, weitergurgelnde Wasser, das ihre Lebensgenossen ihnen in die Ewigkeit fortgetragen hatte. Dann jedoch von diesem Strom der Tränen und der Qualen fortführen könnte.
Gerade so war das jetzt gewesen. Gewiß, man war enttäuscht. Man war leer. Man war müde. Man war unglücklich. Aber man wollte von all dem nichts mehr wissen, und man lebte trotzdem. Alle, die hier entlang gingen in der weißen Sonne und in dem grünlichen Licht unter den Linden ... lebten.
Und die beiden Soldaten da ... o wie sie leibhaftig lebten!
Über die Brücke kamen sie langsam, die Revolver am gelben Ledergürtel, und ein paar Zigarren zwischen die Knöpfe ihres Waffenrocks geschoben, durch das helle Licht daher gewandelt.
Es schien, als ob sie mit innerer Genugtuung den Hall ihrer Schritte auf dem Resonanzboden des Brückenbogens hörten, und deshalb wie von selbst plötzlich noch fester auftraten mit den breitgesteppten Ledersohlen ihrer gelben Schnürstiefel, die sie von zwei toten Engländern geerbt hatten.
Unteroffiziere waren es. Nicht mehr ganz jung, so um die dreißig, und man sah ihnen an, daß sie schon vor dem Krieg viele Mannschaften scharf ausgebildet hatten, und sich nichts mehr wünschten, als solches ihr Leben lang zu tun. Sie sahen beneidenswert frisch und gesund aus. Der Krieg hat ihnen nichts anhaben können. Besonders der eine, der rechte, mit einem blonden, gedrehten Schnurrbärtchen, war ein hübscher Kerl und hatte sehr gleichmäßige Züge in dem ruhevollen, aber etwas leeren Gesicht, in dem ein paar bewegungslose und kalte Augen wie zwei eisblaue Löcher saßen. Man konnte den Mann sich genau vorstellen, wie er nachdenklich und schwitzend an dem Bleistift leckte, bevor er Meldungen schrieb, in fraglicher Rechtschreibung und in der angedrillten Handschrift des Militäranwärters. In dieser Handschrift war sein ganzes Leben, das hingenommen wurde, und das nie von dem Schimmer eines Gedankens erhellt gewesen war: Die faulen, vergähnten Stunden in dem Kasernenverschlag vor dem Feldbett, auf dem Holzschemel, unter den Ansichtskarten und den herausgeschnittenen nackten Mädchen aus dem »Magazin der Freude«. Die Kantine mit den tropfenden, umgekehrt aufgehangenen Bierkrügen und den Wurstenden im Wäschekorb: Gelbwurst, Blutwurst und Lioner. Und die immer wechselnden Gschpusi, von denen man zuerst als ›Ochkatzerl‹, und dann als, ›dös Mensch‹ sprach, wenn sie schwanger wurden.
Sie redeten nicht, die beiden. Sie sahen auch nicht um sich, sie gingen eben. Das genügte.
»Sakra, an Durscht hab i schon«, sagte mitten auf der Brücke der Rechte sehr still, mehr für sich eigentlich, als daß er ein Gespräch damit beginnen wollte. Außerdem lag ihm das Münchnerische nicht ganz, eigentlich schwäbelte er mehr. Er hatte sich das hier nur so für den Gebrauch angeschminkt.
»I hab durchaus kan Durscht nimma«, meinte (aber ihm war er angeboren, der Ton) der Linke nachdenklich, als sie an der Bank in die Allee einbogen. Und er sagte es keineswegs so, daß es etwa als ablehnende Antwort hätte gelten können.
»Geh, zahlst' ne Maas, Hanswurst«, meinte wieder der Rechte und lächelte sein unwiderstehlichstes Lächeln, als wäre der andere ein Mädchen, das es zu gewinnen gälte. Dann aber unterbrach er sein Bittgesuch und sah auf das Paar herunter, das da auf der Bank saß. Eben war es unter den Linden langsam daher gekommen, und hatte sich, weil die Bank doch für die war, die vorher müde wurden – trotzdem es eigentlich noch viel weiter wollte: denn laufen, laufen, gerade jetzt viel spazieren noch gehen, hatte der Arzt gesagt – doch schon hingesetzt. Ein Mann war das mit einem grünlichgrau-violetten, hellgesprenkelten, etwas wunderlichen Anzug; ein Mann, der einen Panamahut auf dem Schoß hielt, und der mit einem altmodischen Stock aus Malakkarohr nachdenklich Rillen in den Sand zog. Und da er den Hut abgenommen hatte, und Licht und Sonne um den Kopf spielen ließ, so konnte es, trotzdem die Schläfen kurz geschoren waren, nicht verborgen bleiben, daß in wenigen Jahren hier das Weiß über das Schwarz ganz gesiegt haben würde. Und daß er eben deshalb doch ein ziemlich seltsamer Begleiter für die junge, stattliche und dunkle Frau in dem weiten, silbergrauen, oder mehr holzfarbenen Taffetmantel war, die da neben ihm saß, leicht gerötet unter dem müden, etwas anämischen Bronzeton des Gesichts. Mit einer Röte, die mehr von der Anstrengung und ihrem Zustand, als von der Hitze kam. Und wenn ihre Augen scheinbar lustig aus dem Rembrandtschatten des großen grauen Filzhuts mit dem Silberband hervorleuchteten, so strafte sie doch der etwas verängstigte, kleine und schmale, nicht sehr blutvolle Mund ziemlich deutlich Lügen.
»Dös ist mal ganz a saubere, Herr Nachbar«, meinte der Rechte mit einer eingelernten Freundlichkeit. Und das sollte wohl eine Eloge für den Herrn, und vielleicht auch für die Dame sein. Als sich jedoch die beiden nicht mit ihm einlassen wollten, sondern es gleichmäßig überhörten, stupste der Rechte den Linken nur mit dem Ellenbogen. »Saggera, die hat a Holz vor der Hütten, Kamerad! Do würd i mi auch net lange bitten lassen.« Dann aber besann er sich doch schnell wieder, daß ein Bier immerhin jetzt realer wäre, als eine noch so schöne Frau, wenn sie mit einem andern auf einer Bank saß, und fuhr fort: »Geh, sa kan Schundniggl, Xaverl«; während er den anderen am Arm weiterzog. Ein Fink kam auf die Brücke geflogen. Kerzengerade von oben aus einem überhängenden Ast der Linden stürzte er wie ein zwitschernder, singender Stein mit Federn und Flügeln und Buntheit gleichsam herunter, ließ sich einfach herabfallen. Er hatte eine blauschillernde Haube, war braunrot, schwarz und weiß und drehte kokett den Kopf mit dem helleren Schnabel, daß die Kulleraugen blinkerten, während er den Boden nach grünen, kleinen Raupen visitierte, und in einem Augenblick schon wirklich einen ganzen Schnabel voll – denn sie hingen links und rechts heraus und drehten und wanden ihre grünen Raupenglieder ... (so dicht ist an solch einem Sommertag das Leben ausgesät) – aufgepickt hatte.
Dann aber hatte sich ein zweites herabgleiten lassen, gar nicht sehr und auffallend bunt, garnicht kokett, eher schlicht, graugrün und hausmütterlich, – das ebenfalls, wenn auch lässiger, ein paar von den grünen, kriechenden Wesen aufpickte, und dabei tat, als kümmere es sich keineswegs darum, daß der andere, der bunte, da nur noch für sie Augen hatte, und in immer engeren Kreisen, immer hastiger, um sie herumzutrippeln begann und dabei trillerte, gurrte, flötete und zwitscherte und lockte.
Aber, als er dann aufhuschte, sich geradezu wie ein heller emporflatternder Ton hochschwang, um wieder auf dem überhängenden Ast zu enden, da hielt es dieses grüngraue Etwas auch nicht mehr am Boden, und es huschte ihm nach. Man könnte es so ausdrücken: direkt in seine Arme oder unter seine Flügel.
Und die Brücke war wieder leer, und nur die Sonnenflecke oder die grünlichen Schattenflecke – je nachdem, von welcher Seite man es ansehen wollte – marschierten über sie hin. Eine Libelle, eine goldgrüne Smaragdnadel mit Kristallflügeln schwang sich mit ihnen über sie fort und blieb einen Augenblick in der Luft stehen. Aber hier hatte sie nichts zu suchen, wenn sie auch durch die Luft glitt. Sie gehörte doch von ihrem Vorleben her zum Wasser, zu dem grünen, flutenden Laichkraut da unten, daß in langen Wedeln in der Strömung dahin peitschte, und zu den Fischen, die plötzlich ihre Standplätze wechselten, und kleine unerwartete und aufblitzende Strudel dabei machten. Und über die glitt sie auch wieder hin, schnell wie ein Gedanke.
Dann aber kam ein Laufkäfer. Ein großer, metallschillernder, hastiger Laufkäfer. Und er nahm die Brücke in raschestem Tempo, als handele es sich um einen Endspurt. Denn er liebte keine Orte, wo er zertreten werden konnte. Weiß der Teufel, was ihn bestimmt hatte, heute Nachmittag schon so früh aus seinem Loch zu kommen, statt wie sonst erst nach Sonnenuntergang. Und richtig, da tönten schon wieder Schritte, diese peinlichen und gefährlichen Menschenschritte über die Brücke hin. Er konnte garnicht schnell genug sich an einen Stein schmiegen.
Aber diese Schritte hatten durchaus nicht so viel Freude an dem eigenen Klang, wie die vorhin. Sie kamen zwar auch von Soldatenstiefeln. Aber von alten, lehmigen, lange nicht mehr gewichsten. Und die kaffeebraunen Velvetthosen darüber waren zwar auch irgendwie fremdländischen, soldatischen Ursprungs, aber sie saßen salopp und alt mit vielen Falten in den Stiefelschäften. Und auch der graue, löschpapierne Militärrock war nicht sieghaft und adrett, wie die vorher, sondern er hatte noch Flecke vom Öl der Maschinengewehre. Und viele zusammengezogene Stopfer. Vielleicht waren sogar da Kugeln und Granatsplitter hindurchgegangen. Aber die Löcher, die sie in den Leib darunter gerissen, waren ebenso verheilt nun, wie die Löcher im Rock. Doch es war wenigstens ein Rock noch. Bei der Arbeit brauchte ihn der Mann zwar nicht. Denn er war Erdarbeiter. Er hatte drüben den kiesigen Boden, die Baugruben für die neue Siedlung, den ganzen Tag über mit ausheben helfen. Und das tat er stets mit bloßem Oberkörper. Jetzt wenigstens, so lange Sommer war. Aber nach Hause gehen konnte man nun so halb nackt ja doch nicht. Und er ging doch jetzt pfeilgrade nach Hause. So schwer ihm das fiel. Halbwegs bis Mosach herüber mußte er. Er war ein alter Kerl, ein richtiger Hallodri, wie man sagt, mit seiner schiefen Feldmütze, mit einer schmalen, gebogenen Schmalzlernase und voller angegrauter Bartstoppeln in dem Gesicht mit den weißblonden Augenbrauen und den vielen, tiefen Falten, die wie hellere Flüsse durch die rostbraunen und etwas verlehmten Backen sich zogen. Das heißt, er war garnicht so alt. Vielleicht vierundvierzig. Aber er sah nach dem harten Krieg und nach all dem schweren Schaffen von seinem vierzehnten Jahr an wie fünfundfünfzig aus.
Und die Schuhe seiner Begleiterin – und das hatte die Flucht des armen Goldkäfers noch beschleunigt – hatten gleichfalls sehr wenig von Weiblichkeit, und sie waren keineswegs kleiner und zierlicher etwa wie das andere Paar. Und das hätte auch nicht zu dieser Begleiterin gepaßt, die über dem roten und verquollenen Gesicht mit der Klumpnase und den entzündeten Augen sehr viele tiefbraune Haare um den Kopf gelegt hatte, in Zöpfen wie Schiffstaue dick, auf denen wiederum ein schiefes Miesbacher Hütchen, grün mit pendelnden Troddeln, verdächtig ins Rutschen gekommen war, aber doch nicht fiel, weil es eben mit langen Spießen in diesem Haarbau künstlich verfestigt und festgesteckt war. Ihr blauer Rock schlug weite Falten um die breiten Hüften, und um die noch breitere Kehrseite, und das Mieder war prall um den Leib und um die starken arbeitsgewohnten Arme. Sie markierte durchaus nicht mit Juhu das Dirndl; denn sie war eine gesetzte und ältere Person, die für so etwas gewiß nie zu haben gewesen wäre. Nein, sie ging in dieser Tracht, weil sie so gehen mußte, und weil sie eine Angestellte bei der Münchener Straßenreinigung war, und das war deren Uniform. Und sie hatte soeben ihren Freund, den Alois Bogenrieder, den sie scharf an der Kandarre hielt, von seiner Baustelle abgeholt, damit er nicht etwa mit den Spezis den Lohn durch die Gurgel wieder mal jage, sondern sogleich mit ihr heimginge. Und so tappten sie, keineswegs bester Laune, nebeneinander her, jetzt über die Brücke hin.
Plötzlich aber machte der Alois Bogenrieder einen langen Hals und spähte nach der anderen Seite herüber. Die Adern schwollen ihm und wenn sein rotgegerbtes Gesicht noch röter hätte werden können, so wäre es das geworden. Vor Schrecken und Wut ließ er beinahe das Schmalzlerglaserl hinfallen, aus dem er sich eben im Gehen sachkundig die nußbraunen Krümel in die Grube zwischen Daumen und Zeigefinger hatte schütten wollen. »Da mögst doch glei verrecka, Afra« sagte er halblaut und wies mit dem buntgestreiften Fläschchen zu den beiden hin, die da drüben langsam, aber militärisch, weiterpendelten. »Dieser eiskolte Tropf da drüben, schaust, den rechten dort, dieser Spitzbüamhäuptling der schlechte verdächtige ... dös is doch der, wo mir nach Stadelheim g'bracht hat damals ... dös is doch der, dieser elendige Bazi.«
»Geh, komm weg, Alois, sei stad«, meinte die Afra bedächtig und packte ihren illegitimen Bettgenossen mit ihren festen Händen am Arm ... »laß den gehn. Da kannst fei nix machen.«
Und die wackere Afra zog trotz seines ›mentischen‹ Zorns ihren schimpfenden Halodri, den Alois Bogenrieder, recht kräftig nach der andern Seite hinüber, drehte ihn mit einem Ruck gleichsam um seine eigene Achse, sodaß er die wegschlendernden Soldaten dahinten garnicht mehr sehen konnte.
Aber dann blieb die Brücke wieder eine ganze Weile lang verschont von Menschenschritten.
Nur ein grünes Lindenblatt flatterte und schwebte langsam von oben herab und blieb flach auf dem Gesicht im Staub liegen. Und einzig eine Schwalbe flitzte über den Brückenbogen fort.
Doch Fritz Eisner bemerkte sie eigentlich nicht. Er sah nur, wie ihr graziler Körper, ihr weißer Kehlfleck und die Doppelsichel ihrer stahlblauen Flügel sich im Wasser da unten spiegelte, und dachte, leicht sonnenverdöst, wie seltsam das in dieser Welt doch sein kann, daß neuerdings die Schwalben sogar unter dem Wasser dahinfliegen. Und bis es ihm langsam ins Bewußtsein träufelte, daß er statt des Seins nur den Schein erhascht hatte, war die Schwalbe selbst auf ihrer Mückenjagd schon ganz hinten ... kaum noch zu entdecken war sie.
Und nur noch drei weiße Enten zogen statt ihrer, mit den Köpfen taktierend und sich voreinander verbeugend, unter dem gewölbten Brückenbogen hin, ruderten eine hinter der andern. Im hellen Wasser, durch das zerbrochene Steingutteller und verbeulte Emaillebecken leicht verschleiert heraufschimmerten, sah man unter ihren breiten gelben Blattpaddeln von Entenfüßen und unter dem silbrigen Gefieder ihres Leibes glatt hindurch, sodaß sie nicht zu schwimmen, sondern auf dem durchsonnten Etwas, daß sie trug, zu schweben schienen.
Dann aber stellte sich die erste von den dreien ganz unerwartet auf ihren breiten Schuhen im Wasser auf, spreizte pathetisch die weißen Flügel aus, und schlug sie so schnell hin und her, daß es wie ein Federwölkchen um sie stand, und daß die hochgepeitschten Wassertropfen im silbrigen Sonnenlicht einen bunten kleinen Regenbogen um sie sprühten. Und sie gab damit den beiden andern das Zeichen, das gleiche zu beginnen: mit den Flügeln zu schlagen, und einen Regenbogen aufspritzen zu lassen und dazu zu schreien, sich ein paar Daunen mit dem breiten Schnabel vor Freude aus der Brust zu reißen, sie auf das ziehende Wasser zu streuen ... wieder zu schreien, zu trompeten, zu schnattern etwas, das sie selbst nicht verstanden, und das doch unschwer zu verstehen war, wenn man einmal Nietzsche gelesen hatte: Das Leben ist ein Born der Lust! Ganz hinten, wo es nach dem Jagdhaus und seinem Biergarten herüberging, bogen nun schon die zwei Unteroffiziere ab. Fritz Eisner hatte ihnen eine Weile nachgeblickt, dann aber sah er vor sich auf die lärmenden Enten da unten im Wasser, und sein nachdenklich angefärbter Blick schien deutlich zu sagen: Gewiß, ja ihr mögt schon recht haben ... so weit ... »aber, wo das Gesindel mittrinkt, da sind alle Quellen vergiftet.« Nun aber war die Brücke wieder einmal lange genug still gewesen und hatte nur dem Spiel der Sonnenflecke gehört, und deshalb kam jetzt – um das wohl gut zu machen – gleich eine ganze Menge Schritte auf einmal. Eine ganze Auswahlsendung, ein wohl-assortiertes Lager von wuchtigen Männerschritten auf einmal. Männerschritte von Knaben und Mädchen. Rhythmische Schritte. Lange und ausgreifende Schritte. Schritte als Beruf und Weltanschauung. Zu Sang und Gitarrengeklimper. Männliche Mädchenschritte auf Sandalen, wie sie ähnlich schon einst rothaarige Tanagräerinnen getragen hatten. Männliche Knabenschritte auf Haferlschuhen. Aber sie, diese Knaben (sie markierten trotzige Verträumtheit) waren meist schon wollig um Schläfen und Wangen, flaumig wie Frühpfirsische, und ihre gebräunten, strümpfeverachtenden, muskelstarken Waden, waren rauher als die von Esau. Alle hier rochen gleichsam von weitern schon nach Erdhauch und Scholle. Alle hatten sie Brotbeutel um die Lenden gegürtet und schleppten schwere Rucksäcke, die genug für Wochen zu enthalten schienen. Und sie hatten noch riesige Kochtöpfe mit verrussten Böden darüber aufgeschnallt. Und für die Nacht führten sie braune aufgerollte Woylachs mit, die jetzt überall aus den Kriegsbeständen für Markstücke verramscht wurden. Es waren wohl eigentlich alles sehr einfacher Leute Kinder, aber sie ließen sich wie Ritter einen mit seltsamen Emblemen bestickten Wimpel von einem Knaben mit Pagenfrisur und in Pagenformat vorantragen. Und sie hatten selbst Schilder, die auf rotem Grund solche Embleme wiederholten, sich an die Leinenjacken geheftet.
Die jungen Mädchen hingegen trugen außerdem auf dem Busen tellergroße behämmerte Bronceplatten mit ähnlichen Runen verziert. Die Knaben aber mieden solche Abzeichen. Es genügte ihnen, daß sie sich gegen die Hutmacher und die Friseure verschworen hatten, und das unnatürlich dicke, ungleichmäßig von der Sonne ausgeblichene Haar starr nach hinten gebürstet hatten, damit es wie ein Wasserfall über die Klappkrägen fiele. Die Mädchen aber waren, was die Haartracht betraf, durchaus persönlichkeitsbetont. Etwelche, die mit vorgestreckten Hälsen und wandergewohnten Waden unter der Last der Rucksäcke dahergezogen kamen, hatten also dunkle Schnecken – die jene verbargen – auf den Ohren. Etwelche hatten – die sie wie ein Bild in einen Louis-Seize-Rahmen faßten – gedrehte Zöpfchen um die geröteten Ohren. Etwelche Dutt und straffe Madonnenscheitel. Und nur einer fielen die dünnen, blonden, langausgekämmten Haarsträhnen, durch die die Ohren, rosig wie Kaninchenohren, nur hindurchschimmerten, bis auf die breiten Mädchenschultern, und sie wurden oben von einem schmalen Goldreif aus Kuchenblech über der weißen Stirn zusammengehalten.
Aber die Gesichter der Mädchen waren doch weit weniger persönlichkeitsbetont (sie hatten alle etwas, als wären sie aus Roßkastanien geschnitten). Und die Kleider waren eigentlich eins wie das andere. Genau so wie die Jacken und die schenkelkurzen Leinenhosen der Jungen, denen die Mädchen sich zu freier Wanderfahrt verbunden hatten, eigentlich auch alle gleich waren. Die Kleider also waren dort sehr weit, wo sie sehr weit sein sollten. Und sie waren dort sehr eng, wo sie eng sein mußten. Sie waren aus einfarbigem Leinen. Und manche aus karrierten und gewürfelten Tischtüchern aus Sommerlokalen. Doch alle waren sie an allen Ausschnitten mit Perlgarn umhäkelt und dazwischen mit bunten Holzperlen besetzt.
Und so zogen sie dahin und sangen. Es klang wirklich-naturfrisch, wie sie da unter Lautenbegleitung: »Rudinella rula ... grün ist die Heide, die Heide ist grün ...« schmetterten.
Aber das taten nur die vorderen, die von der R. J. D.-Gruppenführerin selbst geführt wurden, einem seltsamen, angegrauten, kurzhaarigen, jugendbewegten Wesen, mindestens weit in den Vierzigern schon, mit strenger Freundlichkeit oder freundlicher Strenge um die spitze Nase, über der eine kräftige Hornbrille ritt. Sie schleppte nicht nur den größten Rucksack, sie schlug nicht nur die größte Klampfe, sondern sie hatte auch die größte Krawattenkollektion daran hängen, die bunt im Winde, den ihr kräftiger Männerschritt verursachte, flatterte. Aber sie hatte einen seltsamen Gang, sie ging sozusagen mit den Schulterblättern wie eine Blindschleiche.
›Dieser Gang? Dieser weitausgreifende und doch schlendernde Schritt?! Wer hatte denn nur jenen Gang mit den Schulterblättern wie eine Blindschleiche?‹ schoß es Fritz Eisner durch den Kopf.
Und dieser Gedanke fand noch mehr Zündstoff bei ihm, weil eben dieses Wesen im Vorüberschreiten die spitze Nase und die Schärfe ihrer Brillengläser nach ihm wandte und darunter ihr sachlichen graublauen Augen, die auf ernste Lebenslust gestimmt waren, fragen ließ: ›Wer ist denn nur dieser Angegraute, mit dem viel zu jugendlichen Anzug und dem Panama ...? Er ist mir doch schon früher einmal über den Weg gelaufen! Aber ich weiß wirklich im Augenblick nicht, wo ich diesen Bourgeois hinbringen soll. Jene Person noch in andern Umständen da neben ihm jedoch erinnert mich irgendwie an diese reiche, diese verdrehte Malerin damals, die Lena Block. Nur daß die hier zwanzig Jahr jünger ist.‹ Aber nur die vorderen Paare sangen: Rudinella rula. Die nächsten hatten sich selbständig gemacht, und trällerten und klimperten halblaut etwas von einem Brünnlein und einem Holderstrauch und einem Mönch Walteramus.
Das allerletzte Paar jedoch, das etwas nachtrottete, und dem man deutlich die Absicht anmerkte, sich möglichst bald von den andern zu trennen, denn sie waren sich gegenseitig durchaus genug, dieser halbwüchsige griffeste Luki da, – der einzige, der auch eine in die Stirn gewischte Haarlocke trug – mit seiner reichlich fürsorgebedürftigen, drallen, fünfzehnjährigen Partnerin, der Zenzi Gruber ... (aber sei du mal fünf Jahre ohne Aufsicht im Krieg, und nachher ohne Vater, der von einem Sturm auf den Kemmel nicht mehr zurückfand, bei einer Mutter, die dann ihr Geld verdiente, wie es kam, meinst du etwa, du würdest anders geworden sein?! Noch viel verkommener, und dabei nicht halb so frisch und nett und gutmütig, wie die Zenzi Gruber aus Haidhausen!) ... also dieses allerletzte Paar wollte auch von dem Mönch Walthramus nichts wissen, und es war, was ihm auch mehr lag, schon bei jenen alten braven Schnaderhüpferln angelangt, die eigentlich erst für vorgerücktere Stunden um das Lagerfeuer bestimmt waren und als der ernsten Sache, die hier vertreten wurde, unwürdig! – vom R. J. D. abgelehnt wurden. Er hatte sich deshalb erst kürzlich vom B. D. J. abgespalten.
Aber was tat das? die beiden da, dieser Lauser und die Zenzi, hatten schon Rhythmus und Musik im Leibe und in den Gitarren, anders wie das sentimentale Gelabber da vor ihnen.
Sonntag war Kirmi bei uns
Allweil fidell, fidell,
Drei sein derstoche worde ... allweil fidell!!
Aber, als sie an der Bank vorbeimußten, dieses Paar – und es sah ganz nett und bunt aus, wie sie da so einer nach dem andern vorübergezogen waren an Ruth und Fritz Eisner in der hellen Luft, hinten gegen den blauen Himmel und das weiße Halbrund der gekalkten Häuser; – nicht wie ein Bild; aber fast wie ein farbiger Münchner Steindruck aus der Jugendzeit der »Jugend«, als sie noch nicht das »Alter« war ... wie sie da vorüber mußten, da blinzelten sie plötzlich beide frech von der Seite herüber, der junge Luki neben seiner reichlich verkommenen Zenzi Gruber, krausten die Nasenwurzeln und schmetterten los:
»Es staht auf der Sonn'straß'
Oan stattliches Haus,
Wann oane da neigeht
Kumme zwa wieder naus!!«
Fritz Eisner lachte den beiden dankbar zu. Das hatte er längst vergessen. Das hatte ja vor siebenundzwanzig Jahren der famose alte Komiker, der Papa Gais, im Pollinger, immer gesungen.
»Halloh, Kinder, dös stimmt aber fei nimmer«, rief er, »da ist doch jetzt längst eine Gewerbeschule, oder sonst etwas, drin.«
Aber die beiden hatten garnicht den Erfolg ihres Gesanges abgewartet, sondern waren in kräftigen Schritten schon weiter gezogen, wie die ganze Horde von Wandervögeln. Vornweg der Page mit dem Wimpel, und, den Tritt angebend, mit den Bewegungen einer Blindschleiche, die leise ergraute R. J. D.-Gruppenführerin, die jetzt über die Heide ihr Gedenken zu Annemarie schickte, und dazu die Krawattenkollektion an ihrer riesigen Klampfe flattern ließ.
Fritz Eisner sah ihnen nach. ›Ein freies Leben führen wir ... ein Leben voller Wonne‹ summte er vor sich hin und lächelte seiner Nachbarin zu. Dann aber schlug er sich plötzlich mit seinem alten Malakkarohr gegen das Beinkleid und die Schuhe, daß davon kleine Steinchen bis ins Wasser spritzten.
»O Gott, Nuck«, rief er, »jetzt weiß ich es endlich, wer das war. Das war doch Selma! Selma Klein, die Frau von Wilhelm Klein, dem freien Schulfritzen; (nebenbei ein recht anständiger Kerl!) Das heißt, vielleicht ist sie garnicht mehr seine Frau. Ich jedenfalls, habe mir abgewöhnt, bei Ehepaaren, die ich von früher kenne, wenn ich sie länger als sechs Monate nicht gesehen habe, zu fragen: ›wie gehts Ihrem Herrn Gemahl? Was macht die gnädige Frau?‹ Es schafft immer so peinliche Situationen für alle Teile. Selma Klein ... also sie ist doch wie ein Chamaeleon: Kunstgewerblerin. Vegetarierin, Georgianerin, Antroposophin, Steinerianerin ... Dann Graphologin. Das hab' ich noch mitgemacht, die andern Phasen sind mir entgangen. Und jetzt scheint sie solche Gruppenführerin zu sein. Es wird auch nicht lange vorhalten. Innerhalb von zwei Jahren überwindet sie jede neue Religion. Und weißt du, woran ich Selma Klein wieder erkannt habe ... doch endlich? Am Gang. Alles ist eigentlich verändert an ihr, weder hat sie eine Brille getragen, noch eine spitze Nase. Aber gehen tut sie immer noch wie eine Blindschleiche. Früher hat sie auch mit den Schulterblättern gesprochen. Na, das konnte man eben jetzt nicht kontrollieren.«
Fritz Eisner hatte lustig und etwas überbetont vor sich hingeplaudert, denn es lag ihm daran, da um Ruths Mund einen kleinen Schmerzenszug, den er nun in neun Monaten wahrlich gut genug kennen gelernt hatte, durch ein Lächeln wegzuwischen. Im Ganzen war er dabei ... aber davon hörte man nichts! ... durchaus peinlich berührt davon, dieser Selma Klein hier so ganz unvermutet begegnet zu sein. Denn er schätzte es jetzt sehr gering, alte Bekannte wieder zu treffen. Die konnte er bisher und in diesem Augenblick gerade am allerwenigsten brauchen.
Aber Ruth hatte kaum hingehört ... das merkte er ihr an ... war garnicht bei der Sache gewesen. Vielleicht war sie noch bei dem alten Erdarbeiter und seiner Afra. Oder bei dem frischen, hübschen und freundlichen Sergeanten, der sich gewiß im Augenblick gar nicht mehr an diesen Zivilisten erinnerte, den er damals abgeführt hatte. Denn das hatte er als Soldat getan. Mit abgenommener Verantwortung. Durch was oder wen ... das war ihm zwar nicht klar. Und was ging ihn das jetzt an, da er bis Montag um zehn Urlaub hatte und spazieren ging, und eben nur ein Privatmann in Uniform war. Als Privatmann hätte er nie daran gedacht, so etwas zu tun. Und dann waren ihm auch persönlich diese Dinge viel zu gleichgültig ... von ihm aus der Kaiser von China. Und außerdem war er als Privatmensch selbst ja doch nur ein armes Luder. Vielleicht dachte Ruth auch garnicht daran. Sondern sie war nur vom Gehn etwas müde, hatte Schmerzen – das hatte sie wohl immer – aber in den letzten Wochen war es ihr doch etwas besser gegangen ... nicht mehr immer diese abscheulichen Ohnmachten und dieses krampfartige Schneiden, daß man nicht schnell genug die Pantoponspritze aus dem Glas kriegen und zusammen schrauben konnte ...
Vielleicht war Ruth auch nur zu tief in das Gespinst ihrer Gedanken und Sorgen verstrickt, die etwas viel waren für ein immerhin noch sehr junges Menschenwesen, als daß die Umwelt in diesem Augenblick gerade sehr real für sie gewesen wäre. Und dann verstand sie auch vom Münchnerischen noch viel zu wenig, um eigentlich im Vorbeifliegen sofort zu begreifen, welche Farbe hier gespielt worden war.
»Du«, sagte sie und legte Fritz Eisner die kleine geäderte Hand – viel zu klein für ihren schweren Frauenkörper – auf die Schulter, sodaß er den Stein von dem nach innen gedrehten Brillantring (das sah jetzt besser aus) spürte, »Du – findest du eigentlich, daß man viel sieht? Ich habe vorhin, wie wir weggingen, in den Spiegel geguckt. Mir würde es – wenigstens in dem Ottomanmantel – nicht auffallen. Ich bin doch froh, daß ich ihn noch gehabt habe.« »Gott ... Nuck, wenn ich es nicht wüßte ... und, daß ich es weiß, wirst du ja nicht bestreiten können ... also ich schwöre beim Barte des Propheten, dann würde ich es ja auch nicht merken, mein Liebling.«
Fritz Eisner sah dabei schräg neben sich auf den Boden hin nach dem schwarzgrauen, alten, von Knollen, Schößlingen und Wucherungen bedeckten Fuß der Linde da herüber. Er liebte es nicht, zu lügen. Er haßte sogar Notlügen. Nicht aus Wahrhaftigkeit. Er hatte nur die andere Technik: zu verschweigen. Arbeitete, wie der Zauberkünstler im Varieté mit dem doppelten Boden. Aber darin war er Meister.
Und deshalb, weil er jetzt lügen mußte, sah er herunter, sonst hätten ihn sicher seine Augen verraten ... Er kannte sich, das war in solchen Lagen seine einzige Rettung.
In der glatten, schwarzgrauen Rinde, aber da – dort wo die kropfigen Auswüchse mit jungen Schößlingen besetzt waren – liefen träge kleine, rote Wesen durcheinander. Etwelche waren ganz rot, wie kleine Flämmchen, andere schwarz und rot gemustert. Scheinbar waren es junge und alte Tiere. Sie sahen ganz schmuck aus. Aber niemand begriff, was sie eigentlich wollten, wozu sie da waren, und wozu sie in solchen Mengen da waren und sich anscheinend so wichtig nahmen. Das blieb doch sonst nur den Menschen vorbehalten. Und plötzlich hatte Fritz Eisner es wieder, dieses tiefe und fast unheimliche Erstaunen von damals, als er ganz klein war und dem Erdboden und den Dingen dreimal so nahe war, als er den Dingen jetzt war: Charlottenburger Chaussee. Die dicken Linden. Eine Gouvernante will ihn am Arm weiterzerren. Fräulein Seifert hieß sie. Und er schreit, weil er sich die da genau ansehen will, diese roten und schwarzroten Bonbonchens, die da so langsam und bedächtig in der Sonne um die Knubbel mit den hageren Ruten ihrer Schößlinge da hin und her liefen ... diese Feuerwanzen. Das heißt, daß sie so hießen, das hatte er erst viel, viel später in der Naturkundestunde bei Ajeb gelernt. Wenn man bei dem überhaupt etwas lernen konnte.
Und plötzlich war das alles da, deckte sich gleichsam mit dem Bild hier, bestand neben ihm, und war mindestens gleich deutlich, wie diese Wirklichkeit hier: Er saß zugleich mit Ruth ... Ruth, die in den nächsten Tagen das Kind erwartete ..., hier am Nymphenburger Kanal auf der alten Bank, bald fünfzigjährig, mit dem Stock Marley, auf dessen Schildpattgriff er seinen Panamahut drehte ..., bald fünfzigjährig oder so da herum und mit einem komischen Anzug ... aber sie waren schon froh, daß er den durch Ruths Beziehungen, oder wenigstens den Stoff dazu aus einer Tuchfabrik in Spremberg bekommen hatte. Hintenherum. Denn das war ja jetzt eigentlich die einzige Möglichkeit, zu etwas zu kommen. Immer noch. Die Könige waren abgezogen. Das Volksheer war aufgelöst so ziemlich, bis auf die Baltikumer und ein paar andere Regimenter. Der Krieg war zu Ende. Aber der Bezugsschein stand immer noch in Flor.
Zugleich saß er mit Ruth in ihrem holzfarbenen Ottomanmantel und ihrer silbergrauen Velourwippe hier auf der Bank am Nymphenburger Kanal, und zugleich beugte er sich breitbeinig und staunend, – ein Kerlchen noch im Mädchenkleid, mit einer schottischen Schärpe (denn den ersten Anzug mit Hosen hatte er viel später erst bekommen) – in der Charlottenburger Chaussee über das Durcheinanderwuseln solcher kleinen, rotschwarzen Wesen um die Schößlinge der alten Lindenbäume.
Beides deckte sich nicht ganz und vollkommen ... aber beides war er ... Eigentlich hatte er sich nur wenig verändert seitdem innerlich ... war noch genau so ein Kind.
Seltsam – wie das Ich als perennierende Kette, stets sich selbst überwindend, und doch stets sich gleich, durch unser Leben nur geht!! Und dabei ist doch das Lebensgefühl, jetzt um die Fünfzig bald herum, so ganz anders, als es noch trotz Krieg und seiner Fraglichkeit, die alles, aber auch alles schwanken machte ... als es noch vor zwei, drei Jahren war.
Man hatte doch eigentlich bisher, und selbst damals noch, nur von den Zinsen gelebt. Und plötzlich erkennt man nun, daß das Leben gar keine Zinsen mehr zahlt; und es bleibt einem eben deshalb gar nichts anderes übrig, als das Kapital anzugreifen. Und da wird man dann immer – das ist eine unumstößliche Tatsache – viel, viel schneller mit fertig, als man eigentlich denkt. Bisher redete man sich ein, man war der Wirt. Und plötzlich sieht man, daß man die Rolle gewechselt hat und daß man nur noch solch später Gast in seinem eigenen Dasein ist, der sich elend vor dem dunklen und kalten Heimweg grault, und deshalb doppelt laut tut, und ein Glas nach dem andern herunterstürzt und trotzdem nie vergißt, daß jede Minute Feierabend geboten und er vor die Tür gesetzt werden kann. Und doch bleibt man dabei immer noch insgeheim das Kind mit dem Kleidchen und mit der schottischen Schärpe, das sich wundert, was da an der Erde um die Lindenwurzeln durcheinander eigentlich wuselt.
»Na, wollen wir nicht vielleicht doch solch' ein ganz klein wönig mal oben (wie der Hamburger sagen würde) wieder mal etwas weiter gehn, mein Kindchen?!« Ruth macht keine Anstalten, sich zu bewegen.
»Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mit dir bis Blutenburg heute Nachmittag noch zu kommen. Ich muß doch was für deine Bildung tun. Und außerdem muß ich nämlich durchaus in diesem meinem Leben noch einmal nach Blutenburg.
Gott wird mich mal danach im Jenseits fragen, gerade danach bei meinem Pech.«
»Wirklich nicht, Yorrichen.« Fritz Eisner spürt wieder den nach Innen gekehrten Brillanten auf dem Schulterblatt. »Du verwechselt das jüngste Gericht mit einem Doktorexamen. Gott fragt nach ganz andern Dingen. Er wird wenigstens mich bald fragen: ›Warum zum Beispiel habt Ihr in München keine Wohnung gehabt?‹ Garnicht auszudenken doch eigentlich, Yorrichen, daß alles an einer Wohnung scheitern soll. ›Man kann einen Menschen mit einer Wohnung eben so sicher totschlagen, wie mit einer Axt‹ schrieb Hunter im »Pauperismus« von Amerika. Aber er vergaß hinzuzufügen: ohne Wohnung noch sicherer. Du hast immer mir versprochen: ich sollte ... ich zitiere, Yorri!! ... dann wenigstens meine Absicht, die Bevölkerungsstatistik zu verbessern, nicht in einer Klinik, sondern in unserer Wohnung zur Ausführung bringen. Oder bestreitest du das?«
»Aber Liebling«, sagt Fritz Eisner bedächtig. »Sieh mal, was da fliegt, ein wunderschönes Tagpfauenauge, Vanessa Io ... aber Liebling, du weißt doch, was wir uns für Mühe gegeben haben. Es war doch alles nichts. Aber ich gehe bestimmt noch nachher dahin. Du hast mir ja die Adresse aufgeschrieben. Wirklich, ich schwöre es dir. Wann sollte ich denn? Ich bin doch erst heute früh wieder hier angekommen, Liebling.«
Nein, von Wohnung will Fritz Eisner jetzt wahrlich nichts hören. In diesem Augenblick schon garnicht. Es ist der allerungeeignetste für ein solches Thema. Die Wohnungsfrage hat ihm schon genug Kopfzerbrechen gemacht.
Es ist keine zu haben, wenigstens für ihn nicht. Und dann ist es sicherlich jetzt noch besser, sie leben in einer Pension, solange das mit der Scheidung nicht klappt ... da lebt doch – scheinbar wenigstens! – jeder für sich; ... als daß er hier in München, als ungeschiedener Mann, mit einer unverheirateten Frau, die bald ein Menschenalter jünger ist als er, vor der Behörde öffentlich zusammenlebt. Ihm wäre es gleich. Aber man setzt doch nicht einen Menschen, den man liebt, diesen plumpen behördlichen Peinlichkeiten aus. Und man wird jetzt schon in der Pension genug belästigt. Des Morgens um sechs holen sie einen aus den Betten, fragen alles mögliche, wollen Pässe sehen. In München ausgerechnet. In diesem famosen, alten München von einst, das den Spruch Friedrich des Großen sonst immer, wenn eine Stadt in Deutschland, in Ehren gehalten hatte, daß jeder bei ihr, intra muros, innerhalb ihrer Stadtmauern, nach seiner Façon selig werden konnte.
Und dann ist wirklich keine Wohnung zu haben. Wenigstens für sie nicht. Und wie hätte er auch inzwischen eine suchen können? Und wie einrichten jetzt? Immer wieder war 'was anderes: Krankheit, Revolution, Krankheit, Räterepublik, Vernehmungen, Krankheit, Haussuchung, Sanatorium, und von Hause her und zu Hause diese wüste Quälerei, der Kampf um die Kinder ... die Scheidung wurde verschleppt, dilatorisch behandelt. Es war gar nicht mehr die Rede davon. Und immer dazu noch diese torpedierenden Briefe, die einen nie zur Ruhe kommen ließen, auch nicht achtundvierzig Stunden lang. Er konnte konzedieren, was er immer wollte, die Schriftsätze wurden kaum noch beantwortet, ausweichend ..., Zermürbungstechnik. Und dann hieß es erst: die Schwangerschaft sollte nicht unterbrochen werden ... das wäre kein Grund diese Zustände. Etwas Nierenbeckenreizung. Das käme dabei öfter vor. Dann: es wäre doch besser, man täte es, denn man könne sich diese kollapsähnlichen Zustände, die nach Pausen immer wieder kamen, aus dem Nierenbefund nicht ganz erklären. Aber – das gestand man doch nicht so recht ein, wenigstens ihm nicht. Dann hat man noch andere hinzugeholt ... traute sich nicht so recht heran: Gewiß, wenn er darauf bestände, würden sie ... aber sie übernähmen nicht die Verantwortung. Es wäre jetzt ebenso schlimm, wie eine Entbindung. Und eine Entbindung wäre sicher leichter und weniger gefährlich, weil sie da nicht der Natur ins Handwerk pfuschen brauchten. Und dann hätte man doch ein Kind. Und die ganze Quälerei, die langen Monate, wäre nicht umsonst gewesen.
Zum Teufel auch, warum hatte man ihn so hingehalten, und ihn und Ruth dann in diese fatale Situation gebracht. Man sollte wirklich ein Buch schreiben: ›Der Arzt und seine Verhütung‹. Ärzte sind peinlich. Sie wissen als Menschen zu viel vom Leben, und, wenn man sie als Ärzte braucht, immer zu wenig. Alles hatte versagt. Nichts war so gekommen, wie er es gewollt hatte. Die Scheidung sollte vier Wochen dauern, hieß es erst. Und jetzt war garnicht abzusehen nach bald dreiviertel Jahren, daß sie überhaupt mal zustande kam. Er hatte wenigstens keine Mittel in der Hand, sie zu erzwingen. Im Gegenteil, man hatte ihn mit den Kindern in der Hand. Die Kinder, hieß es, wollten nicht, sie wollten den Vater nicht verlieren. Hundertmal hatte er mit ihnen deshalb gesprochen. Sie würden es besser haben, als vorher, sollten bei ihm ja auch eine Zeit wohnen, immer in den Ferien ... Sie hatten alles eingesehen ... Nein, an ihnen läge es gewiß nicht. Und das nächste Mal, nach acht Wochen, waren sie wieder von neuem verhetzt. Pfui Teufel, man zieht doch Kinder nicht in solche Dinge hinein. Und dabei mit gebundenen Händen, alles mit ansehen müssen! Er hatte immer gesagt: ›Paß auf, das eine verspreche ich dir wenigstens, du sollst das Kind in unserer Wohnung bekommen‹. Und das nicht mal! Er hatte ihr gesagt: Du sollst nicht denken und du sollst nicht handeln, ich denke und ich handle für dich! Gedacht hatte er schon genug. Er hatte ihr immer das Gedicht von der alten Wachtel und den jungen Wachteln aufgesagt. Das hatte er noch in der Schule gelernt. Die Generation nach ihm schon nicht mehr. Wie die Magd am Feld vorbeigeht: es soll gemäht werden. Und die jungen Wachteln die alte Wachtel ängstlich fragen, wann sie wegfliegen müssen. ›Wir haben noch Zeit.‹ Wie der Knecht vorbeigeht ... Die Bäuerin. Immer vertröstet die Alte. Aber wie der Bauer endlich sagt: ›Morgen wollen wir das Feld mähen,‹ da ruft die Alte: ›Jetzt ist Zeit. Vor Tau und Tag ziehen wir hier aus.‹
Und jetzt kam der Bauer und wollte das Feld mähen, und er wußte nicht, wohin. Er hatte bisher alles in seinem Leben durchgeführt, was er auch nur angefangen hatte. Und plötzlich gelang ihm einfach nichts mehr, ging alles verquer. Er kam sich manchmal ... wirklich manchmal vor, als renne er gegen Windmühlenflügel an. Er sah das genau. Und er mußte dabei doch immer so tun, als glaube er fest an seinen baldigen Sieg, um den andern, den er damit auf sein Schiff gelockt hatte, nicht ganz mutlos zu machen.
Gottlob, daß sie wenigstens bei alledem zueinander hielten. Manchmal kann nämlich Liebe bei so etwas auch durch den Schornstein gehen.
Es ist doch wirklich zu wahnsinnig: man soll für sein Geld keine vier Zimmer haben können. Nur mit Schiebung, Betrug, Bestechung. Und jeder will einen dabei ausnehmen wie einen Hering. Man soll zehntausend Mark für drei alte Stühle, eine wackelige Kommode und ein verwanztes Sofa zahlen, weil man die Wohnung nur mit Inventar abgäbe. Und außerdem ginge der Hausherr nach Indien, und wünsche deshalb die Miete für fünf Jahre im Voraus. Und was dergleichen Schwindel mehr sind.
Und ist man drin, schmeißt einen sicher gleich das Wohnungsamt heraus. Ist man überhaupt wohnberechtigt? Nächstens werden sie noch das Atmen verbieten. Was hat ihn bloß zu der dummen Idee verleitet, hierher zu gehen. Alles spricht hier in München gegen sie. Er ist Jude. Er ist Schriftsteller ... Man kennt ihn zwar hier kaum. Aber Schriftsteller ist jedenfalls schon sehr verdächtig. Und er hat, das weiß man doch, mit diesen elendigen Schlawinern, die sie jetzt eingesperrt haben und nach Ebrach und Niederschönfeld gebracht haben, verkehrt. Ja ... die Person, mit der er da zusammenlebt ... dös Weibsbild, haben's sogar einmal einvernehmen müssen, wie's an jemand gsucht hab'n, den sie sicherlich hat wegbringen helfen, wann man's ihr nur hätt' nachweisen können. Die hat an Akt auf der Polizei liegen. Dös weiß man doch. Und dann ist er noch zu all dem ... ein Preuß'. Wie sollte er da also hier auf eine Wohnung rechnen. Dieser ganz miserablige, verdächtige Himmelhund, der er war?! Ja, wenn er noch wenigstens so ein norddeutscher Herr Leutnant oder Major von und zu gewesen wäre, da hätte er hier haben können, was er wollte, einen Palast hätte er mieten können. Er würde also hingehen ... aber es würde wieder einmal nichts sein. Nein, jetzt nur nicht das Thema Wohnung weiter zur Debatte stellen.
»Also wollen wir nicht doch noch etwas gehen?! ... Auf in den Kampf ... Carmen!«
»Ach, weißt du, Djorri, an solchem Tag wie heute, könnte ich fünf Tage in der Sonne sitzen ... noch drei Minuten!« Wieder der Zug, der kleine Zug von verhaltenen Schmerzen über der Oberlippe, denkt Fritz Eisner. »Wie bist du gereist? Ich finde es nett von dir, daß du dir eine Nacht meinethalben um die Ohren schlägst.«
»Ach Gott, weißt du, gestern durch das Telefon klang deine Stimme so klein und schüchtern und ängstlich zu mir ... ›gerade wie der Grille Gezirp‹ sagt schon Salomon in der Bibel ... daß ich tief bedauerte, nicht neben dir zu stehen und dich so lange herumzuknudeln – so weit das eben geht – bis die Stimme wieder ein bißchen heller und sorgloser würde. Na, und dann bin ich still nach oben gegangen und habe meine sieben Sachen wieder in meinen Koffer geschmissen. Die Dinge wären eben unendlich einfach, wenn man einem Menschen gegenüberstände, und wenn die Kinder nicht wären. Man müßte roher sein können. Der Pöbel hat's leichter. Hänse hat mir nebenbei einen schönen Schreck eingejagt. Ich wollt's dir nicht schreiben: die kleine Erkältung, die sie nicht los wurde, war, wie ich hinkam, eine Rippenfellsache, eine ganz glatte Rippenfellentzündung. Der Arzt sagt zwar, es wäre ungefährlich und käme bei Kindern in dem Alter leicht vor. Und sie springt ja auch wieder ganz munter 'rum, als ob nichts gewesen wäre, und sieht nicht mal schlecht aus. Jedenfalls nicht schlechter, als jetzt alle Kinder nach vier Jahren Hungern. Aber der Teufel trau einem Schuster!
Das eine ist es aber doch: eine wundervolle Sache da unten. Ich will ja doch nicht hier bleiben, ›denn es gewöhnt sich nicht der Geist hierher‹. (Goethe, Nuckelino, Goethe). Wenn noch einmal eine Stadt, dann doch wieder Berlin. München mag schöner sein. Älter. Zehnmal besser als Architektur. Aber die Steine haben doch hier kein Leben für mich. Und es wohnen hier nur Leute; in Berlin wohnen wenigstens Menschen.
Gewiß, da unten am Neckar hat man all das nicht, was man in einer Stadt hat. Aber, es ist wunderschön, wenigstens so um die Zeit jetzt. Vielleicht ist es auch zu schön auf die Dauer. Was hier alles zu hart ist, auch an Menschen, ist da zu weich. Es war einfach ein beglückendes Wetter. Diese roten Steinbrüche und die samtgrünen Wälder – sie sind noch ganz bunt, jeder Baum ist anders grün – leuchten da, wenn die Sonne scheint, wie der schönste Süden. Und Sonne und Mond haben sich abgelöst, die ganzen acht Tage, wie zwei Schildwachen. Kaum, daß die Sonne hinter dem Berg verschwunden war, – man sah noch das abblassende Rot ihrer Spur – so marschierte schon der Mond, groß und kupfrig wie ein mächtiges Barbierbecken, hinter dem Berg gradeüber empor. Und man geht so im Garten hinterm Haus 'rum, setzt sich ein paar Minuten mit den Kindern hin, und sieht, wie das dicke Laub an den Apfelbäumen erst dunkelgrün und dann ganz blauschwarz wird gegen den fast weißglühenden Abendhimmel ..., ein Himmel, wie Caspar David Friedrich nachempfunden. Und wenn man aufsteht – denn die Kinder müssen morgen doch sehr früh 'raus und in die Schule fahren – das heißt, Hänse hat noch Erholungsurlaub und schläft, immer noch ihr Stoffschweinchen im Arm (seit zwölf Jahren), bis in die Puppen hinein ... soll sie auch ...! a propos Selma ist die klügste von ihren Puppen jetzt, sie hat nämlich einen offenen Kopf ... also, wenn man dann aufsteht, dann glimmert plötzlich alles von Mondschein schon. Schade, daß die Stelle neben mir immer vakant war.
Die Kinder haben nebenbei Tanzstunde jetzt, aber sie machen noch zuerst, wie die jungen Fledermäuse, ihre Flugversuche, nur Männlein und Weiblein für sich. Grete hat auch den Hund jetzt dressiert und hat ihm zur Belohnung, daß er nicht auf Kommando sich hinlegen lernte, ein halbes Pfund Keks zu zwei Mark siebzig in einzelnen Bröckchen verfüttert.«
»Und was war sonst los?«
»Na, sonst habe ich Burckhardts griechische Kulturgeschichte gelesen, die ganze, alle drei Bände.« Fritz Eisner begriff zwar genau, was die Frage hieß, aber er wollte es nicht wissen. »Bist du wenigstens geistig – wie ich dich bat – auf gute Selbstbeköstigung bedacht gewesen, oder hast du nur die dummen Inhaltsangaben für mich gemacht ... für Kopenhagen. Das ist doch ganz nett, daß man immer dadurch etwas Valuten in die Hand kriegt. Findest du das nicht auch? Komisch – das wird doch von Tag zu Tag mehr wert. Und, – was man hier so aus seinen Büchern eigentlich jetzt zieht, wird von Tag zu Tag weniger wert. Man muß zufrieden sein. Bisher ist es immer noch so leidlich gegangen. Anderen geht's schlechter. Wieder zwei Auflagen! Hier ist der Brief. Ich glaube, das wird jetzt alles durch das Loch im Westen ins Ausland verschoben. Oder meinst du etwa, daß ein Mensch in Deutschland noch ein Buch liest? Ich nicht.«
Gewiß, Fritz Eisner log nicht. Es war nur wieder seine Technik, die wirklich wichtigen Dinge, nach denen der andere fragte, zu verschweigen. Und außerdem war Ruth wahrlich nicht in dem Zustand, um sie gerade jetzt zu hören. Wozu sollte sie sich in diesen letzten Tagen vor der Entbindung noch von neuem aufregen.
Vielleicht merkte Ruth das; oder sie sah das ein, und tat, als wollte sie es nicht merken: »Du meinst also, die Sache geht jetzt endlich wieder weiter.«
»Gewiß, mein Liebling, ich bin sogar überzeugt davon.«
»Und war die Fahrt erträglich? Armer Kerl, haut sich meinethalben die Nacht um die Ohren. Und warum fährst du nicht wenigstens Zweiter?«
»Warum soll ich nicht mal für dich eine schlechte Nacht haben«, Fritz Eisner bekommt ganz gerührte Augen, »als kleine Abzahlung für die vielen guten, die du mir geschenkt hast! Aber, sie war wirklich nicht schlecht. Um halb drei schon, gleich hinter Stuttgart ist es hell geworden. Und nicht eine Stunde danach hat so ganz schmal die rote Sonne über den Wald geguckt und ist langsam hochgerückt. Riesig, groß und breit gequetscht. Auf dem Rigi wird einem das mindestens mit dreißig Schweizer Franken auf die Hotelrechnung gesetzt. Da kann man jetzt hier bald einen Monat davon leben. Und ich hab's zugeschenkt bekommen ...«
Nuck lacht. »Du bist eigentlich ein Pöbel, Yorrichen. Wir sind viel vornehmer. Du siehst immer aus dem Coupéfenster. Meine Mutter hat mir von früh an eingebläut: ›Das tut man nicht!‹ ... man? ... Wer ist ›man‹ eigentlich? (Meine Mutter glaubt nämlich noch heute, ›man‹ ist die wichtigste Person auf der Welt.)«
»Irrtum – heute ist es Nobody ...!«
»Man sieht nicht aus dem Coupéfenster, das ist nicht fein.«
»In Geißlingen stiegen nebenbei die beiden Geschäftsreisenden aus. Sie reisten in Textilien, wie sie es fein ausdrückten. Ich sage: Unterhosen. ›Gute Geschäfte!‹, rief ich Ihnen nach, ›Ich versichere Ihnen, mein Herr‹, rief noch der eine vom Bahnsteig rauf. ›Wenn man die Kundschaft jetzt nicht ständig bearbeitet, geht einem das Geschäft glatt verloren.‹«
Fritz Eisner war sehr froh, als Ruth lachte. Er wußte ja, mit so etwas war sie zu fangen.
»Und dann stieg ein Münchener Kunstmaler ein. Du hast ihn schon vierhundertfünfzig Mal hier herumlaufen gesehen. Wenn auch nicht immer gerade den gleichen. Er war der schöne Mann mit dem schwarzen, spitzen, kleinen, leicht melierten Vollbart, den Kniestrümpfen und dem sandfarbenen Velvetanzug. Aber der Prinzregent hatte ihn früher zur Gamsbockjagd eingeladen, das erzählte er mir gleich ... Ja, dös waren noch Zeiten! Er war direkt aus einem Roman von Ganghofer entsprungen. Aber er hat mir Spaß gemacht. Ob wir auch schon so komisch wirken und deplaciert, Nuckchen?!«
»Ich für meinen Teil protestiere«, rief Ruth lachend, und man merkte an diesem Lachen, daß Lachen eigentlich ja doch ihr Element war. Sie kam nur so selten jetzt dazu. Aber warum soll man denn nicht lachen, wenn man so schön und zweiundzwanzig Jahre erst ist! Und dann schüttelte sie sich und stand auf.
Der alte Pariser Mantel von Lena war wirklich sehr geschickt geändert. Man hätte sie (trotzdem) darin für eine junge Amerikanerin halten können. Vielleicht eine von den Südstaaten auf einem Trip durch Europa ... ›Ich bin mit Yuropä äbsolutt fertig!‹ ... Vielleicht also so eine selbständige reiche Pflanzertochter aus den Südstaaten, wo so allerhand kreolen-, spanisches, französisches und englisches Blut durcheinander geht. Die sind üppiger und größer als die Französinnen. Und die in Paris gekauften Kleider sitzen ihnen deshalb besser, als jenen.
»Vergiß Marley nicht!« ruft sie immer noch lachend und reicht Fritz Eisner seinen Stock. » Ich möchte jedenfalls nicht mehr miterleben, daß du ihn mal doch verlierst. Ich hasse Aufregungen und Scenen. Und dein neuer Anzug! Wirklich, du darfst dich damit nicht immer so anlehnen. Der ganze Rücken ist wieder eine Falte.«
»Das schadet nichts«, antwortete er. »Die Watteaufalte ist für Nymphenburg durchaus stilecht, mein Liebling. Und außerdem sollte das nicht vielleicht mehr am Stoff, als an mir liegen. Ich will damit gegen deine Freunde in Spremberg nichts sagen ... Aber sie sollten doch lieber eine Löschpapierfabrik aufmachen.«
Ruth ist beleidigt: »Der Stoff ist das Beste, was man jetzt in Deutschland macht.«
»Das beweist nichts. Gut mag er sein; – aber nicht gerade im Material, Liebling. Aber was bleibt uns übrig, man muß doch heute von Gelegenheitskäufen leben.
Weißt du, mit einem solchen Anzug grau-grün-violett mit Sprengseln wie Heuhüpfer ist vor bald zwanzig Jahren ...«
» Ich erinnere mich nicht, Yorri. Da habe ich noch am Daumen gelutscht.«
»Ist doch dieser Doktor Groß damals herumgelaufen. Er hat auch einen Panama gehabt und eine Armbanduhr. Das fiel mörderlich auf. Und deshalb habe ich ihn, ›die kommende Note‹ getauft. Und so heißt er noch heute. Seitdem aber trägt jedermann eine Armbanduhr, der Panama ist zwar selten geworden inzwischen! Solche bunten Papieranzüge jedoch sind wieder das Allermodernste! Kneif mich nicht immer!!«
»Hat denn der Doktor Groß eigentlich nun deine Lu, die Frau Doktor Spanier endlich geheiratet?! Der ist doch so blödsinnig reich jetzt. Mit Geld läßt sich doch alles machen. Oder sind die wieder auseinander?« fragt Ruth anteilnehmend. Aber den Anteil nimmt sie mehr an sich selbst. Sie möchte garnicht hören, daß sie schon geheiratet haben. Auch nicht, daß sie auseinander wieder sind. Sie sucht nach Schicksalsgenossinnen. »Weder das, noch das, mein Kindchen. Es geht wohl auch nicht so, wie sie wollen. Gott, solche Dinge sind immer schwierig! Und der draußen weiß auch nicht so recht, an wem es liegt. Die einen erzählen: sie möchte am liebsten wieder zu ihrem Mann zurück. Dabei soll sie den schönsten Wagen Berlins augenblicklich haben ... bei dem andern. Und die andern sagen, der Mann will sie nicht loslassen. Und dabei war ich dabei (das ist nicht ganz richtig: aber ich war zufällig Zeuge, hörte das alles) wie er sie vor die Tür gesetzt hat. Es kann aber trotzdem so sein, wie die Leute sagen. Denn Menschen sind außerordentlich merkwürdig nämlich. Die eine Version kann also ebenso richtig sein, wie die andere. Ich kann keine von beiden beschwören. Ich habe es nur von Annchen gehört: ›Siehst du, die Spaniers gehen auch jetzt wieder zusammen.‹ Das war das erste Wort, mit dem sie mich empfing, während im Zimmer nebenan die Schwester das Kind in warme Tücher packte, weil das Herz nicht gut war, und die Nägel schon anfingen, blau zu werden. Geh ich dir auch nicht zu schnell?!«
Eigentlich hat aber Fritz Eisner das, so wie ähnliche Dinge durchaus nicht in dieser Stunde, und jetzt überhaupt nicht, erzählen wollen ... Ach Gott, da war schon wieder dieser Zug um ihren Mund!
»Sieh mal, wie hübsch und frei das alles liegt. Und wie die wenigen Figuren, die wenigen Vasen, alles so stolz und mächtig in den Rasenflächen stehn.«
›Gräßlich‹ denkt Fritz Eisner, ›wer einmal mit Kunstgeschichte inficiert ist, muß immer und ewig bei andern den Cicerone spielen.‹ »... Aber Rasen kommt hier nicht recht weiter, paßt auch eigentlich nicht hin ... Wie das angelegt ist mit den Wasserkünsten und den Durchblicken. Immer auf die angeblauten Berglinien und Schneeflecken der Alpenketten hin! Und wie nett der Zug davor seinen Rauch durch's Land schleift.« (»Haben sie auch schon an die Eisenbahn gedacht, Djorrie? Das war jedenfalls vor 150 Jahren sehr weitblickend«, sagt Ruth. Aber der überhört das.) »Und die letzten Orangenbäume, die den Krieg überdauert haben, sonnen sich, wie alte Invaliden. Früher waren das sicher viel mehr. Du mußt es so sehn, wie es war.
Der Park ist alt geworden und dunkel geworden wie ein Wald. Das hat sicher der Schüler Lenôtres nicht in Betracht gezogen, als er ihn anlegte. Die Teiche drin sind verschilft. Und die Bäume hängen ihre Zweige weit über sie hin. Wo geschnittene Hecken einst waren, ist Dickicht aufgewachsen mit Immergrün und Ringelkraut im Schatten. Die Schwäne natürlich, ewig hungrig und bettelnd, zogen schon damals in den breiten Wasseradern; und die breitmäuligen Quakerchens ... die noch weißer als die Schwäne sind und goldene Vogelaugen haben, wohl auch. Ihre Hofmaler mußten sie auf Geflügelstücken verewigen.
Also was ... Nuckchen? Wollen wir mal nach der Amalienburg gehen? Bist heute nicht für Schlösser? Schade drum: Das ist der schönste Traum, den die von damals, diese Herren, in dem kalten Deutschland je geträumt haben. In dem Häuschen da drüben, das wie eine geschweifte Kommode aussieht, ist der große runde blausilberne Saal, der schönere Musik als alles ist, was das Rokoko je in seinen Schlössern und Schlößchen hat aufklingen machen.
Oder lieber Pagodenburg? Da gibt es alte fabelhafte chinesische Tapeten. Sie liegt so schön drüben am Wasser. Oder Marmorbad? Badenburg? Das heißt, das Marmorbad drin ist mehr für die Zuschauer ... oder richtiger für den Zuschauer ... als für die badenden Hofdamen gedacht. So etwas gehörte zu der ganzen Zeit, so gut wie die schöne Marmorpuppe auf dem Sockel da drüben. Nichts zu machen mit Kunst heute, Nuckchen? Wirklich nicht? Wenn ich unglücklich bin, das geht doch Botticelli nichts an! Er wird nicht schlechter dadurch. Eher besser. Willst überhaupt nicht in geschlossene Räume gehen, heute? Kriegst wieder nicht gut Luft? Also, es ist dir nur zu schönes Wetter dazu. Dann sieh dir wenigstens die Athene hier mal an ... Ist von Reimann Boos. Weißt du, ich habe dir neulich das Haus am Promenadenplatz gezeigt, wo er gewohnt hat. Wie groß und frei das ist. Hast du nebenbei vorhin die andere mit dem Zepter gesehen? Die war eigentlich fast noch geschlossener. Wie eine späte Antike. Aber sie siegt eben doch nicht mit dem Speer mehr, wie vor zweitausendvierhundert Jahren.
Sie weiß genau, die hier, daß sie über Waffen verfügt, die viel sicherer zum Sieg führen ... deine Geschlechtsgenossin.«
»Du scheinst aber doch den Burckhardt nur mit geringem Nutzen gelesen zu haben, wenn du nicht einmal etwas von Helena weißt, Yorri. Wie sagt Herodot: Denn man kann versichert sein, sie wäre nicht entführt worden, wenn sie sich nicht hätte entführen lassen wollen!«
»O ja ...« War das Mädchen klug und schlagfertig mit seinem alttestamentarischen Köpfchen. Das verließ sie nie. Selbst zwischen zwei Ohnmachten konnte sie noch immer hübsche Dinge sagen.
Ruth lacht, und macht Fritz Eisner grade jetzt sehr froh damit, denn er fängt wieder mal an, ängstlich um sie zu werden ... Ruth lacht, denn sie versteht halb ausgesprochene Dinge ebensogut wie ganz gesagte. »Also ist unser Einzelschicksal doch nur die ewige Wiederkehr des Gleichen.« Und sie greift hinter Fritz Eisners Rücken herum, legt ihm die Fingerspitzen ihres haselnußfarbenen Seidenhandschuhs auf die linke Schulter, so, wie es die Französinnen gerne mit ihren Schätzen machen, denn sie wissen genau, es geht sich so besser und zärtlicher miteinander, als auf die Art, sich unterzufassen.
»Also sag auf, was du bisher gelernt hast, Kapitel Ebenhausen: Cephalentera rubra ... Cephalenthera alba ... Cypripedium Calceolus ... siehst du, das ist Mercurialis annuus, das Bingelkraut. Nun gibt es ein anderes noch, das heißt biennis ... Unterscheiden kann ich sie auch nicht mehr. Aber du mußt so etwas später wissen. Denn du wirst doch mal nach mir – wenn ich durch Tod abgegangen bin, oder du mich überbekommen hast – einen Professor der Soziologie und der entsprechenden Religion heiraten, und solch einem Mann kann man nur mit positiven Kenntnissen imponieren ...«
»Nein Yorri, ich bin gegen Soziologie. Ich will dich behalten, du gehörst doch zu uns, wenn du auch immer sagst: wir Jungen heute, meine ganze Generation, verwechselt die Abkehr von der Sentimentalität mit dem Recht auf Pöbelei ... zum Donnerwetter, verstehst du denn nicht: Ich will dich behalten!!«
»Und siehst du, die kleine Blaue heißt einfach Viola: das Veilchen. Steht garnicht auf der Wiese, sondern im Busch. Manche glauben, daß Gartenveilchen ... (nebenbei dürfte das hier nach Linné eigentlich überhaupt nicht mehr blühen!) Gartenveilchen doch besser duften. Stärker nicht besser! Riech mal ...! Der Duft ist ganz herb, mehr nach Erde. Da sind dreihundert Nächte drin mit ihrem Tau, der Westwind und das Vorüberfliegen der Schmetterlinge. Und dann riecht es nach allen Steinen und Metallen, die seit Urzeiten in dieser Erde vermorscht sind. Ich finde immer, die Blumen sind der sicherste Beweis dafür, daß Liebe mit Schönheit identisch ist. Also sag auf: Cephalanthera rubra ... Cephalanthera alba ... Rhagium mordax ... ach nein, das ist ein Käfer ... damit du es nachher kannst. Aber du kannst ihm das ruhig einreden, ein Soziologe versteht ja doch nichts von Botanik ... Kneif mich nicht immer.«
Aber Ruth will nicht weiter gehen, ist schon wieder müde und setzt sich auf eine Bank, zieht Fritz Eisner neben sich hin. Die Sonne ist schon nicht mehr ganz so hell, gilbt schon mehr die Wipfel, als den Boden und die Wege an, über die sie nur noch wenige Flecke streut. Irgendwie schwimmen Tränen in Ruths Augen. Fritz Eisner möchte zu gerne wissen: Hat sie Schmerzen? Ist sie sehr unglücklich gerade? Denkt sie über schlimme Dinge nach? Aber er hat gelernt, nicht zu fragen.
Das ist meist die einzige Art, wie er Antwort von ihr erhält.
»Ach, ich vergaß noch ... oder habe ich dir das geschrieben ... da war eine Diskussion über die Judenfrage. Da hättest du reden sollen. Weiß garnicht, wer sie eigentlich einberufen hat. Ich habe nachher auch gesprochen. Lasse mich immer wieder zu solchem Unfug verleiten. Also: die Ostjuden waren daraufhin beleidigt. Die Zionisten daraufhin gekränkt. Die Liberalen daraufhin aufgebracht. Und die Deutschen waren wirklich ernstlich verschnupft. Und ich hatte mich wieder mal zwischen vier Stühle gesetzt, einfach, weil ich das Kind beim Namen genannt hatte. So oder so: Alles aber, was in der Welt Parteipolitik genannt wird, ist doch nur eine falsche Auslegung von Ereignissen und Tatsachen im Interesse einer konsequent falschen Weltanschauung.«
»Ach Gott, Yorrichen.« Ruth hebt mit der Stiefelspitze einen kleinen Schützengraben im Boden aus. »Wirklich, du sollst nicht so reden. Wozu das noch? Denkst du denn, du hast allein solchen Katzenjammer. Und diese abscheulichen Leichenraben der Völker haben nun wieder, als ob gar nichts geschehen wäre, in der ganzen Welt kalt lächelnd ihre alten, auf neu aufgebügelten Zylinder aufgesetzt und pfuschen weiter – Wenn ich schon ihre Gummistempelreden lese – werde ich seekrank und kriege Magenkrämpfe.« Ruth war ganz rot, trommelte vor Erregung mit ihren seidenbehandschuhten Fingern auf der Banklehne herum. Wie kam er auch nur darauf, Politik zu reden. Er hatte sich doch zugeschworen, das sollte heute tabu sein.
»Und doch wirst du mal in der Politik enden, Nuckelino.«
»Wenn wir wenigstens doch die junge Generation in die Hand kriegten – die alte ist ja doch in der Anlage schon verdorben.«
»Aber, mein süßes Nuckchen, sieh mal, wie hübsch das hier alles ist! Wie köstlich sich drüben das kleine Säulentempelchen im Wasser spiegelt mit den Tannen herum und mit dem ganzen Himmel darüber. Und sieh mal hier, das kennst du noch nicht. Das ist doppelt gedrehter Knöterich. Sag nach: Polygonum bistorta. Es ist doch so friedlich hier. Und so reine Luft ...
Die Sache mit de Luft haben se hier raus, sagt der Berliner. Warum willst du denn durchaus so schwere und scharfe Zigarren hier rauchen? Und außerdem ist in den ›königlichen‹ Gärten Rauchen verboten. Siehst du, da steht's noch: In dem königlichen Garten ... Und drüben die reizende Borkenbude dahinten am Wasser. Es fehlt nur der Einsiedler, der vor ihr das kranke Reh pflegt, und der Schwind ist fertig. Die Quäker, das sind Pazifisten. Die deutschen Pazifisten sind es ja auch. Aber nur so lange kein Krieg ist. Denn dann wäre es ja deplaciert.«
Fritz Eisner sieht Ruth von der Seite an und wenn Blicke streicheln könnten, sie täten es.
»Nein, mein süßer Nuck, ich habe mir oft überlegt, wie es gewesen wäre, wenn der neunte November ... oder wollen wir nicht doch jetzt lieber gehen?«
»Jetzt grade nicht, Yorri. Dein Herr Sohn benimmt sich wieder höchst ungehörig.«
»Alle Kinder sind vor der Geburt Söhne. Das kenne ich. Und wenn sie nachher lachen, sagt die Mutter: mein Kind ... Und wenn sie schlafen: unser Kind ... Und wenn sie schreien: Dein Kind. Das kenne ich auch.«
»Ich werde nur immer mein Kind sagen«, ruft Ruth stolz. »Ausgehalten habe ich schon genug deswegen.«
›Nur keine Tränen jetzt‹, denkt Fritz Eisner. »Früher«, meint er laut, »hörte das soziale Gefühl des Deutschen beim Schwager auf. Seit der Revolution noch vor ihm. (Siehst du, ich behalte deine Bonmots!)
Hast du etwa bemerkt, Nuck, daß sich die Struktur der menschlichen Seele – und sie war sehr reformbedürftig! – irgendwie geändert hätte? Ist der Bauer weniger hart und habgierig?! Der Gelehrte weniger dumm, außerhalb der Grenzen seiner Wissenschaft? Betrügt die Frau weniger skrupellos den Mann, und der Mann die Frau? Sind Haß und Lüge abgebaut. Naja, vielleicht kommt das alles noch. Ich glaub nicht dran. Ich bin kein Aktivist, Nuck, der sich einredet, der Andere wird schon satt davon, wenn er nur zu ihm Bruder sagt. Aber vielleicht wird es ihm wirklich besser gehn ... was dann?! – – Mir wird es trotzdem nach wie vor hundsmiserabel wie immer gehn. Einfach, weil das Leben ein Brunnen ist, in den man hineingefallen ist. Man paddelt drin rum, um sich oben zu halten. Aber man kann den Kopf nicht über den Rand heben. Und eines schönen Tages geht man unter.«
Eigentlich hatte Fritz Eisner das alles garnicht sagen wollen, und er schimpfte sich selbst innerlich aus, wie er nur dazu kam, es gerade jetzt herauszuschreien. Es mußte ihr doch weh tun.
»Ach«, ruft er und tut, als ob ihm etwas frostig wäre, packt Ruths Arm, um sie hochzuziehen. »Ach, komm! Kennst du das hier? Sag nach: Platanthera bifolia. Das ist auch eine Orchidee, trotzdem sie grün ist.«
»Herrgott nochmal, ich will nichts von deinen Orchideen wissen. Du bist nicht nett: Irgend etwas muß es doch geben, an das man glauben kann, wenn man aus der Welt geht.«
»Glauben soll man. Ich liebe die Gläubigen. Und ich liebe die Zweifler. Und ich hasse nur die, die zu klug und zu unsinnlich zum Glauben, und zu feige zum Zweifeln sind. Aber, denk mal, es hat dreihundert Millionen Jahre gedauert, bis aus der Amöbe eine Antilope wurde; warum meinst du denn, daß schon in sechstausend Jahren aus dem Menschen ein Mensch werden soll?! Aber, wenn man daran nicht doch glaubte, Nuck, so bleibt als einzige Hoffnung übrig, daß eines schönen Tages die Erde samt diesem peinlichen Gewürm irgendwie vergast, kosmisch vereist, explodiert, oder von einem verständnisvollen Kometen in Atome wieder zersplittert wird.«
»Nun sei nicht böse Nuck«, denn sie ist rot geworden unter der blassen Bronze ihres klugen Gesichts, schluckt, weint fast vor Erregung, will etwas antworten, aber wozu soll denn das Thema noch weiter gesponnen werden? In dieser Stunde und gerade von ihr jetzt? »Sei nicht böse, denke nun bloß nicht, daß ich seit acht Tagen geschwenkt habe und auf der andern Seite plötzlich stehe. Ich bin sogar sehr dafür. Ich bin ganz auf deiner Seite. Ich weiß genau, alles andere auf der Welt hat sich totgelaufen. Das ist die einzige Zukunft. Es würde dem Leben sogar so etwas wie einen Sinn vortäuschen. Aber für mich ist es keine Lösung ... Die Frage bleibt.«
»Ja, aber du hast doch jedenfalls mehr Antwort darauf bekommen wie ich. Oder kannst du das leugnen, blasser Schurke?! ... Gott, wenn ich denke, ich war eben, war ja noch nicht mal siebzehn, als der Krieg los ging. Und was hat man bis heute gehabt?! Aeh ... ›Oan Schmarren, Herr Nachbar‹, wie's hier sagen tun. Also gehm mer!«
Ruth reißt sich hoch. Sie ist plötzlich unruhig geworden, – ihre Nerven haben sie verlassen – ist von einer unbeherrschten Nervosität.
»Ich möchte nicht so spät in die Klinik kommen«, flüstert sie. »Mach nicht deine traurigen Hundeaugen, Yorrichen. Ja, habe ich denn dir das nicht am Telefon gesagt ... gestern? Meine Sachen habe ich ... das heißt, nur für eine Nacht – und sonst was man so braucht – habe ich schon gestern hingeschickt ... Wozu sollte ich dir das noch mal sagen? Nein, – du kannst wirklich nicht da bei mir bleiben. Es ist garnichts. Der Arzt will mich nur noch einmal einen Tag beobachten. Vielleicht auch durchleuchten. Morgen Nachmittag, spätestens morgen Abend bin ich wieder da. So etwas mit vierundzwanzig Stunden hungern vorher, imponiert mir nicht. Das bin ich von früh an gewohnt ... Das, was du meinst, hat ja noch ne ganze Weile Zeit. Acht bis vierzehn Tage hat Doktor Wild gesagt.«
Aber vielleicht will Ruth nicht gern davon sprechen. »Wirklich, ich lüg dich nicht an«, sagt sie müde und zaghaft hinterher in einem ganz anderen Ton. »Ich schwör es dir.« Und dann unterbricht sie sich und legt den Finger an den Mund. »Du, hör mal, was ist denn das für ein Vogel, der so trillert und pfeift? Ist das eine Nachtigall? Nein – eine einfache Blaumeise? Kenn ich garnicht. Wie heißt sie lateinisch? Weißt du nicht? Gerade das muß ich doch für meinen Soziologen wissen. Ich hatte mich so gefreut, endlich mal eine Nachtigall zu hören. War's wieder nichts. Wo waren die Vögel alle vorher? Da war's doch ganz still und plötzlich schreien sie alle wieder durcheinander.« Wirklich, die Vögel, die, solange die Sonne noch hochstand, sehr lautlos im Laub umhergehuscht waren, scheu, und als ob sie stumm wären, begannen plötzlich von überall her zu trillern, zu flöten und zu glucksen und zu pfeifen. Manche schnarrten, manche ziepten und zirpten auch nur wie die Grillen. Selbst ein Rohrspatz kicherte auf. Welche schmettern kurze Strophen, fast wie Nachtigallen, aber gerade, wenn dieser lange, schmelzende und hingebungsvolle Endton kommen soll, in dem sie ihre kleine Vogelseele ganz ausbluten, dann brechen sie ab, als ob sie sich ihrer eigenen Gefühle schämen, und pfeifen und kicksen spöttisch hinten nach. Schimmernde, metallisch schimmernde Stare laufen auf dem Rasen wie kleine, dunkle, altkluge Männerchen, bleiben einen Augenblick wie in Gedanken stehen, als ob sie nachsinnen, wo sie nur ihren Schirm vergessen haben könnten, und trippeln dann weiter. Eine Drossel schreit auf und fliegt davon, stürzt sich gleichsam über den Weg fort von einem Busch in den andern, all wo sie ihre Lebensfreundin entdeckt hat, die vorjährige Blätter nach Regenwürmern umwälzt. Die Sonne rötet schon etwas hinten den Himmelsrand, verkupfert das Laub schon, wirft Lichtbrücken durch die Baumwege, rosige Lichtbrücken, auf denen hunderte Fliegen, Mücken und winzige Käfer wie sprühende Fünkchen hin und her tanzen, und rund herum ... sur le pont d'Avignon ... l'on y danse ... l'on y danse ...
Und du mußt auch bis Dienstag noch den Artikel nach Kopenhagen schicken. Hast du denn schon was? Weißt du denn wenigstens, welche Bücher du zusammenfassen willst? Nein? Du sagst auch: wozu soll ich heute das tun, was ich auf morgen verschieben kann ... Du bist doch der faulste Kerl unter der Sonne. Man sieht dich nie arbeiten, und jeden Monat räume ich immer solchen Berg von Artikeln weg, und der Haufen mit Notizen wird immer höher. Wann fangste denn mal mit deinem neuen Roman an?
Ich werde mich später überhaupt bei dir engagieren lassen: als Edeltippeuse. Lena hat immer gesagt: das sind in Paris alle Schriftstellerfrauen. Wann machste das eigentlich immer, Yorrichen?«
In Ruths Stimme zittert plötzlich eine Wärme auf, die Fritz Eisner den ganzen Tag vermißt hatte. Vielleicht liegt für sie so etwas wie Angst drin. (›Niemand kennt die nächste Stunde‹). Vielleicht auch heißt es: ›Du alter, dummer Hund, wozu hast du mich in diese fatale Situation gebracht? Aber es sollte wohl so sein, und ich habe dich trotzdem gern, oder grade deswegen habe ich dich so gern, und, weil wir dadurch so aneinander geschmiedet wurden.‹
»Also, schreibe, schreibe indessen, auf daß wir dänische Kronen bekommen, Yorri. Wenn ich nur schon meine Pfunde hätte. Ich hätte doch den Engländern, was Pounds anbetrifft, mehr Fairness zugetraut. Warum geben eigentlich die Engländer nicht den Deutschen endlich das Privateigentum wieder zurück, das sie bei ihnen nur deponiert hatten. Das ist nicht gentlemenlike. Das ist Depotunterschlagung!«
»Gott, Nuckchen, mal kriegst du es ja sicher, davon bin ich überzeugt«, (warum soll er jetzt etwas anderes sagen?!) Aber wann? Ich würde diese deine Auffassung aber mal in einer höflichen Postkarte Herrn Lloyd George mitteilen, das kann nie was schaden. Begründung: ›Ein Gentleman benimmt sich einer Lady gegenüber anders‹ ... Sieh mal, wie schön da hinten schon die Sonne ...! ›Wenn die Sonne sinkt, will ich die fliehenden Geister festhalten.‹ Das ist ein Motto, das ich all meinen Büchern voransetzen möchte. Weißt du, wer das gesagt hat? Oder richtiger geschrieben? Der Hamburger Runge. Die Kunst der Form, meint er, ist mit Tizian und Rafael und den Alten erschöpft ... also, so schreibt er ungefähr ... Aber die Landschaft ist noch ungestaltet ... und dann: ›Wenn die Sonne sinkt, will ich die fliehenden Geister festhalten.‹ Das war das vorher verkündete Programm des neunzehnten Jahrhunderts in der Malerei. Runge hat das sehr früh gesehen, noch bevor es irgend ein Mensch ahnte ... Geh ich dir auch nicht zu schnell? Willst du mich nicht doch lieber unterfassen? Hast du wieder Schmerzen ...? ›Nuckelino, was tut dir heute weh?‹ Das habe ich dir doch sechs Wochen lang jeden Morgen als guten Tag gesagt, damals im Schottenhammel. Geht's schon wieder?«
Ruth hält an. Vielleicht fällt es ihr schwer, weiter die Füße zu setzen, aber sie tut jedenfalls, als ob ihr irgend etwas einfiele.
»Ja, und was soll ich mit Mutter denn machen? Wie kommt sie denn in drei Teufels Namen jetzt dazu, das Haus in der Hohenzollernstraße – das war das beste, was wir noch hatten – selbst, wenn es nichts brachte im Augenblick, nun auch ohne meine Einwilligung an den Liebenthal zu verkaufen? Naja, der Preis war ganz gut, aber sie muß sich doch sagen, daß das Geld täglich weniger wird heute! Nach Vaters Testament ist es doch zum mindesten fraglich, ob sie das durfte. Und wie kommt sie dazu, mir mein Teil vorzuenthalten? Sie würde es für mich verwalten, schreibt der Anwalt. Ich verwalte meine Gelder selbst. Hast du das Testament im Kopf ...? Da steht doch ...«
»Ja ja, Nuckelchen«, unterbricht Fritz Eisner und tut, als ob ihm das lästig wäre, dabei war das wieder nur ein ganz falscher Gesprächsstoff für heute. Ich kann doch unmöglich sagen, denkt er: ›Henri Becque, die Raben! Wirklich, ein Jammer, wie man Euch beiden Frauen das Vermögen aus den Händen dreht ...!‹ »Ja, ja, mein Liebling, ich weiß schon«, ruft er laut – »gewiß, aber ich verstehe doch von so etwas nicht genug. Im Ganzen jedenfalls bin ich gegen Gerichte. Vor allem innerhalb der Familie. Was man da gewinnen kann, wiegt den Verlust nicht auf. Die Themis hat eine Waage, auf der einen Seite liegt der Paragraph, und auf der andern Seite die Gerechtigkeit. Und was schwerer ist, das Recht oder Gerechtigkeit, das weiß man nie vorher. Und ich weiß auch, das Testament ist vorzüglich. Sechs kluge Notare haben sich ihre noch klügeren Köpfe darüber zerbrochen. Aber ich weiß ebensogut, je klüger ein Testament ist ... desto dümmer ist es.«
Ruth hängt sich an Fritz Eisners Arm, schmiegt sich im Gehen an ihn – jetzt sind sie schon wieder draußen bei den breiten Bassins mit den schönen, geschweiften Linien ihrer Umrandungen. Aus dem kleinen Haus da drüben, wo die Porzellanmanufaktur war, ist vor hundertfünfzig Jahren viel Schönheit über die Welt hingeflattert ... Fritz Eisner spürt dabei jeden ihrer mühseligen Schritte. Er klingt gleichsam in seiner Bewegung in ihm weiter fort.
»Du bist eigentlich ein netter Kerl«, zwitschert Ruth plötzlich, »mein Alter. Hockst dich mit mir armen Hascherl in Hotels und Pensionszimmern hin und hast dabei doch gar nichts von mir, so recht. Aber ich verspreche dir, wenn ich erst wieder so ganz allright bin ...« Und Ruths schöne Augen blitzten zu ihm herüber wie zwei Leuchtraketen ... »Also, ich verspreche dir. – Und vermißt du nicht deine Dinge zu Hause? Deinen Reni und deine schöne Pacher Madonna, die Madonna di casa Eisner, wie Paul Gumpert immer sagt; und deine chinesischen Rollbilder. Ich habe immer behauptet: Du liebst die Dinge mehr als die Menschen. Ich muß dir dafür Abbitte tun.« (Und sie streichelt im Gehen Fritz Eisner über die Hand). »Ist ja nicht wahr. Jedenfalls kannst du dich von den Dingen leichter trennen, als von den Menschen. Ich wundere mich, warum du dir nicht wenigstens die Photographien davon hinstellst.«
»Willst du lieber auf meiner andern Seite gehen? Und dann, glaube ich, wir könnten ruhig noch etwas langsamer gehen. Warum reißt du dich denn so danach, dahin zu kommen, wo du doch nicht gern hingehst? Zu spät ist für so was immer noch zu früh ... Nein ... Nein. Ich würde mir nie, auch nicht die beste Aufnahme hinhängen. Das fällt garnicht mit ihrer Güte oder Schlechtigkeit zusammen. Ich bin mit der Zeit sogar gegen Graphik an der Wand, sodaß man sie täglich sieht. Selbst die ist mir zu mechanisch und zu unpersönlich. Ich will bei Kunst dem Mann, der sie gemacht hat, der sie geschaffen hat, direkt die Hand geben können, und er soll sie keinem andern zugleich geben können. Wenn ich bei der Kunstjemand sprechen will und sehen muß, und liebe, so will ich mich nicht gern von seinem Sekretär abspeisen lassen, und wenn er auch dessen Manieren bis ins Augenblinzeln sich angewöhnt hat.«
Ruth geht sehr langsam unter den hohen Linden hin. Im Kanal rötet sich schon das Wasser, und die Bäume schließen sich zu großen einheitlichen Formen schon zusammen, wie stets, wenn der Abend naht. Der Weg ist sehr belebt jetzt geworden. Viele Soldaten, die von den Soldaten nur noch die feldgrauen zerwetzten und zerfetzten Uniformen haben. Sonst nichts. Halbverrostete Autos mit Kriegserfahrungen stauben klappernd vorbei. Aus Lokalen kommt Grammophongedudel und der Lärm eines elektrischen Klaviers. Buden sind aufgeschlagen an einer Ecke, und Kinder drängen sich um sie herum, lutschen selig an Zuckerstangen, die giftgrüne und blutrote Münder ihnen in die breiten Gesichter malen. Aber auch große Leute kaufen sich diese Zuckerstangen und türkischen Honig wieder. Das erste Mal seit Jahren, daß man so etwas bekommen kann. Sie schmecken ihnen vielleicht abscheulich, aber sie lutschen ihre Jugenderinnerungen – die ganze schöne Zeit vor dem Kriege noch – und machen beseligte Gesichter dazu. Liebespaare stehen mit holzgeschnittenen Köpfen, mit eingehakelten Fingern wortlos und stocksteif dabei. Hier ist jeder eben Bauer geblieben. Hat noch insgeheim die bäuerliche Art. ›Die Hauptstadt einer Bauernrepublik‹ hat der Hamburger Lichtwark schon vor zwanzig Jahren München genannt. Und das ist nicht dumm gewesen. Denn eigentlich war es ja doch eine Bauernrepublik mit einem Küni. Ist damals genau so republikanisch, wie es heute ist. Und heute genau so für ihren Küni, wie es damals war. Im Inhalt hat sich nichts geändert. Nur in der Form.
»Was wirst du denn heute noch tun? Yorri? Geh nicht wieder Schachspielen. Sieh lieber noch nach der Wohnung, die ich dir aufgeschrieben habe. Eher geh dann nachher noch ins Kino. Da ist solch Wildwestfilm, der soll sehr gut sein. Und das lenkt dich ein bißchen ab.«
»Nein, mein Liebling, ich bin gegen Wildwest. Lasso, was so, is so, und bliw so. Dann zieh ich schon Schach vor. Aber ich gehe auch nicht Schachspielen heute. Denn wie bei allen Lastern, kann man zwar genau sagen, wann man damit anfängt; aber nie vorher, wann man damit aufhören wird. Aber eigentlich habe ich doch Sehnsucht mal wieder nach Beethoven. Du sagst zwar immer, man kann nicht hin und wieder musikalisch sein, aber ich habe Sehnsucht nach Beethoven. Vielleicht gehe ich also zu unserm Kapellmeister noch herüber. Hat der dir mal wieder was vorgespielt? Kleine Nachtmusik Mozart? Mozart liegt ihm nicht. Dazu ist er nicht beschwingt genug. Aber in Beethoven, da legt der arme Kerl, der es doch zu nichts eigentlich gebracht hat, seinen ganzen Trotz, seinen Stolz und sein Unglück hinein. Weißt du, er weint dann innerlich und schämt sich vor sich selbst. Und dann malt er sich seinen Ruhm und seine Siege aus, die er nie erfechten wird, und weint trotzdem weiter. Das ist wirklicher Beethoven! Und das eine versteht er so wundervoll, uns darüber wegzutäuschen, daß man auf dem Klavier den Ton nicht anhalten und in den nächsten Ton hinüberschweben lassen kann, wie bei einem Cello. Vielleicht ist er zu klug, denkt zu viel für einen ausübenden Künstler. Die wirklich Begnadeten sind eben doch nur die Idioten mit Musikbegleitung.«
Ruth lacht: »Du bist einer ohne Musikbegleitung ... Das heißt, ein Begnadeter! Ja, und morgen brauchst du erst Nachmittag kommen«, sie kann sich immer noch nicht vor Lachen beruhigen, »mich holen. Ich soll lange schlafen; vielleicht bin ich auch nach der Untersuchung dann etwas ab.«
Fritz Eisner ist glücklich, daß sie lacht. Wenigstens für Minuten. Und Zeit gewonnen, ist alles jetzt gewonnen. »Ach, ja«, meint Fritz Eisner, »dann gehe ich morgen Vormittag vielleicht in die Residenz. Oder ich gehe doch lieber morgen Vormittag ins Antiquarium. (Antiquarium nicht Aquarium!) Dich machen Museen doch immer müde. Es war lange geschlossen, aber jetzt ist es wieder geöffnet. Wundervolle Amphoren und schwarzfigurige Kannen und Leukiten und Schalen haben sie. Es ist doch das reinste an abstrakten Kunstformen, was je geschaffen wurde, genau wie Beethoven oder die Nachtwache. Es ist so die letzte Grenze, bis zu der Menschen bisher gekommen sind. Man muß so etwas hin und wieder einmal genau so sehen, wie man Beethoven hören muß. Nicht alle Tage. Aber es gibt so Zeiten, da man sich danach sehnt, um zu wissen, daß zwischen all dem Dreck auch so etwas in der Welt vorhanden ist. Eine Vase habe ich da so gern, auf der Odysseus unter dem Schafbock ... dem Leithammel hängt, der ihn aus der Höhle des Polyphem trägt: ›sonst warst du der erste, und heute bist du der letzte. Du bist wohl auch traurig über das Elend deines Herrn.‹ Das klingt herrlich im Griechischen. Man hört ordentlich, wie der Kerl mit der blutigen Augenhöhle innerlich heult und dabei mit seinen groben Fingern das Tier streichelt und in seinem Fell wühlt. Das ist auch Beethoven!«
Ruth geht sehr langsam, denn da hinten leuchtet schon zwischen unbebauten Straßenzügen und Fußballplätzen, ganz am Rande der Stadt das weiße Haus, in das sie will. Irgend ein Entbindungsheim ist es. Eine stattliche Sache und ein großer Bau, sehr sauber und freundlich und mit breiten Fenstern, die sicherlich viel, erbarmungslos viel Licht den Zimmern und Sälen geben. Es liegt ganz frei da in der Abendsonne. Man kann von ihm endlos über die Ebene hinsehen, bis zu den blauen, jetzt tiefblauen und silbernen Ketten der Berge, die so ganz traumhaft in der Luft schweben, denn ihr Fuß ist doch etwas dunst-verschleiert jetzt.
»Ja«, sagt sie und streichelt Fritz Eisners Hände im Gehen. »Du sollst mir dann morgen alles genau erzählen, Alter, was da ist. Sind da nicht auch die Öllämpchen ... Weißt du, die!« Ruth bohrt im Gehen ihren Ellenbogen in die Seite ihres Begleiters und wieder werden ihre Augen wie zwei Leuchtraketen ...
»Weißt du, die, von denen du mir immer so viel vorgefabelt hast.«
»Gott ja, fein sind sie gerade nicht. Für Unterricht in Schweizer Pensionaten sogar durchaus ungeeignet. Aber ich habe sie sehr gern. Man weiß wenigstens, wenn man sie genau ansieht, in welchen Stunden sie ihre lichtweiße Helligkeit verbreiteten ... ›In der Mitternächte Kühlung ... die dich zeugte, wo du zeugtest ... überfällt dich fremde Fühlung ... wenn das stille Lämpchen leuchtet.‹ Goethe sagt zwar Kerze. Siehst du, Nuckelino, das ist der ganze Unterschied zwischen Schiller und Goethe. Es ist durchaus nicht nötig, daß uns jemand erzählt, daß eine edle Himmelsgabe das Licht des Auges ist. Das weiß ich schon ohnedies längst. Aber es ist sehr nötig, und es wird urewig neu bleiben, daß jemand einmal von der Mitternächte Kühlung spricht, die uns zeugte, und da du zeugtest, von der fremden Fühlung, und all den schwebenden Dingen, die sich um unser ›Stirb und Werde‹ ranken, die unfaßbar sind, und die uns anziehen, wie den Schmetterling das Licht, und uns endlich verbrennen – ... ›Sag es niemand, nur dem Weisen ..., weil die Menge gleich verhöhnet ... Das Lebendige will ich preisen ... das nach Flammentod sich sehnet.‹ Aber du hast doch solche Angst immer, wenn ein Nachtfalter im Zimmer herumschnurrt. Wer wird ihn dir nun heute fangen, wenn einer kommt? Soll ich nicht doch da bleiben?!«
Aber Ruth will davon durchaus nichts wissen: »Laß dir Beethoven vorspielen und geh' ins Museum, Yorri, du hast ganz recht: Bilder sind deshalb nicht häßlicher, weil ich traurig bin und leide und weil es mir schlecht geht.«
Nein, das Haus war wirklich kein Tränenhaus, in das der Doktor Wild (er war ein blasser, überarbeiteter, rotblonder Mann, der als sehr gewissenhaft galt in seinem Fach, und auch, trotz ungeschminkter Manieren, durchaus menschlich und mitleidsvoll war. Und der die ganze Welt nur vom Ursprung des Menschen aus erblickte. Und das war vielleicht noch garnicht die dümmste der Weltanschauungen. Nur, wie alle solcher Art, etwas einseitig). Wirklich, es war kein Tränenhaus, in das der Doktor Wild auch seine Privatpatienten legte. Es roch da weder nach Kohl, noch nach alten Stiefeln, sondern sehr gesund, nach Aether, Lysol, Sublimat, Chloroform, Karbol, heißen Wasserdämpfen und gebügelter Wäsche. Es war alles hell und luftig bis in den letzten Winkel, den es eigentlich gar nicht gab, denn schon das wäre unsanitär und unhygienisch gewesen. Ein paar Mädchen mit großen Wassereimern hantierten in den blaugestreiften Flanellröcken langsam wie Herbstfliegen herum. Sie sahen aus, als ob sie innerhalb einer Stunde mit Drillingen niederkommen wollten. Irgendwie brummte es auch schon von dem dumpfen Stöhnen einer Frau, die grade in den Wehen lag. Eine Schwester, die vorüberging, sagte zu einer von den Mädchen ›Mistamsel‹ und zu der andern ›Flitschn‹. Aber sie meinte es wohl nicht böse, das war so ihre Umgangssprache. Und es wurde von den zukünftigen Drillingsmüttern auch nicht krumm genommen. Sie waren es nicht anders gewöhnt, und es hätte sie nur verwirrt, wenn die Schwester etwa anderes zu ihnen gesagt hätte.
Aber Ruths Zimmer war wirklich hübsch, hell, groß mit Chaiselongue und einem sehr breiten Bett (aber das wohl nur aus medizinischen Gründen). Und es hatte eine Aussicht vom Säntis bis zur Zugspitze, und eine untergehende Sonne mit heißen, blutigen Strahlen. Das Sofa war zu kurz, und Ruth, als sie sich dort ausruhte, – ›wenigstens einen Augenblick erst verschnaufen!‹ – lag da, wieder mit angezogenen Beinen, auf einen Arm gestützt und halb den Oberkörper gehoben, wie eine Figur auf einer etruskischen Grabkiste. Sie liebte diese Stellung sehr.
Die Schwester kam herein, riesig, vertrauensvoll und weißbeschürzt, mit schiefem Häubchen, und tauschte mit Ruth einen Blick: ›Was will der Mann hier? Der hat jetzt hier nichts mehr zu suchen! Komplimentierens ihn bald heraus!!‹ hieß der Blick. »Un dann legens sich« (wie stehts denn?!). Wir machen hier früh Nacht.« So sagte sie, ließ die mächtigen nackten Unterarme wie zwei Würste herabpendeln und wandte sich an Fritz Eisner: »Schwester Vronerl« lächelte sie beruflich. Aber sie hörte garnicht hin, als Fritz Eisner seinen Namen stottern wollte. »So ... also jetzt lasse ich Sie noch an Augenblick alleinig, und dann, wann ich wieder komm, sind Sie schon im Bett ... nichtwahr?!«
»Du«, sagte Fritz Eisner und beugte sich über Ruth, um sie zu küssen, »nun möchte ich dich aber nochmal lächeln sehen. Siehst du, es geht ja noch. Und wann soll ich dich holen? Um drei morgen? Ich wünsche nebenbei den Krankenschwestern weniger Dienst, weniger Dünkel, und mehr menschliches Empfinden. Aber, da sie alle eigentlich gleich sind, würden wir sicher auch nicht anders sein. Danach mußt du mal später deinen Soziologen fragen.«
»Das tue ich auch nächstens«, sagt Ruth und zieht Fritz Eisner zu sich nieder. »So, nun geh. Ich will mich ausziehen. Ach richtig, ja, hier habe ich noch etwas für dich. Aber lies es unten.« Und damit riß sie aus ihrem Schreibblock, den sie immer bei sich trug, ein Zettelchen ab. »Aber lies es wirklich erst unten oder zu Hause, Yorri. Und dann morgen nicht vor drei. Hab' keine Angst: es hat noch Zeit bis ich vor'n hohen Stuhl komme. Hast du auch Marley nicht vergessen?!« Und dann zog Fritz Eisner die Türe leise hinter sich zu. Auf dem Gang stieß er mit dem blassen rot-blonden Doktor Wild zusammen, der grade im weißen Kittel aus dem Operationsraum kam.
»Passens auf, Hörr«, sagte er im Vorbeigehen. »Die Geburt wird ganz glatt gehen. Ich schau's mir nochmal an, vorher ... Dös hätt aber doch a saudumme Gschicht geben können, ganz a saudumme. Angst brauchens net zu haben. Verzeihen Sie, hab ka Zeit net«, und damit war er schon im Saal grade gegenüber, aus dem dieses seltsame Brummen kam.
Fritz Eisner atmete auf: Wirklich, er hatte es ja selbst gesagt, der Arzt, daß er Ruth nur noch einmal vorher ansehen wollte. Gott sei Dank, zu ängstigen brauchte er sich noch nicht.
Die beiden Drillingsmütter mit ihren Wassermengen und ihren Scheuerlappen wandten die großen Köpfe mit den stumpfen und leeren Kuhaugen nach ihm und kicherten dabei.
»Dös war der Vater«, sagte die eine zur andern. Das hörte Fritz Eisner noch auf halber Treppe.
»I glabs net«, meinte die andere und plantschte weiter. Draußen war ein warmer Abend geworden. Der Wind hatte sich gelegt, und nun strahlte alles die Backofenwärme aus von der vielen Sonne am Tag. Der Himmel war silbern und rosig mit vielen kleinen gekrausten Wölkchen von Purpur bis Nelkenfarben abgestaffelt. Von fernen Brauereien kam ein Malzgeruch herübergeweht. Er gehört zu München, wie der Geruch von Asien zur Wiener Josephsstadt.
Eine ganze Weile stand Fritz Eisner an einem Drahtzaun und blickte wie gebannt und benommen in eine Baugrube hinab, in der Schlosserlehrlinge Fußball spielten. Er verstand garnichts von Fußball. Aber im Augenblick war es für ihn das Interessanteste der Welt; denn er wußte, sonst hätte er losgeheult. Wie eine Kali hundert Hände hat, so schien der eine Bengel da hundert Beine zu haben. Überall, wo der Ball hinkam, war gerade zufällig ein Fuß von ihm. Wieviel Leute doch jetzt spazieren gehen! Kinder singen und spielen Kreisspiele. Das tun sie überall an Sommerabenden. Ehepaare gehen zur Stadt wieder. Und Liebespaare gehen aus der Stadt heraus erst jetzt. Er, Fritz Eisner, in diesem Augenblick war deren Zukunft. Und sie waren seine Vergangenheit!
Wie die Kinder da schreien und toben! Und sich sagen, daß sie und alle Menschen, der Schlosserlehrling mit den hundert Beinen da, und das Mädel mit dem Miesbacher Hüterl, und die alte Frau, die sich a'n Kamillen sucht, der dicke schnaufende Mann, der Schaffner, der hinten auf der Straßenbahn klingelt, alle, alle diesen Weg durch Blut und Schmerzen haben nehmen müssen, der so haaresbreit nur am Wege des Todes vorbeiführt ...! Woher das nur? Im Kaspimeer, oder im Schwarzen Meer, da gibt es einen Fisch, der in großen Tiefen lebt. Wenn aber das Weibchen sich seiner Jungen entledigen will, so steigt es zur Oberfläche. Und da der Druck der gewaltigen Wassersäule, die sonst auf ihm lastet, aufhört, dehnt sich sein Körper plötzlich und es zerplatzt, und die Jungen schwimmen fort. Es selbst aber treibt auf den Wellen. Warum nur muß sich das Leben immer wieder mit so viel Grausamkeit sich selbst erkaufen?! Das ist doch die dümmste, die allerdümmste Stunde im Dasein des Mannes.
Und doch wäre es ohne das eine trübselige Sinnlosigkeit.
Wie unerhört süß Nuck noch in dieser Stunde sein konnte eigentlich ... ›Wir lieben‹, Fritz Eisner spintisiert gern so vor sich hin. Er ist ein Tagträumer von jeher. ›Wir lieben an den Frauen ... Schönheit ... Anmut ... Frische ... Gesundheit ... ebenso fast wie ein krankes Lächeln ... vielleicht mehr als ein heiteres ... den sich umflorenden Blick ... die Brauen einen Millimeter zu lang oder einen Millimeter zu hoch ... den Geist ... das Bonmot ... lange Wimpern ... Rücken ... Augen ... Bewegung ... Mitleiden ... ihre Liebe zu uns ... das Geschlecht ... den gleichen Schritt ... Rhythmus ... Hautgefühl ... Körperwärme ... Männer bekommen eben keine Kinder, und die einzige Art für die, ein Kind im Arm zu halten, ist eine Frau im Arm halten.‹
›Ach Gott, da hat mir Nuckelino ... der Junge wird aber mal ein Champion werden, der mit den hundert Beinen ...! doch einen Zettel gegeben. Man kann ihn wirklich kaum noch entziffern. Was steht da drüber?: ›Trotz Blei rechtsgültiger Vertrag.‹ Immer die Juristin. Was heißt denn das? ›In Berücksichtigung der Tatsache, daß Nuck unheimlich viel an physischen und psychischen Schmerzen überwinden mußte, und dadurch vielleicht etwas reizbar und mißtrauisch geworden ist ... gelobt Yorri bei seinem Herrn in Christo von jetzt an, wenn er nicht bei ihr ist, täglich nette Briefe, schlimmstenfalls Karten‹ (aber wirklich, Nuckelino, mir stand nicht sehr der Kopf danach in der Woche jetzt mit der Frau und mit dem kranken Kind) ›Karten zu schreiben und verspricht, sich zu rühren wegen Bleibe. Hingegen will die obenbesagte Nuck artig warten, und in allem dafür sorgen, daß es später so nett wie möglich wird.‹
›Gott, das arme Ding eigentlich, dieser alte Narr hat doch wieder deine Finger in einem Menschenschicksal gehabt. Hedda Gabler. Wie gut doch Ibsen um solche Dinge gewußt hat.
Schön, – dann werde ich heute also noch vor dem Abendessen da hingehen. Es wird zwar wieder nichts werden; aber hingehen muß man!!‹
*
›Wie warm das ist und wie dunstig je mehr man in die Stadt hineinkommt. Im Winter haben Städte etwas von geheizten Stuben, man flüchtet dahin – Im Sommer sind sie Gefängnisse mit schlechter Lüftung. Und Straßen am Tage gehen noch an. Aber Straßen an Sommerabenden in einer Stadt, die einem eigentlich fremd ist, Vorstadtstraßen, alles im Halbdunkel einer Dämmerung, die nicht Nacht werden will ... Vorstadtstraßen mit ihren gleichmäßigen Häuserschächten, mit ihren lächerlichen Streifen von Grün in den Vorgärten, mit ihren wilden Giebeln, die so unmöglich in die weiße Abendglut des Himmels schneiden ... jedes für sich, keins geht mit dem andern zusammen ... jedes hat seine eigenen Türmchen und Dachreiter (so wie man das vor dem Krieg liebte) ... solche Vorstadtstraßen, in denen es vorzeitig leer und tot ist, nur ein Dienstmädchen steht und wartet, bis der Schnauzer, den sie heruntergeführt hat, sich den richtigen Baum ausgesucht hat ... Und wenn man dann dazu noch nicht heimisch ist da, weder zu Menschen noch zu Straßen ein Gefühl bekommen hat ..., versteht einer denn, was den Menschen dazu bestimmte, sich so zusammenzurotten, nebeneinander, übereinander, sodaß kaum einer die Ellenbogen bewegen kann, ... hier in solchen Vorstadtstraßen zu leben, hier auf diesem engen Raum zu sterben, in ein Zimmer eingesperrt, wie der Maikäfer in eine durchlöcherte Zigarrenschachtel, mit einem Horizont, der bis zum Kino an der nächsten Ecke, bis zum Selcher schräg rüber, und der Wirtschaft »Zum bayrischen Löwen« reicht mit der Militärmusik und dem Biergarten, in dem sich Zenzi, wenn sie das Kraut dir bringt, mit der Haarnadel in die Zähne stochert ... solche Vorstadtstraßen ...! Nie habe ich begriffen, was den Menschen bestimmte, sich in diesen Termitenbauten zu vergraben, und noch weniger, wie sie ihr Leben so hinbringen, und sich so durch das Leben bringen! Es muß doch eine sehr merkwürdige Verfilzung der Beziehungen sein, daß auf so engem Raum so viel Menschen, die kein Mensch kennt, eigentlich existieren können. Jeder lebt von den Brosamen, die der andere ihm zuwirft, oder die er dem andern abjagt. Und dabei leben sie doch alle. Aber, ist denn das ein Leben?!«
›Gott sei Dank, daß endlich mal eine Tram kommt. Ist zwar nicht die richtige. Am Justizpalast muß ich dann umsteigen, aber das schadet nichts.‹
Am grauen Justizpalast, der zwischen Bäumen schläft – das Ungeheuer frißt nur am Tage –, sieht man trotz des Halbdunkels noch die hellen Einschläge der Kugeln in den Wänden; lichtere Kreise um Fenster und Türen. Und die Turmspitze der evangelischen Kirche hängt immer noch da drüben schief und traurig im letzten Abendrot in dem sterbenden Himmel.
Wie belebt der Stachus ist. Hier haben sich in all den Monaten immer die Gruppen gebildet um die Straßenredner von jedweder Partei. Hier wurde Politik gemacht, und falsche Gerüchte nahmen immer von hier aus ihren Umlauf. Heute stellt sich niemand mehr hier hin, es sei denn, um auf die Straßenbahn zu warten. Und auch dann, wenn er lange steht, wird er schon beobachtet von Militärposten und Schutzleuten: Er soll weitergehen. Aber so durch das alte München fahren ist wahrlich bezaubernd in dieser Stunde! Selbst die beiden Rettiche auf den Frauentürmen liebt man jetzt. Sie haben so etwas Ewiges, wie sie da in den Himmel sehen. Das Rathaus aber hat Pech gehabt im Krieg. Keine Granate, keine Fliegerbombe hat sich seiner Zuckerbäckergothik erbarmt.
Und riesige Plakate huschen im Laternenlicht im Vorbeifahren an Häuserwänden vorüber, auf denen Holländer mit Fischerhosen dem treuen deutschen Michel freundliche Holländer Käse zureichen.
O Gott, jetzt biegt ja die Tram nach rechts ab. Ich werde auch die Nummern hier nie richtig behalten!
Fritz Eisner springt auf.
»Sö, Herr Nachbar«, ruft ihm ein unfreundlicher Mann an – Fritz Eisner kannte den Typ nur zu genau.
(»Was san's denn so unwirsch, Herr Huber?« schießt es Fritz Eisner als Simplicissimus-Erinnerung durch den Kopf. »Haben's mi etwa schon mal wirsch g'sehn, Zenzi??!!«) »Sö, Herr Nachbar, pressierts Ihnen a so, dann lassen's mir wenigstens mei Haxen do!« Die Ludwigstraße liegt lang und leer. Am Tage ist sie heiß und breit und baumlos, ist Hitzschlag und Langeweile, mit ihren nordisch vernüchterten Palästen. Aber sie ist eine Abendschönheit. Vor allem so an blauen, wärmebrodelnden Sommerabenden wie heute, wenn über ihr ein Himmel von weißglühenden Eisendämpfen liegt, in ihrem Halblicht die Glühwürmchen der Laternen tanzen, und sich die bunten Signallichter der Trams, die ganz winzig unter der Überhöhe der langgestreckten Fassaden dahinhuschen, wie kleine Kometen gebärden, angeschossen kommen und davongleiten.
Hinten am Siegestor liegt fast Dunkelheit, aber es weht aus Parks eine leichte Brise von Kühle und Laubduft hier hinein, und der bitterliche Harzgeruch der langen Pappelreihen der breiten Leopoldstraße da jenseits zieht über das Tor hinweg als ein Gruß vom toten Schwabing. Schwabing ist jetzt gehaßt. Genau so gehaßt, wie man noch vor wenigen Jahren stolz darauf war. Der Münchner war auf Schwabing ungefähr so stolz, in gleicher Weise stolz, wie eine Stadt auf ihren zoologischen Garten stolz ist, der Seltenheiten birgt, merkwürdige Viecher, die man eben in anderen Zos nicht finden kann, und die man sich auch gerne mal ansieht, – wenn man auch ganz zufrieden ist, daß sie hinter Gittern und in Käfigen sind! – und die man bei sich zu Hause nicht einen Tag dulden würde, das Geschmeiß.
Und dabei war doch Schwabing längst tot. Es gab doch eigentlich gar kein Schwabing mehr, als man es zu hassen begann. Es war ja längst wieder, bevor man noch an Revolution, Räterepublik und Gegenrevolution gedacht hatte, aus einer geistigen und künstlerischen Atmosphäre nur eine Ortsbezeichnung geworden, die man in die Stadtkarte ja schon immer eingetragen hatte. Nicht mehr. Aber ehedem war der Münchner auf Schwabing doch insgeheim stolz gewesen. Erstens vonwegen der urkomischen Viecher, und zweitens von zu wegen seiner Toleranz. Wieder solch gelbes Plakat! Aber es wird doch nur wieder eine neue Zersplitterung geben. Ruth hat ganz Recht. Wer heute eine andere Politik macht, als Sozialpolitik, den sollte man eigentlich gleich hinter Schloss und Riegel setzen ... Ob Ruth jetzt schon schläft? Ich glaube: Licht wird da draußen nicht viel gebrannt. Sonst nimmt sie eben ein Mittel. Vielleicht gibt man ihr auch eine Spritze wegen der Untersuchung morgen. Heroisch, wie das Mädel das alles, ohne sich zu mucksen, über sich ergehen läßt. Vielleicht rufe ich doch mal gleich morgen früh an, ehe ich ins Antiquarium gehe. Und den Isenheimer Altar kann man sich auch noch mal wieder ansehen, solange er noch da ist. Den müssen wir bestimmt wieder abgeben. Wie reizend sie immer da oben in ihrem Empirebett aussah. Wie die Madame Recamier. Solch ein Bett von damals ist doch wie ein großer und wundervoll geschweifter Kahn auf dem Liebesmeer. Vielleicht sind heute die Betten bequemer, luftiger, gesünder. Aber sie haben etwas verdammt Maschinelles dabei bekommen gegen die von damals, die doch zuerst und zuletzt nur eine köstliche Schale um die Frau selbst schaffen sollten, die zu ihr gehören sollte, wie die Muschel zur hockenden Aphrodite. Aber das mußte wohl so sein, in jener Zeit, in der sich alles um die Frau kristallisierte.
War das nicht Maupassant, der mal etwas so Endgültiges über das Bett schrieb? Ein echter Maupassant. Der Brief eines kranken Bischofs an seine Freundin, den er in einer alten Kommode findet, die er beim Antiquar ersteht. Gerade von einem Bischof. Über das Messingbett »Sanitas« wird niemand mehr solche Briefe schreiben können. Es ist ganz und gar neutral geworden.
Der Platz vor der Akademie ist wenig beleuchtet. Groß und kahl mit den geschwungenen Freitreppen und mit dem finsteren Ernst seiner dunkeln, mächtigen Fassade, die mit den blinden Augen seiner hohen Fenster in die ersten Flimmersterne des Sommerhimmels steht. Die Dunkelheit hat sich in dem breiten Platz zwischen Straße und Akademie auf seiner Steinkahlheit und seinen kargen, ligusterumzogenen Rasenflächen eingefressen. Und jetzt im Halblicht, vom Nachtblau überflackert, ist das Ganze mehr eine Erinnerung an Italien, als eine Wirklichkeit aus München. Jedesmal, wenn Fritz Eisner des Abends hier die schwere Haustür aufschiebt und eine Sekunde sich noch umblickt, ist er irgendwo anders: einmal in Rom, einmal in Verona, oder in Bergamo. Das Haus scheint auch ganz undeutsch, hat eine Wendeltreppe bis unter das runde Glasdach, in das von oben, wie ein großes Auge in den Tubus eines Mikroskops, das Licht hineinschaut. Jetzt liegt oben die Nacht schon, und ein paar Lichter zucken dürftig aus kleinen, alten Gasampeln über die vielen Fächerglieder der Stufen hin, die sich doch so schön und angenehm steigen, daß man gar kein Herzklopfen bekommt, ganz gleich, wie hoch man will. Aber sie knarren bei jedem Schritt, Fritz Eisner mag noch so leise auftreten, knarren immerfort: ›Ruth ...! Ruth ...! Ruth ...!!!‹
Oben seine Zimmer sind leer. Nicht so leer, wie man es von Zimmern gewohnt ist, wenn sie leer sind, sondern so leer, wie sie nur sein können, wenn ein lieber Mensch nicht drin ist, der eigentlich in ihnen sein müßte. Und dabei sind es hübsche Zimmer. Langgestreckte und niedrige Zimmer von gefälligen Formen, und das Mobiliar ist bei Trödlern zusammengekauft. Manches im alten Holz noch, manches weiß überlackiert. Gut und schlecht, wie es sich trifft. Alle Stile von 1700 bis 1850 schwirren durcheinander zwischen den großmustrigen Kattun-Vorhängen, machen sich auf dem altmodischen Bodenbelag breit. Biedermeiertische, ein Barockschrank, Empirebetten und Rokokostühle, ein Schreibtisch einer undefinierbaren Übergangszeit. Stadt-Ansichten, Modekupfer und Silhouetten, bilden Interpunktionen dazwischen, Kommata und Punkte. Eine Louisseizekommode gibt sich sehr aristokratisch. Aber wenn man näher hinsieht, ist sie doch nur kleinbürgerlich oder gar bäuerisch. Aber was tut das?!
Es gibt bessere Pensionen, gewiß. Aber, daß hier kein Möbelstück ist, das jünger ist als Fritz Eisner, daß die meisten sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater hätten sein können, das hatte ihn bestochen, hier, und eben hier zu mieten. Man war doch wenigstens etwas zu Hause. Das absolut Neutrale der Pensionen war aufgehoben. Und das ist zum Schluß (Ruth wollte das zuerst durchaus nicht einsehen, aber dann hatte er sie doch überzeugt), ... zum Schluß ist das wichtiger und weniger schlimm, als Staub in den Ecken, ein angeknicktes Stuhlbein, und ausgekämmte Haare im Toilettentischkasten von der Vormieterin. Die kann man nämlich in den Eimer werfen. Aber, wenn man den Sofaumbau verheizt, bekommt man Differenzen mit der Pensionsbesitzerin. Und die Zimmer lagen ganz oben. Und das war schon nett. Es ist doch immer besser, man trampelt anderen auf dem Kopf herum, als es wird einem selbst auf dem Kopf herumgetrampelt.
Die Zimmer, Fritz Eisners und Ruths Zimmer, sind durch eine breite weiße Tür verbunden, die auch geschlossen sein kann, aber wie der Janustempel im alten Rom nie geschlossen wird. Wenigstens seit den Monaten, da sie dort oben unter dem Dach Zuflucht genommen haben. Außerdem haben sie einen Blick über Dächer fort; und Dachdecker und Schornsteinfeger hätten aus diesem Blick viel über den Wandel der Stile von Dachbedeckungen, Kaminen, Schornsteinen und Ofenrohren im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert lernen können.
Jetzt – es ist verdammt stickig hier und beklemmend – als er an die Fensterbrüstung tritt, sieht Fritz Eisner nicht viel davon. Nur drüben in einer offenen erleuchteten Mansarde, die wie ein ägyptisches Grab in den Dachrand einschneidet, sitzt ein dicker Mann in Hemdsärmeln ... eben der dicke Mann Münchens, geschaffen aus Stammesart und Bier ... der eine Maß zu Munde führt. Spitzweg hat hier noch dürre, stachelige Kakteenzüchter, Dichter und verliebte Apothekergehilfen in violetten Schlafröcken gesehen, die nach einem anderen Fenster hinüberschmachteten. Vielleicht gab es die damals ebensowenig in diesen Dachregionen, wie es sie heute gibt. Aber die Dächer sind geblieben unter der leise flimmernden Wärme der Nacht, und mit den aufgestülpten Daumen der Schornsteine. Mit solchen aufgestülpten Daumen hat das römische Volk den besiegten Gladiator zu Tode verurteilt oder begnadigt (was weiß ich). Wie leer und dunkel das Zimmer nebenan ist, das durch die breite, weiße Tür herübergähnt: »Nuckelino, was tut dir jetzt weh«, ruft Fritz Eisner halblaut und erschrickt vor seiner eigenen Stimme. Woher hätte auch Antwort kommen sollen?! Die ganzen Tage vorher hatte er sich auf diesen ersten Abend mit ihr gefreut. Wieder die klugen Augen gegenüber zu haben, wenn er vom Buch aufschaut. Und jetzt war sie doch nicht da. Nur ihr Kleiderschrank drin ist offen, liegt gerade in der Lichtbrücke, als er angeknipst hat, und seine schmalen Fahnen, die in langen, schmalen Streifen, bunt herunter hängen, scheinen sich leise zu bewegen: Kostüme, Abendkleider, Blusen und Röcke, Sommersachen und Matinees. Mäntel und Capes. Merkwürdig, was so eine Frau alles braucht, und wie sie dafür kämpft, das bißchen Gelump sich zusammenzuhalten, das sie schön machen soll. Ruth versteht etwas von Kleidern. Lena – aber Lena hatte Pariser Schule, – hatte das auch getan. Zu gern hätte Fritz Eisner die Tür nach drüben und den Schrank zugemacht, aber er fürchtete sich davor, da jetzt hereinzugehen. Nein, er kann jetzt nicht nach der Kathi klingeln, sie soll ihm das Abendbrot bringen und dann oben sitzen bleiben und sein Essen reinschlingen und dazu den Tee schlucken, der so verdächtig nach Heu schmeckt. Vielleicht ist unten noch etwas für ihn zu haben.
Ach da auf dem Schreibtisch ist ja ein Brief und ein Magazin dabei. »Die Lebensfreude« heißt es. Ohne Zweifel eine Angelegenheit, der man viel Verbreitung wünschen möchte. Nicht dem Magazin. Sondern der Lebensfreude. Nach dem Magazin besteht anscheinend die echte joie de vivre darin, daß ein nacktes deutliches Mädchen mit einem Zylinder auf den Dauerwellen in der Astgabel eines mit Papierblumen besteckten Apfelbaumes sitzt mit einem eingefrorenen Lächeln in dem Berufsgesicht. Oder, daß eine andere, nur mit ihrer Haut bekleidet, mit neckischer Geste ihres großen Zehes einem älteren Lebejüngling den Hut vom Kopf schlägt.
Der Herausgeber schreibt dazu, daß sein Blatt sich die Kulturaufgabe gestellt hätte, den deutschen Menschen nach dem Heldenkampf des Krieges zur natürlichen Sinnenfreude zurückzuführen; und bittet um Beiträge. »Nicht für einen Wald voll Affen«, wie Shylock meint ..., nicht für ein Viertelpfund Butter, wie Pallenberg sagt, und damit fegt Fritz Eisner Brief und Heft vom Schreibtisch, und zieht die Tür leise hinter sich zu. Ihm graut vor dem Wiederhinaufgehenmüssen heute Nacht. Ach ja, er wollte ja noch nach der Wohnung sehen. Es war nicht weit weg, vielleicht könne er da noch anrufen, und erst mal fragen, ob er noch stören dürfe. Das hatte er wenigstens Ruth versprochen.
Unten ist ein netter, dreifenstriger Eßraum, alte vergoldete Kronenleuchter pendeln in seinem Halblicht. Viele Stühle stehen in Reihen um den lang ausgezogenen Rouschewaytisch. Solch einem Leviatan von ehedem, der immer noch, wenn Not am Mann ist, um eine Plattenlänge vergrößert werden kann. Die Stühle haben alle Muster der Biedermeierzeit in den Lehnen. Schwäne und Delphine, eiserne Kreuze, Leiern und Monogramme. Keiner war wie der andere, aber alle sind sie die unverwechselbaren Brüder einer Familie, und zwar einer guten Familie.
Die meisten haben jetzt schon gegessen, und die zerknüllten Servietten, die Brotkrümel auf dem Tischtuch, halbvolle Wasser- und Biergläser, und einige neue Roterübenflecke – wer kennt eine Pension, in der es nicht täglich Roterüben gibt? – von der Rubinfarbe alten Burgunders, geben davon Kenntnis.
Das Essen ist durchaus nicht schlecht hier. Ja, man wird richtig fett dabei. Wenigstens hat Fritz Eisner begonnen, sich langsam, aber rettungslos wieder aufzupfunden. Man hätte lange suchen können, bis man so viel Fleisch, Aufschnitt, Butter und Milch, Nudeln und Schmarren, wo anders – zum Beispiel in Berlin – jetzt hätte bekommen können. In Berlin, wo immer noch der Hamsterer hohlwangig die magern Dörfer abklopft, der Schieber triumphiert, und die Königin Marmelade nicht daran denkt, abzudanken. Aber es ist doch eine besondere Abart von Essen, das Münchner Essen. Und sie ist auch für eine besondere Spezies von menschlichen Mägen zubereitet, über die nicht ein jeder verfügt. Es ist eigentlich gar kein Essen. Es ist Ernährung. Aber die genügte ja zum Schluß, um ausgemergelte Menschen, und das sind sie alle nach dem Krieg, wenigstens die, die in Städten gelebt hatten – hochzubringen.
Einige Paare sitzen noch und sprechen. Aber man hört es ihrer Unterhaltung an, daß sie in den letzten Sätzen liegen und gleich aufbrechen wollen. Seltsame Menschen sind hier zusammengeweht. Kommunisten und Kommunistinnen. Ausländer. Mariniers. Alte Offiziere. Junge geschiedene Frauen, die den Nächsten erst mal ausproben. Das heißt, um Vergleichsmomente zu haben, sich für diesen noch nicht ganz fest entschieden hatten. Getrennt lebende Ehehälften, die an Hymens Fackel sich ein für alle Mal die Flügel verbrannt hatten. Junge Mädchen aus reichen Häusern, die mit vielen Prätentionen einen Beruf suchen, und immer einen Mann finden, der selten einen Beruf hat, und nie reich ist. Ja, einen alten Studiengenossen von vor fünfundzwanzig Jahren hat Fritz Eisner hier wiedergefunden, der damals – er war schon in den Dreißigern – und sah genau so aus wie heute mit einem schiefen verknautschten Gesicht über einem verfranzten, angegrauten Vollbart – nach Straßburg gegangen war, um die Zeitfolge der Figuren am Münster herauszubringen, und der nun bedauert, nicht mehr daran weiter arbeiten zu können. Der Krieg, und vor allem der Verlust des Krieges, waren für ihn sehr störend als Unterbrechung seiner Studien. Nicht etwa, daß er in den Krieg hinausgezogen wäre. Über alles, was Wehrpflicht hieß, war er längst weggewachsen. – Aber er hat in Straßburg sehr schlecht nur noch arbeiten können. Und wann es jetzt wieder für Deutsche Forschung frei würde, war ungewiß. Solange also müsse er jedenfalls hier in München ausharren. Vor fünf Jahren wäre kaum daran zu denken, daß er seine Arbeit wieder aufnehmen könne. Und jetzt wisse er also garnicht, ob und wie er damit fertig würde. Er, für seine Person, hätte gern auf den Krieg verzichtet.
Künstler gibt es da, Maler, und berühmte Radierer, denen es auch nicht mehr so ganz nach Wunsch geht. Sängerinnen und solche, die es werden wollen und gleichfalls Koloraturen üben, daß im Nebenzimmer die Waschschüsseln klirrten. Junge Kunsthistoriker, die seit fünfzehn Jahren über Wolf Huber nicht doktorieren. Große Gelehrte, die einen Ruf haben, aber nirgends festen Fuß fassen können, weil sie sich nicht in die Gilde einpassen wollen.
Voraussetzung aber ist, daß alle miteinander plauderten und gut auskommen, und daß die Rechtesten und die Linkesten, die gern einander die Schädel eingeschlagen hätten, auf diesem neutralen Boden miteinander ein Herz und eine Seele sind. Darin hat solche Pension etwas vom Paradies, wo auch alles friedlich nebeneinander weidet, und die Raubtiere nicht mal die Schafe anfallen, und sogar vergessen, sich gegenseitig mit den Zähnen an die Gurgel zu fahren.
Einer sitzt noch und ißt noch, ein junger Triestiner, der, weil er deutscher Abkunft ist, nicht weiß, wessen er jetzt in dem italienischen Triest gewärtig sein kann, und es deshalb vorgezogen hat, zwischen seine Person und den Machtbereich des siegreichen Königtums eine ausreichende Distanz zu legen. Und nun hat er in dem Land, für das er durch vier Jahre seine Haut mit zu Markte getragen hat, natürlich Scherereien mit Paß und Aufenthalt. Ist schon x-mal auf die Polizei in die Ettstraße zitiert worden, die sich gern dieses lästigen Schlawiners entledigt hätte.
Nachdenklich sitzt er Fritz Eisner gegenüber und stopft elegisch in kleinen Bissen die Brocken einer krümeligen dicken Scheibe Corned Beef, die von einer amerikanischen Ernährungshilfe stammt, auf der Gabel in den Mund zwischen die schnurrbärtigen Lippen hinein. Er ist ein hübscher schlanker Kerl mit sprechenden, großen, blaugrauen Augen, deren Farbe ihm sein Vater, Herr Seibel aus Karlsbad in Böhmen, als einzige Erbschaft gestiftet hatte, der sonst blond wie ein Kornfeld gewesen war, aber an seinem Sohn die mendelistische Erfahrung hatte machen müssen, daß Schwarz immer über Blond praevaliert. Und so ist auch Herr Guiseppe Seibel, im Gegensatz zu seinen blaugrauen treuen Augen, eine Gondolierenfigur von der gesunden Bräune südlicher Völker, von gescheiteltem blauschwarzen Haar, einer unbezähmbaren Unrasiertheit, und hat die schmalrückige gebogene Nase mit den gemeißelten Flügeln eines guten Rassetiers. Alles für den Lebensweg eines jungen Mannes sehr nette Geschenke, die er seiner Mutter, einer Venezianerin verdankt, deren Urahnen von Tizian gemalt worden sind, die aber selbst von dem ehemaligen Reichtum nur den Stolz noch behalten hat, – sofern sie ihn nicht an ihren Sohn weitergegeben hat.
»Nun, Signore Seibel« (denn jeder von denen, die hier zusammengeweht waren, nahm am Schicksal des andern Anteil) »ecco, signore Seibel. Also was war denn heute in der Ettstraße?« meint Fritz Eisner, während er betrübt feststellt, daß auch nicht eine Scheibe Schinken auf der kalten Platte geblieben ist, und daß der Bohnensalat bis auf einige Schnipselchen aus der Schüssel geschwunden ist, während in die Rotenrüben die vereinigten Pensionäre nur eine sehr minimale Bresche geschlagen hatten. »Nun, Signore Seibel, wie war's in der Ettstraße? Haben Sie jetzt endlich Ihre Aufnahmeerlaubnis bekommen?« Innerlich aber denkt Fritz Eisner: So was hat es doch vor dem Krieg nie gegeben, und wenn ich in Timbuktu oder in Haparanda hätte leben wollen!
Herr Guiseppe Seibel sieht mit seinen deutschtreuen Augen inmitten des venezianischen Dogengesichts zu Fritz Eisner hinüber und bekommt seinen Monzenigozug.
»Porco madonna!« schreit er, »das sin Sweine, die da oben«. Aber dann verfällt er ins Münchnerische. Er hat ein verdammtes Ohr für Dialekte. »Sitzt da der so an san Tisch mit seinem Schnauzbart, worin noch der Schaum von all die Maßkrüg von die letzten Wochen hängen tut und blättert immer in die Papieren ummenand, wo auf dem Tisch liegen. Oan Stuhl biet er mir net an. Dös tut man bei die Klienten hier net. Plötzlich schaut er hoch und glubscht mir so eine ganze Weile von unten her stad und stier mit seine Ochsenaugen ins Gesicht eini!«
»Hoa ... Sö Herr« schreit er wie an preißischer Feldwebel, »san Sie Jude?!!«
Ich denk, der Moa is spinnet worden!
»Na« ruf ich »ich ...? ka Spur net, Herr wirklicher Oberactuarius« (Solche Leute muß man immer mit 'nem Titel beschimpfen, ganz gleich, mit was für einem).«
»Ja,« schreit er und wird noch lauter. »Himmi Herrgott Sakrament ... warum schauen's denn aber so aus?! ... Wissen Sie, sowas gibt's nur in Deutschland.«
Fritz Eisner lacht. »Sehen Sie, Signore Seibel, da sind Sie nun zu Unrecht in Verdacht gekommen. Beschweren Sie sich beim Pater Mendel in Brünn.«
Aber Seibels mütterliches Temperament kann sich nicht so schnell beruhigen, während doch langsam seine treudeutschen Augen den Humor der Sache zu begreifen schienen und stillvergnügt vor sich hinzuglänzen beginnen.
»Bestia tedesca« knurrte er durch die Mundwinkel, denn im Herzen war er doch mehr Italiener, als Deutsch-Böhme. »Ich hätt gewiß nix dagegen, Jude zu sein. Giolitti ist Jude, und Nathan, der beste Bürgermeister, den Rom je gehabt hat seit Tarquinius Priscus ... aber so was is doch a Viecherei, a saudumme!«
Aber Fritz Eisner kommt nicht mehr dazu, Herrn Guiseppe Seibel zu bestätigen, daß sie darin völlig konform gingen, und daß so etwas wirklich a Viecherei, a saudumme, ist. Für Herrn Seibel ist es ein Witz. Für ihn, für Fritz Eisner, ist es sogar ganz etwas anderes. Aber was ist denn da plötzlich da draußen auf dem Gang los? Hat nicht jemand eben ganz deutlich gesagt: ›Na, ist der Meister drin? Komm, Joli, wir gehen einfach zu ihm rein!‹ brüchig, zaghaft, freundlich, helldunkel, echt berlinisch. Aber so, wie das unbetonte, alte Berlinertum von mindestens drei Generationen spricht, auch wenn die Eltern noch nicht in der Tiergartenstraße, sondern erst an der Gertraudenbrücke gewohnt haben.
Der Ton gleichgültiger, nuschelnder Unbetontheit allein schon packte Fritz Eisner, so als ob einer im Ausland nach Monaten plötzlich wieder das erste deutsche Wort hört. War denn das eigentlich deutsch, was die Leute hier redeten? Und waren denn das eigentlich Menschen, die das taten? Wenn er mit denen da nicht redete, so verstanden sie ihn, und sie sich untereinander besser, als wenn er mit den Menschen hier redete.
Und trotzdem erschrickt Fritz Eisner, daß ihm das Herz bis in den Hals hinaufhämmert. Seit bald dreiviertel Jahren hat er nichts mehr von seinen alten, jahrzehntelangen Freunden in Berlin gehört. Er hat systematisch von Stund an, da er von Berlin fortging, alle Brücken abgebrochen. Er will nichts mehr von denen da wissen. Vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Vielleicht ist er auch belogen worden. Vielleicht sind das alles Erfindungen von Annchen, was da in ihren Briefen steht. Vielleicht hat sie auch die Leute aufgeputscht gegen ihn mit ihren Briefen, die sie in die Welt feuert. Jedenfalls: Er will nicht mehr. Es will nicht mehr. Es ist ein ganzer Feldzug von Lügen, und ein Hagel von Verdächtigungen über ihn und seinen Namen niedergegangen. Und die Familie hat sich zuerst daran beteiligt. Herzabstoßerles ist da von je ein beliebtes Gesellschaftsspiel gewesen.
Schön: er verlangt von ihr gewiß nicht, daß sie sein Tun billigen, aber er versteht nicht, warum sie Partei ergreifen. In seiner Bekanntschaft war es doch auch hundertmal vorgekommen, daß Ehen gekracht hatten und zerbrochen waren, und daß der dann jene, oder jene den geheiratet oder nicht geheiratet hatte. Er hätte es doch auch nicht gewagt, da den Richter zu spielen, sich auf jene oder diese Seite zu stellen. Dazu weiß er zu genau, daß niemand von außen in eine Ehe sehen kann, so wenig wie jemand durch bunte Fenster in eine Kirche sehen kann. Und die schönsten Kirchen sind keineswegs die, die die buntesten Scheiben haben, und die Madonna wird ebensowenig in diesen Kirchen am innigsten verehrt.
Außerdem hätte er wenig in diesem Leben gelernt, wenn er nicht das gelernt hätte, daß man niemand nach seinem Sexualleben beurteilen darf, und daß das kein Maßstab für Wert oder Unwert, Anständigkeit und innere Sauberkeit, Ethik, oder Mangel an Menschlichkeit ist, und daß gar die Klugheit, der Wert, die ganze Einstellung zu den Bildungsgütern, die doch zum Schluß die Scheidemünze des Verkehrs von Mensch zu Mensch sind, davon ganz unberührt bleiben.
Wie Paul Gumpert zu ihm sich jetzt gestellt hat, weiß Fritz Eisner nicht, will es nicht wissen. Wie er ihn mit Ruth am neunten November unter den Linden getroffen hat, hat er ja sogar viel Takt damals gezeigt. Und jetzt ist er jedenfalls da. (Ob man ihn geschickt hat als Parlamentär?) Wie hat er denn nur seine Adresse ausspioniert? Ach was? Wozu soll ich mich verleugnen lassen? Es ist ganz gut so. Nur keine Sentimentalitäten! Man soll alte Bekannte gerade hin und wieder sehen, um festzustellen, daß man sich nichts mehr zu sagen hat.
Fritz Eisner ist aufgesprungen, um ihm entgegenzugehen. Schämt sich im Augenblick hier dieser Umgebung, des abgegessenen Tisches, der durcheinandergewürfelten Menschen, die er vielleicht vorstellen mußte.
Und da ist nun der kleine dickliche Mann, mit seiner Glatze, dem scheuen, etwas schief gesenkten, immer ein wenig verlegen lächelnden Gesicht. Er ist eigentlich unverändert, nur daß früher in seinem dunkeln Haarkranz um die Glatze graue Haare gewesen waren, und jetzt, nach kaum neun Monaten, in seinem grauen Haarkranz ein paar dunkle noch. Er hatte immer noch diesen Zug, der zur Welt nie ›ja‹ und nie ›nein‹ und stets nur ›vielleicht‹ sagen konnte, und in seinen Augen ist noch unverändert der Spruch aus dem Ring Montaignes ›que sais-je‹ zu lesen.
Da ist er nun mit dem Stock, mit der Gummizwinge und dem Silbergriff. Er hinkt also immer noch von damals her, als er mit seinem Mercedes das Etappenschwein in den polnischen Graben gefahren hat. Bei den meisten hat mit dem Krieg das Hinken zugleich aufgehört. Da steht er nun in der Tür, dieser Paul Gumpert, der zugleich ein armer Junge und ein vielfacher Millionär ist (wenigstens ist er das, vor dem Krieg gewesen). Und im Augenblick ist alles weggewischt, was Fritz Eisner gegen ihn, gegen Berlin, gegen seine Leute von einst hat; und die warme Untermalung seines Gefühls schlägt durch das nur überlasierte kalte Grau und die stechende Firnisschicht hindurch. Das da sind doch bald fünfundzwanzig Jahre seines Lebens. Der wichtigste, bewußteste Teil. Und das andere ist dagegen nicht mehr als ein Tag. Das ist ja alles Quatsch, das sagte ihm ein Blick. Der da hat sich so wenig gegen ihn verändert, wie er sich gegen ihn gewandelt hat.
Und neben Paul Gumpert steht eine wunderschöne schlanke und doch füllige Person von fünf-, sechsundzwanzig Jahren wohl, ganz frauenhaft, ein seltenes dunkles Menschenwesen, mit etwas schräg gestellten Augen, steht da melancholisch und berückend zugleich und lächelt Fritz Eisner von unten her an.
»Also, ... das ist der Meister, Paul?« sagt sie und sieht von Paul Gumpert zu Fritz Eisner, und von Fritz Eisner zu Paul Gumpert herüber. Und in dem Blick ist eine so selbstverständliche Verbundenheit, das sie mehr ist als Liebe. Die hat ihn nicht nur des Fehmantels wegen gern (›Geh, Schatzerl, kauf mir doch das Mäntelchen‹) und der Fünfzimmerwohnung in der Hohenzollernstraße wegen. Und in dem Gesicht ist auch etwas anderes drin, als nur Schminke. Das ist keine Saisonliaison. Das ist nicht ihr Zahlmeister nur. Fritz Eisner fühlt: das ist Schicksal für ihn, für sie, für beide. Dieses recht ungleiche Paar, dieser unauffällige, etwas dickliche und weichliche Mann mit der Glatze und diese brünette Schönheit, die vielleicht eine große Schauspielerin sein kann, wenn sie erst einmal an der richtigen Stelle stehen wird ... die beiden da sind eben so glücklich miteinander, wie sie unglücklich sind. Sie ist aus ähnlichem Holz wie Ruth; aber sie ist noch schöner, weil sie gepflegter ist; und weil sie ihren Körper, ihr Gesicht nicht nur trägt, sondern darstellt. Innen und außen sind bei ihr noch stärker und bewußter verbunden. Die wird nie dahin kommen, die Brücke von der Frau zur intellektuellen Frau zu zerstören, das sagt Fritz Eisner ein Blick. Und der Paul Gumpert da hat sich so wenig gegen ihn verändert, wie er sich gegen jenen verwandelt hat, das sagt ihm ein zweiter Blick.
»Also, das ist der Meister, Paul?!« ruft die Brünette noch einmal und faßt mit einer echten Frauengeste ihren Fehmantel vor der Brust zusammen.
»Was heißt hier: Meester?! Wer hat früher überhaupt was von Meester gewußt, Fräullein? In Berlin ja, aber des is schon lange her. Hier sind des janz andere. Hier kennt mich mit Verlaub kein Aas außer ein paar Literaten, die zufällig mal meinen Namen in der Voss gelesen haben. Erinnern Sie sich an des Gedicht von Scheffel, wie die Römer die Quaden unterwerfen wollen, und erst mal ein Rudel Löwen gegen sie über die Donau schicken, und die Quaden rufen: ›Was für komische, gelbe Katzen!‹ und sie mit ihren Keulen totschlagen. ›Es imponiert der Löwe nur dem, der ihn versteht,‹ sagt Scheffel. Ich bin zwar kein Löwe, aber Sie vergessen janz, daß wir hier südlich von der Donau sind.« (Es tut Fritz Eisner unendlich wohl, mal wieder recht berlinern zu können). »Südlich von der Donau, da wird der Leo Berolinensis von je mit Keulen totgeschlagen.«
Die schöne Frau lacht, lacht wirklich, kein Theaterlachen. Nein, sie hat nichts von der Schauspielerin, nicht mal, daß sie die Natürliche spielt, wie das die letzte Nuance ihrer Berufskolleginnen ist.
»Aber, wie haben Sie mich aufgespürt, Paul Gumpert?«
»Das will ich Ihnen sagen, Eisner. Es gibt Hotellisten. Und wie ich Sie da nicht fand, habe ich einen Chasseur auf die Meldestelle geschickt. Sie sehen also, Sie sind mir mit Trinkgeld für den Hotelboy immer noch drei Mark wert, trotzdem in der jüngsten Gegenwart die Literatur sehr im Preise gesunken ist.«
»Ich nehms den Leuten nicht übel. Die Welt sollte in den nächsten hundert Jahren soviel mit Zivilisation zu tun haben, daß sie für Kultur keine Zeit hat.«
»Eisnerchen, Ihr Wort in Gottes Ohr. Aber ich sehe nur das zweite.«
»Wo sind Sie hier eigentlich, Gumpert?«
»Ach, solch nettes, altes, vornehmes Hotel, wissen Sie, noch von vor der Erfindung der Wasserspülung. Ich kann diese aufgerissenen Sachen von heute nicht leiden, und Joli auch nicht. Das ist M'chens Ressort. Die glaubt: Reisen heißt den Zwischenraum zwischen zwei Grand-Hotels zurücklegen.«
Der Fehmantel klopft Paul Gumpert auf die Schulter. »Du Paul,« sagt es gequält, »weißt Du: Laß das gegen deine Frau. Ich will das nicht in meiner Gegenwart.«
Auf der Bühne hätte sie das sicher anders gesagt. Wirkungsvoller, aber unechter.
Paul Gumpert duckt sich etwas zusammen und hebt dann die Augen wieder. Und in dieser einen Bewegung liegt sehr viel für Fritz Eisner. Sie ist Paul Gumperts ganze Ehegeschichte, auf eine einzige Linie gebracht.
»Also, wo ist Fräulein Block? Wir wollten Sie beide abholen. Ich bin mit dem Wagen hier. Wenn ich zu Drey komme, komme ich doch der Bilder wegen, und nicht, um mich mit Herrn Drey zu unterhalten, und wenn er noch so nett ist. Also, raus mit de Bilder! Das ist nämlich das Allerbeste an ihm, Joli. Er selbst ist nur noch so dito passabel. Wenn er sich auch besser gehalten hat, als ich. Er hat aber auch weniger durchgemacht im letzten Jahr. Und ein bißchen wohlbeleibter ist er auch schon wieder geworden.«
Fritz Eisner schießt es durch den Kopf: ›Aha, sollte er deswegen hier sein?!‹ Er war verdammt mißtrauisch geworden in der letzten Zeit. Aber im Gesicht von Paul Gumpert liegt zu viel offene Freundlichkeit. So sieht man nicht aus, wenn man sich zur Spionage mißbrauchen läßt.
»Sie ist leider heute nicht da, Paul Gumpert, kommt morgen Abend erst wieder, oder Montag früh. Weekendet bei einer Freundin in Tutzing«, sagt Fritz Eisner und kommt sich dabei vor, wie ein Huhn, das man ins Wasser getrieben hat. Es kann schwimmen, aber nicht lange. Sein Element ist Verschweigen. Und nun hat man ihn in die Lüge gestoßen. »Ich bin auch erst heute früh gekommen, und sie erwartete mich eigentlich erst übermorgen. Ich habe ihr gleich telefoniert, sie soll dableiben. Was hat sie Sonntag hier in München? Vielleicht fahre ich morgen heraus, sie holen.« Fritz Eisner hat das Gefühl, daß die andern das garnicht hören wollen, aber er muß weiter lügen. »Ich gehe doch nur ins Museum, und das strengt sie immer an. Ist auch nicht ganz gesund. Immer spukt diese blöde Jugendgeschichte (habe ich Ihnen das nie erzählt?) wieder so in ihrem Körper herum.«
»Ach,« meint das Fräulein Joli, »wie schade, Meister! Ich hatte mich so auf sie gefreut. Wir haben nämlich eine gemeinsame Freundin in Berlin. Wissen Sie, eine rumänische Ärztin.«
Fritz Eisner weiß. Wozu hat er eigentlich dann gelogen?!
»Ich würde sagen, fahren wir nach Tutzing raus,« meint Paul Gumpert nachdenklich. »Aber es wird mir zu spät. Ich will morgen wieder zurück. Man kann jetzt keinen Tag versäumen. Es kann mehr kosten, wenn man nicht da ist, als eine Badereise. Ich hatte nur eine Besprechung hier wegen eines Rohstoffkonzerns, in dem sie mir das Fell über die Ohren ziehen wollten. Aber ich habe ihnen erklärt: die Herren irrten sich. Sie wären so wenig Apollos, wie ich Marsyas wäre. Ich ließe mich nicht von ihnen schinden.«
Es lag so viel Bitterkeit in dem Ton, wie Fritz Eisner noch nie von Paul Gumpert gehört hatte in all den zwanzig Jahren.
»Freuen Sie sich, Eisner, daß Sie wenigstens mit der Asselbande nichts zu tun haben. Im Krieg sind sie zwar nicht gewesen diese Herren, da hat man sie zum Verdienen reklamiert. Aber über Leichen gehen, das haben sie aus dem Krieg gelernt.«
»Ich dachte bisher immer, daß ein Tag gehandelt besser als ein Jahr geschafft ist« meint Fritz Eisner. Doch im Augenblick tat es ihm schon leid, daß er es gesagt hat. Man regaliert Leute, die einen besuchen, nicht mit Grobheiten, und vor allem dann nicht, wenn sie einen mit einem Auto abholen.
»Es kommt ganz darauf an, cher maître, wie man es tut. Jedenfalls, wenn man es so tut, wie man es vor dem Krieg getan hat, da doch der Kaufmann – so unmoralisch er Ihrer Ansicht nach auch sein mag, – doch eine gewisse Ethik hatte, geschriebene Gesetze kannte, die er nicht verletzen durfte, und ungeschriebene, die er nicht verletzen wollte ... so ist heute ein Tag schaffen besser als ein Jahr handeln. Wenn man sich aber nicht darum kümmert, daß es so etwas wie geschriebene und ungeschriebene Gesetze gibt – die einen gelten nicht für mich, (die Gerichte sind ja doch nur für die kleinen Diebe da) und die andern habe ich nie gekannt ... so ... da mögen Sie recht haben ... so kann sogar heute ein Tag handeln besser sein, als zehn Jahre schaffen. Wir haben immer geschrien, so um sechzehn, siebzehn rum: ›Schieber‹ und ›Kriegsgewinnler‹. Ich versichere Ihnen, Eisnerchen, das sind noch alles weißgegürtete Ehrenmänner gewesen gegen die richtigen Revolutionsverdiener, die sich zu den Konkursverwaltern des alten Deutschlands eingesetzt haben.«
Paul Gumpert ist wirklich nicht guter Laune heute.
»Und die sich solange vollfressen werden, bis aus der Pleite auch nicht ein zehntel Prozent mehr rauskommen wird. Und der Staat – das ist das Wahnsinnige! – der macht mit. Macht einfach mit.«
Die schöne Silbergraue neben ihm streichelt Paul Gumpert mit ihren breitgesteppten Cremehandschuhen über die dicklichen Kinderbacken.
»Reg dich nicht auf, Junge«, sagt sie. »Man kann Schlimmeres im Leben verlieren, als Geld. Ich zum Beispiel wüßte was.«
»Ach Gott, Freund.« Fritz Eisner will etwas Gutes sagen. »Das ist nun mal beim Boxen nicht anders. Der bedruckte Kattun wird noch lange trotzdem, wie ich Ihnen vor einundzwanzig Jahren weissagte, der Angelpunkt der Welt bleiben, und die Dynastie der königlichen Kaufleute derer von Gumpert wird deshalb noch lange nicht aussterben, auch wenn der Gegner einmal beim Seniorchef Paul mit einem kleinen Magenstoß landet.«
»Ach, was haben Sie da für einen anständigen Kupferstich hängen!« ruft die schöne Silbergraue. Streicht mit einem langen besorgten Blick dabei über Paul Gumpert fort, der den Kopf noch mehr gesenkt hält, als es sonst schon seine Art ist, sodaß sich der Reflex der Krone da oben deutlich in seiner Glatze spiegelt und fleht dann stumm mit großen Augen Fritz Eisner an: ›Nur kein Wort weiter reden!!‹ »Ach ... herrlich! Das sieht doch beinahe aus wie ein Lukas von Leiden.«
»Aber nein!« meint Fritz Eisner erstaunt und tritt unwillkürlich die zwei Schritte herüber zur Wand. »Ich glaube nicht. Die Zeit ist es zwar, aber ich halte ihn für deutsch, so um Cranach. Meines Wissens ist es überhaupt ein Holzschnitt aus irgend einer Bilderbibel.«
»Ja natürlich«, sagt die schöne Silbergraue und spielt plötzlich die Kurzsichtige, legt Fritz Eisner die Hand auf die Schulter, bringt ihr Gesicht ganz nahe neben seines an den Birkenrahmen. Und im Augenblick – Schauspielerinnen können so etwas besser als andere! – redet sie ganz tonlos, ohne den Mund zu öffnen:
»Aber wissen Sie denn das nicht, daß Werner noch eine halbe Stunde vor Waffenstillstand gefallen ist?!«
»Entsetzlich!! ... Der englische Farbenstich ist ein schlechter Neudruck, sonst hätte ich ihn schon längst weggelobt«, meint Fritz Eisner lachend und laut und zieht die schöne Silbergraue am weichen Ärmel des Fehmantels noch weiter fort ...
»Achtzehn Jahr war der ganze Bengel. Wie Paul das getragen hat! Wissen Sie, wenn ich ihn nicht schon lieb gehabt hätte, deshalb hätte ich mich in ihn verlieben müssen. Wenn es mein Sohn gewesen wäre, ich hätte mir die Kehle durchgeschnitten. Man kann fallen für eine Sache, die siegen muß. Das mag sinnlos sein, aber es steht doch eine Idee dahinter. Aber, für eine verlorene Sache, die jeglicher Idee beraubt ist, sich noch hinschlachten müssen, das ist schlimmer als der ganze blutrote Kriegswahnsinn ... das ist das unausdenkbare Nichts ... Also Paul, wie ist das jetzt?« Sie ist zum lauten Sprechen wieder übergegangen, ohne daß der leise Klang noch nachzitterte in ihrem Ton. Schauspielerinnen haben eben doch ihre Stimme besser gedrillt, als solche, die das nicht sind. »Wir sollten doch langsam beginnen, den Meister hier loszueisen. Wo wollen wir hin?«
»Dös kommt ganz drauf an, ob's schon genachtmahlt haben oder net?! Wanns noch essen möchten, wanns vielleicht a Kitzbäuscherl am Roast oder an Herzerl in Kraut winschen mit oan Bohnasalat, das kann ich Ihne sagen, wo's den geben tut. Aber wanns in München zu abend ›speisen‹ wollen, da bin i überfragt. Des gibts in dera Münchnerstadt nicht.« (Heiliger Himmel, was mag eigentlich Ruth jetzt machen?) »Aber, ich habe noch einen Gang, muß mir noch eine möblierte Wohnung ansehen. Das habe ich Nuck heute Nachmittag fest versprochen.« (Verdammt, ein Lügner muß ein gutes Gedächtnis haben: sagte ich nicht vorhin, daß ich sie noch garnicht heute gesehen habe, weil sie in Feldafing ... oder habe ich Tutzing gesagt? – ... bei der imaginären Freundin weekendet?) Aber Gott sei Dank, scheint es keiner gemerkt zu haben. Weder Paul Gumpert, noch die Schöne mit dem Fehmantel. Es gibt doch Frauen, die so schön sind, daß sie alle Theodora heißen müßten: Gottesgeschenke. Man kann sich nur erklären, daß sie das für sich selbst sind. Denn kein Mann, nicht der beste, ist es wert, so viel Schönheit allnächtlich im Arm zu halten.
Paul Gumpert hat indessen auch einen Augenblick mit der blonden Hausdame gesprochen, die sie beide vorhin hereingeführt hat, und dann ... sie war diskret, und es ging sie einen Schmarren an, was ihre Gäste miteinander und mit etwaigem Besuch sprachen, sie hörte bei so was überhaupt nie, nie, nie hin. (Woher sie nur immer alles wußte dann? Woher nur?) und die dann am Büffet sich zu tun gemacht hatte. Die Teller standen da nicht ordentlich. Die Kompotteller standen, wo sonst die Suppenteller stehen müssen. Und die, wo sonst die großen flachen Teller standen (dieses Saumensch, die Pepi!), die also aufmerksam und schweigend, solange die Teller umgestellt und wieder umgestellt hatte (und solch Stoß Teller ist fei garnicht leicht).
»Du«, sagt Paul Gumpert (was mochte er mit der Hausdame da nur geredet haben, so etwas wie Tutzing ist an sein Ohr geflogen. Aber Fritz Eisner kann sich auch getäuscht haben, denn sein Gehör ist wirklich nie sonderlich scharf von einer Mittelohrsache, die er als Kind gehabt hat. Aber das stört ihn nicht. Im Gegenteil: er empfindet es als Vorzug, nicht mehr zu hören, als er hören will. Es macht ihn beinahe glücklicher, daß er nicht an jedem Quatsch dieser Welt teilhaben braucht). »Du, Joli, das wäre dann hier vielleicht etwas für dich!«
»Gewiß, Paulemann, ich dachte auch schon daran.« Die große brünette Schöne wendet sich zu Fritz Eisner. »Ich möchte nämlich vielleicht hier mal die Candida auf Engagement spielen, oder Fräulein Julie, und wenn's glückt gehe ich eben nochmal von Berlin fort auf ein, zwei Jahre. Gewiß, ich sitze in Berlin ganz gut, und auch fest, aber man kommt nicht an die Rollen, die man spielen möchte, kommt einfach nicht heran, bleibt immer zweite Besetzung und ›außerdem liefen‹. Und der erste Weg, der zu ihnen führt, den schätze ich nicht sonderlich. Und Paul auch nicht. Und der zweite Weg. den es noch gibt, den dulde ich ebensowenig, selbst wenn Paul es auch tun will. Dazu weiß ich zuviel vom Theater. Wenn Paul an Shirting mal hunderttausend Mark verliert, das sind Verluste, die er von vornherein mit einkalkuliert, und die holt er an Kreton und Nessel vielleicht wieder heraus. Beim Theater aber kann er aus den Geldscheinen von vornherein ebensogut Papierschiffchen machen und sie auf dem Grunewaldsee schwimmen lassen und solange mit Steinen danach werfen, bis sie untergehen. Da hat er wenigstens ein Vergnügen davon. Und so bleibt mir nur der Weg: mir draußen einen Namen zu machen und dann nochmal die Festung Berlin von außen berennen. Das ist vielleicht der anständigste von allen. Aber auch der schwerste. Nicht wahr, Paulemann?«
»Also, Eisner, das Mädel ist wirklich überspannt. Hat mir heute wieder erklärt, sie geht sofort weg von der Bühne und wird Tippmädchen, wenn ich auch nur einen Pfennig da hereingebe. Es ist doch vollkommen wurst, wie und wo man sein Geld verliert. Ich bin doch nun wirklich kein heuriger Hase, Eisnerchen. Ich habe mich zum Beispiel, trotzdem ich Sie gern habe, nie über Ihre Begabung getäuscht, im Gegenteil, für mich ist das eher ein Grund, jemand zu unterschätzen. Aber mit dem Mädel ist doch wirklich 'was los. Das ist keine Schauspielerin: das ist 'ne Künstlerin. Ich wüßte also schon genau, warum ich's täte. Ich wünschte, all mein Geld würde so gute Zinsen tragen. Und ich würd's ja auch tun, trotzdem, auch gegen ihren Willen; aber dann geht sie nicht nur von der Bühne weg, sondern auch von mir. Das hat sie jetzt noch eben auf der Fahrt zu Ihnen wieder mal erklärt. Ist Ihnen so etwas von einem dummen Mädel schon mal vorgekommen?«
Und damit patscht Paul Gumpert mit der scheuen Zärtlichkeit eines Primaners von 1890 leise über die brünetten flaumigen Wangen seiner Freundin hin. Er muß sie schon sehr lieb haben, wenn er die ihm angeborene Scheu vor öffentlicher Zärtlichkeit so weit überwinden kann.
Guiseppe Seibel und die letzten Plaudernden haben inzwischen den Tisch verlassen, der nun ganz den Brotkrümeln, den halb ausgetrunkenen Gläsern, den zerknüllten Servietten und den Flecken von Roterüben gehört. Nur die dicke, weißblonde Hausdame – wenn es zeitlich stimmte, hätte sie Schwanthaler für seine Bavaria auf der Theresienwiese Modell gestanden haben können, hantiert immer noch an dem Büfett und wechselt das sechste Mal die Suppenteller mit den Kompottellern aus. (Dös Saumensch, die Pepi!)
»Also, Paul Gumpert«, sagt Fritz Eisner und innerlich denkt er: erst hat er sie sich gekauft als eine edle Plastik, ähnlich wie er den kleinen Cranach auf schwarzem Grund sich gekauft hat, oder seine kleinen Tiepolos, weil er Schönheit liebt, und weil ihm sein Geld weniger wert ist, als der Anblick der Schönheit ..., hat sie sich gekauft wie eine Plastik der Frührenaissance. Und plötzlich hat er an ihr das Wunder des Pygmalion erlebt. Sie lebt nicht nur, atmet nicht nur, sondern sie liebt ihn. Und sie pfeift auf sein Geld, und verankert sich statt dessen in seiner Seele. Das hat der da seit zwanzig Jahren nicht mehr gekannt, der Paul Gumpert, und das macht ihn namenlos glücklich und unglücklich zugleich. Denn Paul Gumpert hat nichts von einem jungen Alexander, der einen gordischen Knoten mit dem Schwert durchhauen kann.
»Also, Paul Gumpert, wozu reden wir von lauter Dingen, die uns garnichts angehen. Von Rohstoffkonzernen, Shirting, Baumwolle, von Geschäften und Theater und Politik. (Aber davon werden wir noch genug sprechen) ... von der reizenden jungen Dame hier, vom Krieg und von der Revolution und der Gegenrevolution. Das ist doch alles für uns durchaus sekundär und unwichtig, und geht uns innerlich garnichts an. Reden wir von wichtigeren Dingen: Was haben Sie Neues gekauft? Haben Sie sich dafür entschädigt, daß Ihnen damals der Doktor Groß, die kommende Note, den kleinen Johannes auf Patmos von Geertgens ten Jans weggefischt hat. Es ist doch jetzt eigentlich viel billiger zu schießen, wenn man nur aufpaßt. Es braucht doch nicht alles über das große Wasser zu schwimmen. Unsere Tonnage können wir wieder aufbauen. Unsere Franz Hals und Rembrandts und Tizians, die mal aus Deutschland raus sind, und die Vermeers, die mal rübergeschwommen sind, die wachsen nie mehr nach.«
Aber Paul Gumpert scheint dieses Gespräch ... und ehedem war es das Gespräch, indem er unausschöpflich war, und indem er alle Finessen kannte, und alle Schliche des Handels. Er war genau so gerissen und genau so großzügig, wie die, mit denen er da zu tun hatte, genau so geheimnistuerisch dabei, denn dieser Handel ist schon sehr seltsam und sehr amüsant, erzieht eigene Formen und eigene Menschen. Er ist deswegen so grundverschieden von allem anderen Handel, weil es zwischen Kunst und Geld absolut keinerlei Relationen gibt, weil Kunst und Geld, wenn zwei Dinge überhaupt, sich gegenseitig ausschließen. Paul Gumpert scheint dieses Gespräch keineswegs angenehm heute.
»Nein, Meister«, sagt er leise mit schiefem Kopf, »ich habe in dem letzten Jahr wirklich nichts mehr ... ge ... kauft ...« Warum betonte er nur das »ge« so?
»Also, da lügt Paulemann wieder, wie das so seine bekannte Art ist.« Und nun streichelt sie ihn und tritt ganz nahe vor ihn hin, als ob sie ihn mit ihrem Fehpelz wärmen müßte. ›Sie sind doch wirklich, als ob es noch eine Primanerliebe wäre‹ denkt Fritz Eisner. (Ob Ruth jetzt schon schläft?) »Er hat mir sogar einen ganz köstlichen kleinen Poelenburg geschenkt heute, einen Faun, und eine Nymphe in einer sehr heroischen Landschaft, in der den ganzen Tag die Sonne scheint, auch wenn es Nacht ist ... Dann erst recht.«
»Und die schönre Hälfte zwar ... Philine!«
»Ach Gott, es war ein Tauschgeschäft«, meint Paul Gumpert bedrückt. »Ich habe den kleinen Guardi von damals wieder abgestoßen. Er war mir eben doch nicht gut genug. Und da habe ich dann noch den kleinen Poelenburg, weil er Joli so gefiel, dazubekommen. Viel wert ist er nicht. Aber ich weiß nicht, warum ich in letzter Zeit gerade diese kleinen flandrischen Manieristen so gern habe. Sie sind doch wie hingeträumt. Sind wie der junge Mozart. Eben nur Musik. Ohne Probleme. Und das ist gerade jetzt sehr entspannend. Also, wo dürfen wir Sie zuerst hinfahren? Hoffentlich haben Sie da nicht lange zu tun. Es ist schade, daß Ruth Block heute in Tutzing ist. Ich habe sie zwar nur einmal in meinem Leben gesehen. Aber ich verstehe durchaus, Eisner, daß Sie besonderen Wert daraufgelegt haben, sie öfter zu sehen.«
Fritz Eisner sieht an sich herunter auf das bunte Löschpapier seines Rocks. »Muß ich mich nicht erst umziehen?« sagt er. »Sie sind doch in Dress, Gumpert. Mein Smoking war mir zu weit geworden im Krieg, da habe ich ihn enger machen lassen. Und jetzt ist er mir wieder zu eng geworden. Ich sehe darin aus, als ob ich mir ihn von einem Piccolo gepumpt hätte.«
»Ach, danach fragt heute kein Mensch mehr, Meister. Sie können es sich leisten, schlecht angezogen zu sein. Ich nicht mehr. Kommen Sie ruhig so mit, ich habe mich mit ein paar Leuten in der Königinbar verabredet. Man sitzt aber auch ganz gut nebenan. Wilhelm Klein müssen Sie doch auch noch kennen. In seiner Art hat er doch was geleistet, auch wenn er nie zu was gekommen ist. Ich werde einen Verein gründen: ›Hannchens Verflossene.‹ Ein Gegenstück zum Landvogt von Greifensee.«
»Gibt's schon: Balzacs Herzogin.«
»Ja, wirklich«, ruft die Schöne im Fehmantel und lacht. »Wenn man schon einmal glaubt, man ist ganz originell, war's doch nur ein Plagiat, Paulemann.«
»Haben Sie eigentlich meine Schwägerin mal wieder gesehen? Ich habe seit dem neunten November nichts mehr von ihr gehört. Wie geht's ihr eigentlich?«
»Gott, Eisner, es geht ihr, wie es allen geht: schlecht.«
»Richtig, heute Nachmittag habe ich zufällig in Nymphenburg mit Ruth Wilhelm Kleins Frau, die Selma, gesehen, als Wandervogel kostümiert. (Sind Sie immer noch zusammen?) Aber da sie mich nicht erkannte, erkannte ich sie auch nicht.«
Paul Gumpert sieht ganz kurz zu Fritz Eisner herüber:
›In Nymphenburg? Das hättest du nicht sagen sollen, das war ungeschickt von dir!‹ heißt der Blick.
»Also unterhalten wir uns, oder gehen wir«, meint die schöne Brünette im Fehmantel, faßt Fritz Eisner unter und das ist, als ob Ruth ihn unterfaßt, denn sie sind genau gleich groß, (Paul Gumpert hat das nicht gern, weil er kleiner ist) und zieht Fritz Eisner durch die Tür auf den Korridor hinaus.
Der Wagen unten ist wirklich ein herrschaftlicher Wagen. Lang und geräumig und mit einer Polsterung wie eine Umarmung. Alles in und an ihm ist Sandfarbe, selbst der Chauffeur, der ihnen den Schlag aufreißt. Und Paul Gumpert ruht nicht eher, als bis Fritz Eisner im Fond neben dem Fehpelz sitzt und er auf einem Klappstuhl davor hockt.
Paul Gumpert und seine Freundin loben die Güte des Wagens. So etwas hätte man eben vor dem Krieg doch nicht gehabt. Das wären alles Nuckelpinnen und Kaffeemühlen und Konservendosen gegen das gewesen, was sie jetzt bauen, und von ganz unmodernen Linien. Sie sprachen von Zündung, Vergaser, und Volant. Fritz Eisner sagte, daß seine Mutter das auch schon am Rock getragen hätte, sogar viere übereinander, und daß ihm das deswegen nicht imponiere. Aber man überhört es.
Sie sprachen von Schaltung, Kuppelung, Touren und erstem Gang und zweitem Gang und drittem Gang. »Und wo bleibt die Nachspeise?« ruft Fritz Eisner. Aber man überhört es.
Wenn sie Grumke gegen einen Laternenpfahl gefahren hätte, so hätten sie zuerst von Steuerversagung und Wellenbruch gesprochen und dann erst nachgesehen, ob sie noch heile Knochen hätten. Aber Grumke fährt nicht gegen Laternen. Das überläßt er den andern. Fritz Eisner bemerkt, daß er kein Autochtone, und noch weniger ein Autologe wäre. Er könne nicht mal einen Fiat auf Anhieb von einem Hispano-Roice unterscheiden. (Was mag jetzt Ruth nur machen?!) Aber man überhört es, weil man bei den Vorzügen der Chassis von Austro Daimler ist, die sehr tief auf der Straße liegen und trotzdem kurzwendig sind.
Aber da hält der Wagen schon.
Fritz Eisner meinte, sie möchten nur einen Augenblick warten. Doch, da sie sich über Michelin und Dunloppneumatik streiten, so überhören sie es und fühlen sich kinderglücklich dabei.
Das Haus ist noch zufällig offen. Es ist ein hübsches, sauberes neues Haus, so wie sie in München kurz vor dem Krieg ganz draußen in Schwabing gebaut worden sind. Eigentlich ist es besser, geräumiger und anständiger, und vor allem ruhiger und mit mehr Sinn für Architektur, als ihn die Luxuswohnungen tollwutkranker Maurermeister um den Kurfürstendamm aufweisen. Was zwar noch garnichts zu besagen hat. Aber hier in München ist immer noch eine Bauüberlieferung, und wenn sie auch noch so verwässert im Laufe der Jahrhunderte und der Jahrzehnte geworden ist. Und das da oben kommt eben aus dem Nichts, wie die Champignons aus dem Sand auf dem Tempelhofer Feld und dem Pferdemist. Ja, die Wohnung hat alles. Große Fenster, neue Möbel, eine Bibliothek eines seriösen Menschen, voller Raffinements wie eine französische Speisekarte. Und vor allem hat sie einen ganz großen Schreibtisch von richtiger Niedrigkeit. Humboldt hätte daran arbeiten können. Es sind wohlhabende junge Leute, die hier für ein paar Monate ihre Wohnung andern überlassen wollen. Gründe unbekannt. Und das Dienstmädchen, eine echte Augsburgerin, groß, dicklich und zuverlässig, also von ganz gegenteiliger Art wie die aus München –, das bekommt man noch zu, wenn man ihr den Lohn zahlt. Naja, im Badezimmer sind reichlich Fotos von jungen Menschen beiderlei Geschlechts in sehr eindeutigen Posen. Aber was geht das Fritz Eisner an, wenn das Warmwasser funktioniert. Er dreht den Hahn auf. Es tuts. In vierzehn Tagen kann man zuziehen. Was will Fritz Eisner mehr. Er weiß genau, wenn er um zwölf kommt, wird er um halb eins am Schreibtisch sitzen und den neuen Roman anfangen. Zwar würde er viel lieber da oben in seiner Pension bleiben, aber Nuck will das nun mal, solche Wohnung. Ansehen braucht sie sich die garnicht. So etwas gefällt ihr. Schiebt er es auf, wird sie sicher an einen Andern vermietet, wie so manches vordem, daß zehnmal schlechter und hundertmal teurer war.
Und Fritz Eisner mietet, ohne zu handeln, von dem jungen soignierten Mann mit den stechenden Augen, der ihn geführt hat. (Die Frau, die so etwas besser versteht, ist schon in der Sommerfrische, meint er. Er ist nur einen Tag hereingekommen, um das hier zu ordnen. Es wären viele da gewesen, aber alle sind ihm zu subaltern erschienen.) Fritz Eisner ist berauscht von der Billigkeit, zahlt einen halben Monat an, und bekommt eine Quittung. Alles, was er bisher gesehen hat, das sind immer die Witwen von den Obersekretären bei der Hauptschuldentilgungskasse gewesen mit Sofaumbauten unter dem verlorenen Glück von Liek und angeschlagenen Steinguttellern im Küchenschrank. Die Atelierwohnungen waren mit einer durchgelegenen Chaiselongue und einer bemalten Rupfendecke als Bett gedacht und das Tages-Geschirr bestand aus drei verkratzten Zinntellern von der letzten Auer Dult. Die Miete aber stammte aus dem Preisingpalais.
Und das ist so, wie Ruth es haben will. Und läßt nicht mal die Bücher vermissen. Ich werde endlich mal den ganzen Dostojewski lesen!
Die unten haben Fritz Eisner garnicht vermißt. Jetzt sind sie bei Karosserie, Stoßstange und Limousine.
(»Ach ja«, sagt Fritz Eisner, »da hat sogar schon der junge Goethe ein Märchen darüber geschrieben: ›Die neue Limousine‹! Oder habe ich das mit Melusine verwechselt. Oder überhaupt ...?!«) Aber man überhört es.
Als aber der Wagen anzieht, sagt Paul Gumpert: »Sie sind doch nur so kurz geblieben, Eisnerchen! War gewiß nichts mit der Wohnung?!«
»Ich habe sie gemietet«, sagt Fritz Eisner und ist stolz, was er doch für ein Mordskerl ist, veni, vidi, vici. Der Fehmantel will tausend Dinge wissen ... Aber Fritz Eisner versichert immer wieder, daß der Schreibtisch die richtige Höhe hat, und daß das Wasser auch im Sommer um halb zehn noch warm gewesen sei. Doch der Joli genügt das nicht. Das ist bei ihr Voraussetzung. Und dann halten sie.
Wie nett doch solch Auto ist, denkt Fritz Eisner. In Amerika hat jeder fünfte Mensch eins. In Deutschland vielleicht jetzt jeder fünfhundertste. Aber ich werde immer nur einer von den vielen bleiben, die keins haben. Man kümmert sich im Auto um nichts, denkt an garnichts und mit einem mal ist man schon, dank Grumke, an Ort und Stelle und steigt frischer aus, als man eingestiegen ist. Immerhin läßt sich das Problem auch so lösen: les autos (auf Französisch heißt Auto garnicht Auto) de mes amis sont mes autos! Aber doch nur leider zuweilen. Wie recht hattest du damals noch ungehenkter Villon: ›Nur wer im Wohlstand schwelgt, lebt angenehm.‹ Man braucht ja garnicht im Wohlstand zu schwelgen. Geld macht gewiß auch nicht glücklich, aber es ist bequemer. Nicht wahr, Paul Gumpert?! Fritz Eisner hat nur eine sehr dunkle Vorstellung von dem, was eine Tanzbar ist. Denn so etwas gehört zu den vielen Dingen, an denen er bewußt und absichtlich vorbeilebt. Aber so viel hat er doch schon gehört: Hier trifft sich jetzt alles, was etwas sein will und daraufhält, in München als Schieber, Politiker, Lebemann ... das kann alles in einer Person vereint sein, denn als Politiker schiebt man, und als Schieber ist man Lebemann ... also überhaupt mitzuzählen. Hier gilt nicht Herkunft, Geschlecht und Vergangenheit. Je finsterer, desto interessanter. Paragraph 51 und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte haben drei Sterne. Die Entmündigungsknaben, die ehedem an solchen Orten die erste Geige spielten, dürfen denen da nunmehr kaum noch die Notenblätter umdrehen. Und alle tanzen hier mit Damen, die ihrer würdig sind. Aber auch anständige Frauen müssen das plötzlich kennenlernen. Wozu wäre Deutschland das freieste Land der Welt? Und sie trinken Schnäpse, die sich genau wie diese Damen nur durch Preis und Farbe voneinander unterscheiden. Es ist außerdem das gleiche wie die neuartige Jazzkapelle, die vorgibt, die beste Europas zu sein und immer nur die letzten Schlager zu spielen, die aber ebensolches Mischmasch aus Lärm und Gequiekse und Gröhlen und Pfeifen sind, wie die vorletzten, und mit Musik endlich doch genau so wenig zu tun haben, wie die Schnäpse mit einem echtem Benedektiner oder Chartreuse, mit einem wirklichen Kuracao, einem Henessy Dreistern, einem Bommerlunder aus dem Angleterre, oder einem Scotch Whisky aus dem Kriterion von ehedem.
Sie – diese Schnäpse nämlich – werden auch dadurch nicht besser, daß sie von einem weißgekleideten Mixer, der ein ehemaliger Oberleutnant bei den Stendaler Husaren ist, miteinander vermanscht, oder in einer versilberten Blechdose durcheinander geschüttelt werden. Man könnte ja drüber entsetzt sein, wie wenig der neue deutsche Volksstaat für seine ehemaligen Oberleutnants bei den blaugelben Husaren sorgt, daß sie nun einen solchen Beruf ergreifen müssen, wenn nicht eben doch endlich der Mixer ebensowenig ein Oberleutnant der alten Armee ist, wie die Damen Damen, die Schnäpse Schnäpse, und die Musik Musik.
Vor der Tür steht ein riesiger, aber echter russischer Großfürst, als Nachtportier, mit einem saucebraunen dicken Schnürrock aus den Petersburger Nächten. Das einzige, was er von seinem Millionenreichtum aus Bolchewickien sich gerettet hat. Er hat – das trugen Großfürsten ja immer – eine mächtige Lammfellmütze: auf den Kubikschädel gestülpt.
In Sibirien hat er, nachdem ihn die Russen zusammen mit Premysl ausgehungert und gefangen genommen hatten (do kannst nix gegen machen) sein Deutsch fast verlernt, und russisch von seiner Frau da, die er dann hatte sitzen lassen, kaum recht gelernt. Aber was braucht man mehr, um eine Drehtür zu bedienen. Das ist viel leichter, als in Steinach am Brenner einen ganzen Stall von Appenzeller Vieh zu betreuen, bei den g'scherten Bauer, wo so knapp zahlen tut. Das Trinkgeld, was er in zwei Tagen hier schnappt, ist mehr, als da der Lohn von ein ganzes Monatel. – Und eine kleine Rauferei gibt's wenigstens ab und zu hier auch, wo er schlichten kann, wann's einem einen Kinnhaken geben haben ..., oder mit aner Schampusflaschen an Aug lädiert haben.
Nur, daß er immer so ein ernstes Geschau machen muß, behagt ihm nicht. Aber der Wirt hat ihm gesagt, das gehört zum Großfürsten, ebenso wie russisch und das gebrochene Deutsch.
Und dann muß man wissen, wie man die Leute zu nehmen hat, wo kommen.
Bei denen, wo zu Fuß gehen, sagt man garnichts, und dreht die Türen wie ein Karussel nur.
Bei denen, wo mit einer Autodroschke kommen, macht man eine kleine Verbeugung, und wartet mit dem Türdrehen.
Aber, wo im eigenen Wagen anschissen kommen, da macht man seine Spazetteln und reißt den Schlag auf, wie ein Scheunentor; macht wieder eine stumme Verbeugung – recht a lange – und wartet bis von selbst eini gehen.
Ganz toternst muß man doch immer dabei bleiben. – – Dös tut so ein Großfürst nicht anders.
In der Garderobe fängt der Nepp an. Wenn nicht schon bei dem Boy, der den Damen die Pelze abnimmt. Aber, da sie die Sachen im Auto gelassen haben, weil sie da sicherer sind, werden sie von der Garderobenfrau nicht begrüßt: Solche schundigen Würzen interessieren sie nicht. Das sind keine Lebemänner, die beiden. Und die Person, die redet sich auch nur ein, daß sie eine Lebedame ist. Da benimmt man sich feiner und lacht den Juden nicht so frech an.
»Also«, sagt Paul Gumpert, »ich weiß, Meister, so Barbetrieb das ist nichts für Sie. Aber ich bin da erst mit ein paar Herren – ich hatte sie heute zum Mittag eingeladen – die behauptet haben, sie müssen es mir ja wohl zeigen: und es gibt solche geschäftlichen Verpflichtungen, da darf man nicht nein sagen. Mit dem Tanzen halten Sie es auch, wie ich und der olle Fritz: ›ech tanze zwar nicht mähr ..., aber die Jugend tanzen zu sehen, das erfreut mich noch heute.‹ Und deswegen habe ich ganz hinten dann für uns, wo weder getanzt wird, noch betrunkene Schieber und abgehalfterte Leutnants herumturkeln werden, einen kleinen Nebenraum belegen lassen.«
»Sehr nett, Paul Gumpert.« (Was mag nur Ruth jetzt machen? Gewiß schläft sie schon lange. Da draußen ist es ja sehr ruhig.)
»Joli ...! Du solltest mich doch an was erinnern! (Joli lächelte: »Sowas vergesse ich nicht ... Paulemann!«) Komm mal her, Boy und gib das dem Chauffeur draußen. Der gelbe Austrodaimler. Grumke! Wie? Grumke. IA. Berliner Wagen. Er soll gleich ins Hotel zurückfahren und das dem Blumenfräulein noch geben. Warte, ich schreibe dir noch ein Wort auf. Um eins kann er uns wieder hier abholen. Um eins, verstehst du.«
Paul Gumpert kritzelt im Stehen an der Garderobe etwas mit seinem Füllhalter auf seinem Taschenblock, reißt das Blatt heraus, holt einen Umschlag aus der andern Tasche, nimmt einen Geldschein, tut ihn dazu, schließt das Kouvert nicht einmal, drückt dem Jungen, der ihn zärtlich anlächelt, einen kleinen Schein in die Hand: »So, hast du alles begriffen. Wie muß der Chauffeur heißen, mein Sohn? Grumke. Wie muß der Wagen sein? Sandfarben. Und wie muß die Nummer sein? IA. Berlin.«
Der glatte, rotangestrichene, goldbetreßte Junge mit den umränderten Kinderaugen behält so etwas. Er hat schon ganz, ganz andere Kommissionen übernommen und zur Befriedigung ausgeführt, hat auf allen Gebieten viel mehr Erfahrungen, als seiner Jugend zuträglich sind. Außerdem hat er ein kleines Lager von Koks im Innenrand der Mütze.
Fritz Eisner steht mit Joli etwas abseits indessen auf dem goldgelben Plüsch des Teppichs, der stellenweise abgetreten und schmutzig ist, wie an einem schlecht vergoldeten Leuchter aus armseliger Zeit, bei dem das billige Metall der Legierung durchschlägt. »Also, Meister,« ruft Paul Gumpert herüber, »ich vertraue Ihnen solange Joli an. Sie wissen ja, man soll eine Nähmaschine, einen Füllfederhalter, einen fotografischen Apparat eigentlich zwar nie verleihen ... also, ich gebe Ihnen Joli zu treuen Händen so lange. Denn ich möchte sie den Herren lieber nicht vorstellen. Sie kommen aber vielleicht einen Augenblick herein.« Paul Gumpert klopft Fritz Eisner auf die Schulter, »das hebt den Kredit.«
»Wessen? Ich will nichts pumpen, weil man es doch nur wiedergeben muß, und Sie haben es gewiß nicht nötig.«
Paul Gumpert hebt den Kopf und sieht Fritz Eisner von unten her mit seinem Vielleicht-Blick an. »Ich rede ungern Doubletten«, sagt er, und lächelt zu Joli herüber. Sie ist nebenbei jetzt ganz in silbergrauem, schweren Georgette mit einem silberdurchwirkten Schal über den halb entblößten Armen, und man sieht die Perlenkette, die vordem durch den Fehmantel verdeckt war. Auch der große Türkisring hat jetzt eine viel deutlichere Sprache an der Rechten, als er sie vordem hatte. Sie ist in teuerster Einfachheit gekleidet ... die Gefahr für eine Frau ist nur die mittlere Extravaganz. Wirklich, das was sie an sich trägt, scheint einzig wie eine farbige Fortsetzung zu dem Ton ihres Gesichts, ihrer halb entblößten Arme, zum Emailleschmelz ihrer Augen zu sein; und zu dem Stück Nacken im Rahmen des Ausschnitts und zu der aufsteigenden Weiße ihres schweren Halses (›den gleichen wie bei Ruth‹, denkt Fritz Eisner). »Es ist geistig so armselig, Doubletten reden, aber – (nicht wahr, Joli?) – Ihr Wort in Gottes Ohr, Eisner.«
»Also, geh du nu voran, Paulemann, zwischen Tiger und Leun mitten hinein! Wir warten dann hier noch einen Augenblick.«
Paul Gumpert reckt sich, streicht sich den Smoking zurecht, und geht auf die Tür zu, hinter der die Musik rast.
»Hören Sie«, sagt Joli verlegen und legt Fritz Eisner die Hand auf die Schulter. »Ich wollte Sie etwas fragen. Sie kennen doch Paul von früh an – ›kenn ihn doch erst fünfundzwanzig Jahre‹, denkt Fritz Eisner –. Wissen Sie irgend etwas, was er besonders gern ißt, oder was er vielleicht als Junge mal gern gegessen hat? Oder womit man ihm sonst eine Freude machen kann? Er ist so furchtbar gut zu mir, und ich weiß doch eigentlich viel zu wenig von ihm.«
»Ingwer!« sagt Fritz Eisner. Er hat zwar keine Ahnung. Aber warum soll Paul Gumpert Ingwer nicht mal gern gegessen haben? Ingwer ist eine Herrensache.
Die hübsche Person, sie hat volle Lippen, eine etwas klumpige Nase eigentlich, weiche Wangen und ist doch sehr schön ... weil alles so zu den großen sprechenden Augen stimmt und ganz und gar einheitlich ist ... strahlt ihn dankbar an, und hängt sich an seinen Arm. »Eingemachten oder glasierten, Meister?«
Fritz Eisner legt die Hand an die Stirne, als ob er nachsänne. »Wenn ich nicht irre«, meint er langsam und orakelhaft: »... glasierten.« (Nichtwahr, man kann sich eben irren!)
Der Tanzraum mit verdunkelten Nischen rings um die Tanzplatte, die auch von unten her gedämpft belichtet werden kann, hat versteckte und verdeckte Beleuchtung, die an den vergoldeten Wänden den letzten Sonnenuntergang in Permanenz erklärt. Außerdem ist er mit der Phantasmagorie einer illuminierten Eisbombe versehen, wie sie vor dem Krieg jeder bessere Konditor für bessere Abendgesellschaften des Berliner Westens zu liefern gewohnt war. ›Wir haben sie immer bei Hilbrich bestellt‹, denkt Fritz Eisner. Pistazien-, Himbeer- und Vanilleeis war das, genau wie hier; und innen war eine Taschenbatterie.‹ Aber dann gibt es hier noch ein dunkles Violett (vielleicht ist das Veilcheneis?), das die Tanzenden als Wasserleichen mit blauen Lippen und Wangen durcheinandertrudeln läßt.
Als sie eintraten, hielt man gerade beim Veilcheneis, ging aber schnell zum Pistazieneis über, das auch nicht sehr kleidsam war, um dann alles rosig und himbeerfarben in Glut und Sinnlichkeit zu tauchen.
Man tanzt eben Foxtrott, Twostep, Blues, Tango und was so getanzt wird. Egal was ... Das wichtigste, man schmiegt sich zu den rhythmischen Stößen zärtlich ineinander.
Es scheint nebenbei allen wenig Vergnügen zu machen, denn die meisten Tänzerinnen machen blasierte Gesichter, und die Tänzer achten mehr darauf, daß ihr Monockel gut sitzt, als daß sie etwa ihrer Dame freudvoll in die Augen schauen. Es sieht viel eher aus, als ob sie hier eine Totenmesse celebrieren, als eine Lebensmesse. Andere nehmen es als Arbeit. Andere als Sport. Andere mit vieler ernster Würde. Nur wenige sind ganz verstummt und hingerissen in ihrem Tun. Vergnügen scheint danach sehr wenig heiter zu sein, so eindeutig es auch sein mag.
»Wissen Sie, Joli, was die alte Pauline Metternich gesagt hat, als sie diese Tänze zuerst gesehen hat:
›Ah, wirklich, wunderhübsch! Aber das haben wir in meiner Jugend im ...‹«
Joli unterbricht: »Meister ... einer Theaterdame muß man neuere Witze erzählen!«
Fritz Eisner hält seine Dame am Arm (wie soll er sich überhaupt verhalten, wenn sie zum Tanz aufgefordert wird, darüber hat ihm Paul Gumpert keinerlei Instruktionen hinterlassen ... blickt so in den bunten Wirbel hinein. Wo kriegt das Gesindel nur das Geld her, sich so anzuziehen? Wie kommen sie alle zu den Kleidern, da man doch nicht einen Scheuerlappen ohne Bezugsschein kaufen kann?! Aber man ist garnicht immer angezogen. Ein Fleischbeschauer wäre hier zum Beispiel in seinem Element. Manche sind noch ganz auf Heroine von Lenbach gestimmt. Aber das sind die von Vorvorgestern. Jetzt kommen die andern, die sich auf Boy zurecht machen, braun schminken, gebobbte Haare haben und die Brüste wegbinden.
Fritz Eisner ist gewiß ein Frauenfreund, aber er wird immer sofort tief deprimiert, wenn er so viel Halbwelt zusammensieht. Sie mögen noch so pompös angezogen sein, und noch so stolz daherrauschen, den Schmuck eines Schaufensters der Friedrichstadt an sich tragen und alle Schminken von Paris auf ihren Wangen haben und von einer Wolke aus der Blumenstadt Grasse umschwebt sein, ja sie mögen sogar sehr schöne und sehr feine Kanaillen sein, für die Männer sich mit Inbrunst ruinieren ... nur aus der Ferne klingt die Trommel schön! ..., sowie sie den Mund aufmachen, sind's doch eben nur arme Luders.
Jetzt ist viel Import hier. Wienerinnen ... selbst Französinnen und Kölnerinnen, und Berlinerinnen, und schwarzäugige östliche Damen undeutbarer Herkunft. Eigentlich geht's ihnen gerade sehr gut. Sie haben Hochkonjunktur. Ganz neue Kreise von kleinen Schiebern und großen Aasgeiern aus allen Ländern verdienen hier viel und leicht Geld, haben Hunger nach Vergnügungen, und geben ebenso leicht Geld wieder aus. Nur, daß es sich eben noch leichter entwertet, wenn's keine Valuten sind, die man sparen kann. Sonst muß man damit Schulden zahlen, oder sich recht schnell was dafür kaufen, Kleider, einen Pelz, oder einen Ohrring, oder nur ein Paar Ball-Schuhe. Das ist dann wieder neues Betriebskapital.
Aber dann gibt's eben doch so viel schäbige Konkurrenz von den anständigen Frauen jetzt, wie sich selbst die ältesten Kolleginnen nicht erinnern können. Und die anständigen Frauen sind schon mit einem Abendbrot zufrieden und einem Glas Rotwein. Und, wenn sie dazu noch einen Dollar geschenkt bekommen, dann treffen sie sich morgen wieder mit ihm, diesem Teddybären, oder diesem Balkanschwein. So etwas untergräbt das ruhige und sichere Geschäft.
Fritz Eisner macht wirklich keine gute Figur hier in seinem Löschpapieranzug, in den Farben einer Fliegerdeckung. Nur ein Monteur, der sich mit verschobenen Lastautos aus Heeresbeständen gesund gemacht hat, und ein biederer Bauer mit bloßen Knien und grünem Jankerl aus Aibling, den man hierher geschleppt hat, um einen Kauf über ein Stück Wald, das geschlagen werden soll, mit ihm perfekt zu machen, tragen außer ihm nicht die schwarze Smokinguniform des echten Lebemanns.
Paul Gumpert sitzt unweit der Tanzplatte mit drei Herren an einem Tisch, auf dem Gläser stehen, deren Inhalt wie eine giftige Medizin schimmert, und deshalb darf sie wohl auch nur durch Strohhalme genommen werden.
*
Fritz Eisner begrüßt Paul Gumpert freudig erstaunt, als hätte er ihn zehn Jahre lang nicht gesehen. ›Also so,‹ sagt er sich, ›so sehen die neuen Leute der Hochfinanz aus. Das also sind die Vertreter einer Finanzgruppe! Lorenzo magnifico hat ein klein wenig besser ausgesehen. Eigentlich geben die Gesichter nicht viel mehr her, als einen kaltschnäuzigen Stumpfsinn. Der Dicke da spielt zwar den Behaglichen und Jovialen – er ist aber auch dafür der einzige Münchner, die andern gehen morgen wieder nach Köln und Stettin, wo sie wie die Spinnen im Netz sitzen, und warten, an welchem Faden eine Fliege zuckt, um dorthin zu schießen. – Aber man braucht nur seine bösen Schlitzäugelchen eines Wildschweins sich genauer anzusehen, um zu merken, daß er im Ernstfall der Unbehaglichste und Ungemütlichste von allen dreien werden kann.
›Also fünfhundert oder tausend von denen sind die eigentlichen Herrscher von Deutschland jetzt! Nicht Ebert. Nicht die Minister. Nicht die Beamtenschaft. Von der Volksvertretung gar nicht zu reden. Nicht mal die alten Generäle, die hinter der Reichswehr stehen. Die da haben die Sache in der Hand. Machen, was sie wollen. Und all die andern sind nur, ob sie es ahnen, wissen oder wünschen, die Marionetten an ihren Fäden. Für die da gibt's kein Preußen, Bayern oder Sachsen, kein Polen oder Danzig, kein In- und kein Ausland; keinen Freund und keinen Feind ... nur Geschäft. Sie haben ihre Hände überall zugleich drin; und selbst der beste Taschendieb sonst kann sie doch immer nur in einer Tasche auf einmal haben. Sie sagen, daß sie in ihrem Konzern eine Milliarde des deutschen Kapitals kontrollieren, und nennen es horizontale Gliederung, wenn sie möglichst viel Unternehmen auf einmal ruinieren. Denn sie selbst sind natürlich anonym, und in Tochter-, Schwester- und Deckgesellschaften gegliedert. Sie haben den Ausverkauf des alten Deutschlands in die Hand genommen, liquidieren den Krieg, torpedieren den Frieden. Und sie werden dafür sorgen, daß die Gläubiger nicht ein Prozent kriegen. Aber die alten Besitzer werden ihre Läden gleichfalls los sein, – dafür werden diese Herrn Konkursverwalter auch sorgen.‹
Fritz Eisner – der eine hat wenigstens mal seinen Namen gehört und spricht begeistert von einem Buch, das seine Frau so liebt, verwechselt es aber mit einem andern, das ein anderer geschrieben hat, – soll ein Glas von der giftgrünen Medizin durch den Glasstab mitlutschen. Aber er entschuldigt sich: Er wäre mit einer Dame hier. Eine kleine geschlossene Gesellschaft hinten im Nebenraum. Paul Gumpert sollte doch nachher auch noch ein bißchen hereinsehen. Er würde ihn da einführen. Er hätte solange nichts von seinen alten Berliner Freunden gehört. Er müsse ihn heute Abend ausquetschen – wie eine Zitrone.
Und dann verabschiedet Fritz Eisner sich: ›Mit so 'was ist man doch früher nicht Pferdestehlen gegangen!‹
Die Bar nebenan ist holzgetäfelt und feuerrot gestrichen. Ein paar Bilder sind eingelassen. Die alte Postkutsche von London nach Glasgow. Ein Kompliment an den Besucher aus Albion. Rennpferde am Start und vor Hindernissen, den Reiter abwerfend. Ebenfalls ein Kompliment an sie. Ein nacktes junges Mädchen, das in dem Ring eines Papageienbauers schaukelt, und den Kakadu, der geil die Haube sträubt, mit dem großen Zehen neckt, (man nennt so etwas Jugendstil), während ein anderes, gleichfallsiges Mädchen sich von einem Pfau den Hof machen läßt. Eine Perlenkette im Haar. Und überhaupt, was sollte sie auch sonst tun?!
Die Theke hat das alte Dekorationsprinzip der französischen Apotheken übernommen, in deren Fenstern grünrote und blaue, große, dickbauchige Flaschen stehen und bunt durcheinander leuchten. Und so hat auch sie ein paar Glühbirnen heimtückisch hinter den Bouteillen angebracht, daß sie nun bunt und verlockend ihren Inhalt anpreisen müssen.
Der Mixer von den blaugelben Husaren hat viel zu tun, und die beiden Barmädchen auch. Alle drei haben die Gäste durch angenehmes Geplauder über die Minderwertigkeit ihrer Gebräue hinwegzutäuschen. Und, da mehr Herren als Damen auf den hohen Stühlen hocken und den Schenktisch umdrängen, so sind die beiden Assistentinnen durchaus am Platze.
Sie kommen beide aus hochherrschaftlichen Häusern, und an ihrer Wiege ist ihnen das nicht gesungen worden, daß sie mal Bardamen sein sollten. Was anscheinend etwas besonderes Verruchtes ist, und keineswegs ein Beruf, der genau so anständig ist, wie jeder andere, der einen Kunden bedient. Sie lügen nebenbei durchaus nicht. Sie stammen auch aus hochherrschaftlichen Häusern. Wenn auch da aus den Portierlogen. Und an ihrer Wiege konnte es ihnen keineswegs gesungen werden, daß sie mal Bardamen werden würden. Weil ihre Mütter überhaupt nicht sangen; und weil sie außerdem keine Wiegen hatten, sondern im Wäschekorb lagen. Ihre Spezialnote ist wehleidige Melancholie, verbunden mit den Ausbrüchen einer wilden Lustigkeit. Ihre besondere Kunst besteht darin, einen zu lieben, mit vielen zu trinken, und mit allen zu reden. Und dabei jeden von den vielen und den allen glauben zu machen, er würde der eine werden.
Nach zwei Minuten langweilt sich eigentlich Fritz Eisner schon. Ihm fehlt das Verständnis für diese Sorte von Musik, für diese Sorte von Alkohol, und für diese Art von Frauen. Sie sind nicht mal Sensationen für ihn. Dann schon Offenbach und Kankan mit den Beinen bis an den Kronenleuchter. Dann schon die Königin Pomare ... dann schon Murger, Gavarni und Guys mit den weißen Seidenstrümpfen aus den Krinolinen, den Toks, die auf dem Chignon abrutschen wollen, und allen fleurs du mal um die verbuhlten Augen. Das hat wenigstens Stil. Doch dieses Damespielen, dieses Kopierenwollen von guter Gesellschaft, diese gemachte Lustigkeit, diese gemachte Blasiertheit ... Aber Ruth hätte das hier sehr interessiert. Sie glaubt immer, sie muß beobachten. Sie ist so neugierig auf alle Menschen, die, wenn man sie aus der Verpackung herausnimmt, gar keine Menschen sind. Gerade so wie jetzt die Zigaretten. Und sie steht auch all denen viel näher als ich. Vielleicht war ich vor fünfundzwanzig Jahren ebenso neugierig, als wir meinten, die Hauptaufgabe des Naturalismus wäre es, das Café National zu entdecken!
Fritz Eisners schöne Begleiterin, die seinen Arm nicht losläßt, hat ihre Augen überall. »Sehen Sie, die da am Stuhl! Ja? Soll ich sie Ihnen mal vormachen?!«
Und mit einer kleinen Bewegung der Schultern, mit einem leeren Grinsen, einem Drehen des Kopfes, einem Strich der Haare in die Stirn hinein, hat sie sie gefangen. »Herrlich: Sehen Sie nur die sich an. Beinahe wie von Toulouse Lautrec. Die ganz-Alte mit den Wasserstoffsuperoxydhaaren.«
Im Augenblick schiebt sie das Kinn vor, bläst die Backen auf, macht die kranken, verdorbenen Augen einer Morphinistin und bekommt fahrige Bewegungen. »Fabelhaft, Joli, das müssen Sie nachher Paul Gumpert vormachen.«
»Ach nein, so etwas versteht der gute Paulemann doch nicht, dafür ist er viel zu brav.«
Fritz Eisner fühlt, wie sich die Leute mit ihm zu beschäftigen beginnen. Von hie und da fängt er einen Blick auf: ›Wie kommt dieser schäbige ältere Knabe zu dem pompösen Weib.‹ Denn hier auf diesem Markt gilt keine andere Wertung. In dem letzten Jahr hat es Fritz Eisner kennen gelernt, solche Blicke richtig zu deuten.
Einer grüßt ihn und nickt ihm mit gemachter Kameradschaftlichkeit zu. Ein ehemaliger Marineoffizier, der jetzt den Journalisten spielt. Er hat mal einen Gesinnungsgenossen in der Pension besucht, und ist ihm dabei vorgestellt worden. Der Kerl da ist gerade mal garnicht dumm. Zum mindesten ist er gerissen. Was er will, kann man ihm nicht abluchsen. Aber, wo das alte Bürgertum und der neue Volksstaat ihre Achillesfersen haben, das weiß er verdammt gut.
Richtig: und schon ist er bei ihnen, tut wunder wie vertraut, – was sie in dieser Lasterhöhle denn wollten? Ob sie wüßten, wer das und das ist? Der leberfarbene da wird bald Minister. Und der, der Einäugige mit dem Pechpflaster habe Transaktionen von riesigstem Ausmaß vor. Die kleine mit dem Madonnengesicht ist eine politische Agentin. Und der da mit dem Knebelbart, ein französischer Spion. Man ist ihm hinterher. Aber er ist nicht zu fassen ... Er läßt alle Augen seines Pfauenrads spielen, um sich interessant zu machen ... genau wie der Pfau da oben auf dem Bild, der sich um die Huld der nackten Schönen bewirbt. Das Interesse von Joli scheint er damit ziemlich gefangen zu haben, und Fritz Eisner ist für den Augenblick abgehalftert. Und außerdem ist er ja wirklich ein gut aussehender frischer, rotbrauner Mensch, der die Welt gesehen hat, von Port Said und Marseille und Singapore diskreteste Indiskretionen plaudert ... und warum soll das einer Frau nicht gefallen?! Und so verbindlich und von so guten Manieren ist er. (Sie sind bei ihm das gleiche, was der goldene Griff für eine Reitpeitsche ist). – Er wünscht nicht, Herr Kapitänleutnant genannt zu werden. Und er legt auch auf das Von vor seinem Namen keinen gesteigerten Wert mehr. Am besten ist es heute, ganz unbetont sein. Später kommt beides von selbst wieder! Und anderes auch. Außerdem ist er aber viel zu klug, um etwa Monarchist zu sein. Ein zweites Mal wird er keinen verlorenen Posten mehr verteidigen. Er ist viel eher Jesuit: Der Zweck heiligt die Mittel.
Und doch, trotzdem Fritz Eisner all das durchschaut, fühlt er sich immer wieder zu ihm hingezogen. Zu schade, daß solch ein Mensch seine Energien nur dafür aufwendet, die Uhr wieder zurückzustellen. Denn endlich sind sie ja doch besser körperlich und seelisch durchtrainiert, als die anderen auf seiner Seite.
Fritz Eisner weiß eigentlich nicht recht, was er tun soll. Das Geschwirr von Stimmen, Musik, Gläserklirren und Schnapsgeruch rings um ihn machen ihn traurig. Das Lachen, das er nicht versteht, die halbe Trunkenheit, die ihn nicht schweben läßt, und die Frauen, die ihn nicht erregen können ... alles macht ihn traurig. Wie ist er eigentlich nur dazu gekommen, sich hierher schleifen zu lassen, während Ruth jetzt da draußen einsam herumliegt, und vielleicht wieder Schmerzen hat. Das beste, er fährt noch einmal heraus, um zu sehen, wie es ihr da ergeht.
Das Zimmer, das Paul Gumpert belegt hat, ist noch leer. Er kann sich doch da allein nicht hinsetzen; und vor elf kommt wohl keiner. Das hat Paul Gumpert vorhin gesagt. Und der Marinier redet immer noch in Joli hinein. Er hat in Berlin Pressebeziehungen. Das ist immer wichtig für eine Schauspielerin. Man dürfe sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die liberale Presse immer mehr an Einfluß verliert, auch auf das Berliner Theater. »Aber, wissen Sie, man wird uns hier an die Luft setzen, wenn wir noch länger die Bar boykottieren wollen. Ich schlage Manhattan Coktail vor. Von Literatur verstehen Sie mehr, Meister«. (Jetzt sagt dieser fiese Kerl auch schon zu mir Meister!) »Von Coktails ich.« Die Joli will nicht. Fritz Eisner will nicht. Und trotzdem drängen sie sich beide nach der Bar zu vor. In Fritz Eisner dämmert so etwas auf, daß man so etwas in den Kreisen des Mariniers, wenn man nicht als unerzogen gelten will, nicht ablehnen dürfe, und sich dann gleich revanchieren müsse. Das sind so amerikanische Sitten, und die hat die Marine von je geliebt. Sie lehnen sich an den hohen Tisch, versuchen es, sich dem Mixer, der mit der Miene eines Teufelsbeschwörers, ganz hingegeben in sein infernalisches Tun, Schnäpse zusammengießt, bemerkbar zu machen.
Neben Fritz Eisner steht ein großer Mann mit einem gut sitzenden Smoking, an dessen linker Flanke ein eisernes Kreuz still und bescheiden dämmert. Die meisten tragen das nicht mehr. Aber der will wohl, daß man es sieht, daß und wie er es verdiente. Denn er scheint zu hinken. Stützt sich auf einen Stock mit einem Silberknopf, ähnlich wie Paul Gumpert. Er ist nebenbei ein älterer Mann, wundersam glatt rasiert, mit stechenden, grauen Augen unter wulstigen Brauen und sehr gut gebürsteten Haaren, (er riecht noch nach Friseur) die mal aschblond wohl waren, und nun schon etwas grau durchsponnen sind. Ganz wenig. Das steht ihm aber gut.
Es dauert eine ganze Weile, bis Fritz Eisner im Bild ist. »Herrgott, Rosenemil«, stottert er endlich, aber doch nur so leise, daß der andere, wenn er es nicht sein sollte, es eigentlich überhören müßte.
Rosenemil sieht ihn ruhig mit seinen großen blaugrauen Eisaugen an. »Ick bin jetzt Herr Generaldirektor, Herr Doktor« meint er freundlich, aber doch etwas von oben herab, als wäre es unter seiner Würde, mit solchen Leuten, die er von früher kenne, und die es doch offensichtlich zu nichts gebracht haben, zu verkehren.
»Na, und was machen Sie sonst?«
»Ach, ick lebe jetzt so vons Loch im Westen.«
»Und wie kommen Sie gerade nach München, Herr Generaldirektor?«
»Ick bin auf eine Inspektion von unseren Agenten. Morgen habe ick wieder Schlafwagen nach Berlin zurück. Sie müßten mir mal besuchen kommen, Herr Doktor. Ick habe jetzt in de Ulmenallee vierzehn in Westend eine Si'mzimmervilla mit ne altdeutsche Trinkstube. Die Leute können ja sowas nicht mehr halten.« Rosenemil ist ganz verändert. An Stelle der gestreiften Hose mit der blauen Flicke, an Stelle des abgeschabten Smokings, blank wie eine Schlitterbahn, mit dem er durch fünfzehn Jahr und länger vor Wertheim an de Untergrund »Rosen, langstielige Rosen, reizende Kinder Floras« ausgeschrien hatte, weil sie ihn doch wegen des Mechens, das ihn verpfiffen hatte, beinahe nach Rummelsburg ins Arbeitshaus gebracht hätten ... an der Stelle der zerlöcherten und geflickten alten Uniform von Markus aus de Rosenstraße, mit der er dann in der Bellevuestraße schon am achten November – der Schöpfer eines neuen Erwerbszweigs – als Kriegszitterer auf dem Pflaster am Gartenzaun gehockt hatte ... an Stelle dieser und anderer Dinge war ein tadelloser Dreß getreten, der mindestens von Hoffmann stammte, wenn er nicht gar ausländische Beziehungen verriet. Und der dankbare Staat hatte ihm wohl noch nachträglich für seine Verdienste in der Heimat das eiserne Kreuz erster Klasse verliehen. Denn, da ihm ja seiner Zeit die Karbolfritzen in de Charité beide Zehen hatten abknipsen müssen (selbst de saure Sahne, die man ihm gespritzt hatte, hatte nischt mehr geholfen!), hatte er weder den Krieg, noch der Krieg ihn gesehen. Aber die Stimme, die Stimme wie aus einer verrosteten Dachrinne war geblieben: ›Na, schreien Sie mal fünfzehn Jahr lang an de Ecke Rosen aus ... da bleibt was von übrig!‹
»Gewiß komme ich, Herr Generaldirektor, sowie ich das nächste Mal in Berlin ... das heißt, wenn's was Gutes in Ihrer Trinkstube gibt.«
»Herr Doktor«, meint Rosenemil (wenn ein Mensch nichts is, soll man ihm wenigstens 'n Doktortitel geben) und sieht Fritz Eisner verständnisheischend an. »Herr Doktor, Sie verstehen mir.« Beinahe hätte er ›mich‹ gesagt, aber bei dem brauchte er sich keinen Zwang anzutun, der kannte ihn von seinen Anfängen an, dem brauchte er nischt vorzumachen. »Sie verstehen mir, Herr Doktor: ick arbeite zusammen mit nem Sekretär von de französische Botschaft. Der Mann versteht Deutsch und läßt mit sich reden. So'n Kognac, wie Sie durch mich kriegen, sollen Se sich heute mal suchen, da ist nischt jüdisch und verschnitten bei. Janz echter Maison fondeee! Aber den laß ick mir auch bezahlen. Natürlich«, Rosenemil zwinkerte mit dem linken Auge, »heute kann man nicht auf ein Bein stehen. Ich mache noch so allerhand andere Sachen, und arbeite mit Heeresbestände – die jehn sojar bis zu de Wilden. Und denn bin ick ooch bei Grundstücksjeschäfte beteiligt. Man muß sich eben nur umtun heute. Das Geld liegt ja heutzutage uff de Straße. Man braucht's nur sich zu bücken, wenn man's aufheben will.«
›Gewiß‹, denkt Fritz Eisner. ›Erst ist er Kolporteur von Schundromanen, dann Zuhälter. Dann ist er, um dem Arbeitshaus in Rummelsburg zu entgehen, fliegender Blumenhändler geworden. Dann Kriegszitterer. Und jetzt ist er eben Generaldirektor von irgend was, hat sich selbst dazu ernannt. Er wäre das sicher schon immer gewesen, wenn nur die Zeiten für ihn günstiger gewesen wären. Und das E. K. I hat er auch noch, nach dem Krieg, der ihn nie gesehen hat, sich ergaunert. Schade, daß mir heute nicht der Kopf danach steht, den würde ich solange ankurbeln, bis er seine ganze Walze abschnurren läßt!‹
»Sehr schöne Mechens hier, Herr Generaldirektor«, meint Fritz Eisner jedenfalls mal und markiert den Kenner.
»Ach, ich seh nach so was garnicht mehr hin«, meint Rosenemil und schlägt ein Monokel ins rechte Auge. »Das ist ja doch nischt für einen seriösen Geschäftsmann. Die wollen eenen ja nur hochnehmen.« Also Rosenemil sieht garnicht ein, warum er mit einem Mal Geld für eine Leistung ausgeben soll, für die er früher Geld genommen hat. Soweit hat er sich also doch noch nicht umgestellt.
»Naja«, meint Fritz Eisner, aber doch nur so, als ob er sich von einem Fachmann gern eines Besseren hätte belehren lassen. »Naja, Herr Generaldirektor ... aber endlich leben sie doch davon, die Damen.«
»Denn sollen se eben arbeiten«, meint der Generaldirektor ernst. »Wir arbeiten ja auch!«
Nein, dieser Rosenemil ist Fritz Eisner zu bürgerlich und zu moralisch geworden. Früher, da an de Ecke von de Untergrund, da war er ein Prachtkerl gewesen, mit seinem Schlagring, mit seinem ewigen Krach mit de Polente, mit seinem Bündel langstieliger Riviera-Rosen, das er einem immer unter die Nase hielt: ›Nehmen Se noch en Sträußchen mit, Herr Doktor, for Ihr Fräulein Braut ... Ihre Frau braucht's ja nicht zu wissen!‹ Da war noch was mit ihm los. Aber jetzt kann man ja garnicht mehr mit ihm verkehren.
»Na, Lehmann«, brüllt ein Kollege herüber, »wir jehn hier weg. Hier is doch nischt jefällig in den Bums ... Kommen Se mit?!« Das ist so die Art, wie die Berliner in Bayern sich beliebt machen.
Aber Rosenemil liebt ihn durchaus nicht mehr, solch einen Ton. Er geht da nicht mehr mit. »Halt doch de Fresse, Mensch«, sagt er ernst verweisend. »Ick komme ja schonst.« Dann aber, nach diesem kleinen Rückfall in seine Vergangenheit, ist er wieder ganz Weltmann, von der Spitze seines Lackschuhes bis zum Monokel, und streckt Fritz Eisner die kampfgewohnte Rechte hin, zwischen deren Fingern er früher ein Zweimarkstück zerbrechen konnte. »Also, ick seh Sie denn mal bei mir, Herr Doktor. Westend. In de Ulmallee vierzehn. Rufen Se an: Direktor Emil Lehmann. Wenn meine Sekretärin sagt, ich bin verreist, sagen Sie nur: ›La france.‹ Des ist ein Stichwort.«
»Gewiß, Herr Generaldirektor«, meint Fritz Eisner devot.
»Ja, und denn machen wir uns beide in meine altdeutsche Trinkstube einen jemütlichen Ahmd ... da ... soll keen Ooge trocken bleim ... Alter Dussel, ick komme ja schon!«
Joli spricht eifrig mit dem Marinier.
»Verkehren Sie immer in solchen Kreisen, Meister?« meint der, sonst nichts.
»Ja«, sagt Fritz Eisner lachend, »der ist tüchtiger, wie wir alle zusammen. Und er hat mich auch eingeladen, der Herr Generaldirektor, in seine Siemzimmervilla mit der altdeutschen Trinkstube. Und auf seinem Sofa liegt ein echtes Samtkissen, ein grünes. Da sind die Worte draufgestickt in gelber Seide und die Noten davon auch: ›Es braust ein Ruf wie Donnerhall‹.« Hören Sie, Mixer, brauen Sie uns doch noch einen von dem Zeug zusammen. Ich habe lange nicht mehr so gutes Zahnwasser gekostet, seit dem Vorkrieg nicht mehr. Seit wann trinkt man das eigentlich? Früher hat man sich mit den Mund gespült! Nein ich irre ... es schmeckt eher nach angespitzten Bleistiften.« Joli lacht. Der Marinier setzt einen neuen Trumpf dagegen. »Ach so«, meint der Marinier. (Witzig ist das Luder ja). »Ihr Rosenemil, das ist einer von der Sorte: vor'n Krieg hab ick einfach det Ahms een Nachthemd angezogen, und jetzt muß ick mir immer als Husar kostümieren!«
Die Joli lacht noch mehr, und der Marinier stellt einen Volltreffer fest. Aber er bleibt doch ohne Wirkung, weil der Theatergewaltige in Erscheinung tritt.
Joli begrüßt den Theatergewaltigen in heller, freundlicher Erregung. Sie sieht so prächtig aus in diesem Augenblick, wie es ihr bisher den ganzen Abend nicht gelang. Sie war ein schöner Kerl bislang gewesen, aber jetzt ist sie wirklich bildschön geworden.
Es ist das ungefähr das gleiche Schauspiel, als ob Sonntags, zehn Minuten nach drei, ein Mädchen an der Normaluhr auf ihren Liebhaber wartet, der um dreiviertel drei kommen wollte. Sie ist achtundzwanzig, gleichgültig, mürrisch, grau, enttäuscht und unhübsch, fröstelt in billigen Sommersachen, und starrt mit stumpfen Augen ernst in das Gewühl. Und je unauffälliger sie es machen will, desto auffälliger ist es. Plötzlich steuert jemand schräg über den Damm auf sie zu. Und in der gleichen Sekunde ist sie dreiundzwanzig, von rosigen Wangen, hübsch, frisch und wirklich nett angezogen ... Reizend, wie sich Arme und Schultern plötzlich unter dem blumigen Voile straffen!! Die Joli wäre außerdem keine Schauspielerin, wenn sie nicht wüßte, daß dieser erste Eindruck alles ist. Solange sie nicht arriviert ist ... und auch dann ...! zählt sie zuerst als Frau, muß da bestehen. Dann kommt eine ganze Weile garnichts. Dann ist ein leerer Raum. Und dann ist es so nebenbei nicht gerade hinderlich, wenn sie Talent hat. Aber Talent, und dabei schlecht-aussehen auf der Bühne, ist Todesurteil.
Der Direktor ist einer von der zweiten Gruppe. Die erste Gruppe ist untersetzt, dicklich, hat eine Falte von Speck hinten im Genick wie eine Banane über dem blütenweißen Kragen ... Schinken statt der Oberschenkel und sehr scharfe Bügelfalten in den längsgestreiften Hosen aus englischem Hosenstoff. (Diese Gruppe trägt nie Jakett und Beinkleid aus dem gleichen Stoff). Sie hat die Haare einer Bürste auf dem runden Cäsarenschädel, dicke Lippen, denen man es ansieht, daß ihre Köchin, die sie sich aus der Heimat verschrieben haben, auf Mehlspeisen Wert legt. Sie liebt es mit einer Napoleongeste reglos zwei Finger zwischen den Westenknöpfen in halbdunkler Loge den Proben beizuwohnen. Die andere dicke Hand wie ein rosiges Polster über die Logenbrüstung hängen lassend. Aber in Wahrheit hat sie garnichts Napoleonisches, so gern sie sich auch so aufspielt, viel eher etwas von einem zaghaften und verwöhnten Jungen. Ihre literarische Bildung aber würde beim Film auffallen.
Es wäre trotzdem falsch zu sagen, daß er (dieser Vertreter der Gruppe I) der Typ des Bordenave aus Zola's ›Nana‹ ist, der immer spuckt, und, wenn einer von Kunsttempel spricht, unterbricht: dites mon bordell. Eher umgekehrt.
Die zweite Gruppe läßt sich noch lieber als die erste fotografieren bei allen Verrichtungen des Alltags, vor dem Pushball, und den Garten ihrer Villa umgrabend, (Mutter Erde!). Sie trägt Rock und Hose aus dem gleichen Stoff, der meist kaffee-cremefarben ist und Falten schlägt. Sie pflegt lang und hager zu sein, hohlwangig, und sich etwas auf ihren geistig durchgearbeiteten Kopf zugute zu tun. Sie hat nach hinten gestrichene Haare, die oben ausgeblichen sind, weil sie einen Hut zu tragen verschmäht. Sie denkt viel über das Theater und die Kunst nach. Eigentlich tut sie nichts als dieses. Wenn sie eine Treppe von links nach rechts auf der Bühne stellen läßt ... und damit arbeitet sie gerade ausgiebig bei Klassikern und Modernen; man könnte beinahe von einem Treppenwitz ihrer Regie sprechen ... so geben sie ihrem Regisseur Begründungen in Stellen aus Nietzsche, und verschmähen auch Goethe und Lessing nicht als Eideshelfer – so, wie der alte Krüger, Ohm Paul, im Burenkrieg seinen Generälen Bibelzitate statt der Marschorder schickte. Was die eine aber zu wenig hat, hat die andere zu viel. Sie ist abscheulich gebildet, scheint nur in der Luft abstrakten Denkens atmen zu können. Solange sie nebenbei mit dem Geld anderer Leute arbeitet, nennt sie sich Idealist. Was die Mitglieder dieser Gruppe sonst wären, haben sie noch nicht ausgeprobt. Außerdem spielen sie ewig den hoffnungslos Überarbeiteten. Wenn man beides, das und die Bildung, näher beklopft, ist es garnicht so schlimm damit! Die Frau ihrer Bühne gilt ihnen als ein ›ernstes, arbeitendes Geschöpf‹, das der überlegene Mann respektiert als Kameradin und mitarbeitende Künstlerin. Deshalb pflegen die Vertreter dieser Gruppe in dreimonatlichen Abständen jeweils die schönste Dame ihres Ensembles heiraten zu wollen, doch hat man noch nie gesehen, daß dieses Vorhaben je etwa zu einer Ehe geführt hätte.
Und nun war der Marinier wieder abgehalftert und beiseite geschoben. Und der Mann der zweiten Gruppe sprach, sich auf Nietzsches Worte stützend, von der neuen politisch-unpolitischen und unpolitisch-politischen Bühne, die man, d. h. er, für ein wiedererwachendes Deutschland und ein geläutertes deutsches Volk errichten würde. Und wie er in dem ganzen Reich seine Blicke wandern lasse, um nach Gefolgschaft unter der jungen unbekannten Generation neutönender Schauspieler, in denen noch das Kriegserlebnis nachzittere, zu suchen. Eine Generation, die mit ihm, neben ihm, geführt von ihm, diesen seinen Willen klingend, werbend und leibhaft verwirklichen möge. Mehr aus Liebe zur Sache selbst, als um die schnöde Sicherheit garantierten Lebens. ›Nur wer sich stets verwandelt, erkennt sich selbst‹.
Joli hätte zwar sagen können, daß die Aufgabe des Schauspielers nicht die Selbsterkenntnis ist, sondern die Kunst durch sich, und sich durch die Kunst darzustellen. Aber dann hätte doch das Nietzsche-Wort nicht gestimmt!
Und dann taucht Wilhelm Klein auf, begrüßt in der einfachen Würde, die ihm so viel Herzen gewonnen hat, und die bei einem Schulmann etwas seltenes ist, Fritz Eisner wieder ... das erste Mal seit fünfzehn Jahren. Und da Wilhelm Klein ein echter Schulmann ist, wenn auch ein freier Schulmann, so trägt er, um seiner Gilde getreu zu bleiben, einen Gehrock, wie der Verbeuger (oder sagt man jetzt dafür ›Gutausseher‹?) in einem bürgerlichen Weinlokal. Aber an einem Oberhemd, steif wie ein Plättbrett, und an einem schwarzen Knötchen statt der Kravatte, erkennt man doch den Altphilologen.
Wilhelm Klein sieht immer noch sehr gut aus, ist eigentlich wenig gealtert, trotzdem er jetzt, wie die meisten aus Fritz Eisners Jugendkreis sich den Fünfzigern bald nähern mag ... der Schmoller, der Groller, der Willehalm, wie Wildenbruch singt ... Rektorssohn aus der fünfundneunzigsten Gemeindeschule. Schade, er sollte noch einmal auf die Welt kommen, hat doch die ersten fünfundzwanzig Jahre eigentlich im kulturellen Ausland gelebt. Aber er ist ein Kerl, trotzdem! Eine Kraft, ein Motor. Er war nicht reich geworden. Gewiß nicht. Und mit Fünfzig muß man eigentlich reich sein. Aber man hörte viel von ihm. Er war so einer, der wirklich mit als erster eine neue Generation von Menschen vorbereitet hatte. Und manche von den Jungen jetzt, von denen man hört, auf die man etwas setzt als kommende Politiker, oder sonst Leute, die genannt werden, sind schon seine Schüler gewesen.
Fünfzehn Jahr haben sich Wilhelm Klein und Fritz Eisner nicht mehr gesehen. Jeder hat den andern so aus der Ferne etwas verfolgt: Mein Weg ist nicht dein Weg, aber es reizt mich, wo du eigentlich mal enden wirst. Wilhelm Klein ist ein unruhiger Geist, gründet mal hier eine Schule, und mal da, hat immer neue Ideen, für deren Verwirklichung er sich wild einsetzt, und die er dann alsbald andern überläßt. Ist ewig in Kampfstellung, gegen Schule, Staat und Kirche. Glaubt nur ans Übermorgen. Er ist kein Durchführer, aber ein Anreger, und hat Feinde, die ihn wie den Teufel hassen, und Leute, die mit ihm durch Dick und Dünn gehen. Aber seine Feinde von gestern sind seine Freunde von heute, und seine alten Freunde sind seine Feinde von morgen. Ein kleiner, aber wichtiger Kreis von Jugend, der hie und da in Gruppen und Bewegungen politisch mehr und mehr an Einfluß gewinnt, steht geistig in Abhängigkeit von ihm. Jedenfalls ist er mehr als nur ein anregender Lehrer geworden, von dem eine Suggestion auf seine Schüler ausströmt. Er ist ein Menschenbildner geworden, der auf die Seelen Einfluß gewinnt.
Jetzt aber scheint es, als ob seine Zeit gekommen ist. Viele sehen in ihm den kommenden Mann, dem man die Umformung des gesamten Schulwesens anvertrauen wird, vielleicht als Unterrichtsminister, vielleicht aber auch wird man ihn absichtlich nicht herausstellen, sondern ihm einen Posten schaffen, auf dem er machen kann, was er will, und niemand verantwortlich ist. Denn jedenfalls, das sehen alle, ist es nötig, daß die Republik die Jugend in die Hand bekommt, ehe sie die andern wieder in die Hand bekommen, und dazu braucht man einen Menschen mit Ideen und Ellenbogen.
Und wen könnte man da besser finden, als Wilhelm Klein?! Um die alte Generation kämpfen, die jetzt aus dem Krieg zurückkommt, hat keinen Sinn mehr, die ist von vornherein für eine neue Welt mit neuen menschlichen Maßstäben verloren. Aber die Jugend, die neue Jugend, wird und muß in sie hineinwachsen. Wir müssen nur die Normen aufstellen. Wir müssen sie führen. Sie wird kommen.
Über fünfzehn Jahre haben sie sich nicht gesehen. Und nun fangen sie so vorsichtig an, sich einander wieder geistig abzufühlen und zu beschnüffeln. Mein könnte sagen, wie zwei Hunde, die mal in dem gleichen Stadtteil wohnten, und nun nach Jahr und Tag sich wieder begegnen. Aber man sagt so etwas nicht.
»Was macht Ihre Frau?« fragt Fritz Eisner dann bald.
»Sich auf ihre Weise nützlich«, meint Wilhelm Klein. »Wir sind immer noch gute Kameraden, aber wir leben getrennt, oder doch so gut wie getrennt. Sie gehört ihren Aufgaben, und ich gehöre den meinen. Wir sind jeder sozusagen damit schon genugsam verheiratet. Und da«, er lacht, wie ein Schulmann eben lacht, also etwas trocken, »da in Deutschland Bigamie ... wie so manches sonst ...! immer noch verboten ist und bestraft wird, so haben wir es für besser befunden« ... er lächelt und bringt den Satz nur schwer zu Ende, und das erstaunt Fritz Eisner bei einem so wortgewandten Mann ... »für besser befunden, jedem seine Freiheit ohne Behelligung von Behörden zurückzugeben. Sie haben auch Schwierigkeiten?!«
Fritz Eisner will sagen, daß er Selma heute gesehen hat, eine Schar roter Wandervögel vor sich hertreibend, aber er hält es für richtiger, das Thema zu wechseln. (›Was mag jetzt mit Ruth sein? Dieses verdammte Zahnwasser hat mich doch etwas alkoholisiert: wie ulkig-klein die Menschen da drin auf der Tanzplatte sind, als ob man sie sich durch ein umgekehrtes Opernglas ansieht ... Ach nein, davon wird er nicht sprechen, was geht das Wilhelm Klein an.‹) »Was wird mit den Schulen nun? Meinen Sie, Wilhelm Klein, daß sich da was ändern wird? Sie müssen's doch wissen. Im Ganzen haben Sie doch mehr Fühlung mit dem Heute als ich. Sie stehen noch im Leben. Ich draußen vor der Tür. Meinen Sie, daß sich da was ändern wird? Wie miserabel muß eigentlich unser deutsches Lehrermaterial sein, daß es immer noch ohne Prügeln nicht auskommen kann.«
»Aber, was wollen Sie, Eisner«, sagt Wilhelm Klein, »warum soll bei uns in den Schulen denn nicht weiter geprügelt werden? Ganz Deutschland kommt mir doch heute vor wie eine Klippschule, in der die Schüler zwar kaum ihren Namen schreiben lernen, und über das dürftigste politische Einmaleins nicht wegkommen, aber verdammt verhauen werden. Und warum sollen wir da bei den Schülern eine Ausnahme machen?! Im Gegenteil, die Schule soll doch für das Leben vorbereiten.«
Fritz Eisner hat die fixe Idee plötzlich: ›Habe ich eigentlich Marley mitgenommen? Habe ich ihn im Wagen liegen lassen? Habe ich ihn in der Garderobe abgegeben? Jedenfalls: Marley, den Stock nicht verlieren!‹
»Wollen wir nicht wenigstens noch schnell einmal miteinander tanzen?« meint Joli und hängt sich an ihn. Sie will wohl den Marinier los werden, »ehe Paul kommt, Meister? Ich tanze doch so gern.«
Aber Fritz Eisner versteht nicht recht, was sie damit will. Er ist doch schon etwas alkoholisiert. »Ach, warum soll ich Ihnen das antun, Joli?« sagt er freundlich. »Ich kann nur Verbeugungen machen. Ich hatte doch noch bei einer richtigen alten Baletteuse mit Spitzentechnik Tanzstunde. Die hat mir das famos beigebracht: Verbeugungen. Es gibt drei Sorten sogar: ›Die Erde‹, ›Der Himmel‹ und ›Die ganze Welt‹, so hießen sie je nach der Tiefe und je nachdem, wie man die Arme breitet. Und dann kann ich noch Rheinländer. Aber wer tanzt das noch?«
»Ach, ich schleif Sie schon rum, Meister. Ich tanz so gern.« Joli chassiert auf der Stelle, klopft die Hacken zusammen und schnellt sie wieder auseinander. »Und Paulemann hat jetzt was anderes im Kopf als tanzen.«
›Und ich?‹ denkt Fritz Eisner.
Der Marinier hat indessen mit einem Kameraden von der alten Armee neben sich, der zufällig auf dem hohen Barstuhl hockt, ein leises Gespräch begonnen. ›Sie sehen alle gleich aus, diese Jungen‹, denkt Fritz Eisner, ›nur daß der da brutaler ist (er gibt nebenbei auch vor, Journalist zu sein), und jener geistiger. Wenn das Verhältnis von Geist und Roheit bei dem Marinier zwei Drittel zu ein Drittel ist, so ist es bei dem da, dem andern ein Drittel zu zwei Drittel, bei dem Stoppelhopser. Sonst aber könnten sie Brüder sein!‹
Aber der Marinier ist eigentlich nicht hier, um sich mit Kameraden zu unterhalten. Das tut er an andern Stellen und genug in Geheimzusammenkünften mit Verbindungsmännern und in Sportklubs und unter allerhand Deckadressen: Er ist hier, um zu sehen, zu hören und zu berichten. Man weiß nie, was man erfährt, und wie man es verwerten kann.
»Gnädiges Fräulein, dürft ich bitten«, sagt er, etwas in den Schultern schwankend mit einem leichten, englischen Diener. Die Flotte war englisch, die klappte nicht die Hacken zusammen. Derartige Schneidigkeiten überließ er den Simplicissimus-Leutnants.
Und Joli gleitet in seinem Arm dem Nebenraum zu, allwo die Musik gerade zu toben aufhört, und zart und gefühlsam hinzuschmelzen beginnt, wie in den Eisbechern der Punsch romain, und in dem grade die Veilchenfarbe, sich dem anpassend, in Himbeerrot übergeht.
Fritz Eisner sieht den beiden etwas vertattert nach:
›Ich hab da wohl etwas falsch gemacht?!‹
»Was macht nebenbei Ihre Schwägerin, Hannchen? Ich habe lange nichts mehr von ihr gehört ...!«
›Ach ja, Wilhelm Klein, der brave, blonde Nachbarssohn, wie in der Storm-Novelle, war ja ehedem vor zwanzig Jahren auch einer von den vielen gewesen, denen Hannchen versprochen hatte, auf sie zu warten genau wie Paul Gumpert, wie Johannes Hansen und Tutti quanti. Hamlet: ›Polonius‹ denkt Fritz Eisner, ›immer kommt er auf meine Tochter zu sprechen!‹‹
Paul Gumpert kommt von nebenan herein. Hat seinen Finanzkonzern entlassen, oder der ihn. Er ist wohl Joli nicht gerade begegnet. »Na, nun wollen wir hinter gehen, meine Herren. Wozu haben Sie eigentlich alle so lange auf mich gewartet? Entschuldigen Sie mich, Meister. Jeder einzelne doch«, er dachte wohl an seine Gesellschaft von vorhin, »mag ganz nett sein, so allein für sich. Alle zusammen sind doch eine ekelhafte Schweinebande.«
»Das erste kann ich nicht ohne Widerspruch hinnehmen, Mann des gestreiften Kattuns. Und das zweite ist eine Trivialität. Aber haben Sie einmal inzwischen eigentlich meine Schwägerin Hannchen gesehen? (Sie ist nämlich immer noch nicht meine Exschwägerin) Wilhelm Klein fragt mich eben nach ihr. Wie geht's ihr eigentlich? Wie kommt sie über die Zeit fort? Und was ist mit ihrer Lunge? Ein Wunder, daß sie sich immer noch so hält damit.«
»Gesehen nicht«, meint Paul Gumpert sehr mürrisch, »aber ich habe einigemal mit ihr telefoniert. Wenn man sie hört, geht's ihr gut, sogar sehr gut, gerade. Sie hat immer entzückende Freunde und noch reizendere aufopfernde Freundinnen, und die Menschen reißen sich um sie. Der brave Gatte Egi schreibt ihr zärtliche, goldbeschwerte Briefe aus Argentinien, und Ludwig, das Kind, der Knabe Lulu, macht ihr nichts wie eitel Freude. Und je besser es ihr geht, desto schlechter geht's ihr stets. Augenblicklich geht's ihr so gut, wie nie. Wenigstens am Telefon. Also, geht's ihr hundsmiserabel. Aber man hat das wirklich langsam verlernt, jetzt sich um den einzelnen zu kümmern. Wozu auch?« Paul Gumpert sieht dabei die ganze Zeit fragend und nachdenklich Fritz Eisner mit seinen ungewissen Augen an, als ob er eigentlich etwas anderes sagen wollte, aber sich nicht recht mit der Sprache hervorwagt. »Sagen Sie, verzeihen Sie, daß ich darüber rede, ist das hier in München immer so, daß das ganze Pissoir draußen mit antisemitischen Pöbeleien verschmiert ist? Das war doch Gott sei Dank vor dem Krieg wieder abgekommen. Und das würde mich auch nicht weiter aufregen. Aber das, das, was ich eben gesehen habe, das ist doch systematisch. Zehnmal von der gleichen Hand, die gleichen gekreuzten Knochen unter einem Schädel und in Druckschrift darunter: Tod den Juden! Das ist neu. Habe ich mir vielleicht dazu meinen Sohn schlachten lassen?«
»Hören Sie, Paul Gumpert«, sagt Wilhelm Klein eindringlich und laut, »das Vaterland ist mehr als dein Vater und deine Mutter. Und welche Gewalt und Ungerechtigkeit es uns auch antäte, wir wollen es ertragen, ohne unsern Platz zu verlassen. Vielleicht hat Sokrates Unrecht gehabt, als er das sagte. Ich weiß von fünfundsechzig Schülern von mir, denen ich nahe gestanden habe, und die mir nahe gestanden haben, und die zum Schluß für eine Sache ihr Leben gelassen haben, an die sie doch nicht mehr geglaubt haben.«
»Ach Gott, Wilhelm Klein, bleiben Sie mir doch mit Ihrem alten Plato vom Halse. Sie können mich einfach nicht verstehen, weil Ihnen die Voraussetzungen dafür fehlen, alter Junge. Sie haben doch nicht Ihren einzigen Sohn verloren, um dafür noch bespien und mit dem Tode bedroht zu werden. Sie haben doch nicht in einer Winternacht stundenlang unter einem umgeschlagenen Auto mit zerbrochenem Fuß gelegen, und jetzt sagt man Ihnen doch nicht, daß Sie Jude sind, Sie den Krieg angefangen haben, Sie den Krieg verloren haben, und was alles noch. Ich habe den Krieg nicht begonnen, nicht geführt und nicht verloren. Ich bin nur in ihm zum Krüppel geworden, und habe meinen einzigen Sohn dabei gelassen.
»Was ist das überhaupt für eine Welt. Mein Nachbar, mit dem ich tausend Jahr und länger zusammengelebt habe, will mich plötzlich totschlagen, weil ich für ihn der Jude bin, und weil er behauptet, daß ich kein Deutscher für ihn bin. Der Pole und der Franzose will mich totschlagen, weil ich ein Deutscher für ihn bin. Der Russe will mich totschlagen, weil er mich für einen hoffnungslosen Bourgeois hält, für eine blutsaugende Kapitalsbestie. Und alle haben sich gegen mich verschworen. Wissen Sie, es ist kein reines Vergnügen, zwischen Leuten dieser Art leben zu müssen. Oder etwa für Sie, Meister?«
»Was wollen Sie denn mit der Judenfrage, lieber Paul Gumpert?« sagt Wilhelm Klein ... »Ich kann ja ganz ruhig darüber sprechen, denn ich bin weder Jude noch Antisemit. Es gibt ja gar keine Judenfrage in Deutschland ... Und man kann deswegen ja auch nicht darüber diskutieren.«
»Sie mögen recht haben ... Wilhelm Klein«, sagt Paul Gumpert, »aber sagen Sie mir, wie uns ... uns als Juden heute in Deutschland damit geholfen ist?«
»Das werde ich Ihnen ein andersmal beantworten, Paul Gumpert.« (›Ich sollte doch noch zu Ruth gehen oder wenigstens dort anzurufen versuchen.‹) »Heute denke ich gerade an ganz andere Dinge«, sagt Fritz Eisner.
Was ist bloß in diesen zahmen und freundlichen Paul Gumpert gefahren? Den müssen sie vorhin nett hochgenommen haben. Solange ich ihn kenne, habe ich ihn noch nie so gesehen. Solche deutlichen Wutausbrüche liegen ihm doch garnicht, eher so ein bißchen spöttische und müde Ironie. Er ist doch sonst immer für mich das Prototyp des guten Berliner Juden gewesen, eine Mischung aus Kultur und Ironie und Einfachheit: Sie glauben zwar nicht an die Dinge, an die die andern glauben, aber sie glauben dafür wenigstens an den Altersschmelz auf römischen Gläsern, an Rembrandts Handzeichnungen und an Goethes italienische Reise. Sogar viel mehr als an ihr Geld.
Doch Paul Gumpert lenkt in diesem Augenblick auch schon von selbst ein. Er schämt sich beinahe. »Es kann einem eben einmal die Galle überlaufen, Wilhelm Klein! – Nichtwahr?«
»Also, der Sekt wird warm«, sagt er. »Kommen Sie, Meister, kommen Sie, Wilhelm Klein, Führer einer neuen Jugend in eine bessere Zukunft. Wo haben Sie mir Joli hingebracht? Sie sollten Sie hüten. Sie werden Konventionalstrafe zahlen müssen. Ach, Herr Direktor, das freut mich. Und Sie Landshof? Es ist recht, daß Sie für mich Zeit gefunden haben. Ich danke Ihnen.« Paul Gumpert wendet sich zu Fritz Eisner. »Landshof ist ein Kollege von Ihnen; wir beide haben uns in Warschau angefreundet. Im Krieg hat man überhaupt nichts weiter getan, als sich mit Leuten angefreundet!«
Ein Kellner und der Boy mit dem Koks unter dem Mützenrand und den frechen umränderten Jungenaugen haben sich eingefunden, um diese illustre Gesellschaft hinter zu leiten. Der Boy schleppt einen Grammophon und Platten. Vielleicht, wenn die sich da hinten im Nebenzimmer etwas Musik vorspielen lassen wollen, oder tanzen wollen, oder noch ein paar Damen dazu mitnehmen wollen. Es muß doch für alles gesorgt werden. Außerdem, wenn Damen dabei sind, wird die Rechnung größer.
Wilhelm Klein sieht den siegellackfarbenen Boy – wirklich, er ist so rot und goldbedruckt und eingepreßt wie eine Stange Siegellack, – sieht den Jungen an, der sich mit dem Schleppen des Kastens wichtig und niedlich macht, und der Boy sieht auf Wilhelm Klein zurück, und beide lächeln sich leise an. Von wem dieses Lächeln ausgeht, kann Fritz Eisner eigentlich nicht erkennen. Vielleicht lächeln auch beide zugleich. Man weiß ja auch bei einem überspringenden Funken zwischen zwei Polen schwer zu entscheiden, welcher nun eigentlich positiv und welcher negativ ist. Man sieht eben nur den Funken. Merkwürdig ... was so ein Schulmann doch eine Macht über junge Seelen hat, daß sie unwillkürlich ihm zufliegen müssen, denkt Fritz Eisner.
Wilhelm Klein fühlt sich beobachtet, so, wie sich jemand beobachtet fühlt, auch wenn er es nicht gerade sieht, und wendet Paul Gumpert deshalb voll jetzt das Gesicht zu ›Herrgott‹ ... stellt Fritz Eisner fest, ›das Profil mit der starken Nase, dem Wulst darüber, mit dem sie einsetzt, das klare Auge unter dem Wulst, sind herrischer und wuchtiger eigentlich und bedeutender, geben mehr von ihm, seiner Tatkraft, seiner ewigen Unruhe und seinem Wollen.‹ Von vorn sind Wilhelm Kleins Züge doch fast unscharf und weichlich geworden. »Ein entzückender Ganymed«, sagt Wilhelm Klein, als ob er sich entschuldigen müsse.
»Immer noch der Altphilologe!« Fritz Eisner lacht. »Meines Wissens aber stellen die Griechen Ganymed nie als Siegellackstange mit einem Grammophon unter dem Arm dar. Außerdem kenne ich ihn eigentlich fast nur auf Gemmen mit einem Adler, und auf Vasen und pompejanischen Fresken ...«
»Und auf Lampen«, sagt Wilhelm Klein. »Haben Sie bei Platos Dialogen gerade gefehlt?«
»Nein, Wilhelm Klein ... ich glaube wir überschätzen das für das alte Griechenland, weil zufällig Platos Dialoge auf uns gekommen sind ... und weil wir die Schlacht von Chäronäa ... (es kann auch wo anders sein ... dafür sind wir zuständig ... Wilhelm Klein) ... aber, wenn man den griechischen Grabstelen glauben darf ... (nicht wahr, Hegesol ... doch das ist nur eine von hunderten ...) müssen die Ehen dort sehr innerlich und fest gewesen sein ... Wie stark und verkrampft fast ist dort immer der Druck der ineinandergelegten zusammengefügten und miteinander fast verschmelzenden Hände, und wie wehmütig die Blicke, die Wechselblicke der schmerzhaften und tränenlosen Abschiedsschwermut ... eigentlich kenne ich nur eine Grabstele, die eine platonische Note hat ... im Vatikan (man hat sie auch dort bei einer Ausschachtung einmal gefunden ...) ein bärtiger Mann, der zum Abschied in die Ewigkeit einem Knaben die Hand drückt ... und man sagt: sie soll die Grabstele Platos sein. Sie ist so schön in der Einfachheit ihres Flachreliefs, daß man es wünschen möchte.«
In diesem Augenblick kommt Joli mit dem Marinier zurück, der sie mit einer wohlerzogenen legeren Geste Paul Gumpert zuführt und übergibt. Solche modernen Tänze dauern etwas lange immer.
Paul Gumpert weiß nicht recht, was er damit beginnen soll, denn er möchte nun endlich die andern in den Nebenraum führen. Außerdem hatte er eigentlich geglaubt, daß seine Freundin dort schon etwas nach dem Rechten sähe. So war es wohl zwischen ihnen vereinbart. Aber er ist so froh, sie wieder zu haben nach all den Verärgerungen, er braucht ihre Nähe mehr denn je, daß er aufleuchtet wie eine Glühlampe, die plötzlich in den Stromkreis eingeschaltet wird.
Und auch Joli wirft ihm einen Blick glücklichen Einverständnisses zu. Aber Paul Gumpert fühlt, daß der mehr auf die Bühne, als ins Leben gehört ... dieser Blick. Der Direktor der zweiten Gruppe würde sagen: ›Sie müssen diese Scene noch so lange innerlich durchbluten, bis Sie sie ganz in Ihr Leben aufgenommen haben ... Fräulein.‹
Aber der Marinier ist stehen geblieben, hat erstaunt den Kopf zu Wilhelm Klein herübergetan, und ist dann wieder in eine etwas genierte Freundlichkeit zurückgesunken.
›Eigentlich muß er doch jetzt längst weg sein‹, denkt Fritz Eisner. ›Er ist doch sonst solch Muster von Manieren!‹ Aber, da er das nicht ist, stellt ihn eben Joli Paul Gumpert vor, und (außerdem hat er Beziehungen zur Presse), und Paul Gumpert fordert ihn auf, ›wenn er vielleicht mithereinkommen wolle auf ein Glas‹. In München tut man das nicht. Das ist Berliner Art. Das weiß der Marinier. Trotzdem lehnt er dankend ab, bittet jedoch nachher einen Augenblick hereinschauen zu dürfen, wenn seine Freunde fort wären, um sich nochmals zu verabschieden.
Der Nebenraum hinten jenseits des Gangs stammt noch nicht aus der letzten glatten Umbauepoche, sondern aus der Zeit des Münchner Renaissancefimmels (Hirth: die altdeutsche Stube).
›So ähnlich muß Rosenemils Trinkzimmer aussehen‹, sagt sich Fritz Eisner, ›nur noch um zehn Stich geschmackloser: alles Kiehn, auf gemaserte Eiche gestrichen; und mit einem Kronleuchter aus Dammwildschaufeln. Während hier die Wände aus heller Zirbelkiefer sind, und ein Leuchterweibchen da ist, mit geflochtenen braunen Zöpfen unter der roten Schaube. Und während bei Rosenemil gewiß ein Öldruck mit Fasanen, Trauben und einer Champagnerflasche im Goldrahmen prunkt, starrt einen hier die ganze Genealogie der bayerischen Könige in richtigen Ölbildern großäugig an von den Wänden; mit beleidigten Gesichtern, weil sie vorerst aus den Räumen vorn verbannt werden mußten. Schande genug, daß sich die wahre Liebe des Bayern in die Hinterzimmer hat flüchten müssen. Aber hier kommen auch die Besseren nur hin, die Alteingesessen, wenn sie sich mal mit ihren Damen amüsieren wollen, und sie doch nicht jeder sehen soll. Hier können sie Orgien ... von Patriotismus feiern.
Und wie nett der Tisch gedeckt ist. Auch ohne Jolis Hilfe. Und was für liebliche Schalen da stehen mit Weißbrotschnitten (weder Corned Beef, noch Muschelwurst), sondern, auf denen halbvergessene Köstlichkeiten reiten, mit denen man das erste Mal gerührtes Wiedersehen nach fünf Jahren feiern kann. Und petits fours. Und Dinge zum Knabbern und zum Knuspern. Scheiben gerösteter Kartoffeln, dünn wie Filme und zerbrechlich wie Libellenflügel. Alle sperren eigentlich die Augen auf. Dreiviertel Jahr nach Kriegsende staunt man immer noch über die Selbstverständlichkeiten von einst. Wie heruntergekommen ist man doch immer noch. Und Sektkühler sind da mit schrägen Flaschen, die in einem Nordmeer von grauen Eisschollen schwimmen.
Und Blumen sind auf dem Tisch in Bauernvasen, Enzianen und Sträuße tiefroter Alpenrosen, die heute noch auf dem Wendelstein geblüht haben, und nun mit der Genealogie an den Wänden erstaunte Blicke wechseln: Wie kommen wir beide eigentlich mit einem Mal hierher in diese Verbannung zwischen die Butzenscheiben?!
Das würde Ruth Spaß machen. Sie ißt ungern, aber sie knabbert für ihr Leben gern – ohne Punkt und Komma. Warum ist sie eigentlich denn heute nicht mitgekommen. Richtig! Sie ist ja heute Nacht über da in Nymphenburg, weil sie morgen der Arzt noch einmal untersuchen will. Ach Gott, man ist so dieses Zahnwasser garnicht gewohnt. Ich sage doch immer zu Nuckelino: Wenn bei uns mal der Alkohol verboten würde (doch das wird in Deutschland nie geschehen) würde es drei Monate dauern, bis ich es merke.
»Wer war dieser Dorian Gray?« fragt Wilhelm Klein.
»Wie kommen Sie auf Dorian Gray?«
»Ach, er war so schön und verworfen, und man wußte nicht, wie alt er eigentlich ist. Siebenundzwanzig oder siebenundvierzig.«
»Ach, irgend so ein Marinefritze, der den Journalisten spielt.« (Fritz Eisner hat garnicht gemerkt, daß er besonders ›schön‹ ist. Endlich sehen sie doch alle gleich aus).
Paul Gumpert und Fritz Eisner und Wilhelm Klein haben sich zusammengesetzt. Eigentlich sind sie sich doch sehr nahe. Wollen jetzt Männerreden führen wie vor zwanzig Jahren, freuen sich schon darauf wie Schuljungen.
Zu dem Theaterdirektor der zweiten Gruppe ist im letzten Augenblick noch eine schlecht abgeschminkte kleine Schauspielerin gestoßen, die eben von der Bühne kommt. Sie ist wirklich sehr unscheinbar und ganz auf Innerlichkeit eingestellt, spielt so Barlachfiguren im Holzblockstil, tumb, treuergeben und wortlos leidend, mit Urtiefen, Bäuerinnen, Pippas und andere elbische Wesen.
Warum die kleine kurzgeschorene Schauspielerin mit der Kartoffelnase und den Kirgisenbackenknochen, mit dem himbeerfarbenen Rupfenkittel im Tolstoischnitt gekommen ist, weiß man nicht. Sie hatte sich geäußert, daß sie ihren Gott noch einer Rolle wegen sprechen müsse, die sie rostbraun sähe. Sie könne das nicht anders sagen. Er verstände sie schon. Er hatte sie an seine linke Seite sich niedersetzen geheißen, während er der Joli bedeutete, daß sie heute den Ehrenplatz an seiner Rechten beanspruchen dürfe.
Landshof stellt wieder den Verbindungsoffizier zwischen den Damen und den dreien mit den Männerreden. Und einer ist auch noch gekommen, dessen Namen Fritz Eisner von einer Minute zur andern wieder vergißt, genau wie er sein stilles, versorgtes Gesicht von einer Minute zur andern vergißt, und jedesmal, wenn er zu ihm herübersieht, denkt: ›Gott, der war doch vorhin noch garnicht da!‹
Er ist ein Freund von Landshof und Paul Gumpert und steht Landshof näher. Paul Gumpert hat sogar gesagt, es ist sein Kompagnon. Seit wann haben Schriftsteller Kompagnons? Vielleicht haben sie zusammen eine Lustspielfabrik. So etwas gibt es. Zwei, denen nichts einfällt, machen so etwas immer.
»Was schreiben Sie eigentlich jetzt?« meint Fritz Eisner kollegial und interessiert, »Herr Landshof?«
Aber der hört nicht hin, weil der Kellner gerade den Sekt eingießt. Er spritzt ihn hoch von oben in die Stengelgläser. Aber der Mann der zweiten Gruppe ermahnt ihn, das langsamer zu tun, damit es nicht so schäume. Der Kellner gießt den Sekt weder über die Hand nebenbei ein, sodaß man das Etikett nicht sieht, noch ist die Flasche mit einer Serviette umwickelt: Das hat man bei der Marke nicht nötig. Nach der wird morgen keiner Kopfweh haben.
Fritz Eisner will sich durchaus besinnen, wann er zum letztenmal Champagner getrunken hat. Ob noch im Krieg? Jedenfalls seit dem neunten November nicht mehr, da hat er sich mit dem letzten Tropfen aus dem Glas seiner alten Freundin, die dann in der Nacht noch starb, die Lippen genetzt. Und das war seit langer Zeit der erste Tropfen wieder gewesen und war bis heute der letzte Tropfen dann geblieben. Schade, Ruth müßte hier sein. Die ist für so etwas zu haben. Sie geht dann so aus sich heraus, kann so nett beschwipst sein nach einem Glas Wein schon. Ich kann ja viel vertragen, aber ich vermisse es nicht, wenn ich nichts habe. Paul Gumpert gibt dem Kellner ein Zeichen. Es heißt: Nachfüllen und dann verschwinden. Wir wollen unter uns sein.
›Zu dem Kollegen da muß ich doch freundlich sein‹, denkt Fritz Eisner. (Famos, wie das einem in der Nase prickelt). »Ich habe doch neulich Ihren Namen gelesen«, (das kann man immer sagen), »wo war das doch nur? Aber ich erinnere mich ganz deutlich an den Aufsatz. Ich wollte mir noch den Namen Walter Landshof merken!«
Landshof lächelt geschmeichelt, bescheiden und verlegen in seinen Sektkelch hinein. »Das glaube ich nicht«, sagt er. »Ich habe seit drei Jahren nichts mehr geschrieben, und früher war ich Werner Hof.«
»Ach, dann verwechsle ich das,« sagt Fritz Eisner, »aber ich kenne einen sehr anständig gemachten Jugendroman von Ihnen. Sie sollten doch wieder arbeiten.«
»Ich glaube, schreiben ist heute sehr aussichtslos, wenn man nicht gerade Fritz Eisner oder so heißt. Und ich muß doch leben. Ich habe im Krieg gleich zu Anfang geheiratet und ich habe zwei Kinder.« (›Ich sollte doch noch an Ruth telefonieren. Aber ich fange wirklich an, ein bißchen drehig zu werden ... wenn man eben solange nichts trinkt!‹) »Und deshalb mache ich jetzt etwas, das viel, viel aussichtsreicher ist, was immer gebraucht wird, und was heute mehr denn je gefragt ist, was zukunftsreicher ist, als jegliche Literatur, und was man noch ungeahnt ausbauen kann.«
»Können Sie mir das nicht auch verraten, Herr ...« (›Wie hieß er doch?‹)
»Ja, als der Krieg um war, und ich im Dezember zu Weihnachten endlich nach Hause kam, sagte ich mir: Was tun? Vom Schreiben wirst du kaum existieren können. Wer wird bei den Zeiten etwas drucken, außer Plakaten und Geldscheinen? Und wer wird Gedrucktes noch lesen wollen – außer dem Steuerbogen? Was hast du im Krieg gelernt? Und was kannst du davon noch heute verwerten? Mit dem Gewehr einen Menschen auf dreihundert Meter umlegen ... Auf zehn Meter ihm eine Handgranate in die Fresse schmeißen, daß beides in tausend Stücke zerplatzt. Und so weiter. Jetzt kannst du das mal ganz gut noch verwenden in Deutschland. Aber wie lange?
Ja, und was hast du noch gelernt? Nach dem Kehlkopfschuß bin ich dann Armierungssoldat gewesen. Arbeitsverwendungsfähig. Den rumänischen Feldzug habe ich mitgemacht. Von morgens bis abends, von abends bis morgens habe ich durch Wochen nichts getan, als Soldaten beerdigt. Alle Nationen habe ich beerdigt. Ich habe Gräber ausgeworfen. Friedhöfe mit angelegt. Tote Menschen ausgekleidet, gewaschen, alle Chargen. Das heißt nach obenhin wurden es immer weniger. Alle Uniformen der Welt habe ich in die Erde gelegt. Särge – keine Sorte, die ich nicht kennen gelernt habe. Ich habe Kreuze gesetzt, und Feze auf die Gräber gelegt, und sogar hebräische Inschriften machen lassen. Und ich habe einen Obelisk für ein Massengrab entworfen.
Wenn ich in einer Sache der Welt Fachmann geworden bin, so im Beerdigungswesen. Wenn es die Charge gegeben hätte, wäre ich Bestattungsgeneral geworden.«
»Ich habe doch im ganzen Krieg keinen toten Menschen gesehen – Gottlob!« meint Fritz Eisner.
»Da haben Sie Glück gehabt«, ruft Paul Gumpert. »Sie hätten zwölf Millionen sehen können.«
»Und so habe ich mich eben mit meinem Freund hier assoziiert. Er macht mehr den äußern Dienst, dazu paßt er besser. Sie brauchen ja nur sein Gesicht zu betrachten. Ich dagegen bin von Hause her heiterer Gemütsart. Jedes bessere Trauerhaus würde mich sofort an die Luft setzen. Also, besucht er die trauernden Familien, und ich habe den inneren Dienst, das Festliche, den pompe funèbre, die Auswahl der richtigen und gesunden und preiswerten Särge, Katafalke und Urnen, je nach der Vermögenslage des Verblichenen.
Und das Geschäft blüht. Geht über Erwarten gut. Ich lebe. Wir leben. Und die Konkurrenz hat auch noch genug zu tun. So gute Zeiten wie jetzt hat unsere Branche seit Jahrzehnten nicht gehabt. Ich rede garnicht von dem Abgang der Lazarette. Aber auch über unsere Privatkundschaft können wir uns im Augenblick nicht beklagen. Hoffentlich bleibt's so.«
*
Fritz Eisner war eigentlich leise erstaunt, daß die andern die Worte des Kollegen so todesernst und fast gleichgültig hingenommen hatten. Er hätte ja gerne gelacht, aber er wollte doch den Mann da nicht beleidigen. Naja, ihm war es neu, aber die da alle wußten das wohl schon lange. Der Mann der zweiten Gruppe behandelte ihn sogar deswegen mit besonderer Hochachtung. Er tat direkt vertraut mit ihm, hatte ihn vorhin, diesen Leichenbestatter, des langen in seine Zukunftspläne eingeweiht.
»Gott, Sie haben gewiß ganz recht,« sagte Fritz Eisner bescheiden zustimmend. »Sicher ist, daß Ihr Geschäft, statistisch betrachtet nicht in so hohem Maße der Zeitkonjunktur unterworfen ist, wie das meine, Bücher zu schreiben. Ihr Laden kann mal bei einer Gesundheitsepidemie eine schlechtere Zeit haben, aber der Umsatz kann doch nach den Naturgesetzen nie ganz aufhören.« Paul Gumpert spricht zu Wilhelm Klein – ist ja doch so alles ein Kreis von früher her, von Lu und Doktor Spanier. Die Welt ergriffe für ihn Partei. Warum? Er habe beide gern. Wie dumm von den Leuten bei so etwas nach einem »schuldig« zu suchen. Wie seltsam das ist, daß er sie aus dem Haus gewiesen hat, und sie nun bei dem andern, dem klotzigreichen Doktor Groß, nun ist. Was solche Leute heute zusammenscheffeln, davon hat man früher nie etwas geahnt. Nicht in der Stroußbergzeit und nicht unter Louis Philippe, als es jedem Industriepiraten, jedem Robert Macaire, frei stand, Land, Volk und Regierung um so viel zu plündern, wie er wegschleppen konnte. Ach Gott, es ist doch heute nicht eine Spur anders: Jeder tut, was er will. Keiner hat ein Verantwortungsgefühl. Es sei denn für seine eigene Tasche. Und wie der Doktor Spanier – er arbeitet sich tot noch, seine Sprechstunden sind wirklich bald Sprechtage – sie eigentlich doch nicht freigeben will, und wie sie, Lu, eigentlich Angst davor hat, daß er die Scheidung durchführt und sie dann nie mehr zu ihm zurück kann. »Lu hat schöne Dinge gekauft. Einen charmanten kleinen Greuze, der wohl im Krieg aus dem besetzten Gebiet herausgekommen ist. Ich hätte ihn sogar gern gekauft. Aber er war mir doch zu teuer in jetziger Zeit. Mit den Amerikanern kommt man nicht mehr mit. Dazu muß man ein Doktor Groß sein. Ich habe das alles indirekt von ihrem Anwalt. Ich sehe sie ja nach wie vor manchmal noch, die Frau Doktor Spanier. Warum nicht? Ist sie etwa dadurch dümmer, ungebildeter, häßlicher, unfreundlicher oder weniger charmant geworden. Sie selbst spricht natürlich nicht ein Wort über ihre Eheaffaire. Dazu ist sie jetzt viel zu sehr Dame.«
»Eigentlich fehlt Lu mir doch sehr«, wirft Fritz Eisner ein.
»Hören Sie, Meister«, sagt Paul Gumpert, »ich dachte, Sie wären seelisch genugsam engagiert nun gerade.«
»Das steht auf einem ganz anderen Blatt. Wie soll ich Ihnen das erklären, Paulemann?!« (Wie komme ich nur dazu, plötzlich Paulemann zu sagen ... ich trinke nicht einen Schluck mehr.) »Man kann auch in einem gut geheizten Zimmer nach einem Platz am englischen Kamin frieren und sich sehnen, wenn man weiß, daß jedesmal, sobald man hinkommt, ein paar neue Scheite aufgelegt werden und dann behaglich aufknistern – Buchenholz mit Wacholder riecht so gut, – und in einer halben Stunde heruntergebrannt sind. Länger bleibt man ja nie. Ich bin altmodisch und liebe Kamine. Kamine sollen sehr unpraktisch sein. Nicht warm genug. Man ist von ihnen abgekommen. Aber ich liebe sie doch. Lu war durch bald fünfzehn Jahr solch ein Kamin für mich. Der einzige in Berlin fast (außer einem ganz, ganz alten!) auf dem immer ein paar Scheite für mich zurecht lagen. Hier in München kennt man das nicht. Bei uns kennt man es immer noch. Und drüben in England und in Frankreich, in Holland ist es wohl von je das übliche. Es ist so nett, sich an der feinen, leichten, geistigen Glut ihres Kamins wärmen zu können. Damen haben ... wenn überhaupt! ... immer einen andern zum Liebhaber. Wären wir es selbst, so würden sie ihre Damenhaftigkeit verlieren, weil sie damit in eine andere Kategorie herüberwechseln. Lu fehlt mir, Paulemann!«
Fritz Eisner beginnt noch mehr zu lachen, weil er doch wieder ›Paulemann‹ gesagt hat. Er findet das einen vorzüglichen Scherz.
»Oder aber eine andere Lu. Jedenfalls ist die Stelle für irgend eine Lu bei mir vakant!«
»Ach Gott, im ganzen fehlt Ihnen wohl Berliner Luft, und wir fehlen Ihnen. Wozu spinnen Sie sich so ein, Meister? Geben Sie mir Ihr Glas rüber – erst austrinken! Nicht zuschenken! Das gibt nur eine unglückliche Liebe oder eine böse Schwiegermutter. Für beides kann man in unserem Alter nur noch schwer die nötigen Energien aufbringen.«
»Sie wissen ja, Gumpert, daß ich, wenn ich jemand ein Jahr nicht gesehen habe, das Gespräch ganz ruhig dort fortsetze, wo ich vor zwölf Monaten aufgehört habe. Also – was ist mit K...« (Donnerwetter, wie war das Wort doch?) »Also, mit der Kunstseide jetzt?«
»Unglücksrabe! Ich bin flau auf Kunstseide. ›Brief‹ für mich! Aber, wenn wir noch weiter über dieses Thema reden, schmeckt mir wirklich der Sekt nicht.«
Fritz Eisner lenkt ab.
»Also, was macht denn eigentlich der Alte mit der Sammetjacke. Wühlt er immer noch im Nollendorfkasino alle Zeitungen durcheinander?«
»Weiß nicht ... glaube, er hungert.«
»Man sollte sich doch um ihn kümmern. Seitdem unser alter Doktor, das Gummischweinchen, ausgepiept hat, tut das keiner mehr. Denken Sie doch mal an ihn, Paul Gumpert!«
»Joli, schreib auf: Sammetjacke! Ich weiß dann schon.«
Joli reißt sich aus den Armen des Gesprächs mit dem Theaterdirektor der zweiten Gruppe. »Aber man trägt doch jetzt keinen Sammet mehr, Paulemann«, ruft sie herüber.
Wilhelm Klein hebt das Glas und markiert dionysische Stimmung. »Auf die nach uns! Daß sie es besser haben sollen«, ruft er und lächelt zufrieden vor sich hin.
»Hoch hebe die funkelnde Schale!« singt der Inhaber des Beerdigungsinstituts herüber. Aber die Damen lauschen immer noch stumm den Worten des Mannes der zweiten Gruppe.
»Wie kann man nur mit einer Nation verfeindet sein, die den Sekt erfunden hat«, kräht Wilhelm Klein. Ein Angetrunkener ist immer etwas komisch. Ein leicht angezechter Altphilologe mit germanistischem Einschlag ist es doppelt.
»Aber wir Deutsche fürchten doch Gott, sonst nichts auf der Welt, hat schon Bismarck ...«, meint der Gehrock. Und man weiß dann nie, wenn er diesen Ton hat, ob er bejaht oder verneint, verehrt oder verachtet.
»Nachempfunden! Nachempfunden!! um nicht geklaut zu sagen!« kräht Fritz Eisner und johlt vor Lachen. »Racine. Athalie. ›Je crains Dieu et je n'ai d'autre crainte.‹«
Fritz Eisner kennt sich. Jetzt lacht er. Er hätte nicht trinken dürfen. Wenigstens nicht das Zahnwasser, das so nach angespitzten Bleistiften schmeckte. Oder das dann nachher. Die Reihenfolge war falsch. Er ist seit Jahren nicht einen Tropfen mehr gewöhnt. So in einer halben Stunde wird er ganz traurig sein: ›Warum bin ich denn vorhin nicht noch einmal nach Nymphenburg herausgefahren? Ist doch ne Lumperei von mir. Lasse das Mädchen da ganz allein die Nacht über draußen. Hätte mich doch wenigstens wo in der Nähe einquartieren können für heute Nacht. Unverantwortlich von mir!!‹
Plötzlich hat Fritz Eisner das unabwendbare Gefühl, daß er dem Mann von dem Beerdigungsinstitut einen guten Rat geben müsse. »Nein,« schreit er zu ihm herüber, »und wenn Sie auch noch so viel reden, (und dabei hat der seit zehn Minuten den Mund nicht aufgemacht) »man soll nicht fahnenflüchtig werden von der Literatur. Und Literatur hat auch nichts mit Erfolg zu tun. Nur mit ihrem Inhalt, ihrem Wesen, ihrer Güte. Mit sonst garnichts.«
»Aber wovon soll man leben?!« sagt das Beerdigungsinstitut seufzend freundlich.
›Aber, wenn ich jetzt aufstehe, weiß ich garnicht, ob ich gehen kann, denn es fängt alles so sich zu drehen an. Nicht grade sich zu drehen, aber es schwankt doch etwas in der Achse. Wenn ich in Japan wäre, würde ich glauben, es ist ein kleines Erdbeben. Es bewegt sich von rechts nach links immerzu und steht dabei doch nicht auf dem Kopf. Und die Gesichter da drüben sind so klein alle und so seltsam verzogen ... Aber so etwas ist bei mir in fünf Minuten sonst weg. Singen geht noch viel leichter als sprechen:
»Kavallerie auf beiden Flügeln
festgemauert in den Bügeln
sprengen nun zum Einhaun vor.
Doch sie finden uns gerüüüstet,
wem's nach blauen Bohnen düüürstet,
die empfaangen Bayernblei.«
»Haben Sie schon mal Durst auf Bohnen gehabt?«
»Wie kommen Sie eigentlich so durch? Brauchen Sie Geld im Augenblick? Kann ich Ihnen etwas borgen, Meister?« meint Paul Gumpert freundlich.
»Nein, ich verdiene so nebenher auch noch in Valuten. Es geht. Ich komme durch.«
»Dann nehmen Sie Geld von mir, und halten Sie sich Ihre Valuten. Sie werden sie noch brauchen können.«
»Warum soll ich pumpen? Man muß dann nur wiedergeben«, stottert Fritz Eisner erstaunt und plötzlich wieder etwas nüchterner.
»Sie sind doch kein guter Kaufmann«, meint Paul Gumpert und lacht und klopft Fritz Eisner auf die Schulter, »daß Sie ein so glattes Geschäft, dessen Risiko ich doch nur trage, mir einfach ausschlagen. Aber vielleicht bin ich ein ebenso schlechter Kaufmann. Ich weiß es nur noch nicht.«
»Wie steht der Dollar, heute Abend, Paulemann?« ruft die Joli dazwischen. (Nein, die andern sind noch garnicht so angetrunken wie er).
»Was geht das dich an, Joli.«
»Ich habe einen!«
Drüben schlachtet der Theaterdirektor der zweiten Gruppe gerade Gerhart Hauptmann und Schnitzler ab, und opfert an ihrem Grabe, wie das in Vorzeiten üblich war bei der Beisetzung von Königen, noch Wedekind und Sternheim.
»Was wollen Sie denn?« ruft Fritz Eisner herüber. In der Literatur versteht er keinen Spaß, und außerdem bringt ihn dieser philosophierende Blondbock ins Harnisch. Er verträgt auf die Dauer keine Leute, die zu sich selbst Sie sagen, und vor allem dann nicht, wenn er zwei Coktails und sieben Gläser Sekt getrunken hat. »Was wollen Sie denn, Sie Lockenschüttler, wenn heute ein Beethoven und ein Rembrandt und ein Goethe neben Ihnen lebte, würden Sie es ja garnicht merken. Schimpfen Sie doch nicht so auf Gerhart Hauptmann und Schnitzler und Thomas Mann und so. Wenn die nicht gewesen wären, säßen Sie doch noch heute jubelnd um die Knie von Julius Wolff, Ebers und Baumbach und verteidigten Lubliner gegen Sudermann.«
Der Theaterdirektor zweiter Gruppe geht nicht auf solchen aggressiven Ton ein. » Meine Generation jedenfalls ist über sie hinausgewachsen«, sagt er in einem Klang, der unschwer zu interpretieren: wer ist denn dieser alte, anmaßende Kerl eigentlich? »Nur, wer sich stets verändert ...«
»Erkennt sich selbst«, fällt Fritz Eisner ein, »aber Kunst kommt von Können, und nicht von Erkennen. Was redet Ihr denn mit einem mal so viel von Generationen, das hat es doch immer gegeben, und wird es immer geben. Junge Generation – gewiß, sie kann nicht siebenzehnjährig genug sein. Ich bin sehr für sie. Aber sie soll selbst Erfahrungen machen, und Schlüsse, neue Schlüsse aus unseren Erfahrungen ziehen. Aber es ist doch unmöglich, daß sie sie ganz und gar negiert unsere Erfahrungen und unsere Erlebnisse, wie sie es jetzt schon wieder anfängt!«
Paul Gumpert mischt sich darein. »Meister, Meister«, ruft er und droht mit dem kleinen Finger, sodaß Fritz Eisner der flackernde Diamant am Ring (halbe Betrunkenheit macht für so etwas empfindlich) zu stören beginnt. »Sie werden den Kürzeren ziehen. Unsere Generation nimmt mal kein gutes Ende.«
»Ihr würdet ja doch schon heute jede Sekunde in einen Krieg wieder hineinschlittern trotz unserer tausendfachen Warnung. Und auch ein Bürgerkrieg ist ein Krieg. Das habt Ihr wohl ganz vergessen.«
»Ich habe den Krieg nicht zur Diskussion gestellt«, meint der Theatermann. »Ich verstehe Gott sei Dank nichts von Krieg, und nur etwas von Kunst.«
»Das ist kein Unterschied!«
»Beide fangen mit nem K an!« Selbst die kleine Schauspielerin mit den Kirgisenbacken will jetzt ihrem ›Gott‹ zu Hilfe kommen.
»Auch da muß immer eins aus dem andern sich ergeben oder eins gegen das andere kämpfen. Jedenfalls muß eine Verbindung da sein mit dem, wofür sich die vorige Generation geistig, weltanschauungsmäßig und durch ihre Kunst eingesetzt hat. Sonst wird es Ihrer Gegenwart so gehen, wie dem Mann, der ganz für sich die Integralrechnung fand, und, als man ihm sagte, daß die schon Leibnitz, oder sonst wer ... das wird Ihnen mein Freund Wilhelm Klein besser sagen, so etwas weiß er! ... gefunden hätte, und daß man seit Jahrhunderten damit in der Wissenschaft und in der Statik arbeite ... der sich dann das Leben nahm. Wozu wollen Sie Amerika noch einmal entdecken? Es bleibt Ihnen ja genug zu tun in dem Amerika, das wir entdeckt haben, oder sagen wir, das zu meiner Zeit entdeckt wurde ...«
Wilhelm Klein lehnt sich zurück und beginnt mit halbgeschlossenen Augen hinter den dicken Brillengläsern (auch er ist wohl Sekt nicht gewöhnt seit langen Jahren mehr, wo man ihn nicht bekam) hebt an mit großen ausladenden Gesten, alles übertönend, griechisch zu deklamieren. Was ist das nur? Homer und der ungemischte Wein der Götter ist es doch nicht! Auch kein sophokleischer Chor. Eher Prosa. Es strömt so ruhig und breit dahin, wie der Fluß Paktolos, der Gold in seinen Fluten hat.
»Was ist das, Wilhelm Klein?«
»Das wissen Sie nicht, Sie Böotier? Hören Sie doch hin. Symposion ... Alkibiades spricht: ›Und ich schwöre Euch, ich bin so wieder aufgestanden, wie ich mich zu Sokrates gelegt habe.‹«
Und dann sind sie wieder dabei, die Schule zu reformieren.
»Was ist da zu machen«, ruft Fritz Eisner, »daß weniger Energien der intellektuellen Jugend im Abreagieren in sexualibus verwandt werden. Für einen sechzehnjährigen Arbeitsburschen und ein siebzehnjähriges Fabrikmädchen ist das kein Problem. Das regelt sich dort viel natürlicher.«
Wilhelm Klein sieht Fritz Eisner fast traurig durch die scharfen Brillengläser einen Moment lang an. »Ja«, sagt er langsam, »das ist wohl überhaupt einer der Leibschäden jeglichen Intellektualismus jeden Alters!« Wilhelm Klein will auch dafür allen Geschichtsunterricht verbannen und durch Gegenwartskunde ersetzt wissen. Gewesenes interessiert nicht, ist gefährlich, weil noch nie jemand etwas daraus gelernt hat, und weil es immer einen verhängnisvollen Parallelismus heraufbeschwört. Man sieht die ganze Genialität Fords, des Amerikaners, aus einem einzigen Satz von drei Worten: ›Geschichte ist Quatsch.‹
Fritz Eisner ist Feuer und Flamme dafür. Das schreibt er doch seit zwanzig Jahren, aber keiner hört drauf. Beethoven und Goethe und das Telefon und Helmholtz und Schopenhauer und das Auto, der Serum-Behring und jeder Wolkenkratzer, Tolstoi und das Flugzeug sind mehr Geschichte und tausendmal wichtigere Geschichte, als Cäsar und Hannibal und Napoleon und Wallenstein, die nur die Schicksale anderer Leute durcheinander gebracht haben. Geschichte ... was Ihr so Geschichte nennt ...! ist Quatsch, Nonsens, Wahnsinn und Weltverblödung.
Paul Gumpert und der Mann von dem Beerdigungsinstitut sind – was nicht schwer ist gerade: das heißt, solange jeder nüchtern ist, hütet er sich jetzt davor, man vermeidet eigentlich solche Gespräche, wenn man nicht genau die Stellungnahme des andern vorher kennt ..., sind politisch aneinander geraten.
Landshof meint, es hat doch immer Arme und Reiche gegeben, und Leute, die verhungert sind, und Leute, die unter die Räder gekommen sind. Woher nehmen wir, da es uns heute schlechter als je geht, die Unverfrorenheit her, plötzlich gerade für Deutschland zu fordern, daß mit diesem alten zehntausendjährigen Brauch gebrochen würde im ungünstigsten Zeitpunkt! Paul ist gewiß nicht radikal links, aber er wünscht, daß es ihm sehr gut geht, und er sieht deshalb nicht ein, warum es irgend einem Menschen auf dieser Welt schlecht gehen soll. Er versteht nicht, warum es in Deutschland jemand übel genommen werden soll, wenn er arm ist.
Zum Schluß ist doch jeder denkende Mensch Kommunist, wenigstens in der Philosophie, auch wenn er es selbst nicht ahnt. Alle unsere Staatsbeamten, angefangen beim Briefträger und endend beim Minister, unsere ganze Armee, alle, alle sind sie doch Kommunisten. Sie wissen es nur nicht. Staatssozialismus bezahlt sie. Sorgt für sie, wenn sie nicht mehr in ihm dienen können. Verpflegt ihre Witwen und Waisen. Und sie sind unabhängig vom Privatkapitalismus. Und etwas anderes wollen die auch nicht. Ob meine hundertsiebzig Angestellten nun von mir bezahlt werden, und bei »Gumpert & Mühsam« in Kondition sind, und ob ich Mitbesitzer von »Gumpert & Mühsam« bin, oder ob sie ihr Geld aus der Staatskasse bekommen, und ich nur Direktor der »Textilia« bin mit entsprechend höherem Gehalt, ist doch gleich. Es ändert sich garnichts dadurch. Das worauf es wirklich ankommt, die Werte bleiben alle. Das Geld wird nicht weniger. Die Ware. Die Produktion. Die Rohstoffe. Die Arbeit. Im Gegenteil, es kann nur dadurch mehr werden. Die Ernte kann mal besser und mal schlechter ausfallen, aber sie wird dadurch nicht beeinflußt. Und Kohle und Kali ändern sich dadurch auch nicht in ihrer chemischen Zusammensetzung und ihrer Menge.«
»Also, sind Sie ja Kommunist, Paul Gumpert. Meine Ruth würde gleich du zu Ihnen sagen. Die ist auch Salonkommunistin mit nem Seidenjumper.«
»Nein Meister, ich bin nicht Kommunist, so wenig wie Sie es sind. Ich wünsche, daß es allen gut gehen soll, aber ich glaube nicht an die menschliche Seele mehr. Und das gehört wohl dazu, um Kommunist zu sein, – nichtwahr Herr Landshof? Und Sie sind ja auch kein Literat, der denkt, der Arme wird schon satt davon, wenn er nur zu ihm Bruder sagt. (Das stammt nebenbei vom Gummischweinchen). Und Sie glauben ja auch nicht, wie manche Ihrer Kollegen und Herr Landshof hier, (nicht wahr?), daß der Prolet ein Mensch ist, der nur aus Protest jämmerlich wohnt und zerlumpt herumläuft, und aus Parteiinteresse und zu seinem Vergnügen hungert. Nur die drüben, die so arm sind, daß sie sich es nicht vorstellen können, wie es ist, wenn man reich ist, und die andern, die so reich sind, daß sie es sich nicht vorstellen können, wie es ist, wenn man arm ist, sind in Deutschland heute schon Kommunisten. Oder wie man die Partei gerade nennt. Und wir gehören beide weder zur einen, noch zur andern Gruppe. Und dann müßten wir auch auf eine Menge anderer Dinge beide da verzichten, die wir viel nötiger als das Essen brauchen, und die wir so mit dem Sammelnamen ›persönliche Kultur‹ zusammenfassen wollen. Bei ihnen ist es die Madonna di casa Eisnerio ... (halten Sie sie: Das gibt nochmal viel Geld für das Püppchen!) Und bei mir ist es mein Ghirlandaio und mein Hobbema und alles, was sonst damit zusammenhängt.
»Aber kommen Sie, Meister, wir beide Kommunisten, wir müssen teilen. Sie kriegen die eine Hälfte von dem Rest aus der Flasche hier, und ich die andere.«
Fritz Eisner zögert, will das Glas nicht hinstrecken, will sagen: ›Ich kann nicht mehr. Ich bin das nicht mehr gewohnt.‹ Aber er sagt es doch nicht. Jedermann hat irgendwie Hemmungen, so etwas vor andern Männern auszusprechen, als diskreditierte er sich dadurch in der Wertschätzung seiner Mitmänner. Und außerdem schmeckt das wirklich gut, vor allem zu diesen getrockneten Filmen aus Kartoffelschalen. Und ganz so angedudelt ist er doch garnicht mehr ... wie ihm scheint. Die Umwelt hat schon wieder bedeutend an Klarheit gewonnen. Die gemalte Genealogie der bayerischen Könige an den Wänden, die eine Weile gespenstisch durcheinandergeschwommen war, hat sich durchaus wieder seinem Auge geklärt. Und die leisen Sprachhemmungen sind gewichen, Gedanken und Bilder fließen leicht und fliegen wie von selbst ihm zu. Nur, daß sie sich noch nicht so ganz richtig einordnen.
»Kommen Sie, ich gieße Ihnen ein. Für die andern Kommunisten, wie Landshof, ist noch eine Flasche im Hintergrund« ruft Paul Gumpert und schwenkt die Sektpulle über den Tisch. »Zu weit darf man Kommunismus auch nicht treiben. Nicht wahr, Herr Landshof?«
»Ja, aber wenn Sie die Rätezeit hier miterlebt hätten, teuerer Paul Gumpert, würden Sie nicht mehr mit solchen Leuten auch nur in der Theorie sympathisieren«, meint das Beerdigungsinstitut ernst und in einem ganz verfluchten Ton. Vielleicht kann es sogar Ironie sein, aber so geschärft sind Fritz Eisners Sinne doch noch nicht wieder – trotz der abgeklärten Genealogie – um das herauszufühlen.
»Ach Gott, es wird hier auch nicht viel anders wie bei uns gewesen sein«, ruft der Gastgeber. »Drin im Hotel haben sie getanzt, und oben vom Dach sind die Handgranaten runter aufs Pflaster geklickert. Wenn nicht geschossen wurde, ist man schnell über die Straße gelaufen. Und des Abends haben sie Drahtgitter zugemacht: ›Wer weiter geht, wird erschossen.‹ Niemand hatte ernstlich daran gedacht, irgendjemand 'was tun zu wollen. Jede Woche hat eine andere Gruppe gestreikt, die Reihe durch. Am peinlichsten war es, wie die Elektrischen, die Omnibusse, die Untergrund und der ganze Verkehr streikten. Und dann wie die Kellner im Proteststreik gingen. Nu denken Sie, wenn heute hier die Kellner streiken würden, Landshof! Stellen Sie sich das vor ..., teurer Meister!!«
Man sieht, Paul Gumpert will das Gespräch nicht. Will es in das Lächerliche abbiegen. Bei Politik zanken sich Männer zu leicht und verfeinden sich. Aber Landshof scheint ihn durchaus nicht zu verstehen.
»Ich könnte da anders mitreden«, sagt er. (Wieder in diesem ekligen Ton.)
Aber Fritz Eisner fühlt, daß er plötzlich wütend und traurig zugleich wird. (›Was ist jetzt nur mit der Ruth los?‹ schreit es in ihm. ›Das Mädel stirbt mir doch da draußen!‹) Er springt auf und schlägt wie wild mit der flachen Hand auf den Tisch, irgendwie erregt ihn doch das alles furchtbar, auch nur wieder daran zu denken: ›Er hat es doch miterlebt. Er hat doch die Leute fast alle gekannt, oder Ruth hat sie gekannt. Der ist erschlagen. Den haben sie eingesperrt. Hinter dem sind sie noch heute her. Wofür? Ruth stand ihnen näher, als er, trotzdem sie in dieser ganzen Zeit kaum stundenweise ihr Bett da oben verlassen hat, und von einer Ohnmacht in die andere gefallen ist. Das war doch die blödsinnige Zeit, wo sie ihr endlich das Kind nehmen wollten, diese brutalen Esel von Ärzten. Und dann eben doch nicht den Mut dazu fanden. Durch ihr Zimmer da oben war doch alles gegangen. Mit seinen Sachen hatte sie Leuten weggeholfen, hinter denen man her war, wie der Teufel hinter einer armen Seele. Meinen sie etwa, er säße hier in dem Löschpapieranzug, wenn nicht einer mit seinem besten Rock über die Grenze geschoben worden wäre? Und sein brauner Velvettanzug, den er für's Gebirge hatte, den trug heute irgend ein Knecht in Milbertshofen, der auch auf der Proskriptionsliste stand. Hoffentlich haben sie ihn nicht damit gefaßt, den armen, dummen Hund. Und da stellt sich hier das Beerdigungsinstitut hin und tut, als ob es langsam gespießt worden wäre! Was haben denn die Jungen ihm getan? Ebenso wie vier oder acht Wochen vorher ein Volksstaat ausgerufen wurde ... mit dem gleichen göttlichen Recht ..., haben sie versucht, eine Republik auf sozialistischer Grundlage auszurufen. Und dann, wie sie erkannten, es ging nicht ... die Menge, auf die sie sich stützen wollten, war nicht da ... und sie es anboten, zu verhandeln, abzudanken, wegzugehen, hat man sie wie tolle Hunde totgeschlagen. ›Ich komme zurück, war zehn Tage fort, mit dem ersten Zug komme ich zurück, der wieder nach München reingeht; ein Feldlager vor dem Haus. Oben mein Zimmer voll von Soldaten. Ruth liegt in ihrem Empirebett, hat Besuch: Zwei Offiziere vernehmen sie. Das müsse ein Irrtum sein, sie hätte weder etwas gehört noch etwas gesehen. Kenne die Namen garnicht, nach denen man sie frage. Hätte seit einer Woche hier wieder gelegen. Die Wirtin wird es bestätigen, der Arzt, und die andern aus der Pension. Ja, aber ihre Angaben ... die Leute wären hier im Haus gesehen worden ...‹
›Nein, hier wären sie weder jetzt, noch wären sie je hier gewesen!!‹ Und die Mannschaften klotzen aus dem Zimmer. Die Offiziere legen die Hand an den Mützenrand, wollen die Kranke nicht weiter stören und gehen.
Ruth atmet auf, legt sich wieder in die Kissen zurück. ›Die Armeerevolver müssen aber da weg aus dem Kohlenkasten unten am Schrank. Sie liegen unter dem Koks. Und die beiden Uniformen im Schrank auch. Und dann, wo sollen wir denn mit all den Papieren hin? Die muß ein anderer jetzt kriegen. Hier bei mir sind sie doch wirklich nicht mehr sicher.‹
›Ich glaube, einer muß zuerst hier weg, und das bist du, Nuckelino. Heute Nachmittag fahren wir in ein Sanatorium. Die Revolver soll ein anderer in den Kleinhesseloher See am Abend werfen, da liegt gewiß schon heute ein ganzes Waffenlager. Und die Uniformen kann man zum Trödler tragen. Die Papiere wird irgendwer zu treuen Händen nehmen. Aber du mußt weg hier, und zwar in einer halben Stunde. Die Aussicht in der Ettstraße ist viel häßlicher als die in Ebenhausen.‹
Ich weiß doch, wie es draußen zugegangen ist: Selbst im Krieg hat's doch so etwas wie Kriegsgesetze gegeben. Hier nicht.
»Auf welchem Papier steht es denn geschrieben, daß der Staat das Recht hat, sich über jede Moral hinwegzusetzen, die er von seinen Individuen fordert, und als selbstverständlich voraussetzt. Aber ich weiß auch, daß schon der blinde Heide Marc Aurel darüber anders dachte, als er schrieb: Was der Biene nicht zuträglich ist, ist auch dem Bienenstaat nicht zuträglich.«
Wirklich, der Kerl, das Beerdigungsinstitut! ebensogut kann man in eine Wand hineinreden! Jetzt schnäuzt er sich noch vernehmlich.
»Ach Gott«, sagt er und dabei sieht er zu dem Marinier hinüber. Er hat überhaupt so einen ekligen Ton, der Bursche. »Warum eigentlich so aggressiv, Meister?« (›Jetzt sagt das Beerdigungsinstitut auch schon: Meister!‹) »Also, reden wir von etwas anderem. Bei diesem Thema werden wir nie zusammenkommen. Außerdem waren es doch nur: Literaten und Proleten.«
›Warum blinzelt denn einem dieser Mensch bei dieser Unverschämtheit noch so freundlich mit dem einen Auge zu, als ob er mit einem Brüderschaft trinken wollte? Da stimmt doch was nicht?‹
Also, Fritz Eisner ist wahrhaftig immer noch ziemlich betrunken.
Der Marinier, der vor kurzem hereingekommen, hat sich neben Joli gesetzt und nippt kennerhaft und leise an dem Sektglas, das man ihm herübergestellt hat. Er ist weder müde noch überlaut; im Gegenteil sehr dezent und manierlich. Beinahe gedrückt erscheint er, er, ein einfacher Journalist, in so illustrer Gesellschaft. Er ist jedenfalls noch viel nüchterner als Fritz Eisner, nüchterner als alle hier. Denn selbst die kleine Schauspielerin in der Rupfenbluse à la Tolstoi, die erst nur demütig zu ihrem Gotte hinaufgewispert hatte, entdeckt jetzt ihre romantische Seele, springt, wie ein Kätzchen nach einem Wollknäuel, unvermutet in die Mitte des Zimmers und beginnt das Hexenlied von Wildenbruch zu deklamieren, wird aber niedergeschrien. Auch Ottgebe wird abgelehnt.
»Warum wollen Sie eigentlich Journalist werden?« ruft Fritz Eisner dem Marinier zu. »Ich würd's nicht tun. Ich kenne den Betrieb.« Fritz Eisner muß sich unbedingt an jemand reiben.
»Ich will es nicht werden, ich bin es«, sagt der Marinier sehr devot und lächelt durch sein Einglas.
»Wozu soll man Journalist sein?! Lassen Sie das andern. Studieren Sie Schiffsbau. Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, würde ich Schiffe bauen. Da haben Sie Zukunft. Wir müssen eine Million Tons wieder nachbauen, die wir versenkt haben. Ein Journalist ist doch nur der Verkäufer in einem geistigen Warenhaus. Man kann alles von ihm kaufen, aber die Ware ist selten erster Klasse. Und glauben Sie doch nicht, daß Sie in irgend einer Zeitung heute das sagen können, was Sie denken und schreiben müßten?!«
Aber der Marinier bleibt sehr gelassen. »Warum so aggressiv, Meister?« sagt er und lächelt noch ferner und überlegener. »Warum sollen wir es denn bei meiner Presse besser haben, als Sie? Was wollen Sie denn: bei Euch ist es doch genau das gleiche: – das Wichtigste darf in einer bürgerlichen Zeitung ja doch nicht drin stehen, weil es den lesenden Bürger erschrecken würde, ihm Appetit, Schlaf und Behaglichkeit rauben könnte. Er ist kein schlechter Mensch, dieser Bürger ... so wenig wie wir alle das sind, aber er will nicht gestört werden. ›Jan schmeiß ehm raus‹.« (Wirklich, für einen Christen trifft er sehr gut den Ton, übertreibt nicht mal, wie die das sonst tun). »›Setz'n an de Luft. Er brecht mer das Herz!‹ Und Jean, der Redakteur, schmeißt ihn schon vorher raus, läßt ihn erst garnicht zur Tür herein. Dafür ist er angestellt. Bei Euch wird der rausgeworfen. Bei den Sozis werdet Ihr rausgeworfen. Und bei uns in der Presse werdet Ihr alle beide rausgeworfen. Das ist der ganze Unterschied.«
Das war eigentlich ein geistiger Salto vom Sozialen zum Parteipolitischen. Aber Fritz Eisner bemerkt so etwas jetzt nicht ...
Außerdem, was streitet er sich denn mit diesen Leuten hier herum?!
Selbst Wilhelm Klein hatte aufgehört, griechisch zu deklamieren und stiert eine ganze Zeit schon vor sich hin auf das Tischtuch und ist durch nichts zur Rede zu bringen. Und dabei hätte Fritz Eisner doch zu gern von ihm gehört, wie weit seine Verhandlungen mit Bayern wegen der Schulreform nun schon gediehen sind. Denn man mochte gegen Bayern sagen, was man wollte, – sie wären der Übergang vom Oesterreicher zum Menschen – (das kursierte in allerhand Variationen gerade) sie taten doch zum Schluß alles für das Volk und nichts gegen das Volk, wie das im Norden üblich war. Die Schichten kämpften hier nicht so unversöhnlich gegeneinander wie in Preußen. Man war viel reaktionärer und doch viel fortschrittlicher mit seinen Tausenden gegen Millionen.
Alles gehörte doch eigentlich hier zusammen. Es war von je eine Bauernrepublik. Und selbst der ärmste Luki aus Haidhausen und die armseligste Schnalle waren doch nicht ganz so trostlos, wie das Proletariat des Nordens, weil sie eben doch nicht derart wie Tiere in Käfigen lebten, sondern immer etwas von der frischen Luft vom Gebirge her, vom Nadelgeruch der Fichtenwälder und von dem klaren Wind der Hochebene um sie war, und sie das Leben leichter ertragen ließ. Und weil sie sich nicht ausgestoßen fühlten. Selbst der Herr Amtsrichter Huber sprach in der Verhandlung mit ihnen genau wie sie selber sprachen. Wenn irgendwo, war für so etwas hier Hoffnung.
Aber aus Wilhelm Klein war nichts herauszubringen. Er war wortkarg, konnte oder wollte nicht antworten, starrte vor sich hin und suchte plötzlich aus seinen Taschen einen Notizblock hervor, deckt sich die Hand über die Brillengläser, überlegt einen Augenblick, und kritzelt dann ganz schnell etwas da hinein und reißt das Blättchen aus, schiebt's in die Tasche. Und dann beginnt er in ernster Rede, sehr gebildet, zu Fritz Eisner, betont das Thema wechselnd, über Dürer und den Colmarer Altar des »Meister Mathias« zu sprechen (so ungefähr, als ob er in der Werkstatt Grünewalds die Farben gerieben hätte) als die beiden Gegenpole der deutschen Seele. Fritz Eisner sollte ja nicht versäumen, sich den Altar, der jetzt in der Pinakothek ausgestellt sei, eingehend zu betrachten und dann wieder zu Dürers Aposteln im ersten deutschen Saal zurückzukehren, um sich selbst den Unterschied zu vergegenwärtigen.
»Ja, ja«, sagt Fritz Eisner, »ich habe schon davon gehört.« Und das einzige, was er dabei feststellt ist, daß dieser brave Wilhelm Klein ein blinder Hesse in artibus ist, und doch nur eben ein deutscher Schulmeister, der überhaupt keine Beziehungen weder zur Malerei noch zu irgend einer bildenden Kunst hat. Wo soll er sie auch her haben? Beim Vater Rektor der hundertachtzehnten Gemeindeschule in der Steinmetzstraße gab's so etwas wie Kunst noch nicht.
›Aber was tu ich überhaupt noch hier? Wenn ich jetzt gehe, bekomme ich sicher noch eine Straßenbahn nach Nymphenburg heraus. Nein, nein, die letzte ist schon vor Stunden weg; doch draußen werden sicher gleich Autos stehen. Vor solchen Lokalen ist immer eine ganze Kette von Autodroschken. Das gehört zu ihnen. Man soll das Eisen schmieden, solange es warm ist. In einer halben Stunde zu Fuß verfliegen Alkohol und Musik, und die Illusion und die Schminke plastern ab.
Fritz Eisner springt auf. »Entschuldigen Sie mich, lieber Gumpert. Ich danke Ihnen vielmals für den netten Abend, den ersten seit vielen Monaten. Ich habe daran gesehen, daß das Leben, auch wenn man nicht daran teilnimmt, doch immer noch weiter geht. Sehe ich Sie noch? Ich will Fräulein Joli noch gute Nacht sagen. Aber ich muß jetzt gehen. Ich habe noch einen Weg.«
»Aber Eisner«, ruft Paul Gumpert, »nein, davon kann keine Rede sein. Es gibt doch gleich Mokka, und den brauchen Sie so gut wie wir alle. Kommen Sie, nehmen Sie noch ne kleine Upmann hier, und dann bringe ich Sie natürlich mit meinem Wagen nach Haus. Das gehört zum Couvert. In zehn Minuten ist er da. Nein, wenn Sie jetzt gehen wollen, haben Sie die Rechnung ohne Wirt gemacht. Wo wollen Sie denn jetzt hin? Das ist doch sehr verdächtig! Daß mir nur keine Klagen einlaufen!!«
»Herrgott, warum machen Sie plötzlich so traurige Hundeaugen, Meister?« ruft Joli und steht hastig auf. Unterbricht ihre Verhandlung mit dem Manne der zweiten Gruppe. (Denn sie möchte doch zu gern zu irgend einem Resultat noch heute kommen mit ihm, aber er ist so schwer zu fassen, weicht immer aus. Der Bankier Landshof, und der andere, sein Kompagnon, der Speyer, sind nebenbei beide am Theater beteiligt. Das hat sie schon rausgebracht. Landshof will, daß man Parteiprogaganda treibt, im russischen Sinne. Und der Speyer hat eine Freundin da, die Ester Schillings. Früher schenkte man seiner Freundin einen Chinchillamantel, eine Perlenkette und ein Auto. Heute kauft man sie in einem Theater ein, damit sie da spielen kann. Das kostet noch mehr. Es ist doch überall das gleiche jetzt. Und dabei hat die Ester Schillings noch gar keine Rolle gehabt und soll ganz talentlos sein ... Und ihren Flirt mit dem Marinier unterbricht sie, schüttelt ihn wie mit einer Bewegung von sich ab. Und dabei ist er so ein netter, frischer, unkomplizierter und hübscher Junge, und morgen früh um neun geht's ja doch so wie so mit Paulemann wieder zurück. Da ist man doch seiner ganz sicher. Und doch schüttelt sie ihn in der Sekunde von sich ab, hat von Sekunde zu Sekunde keinerlei Verbindung mehr mit ihm. »Meister«, ruft Joli ganz ängstlich, »warum denn nur mit einemmal die Hundeaugen?«
»Was wissen Sie denn, hübsches Fräulein, wie ich dieses Jahr hier gelebt habe, und was ich durchlebt habe?!« schreit Fritz Eisner und schlägt wieder mit der Hand auf den Tisch. (›Um Himmelswillen, hier nur keine Scene: ich hätte weniger trinken sollen.‹)
»Jeder Dichter ist Orpheus. Er macht zwar nicht die Steine tanzen, aber er wird in Stücke gerissen. Die Menschen, der Staat, sind meist sehr rücksichtsvoll nämlich gegen die, die in das Leben hinein wollen, und sehr rücksichtslos gegen die, die schon auf der Welt sind. Für die, die auf die Welt wollen, sorgen sie väterlich, daß ihnen ja nichts Böses geschieht, und sie etwa vom Weg kommen. Und die andern opfern sie im Krieg und im Frieden kaltschnäutzig hekatombenweise auf. Es wäre besser, sie wären rücksichtslos gegen die, die auf die Welt wollen, ob man ihnen auch einen Passierschein geben kann und will, und rücksichtsvoll gegen die, die schon da sind ... Ich will nicht darüber reden ... und zerren einen da nicht so lange hin, bis es zu spät ist. Passen Sie auf, das Mädchen geht mir kaputt dran! Erst haben wir gedacht, wir können warten, weil wir von Woche zu Woche noch glaubten, wir könnten heiraten ... das Gummischweinchen war doch dagegen, war doch gegen das und meinte, es wäre für den Arzt besser und einfacher, er leitet die Unterbrechung dann ... ein ... also, wozu erzähle ich Ihnen das?! ... Aber wenn Sie einen Krankenpfleger brauchen, kommen Sie zu mir. Ich bin sechsundneunzig Stunden hintereinander nicht aus den Kleidern und nicht aus dem Zimmer gekommen ... kein Arzt kann besser Pantopon-Spritzen geben. Aber wozu erzähle ich Ihnen das? Berichte haben sie eingefordert von früheren Ärzten und Spezialisten für alles zugezogen, was es gab, und wie sie dann an ihre Nierenbeckenreizung, die nach Paragraph hundertelftausendfünfhundertdreizehn Absatz drei b ihnen kein Recht auf Indikation gab, selbst nicht mehr glaubten, und sie endlich aufgegeben haben, da wärs dann erst recht auf Leben und Tod gegangen. Wer maßt sich denn das an, in dieser Weise mit Menschenleben zu spielen, und einen blühenden und schönen Kerl, wie Ruth doch war vordem, mit Paragraphen zu guillotinieren?! Sie kennen sie ja nicht, aber Paul Gumpert kennt sie. Jetzt liegt sie mir wieder da draußen in so einer gynäkologischen Klinik rum, soll morgen untersucht werden, weil man der Sache immer noch nicht traut. Sie sagen, wie kommt das Mädchen dazu? Es haben doch schon mal Frauen Kinder bekommen. Wir sind ja alle auf die gleiche Weise in das Leben hineingeplumpst, wie man in einen Mühlbach fällt. Und das ist heute alles so gut durchgekitzelt in der Geburtshilfe, daß man leichter an einem Eisenbahnunglück sterben kann in Deutschland, als an einer Geburt. Sie wird nicht daran sterben, ich weiß es. Aber sie ist doch solche Art Bluter, war als Kind schon Jahre ungeklärt krank, und das wird doch immer schlimmer jetzt. Wenn sie eine Spritze bekommt wegen der Schmerzen, oder weil sie mal wieder eine Ohnmacht kriegt, dann gibt's gleich solche großen blutunterlaufenen Flecken, die Wochen brauchen, bis sie sich richtig aufsaugen. Aber wozu erzähle ich Ihnen das alles hier? Sie können mir ja doch nicht helfen. Und ich kann mir nicht helfen. Ich kann doch nicht gegen die Mediziner und gegen die Juristen und gegen alle die Idioten, die solche dummen Gesetze machen, Maschinengewehre auffahren und sie zusammen knallen lassen. Und was wäre dann? Das würde mir auch nicht die Angst vom Herzen nehmen. Haben Sie schon einmal gesehen, daß man einen Selbstmordversuch bestraft, weil er den Staat um ein Leben berauben wollte? Warum gibt's denn hier für jeden, der den Weg gehen will, hunderttausend Fußangeln und Selbstschüsse noch in einem Land, das seit Jahren nichts weiter tut, als sich den Schmachtriemen enger ziehen? Warum ...?!«
»Alter Freund«, ruft Paul Gumpert dazwischen und drückt lachend Fritz Eisner wieder auf seinen Stuhl zurück. »Wozu regen Sie sich auf? Sie sollen sich freuen, freuen, daß solchen alten Kerl, wie Sie sind, und wie ich bin ..., ich rede pro domo ... solch junges Ding noch so gern hat, daß sie einfach mit ihnen mitgezogen ist. Scheidungen gehen nie, wie man will ... Wem sagen Sie das?! Kommen Sie, wir gießen noch mal ein, alle, bevor der Mokka kommt. Der zukünftige Herr Sohn: Hoch, hoch und noch einmal hoch!!!«
Wilhelm Klein umarmt Fritz Eisner fast. Er ist jetzt ganz dithyrambisch. Und alle brüllen so, daß Fritz Eisner die Ohren klingen. Landshof stößt einmal über das andere mit ihm an: »Auf deine und unsere Zukunft, Genosse.« Jetzt duzt der Kerl einen wirklich noch: dieses Begräbnisinstitut!
»Wenn er von Ihnen ... natürlich potenziert ... die Begabung bekommt, und von Ihrer jungen Frau (es kommt ja garnicht darauf an, ob Sie nun den Standesbeamten in Funktion gesetzt haben) es ist Ihre junge Frau! die Schönheit, so wird er Goethe und Lord Byron mal beschämen ... natürlich, darf es nicht umgekehrt sein.«
Alles schreit vor Lachen. Joli fällt Paul Gumpert um den Hals, küßt ihn vor versammelter Mannschaft. »Dummer Paulemann«, ruft sie, »du brauchst nicht eifersüchtig zu sein; die andern sind hübscher als du. Die andern sind jünger als du. Und haben viel mehr Haare als du auf 'n Kopp. Sie sind frecher als du. Aber sie sind endlich doch alle nur geselchte Affen in Essig und Öl gegen dich.«
Fritz Eisner will sagen: Zum Donnerwetter, man soll ihn doch weglassen. Es ist ja reizend von Euch, aber ich will wissen, was mit Ruth jetzt ist ...! doch da kommt auch schon der Mokka. (Paul Gumpert flüstert der Siegellackstange etwas zu, und die hastet wieder davon). Und vielleicht ist es wirklich nichts. Er redet sich das alles doch nur ein. Die Ärzte haben doch auch ihre Erfahrungen. Sie werden so etwas nicht das erste mal gesehen haben. Und sie werden wissen, daß sich das alles wieder gibt, wenn der Junge erst mal da ist. Manchen Frauen geht es ja die ganze Zeit schlecht, und die Entbindung ist ganz leicht dann. Und nachher blühen sie erst auf. Und andere wieder haben's dann nachher schwer. Der Mann hat doch einen Namen und hat Erfahrung ... Was man so sagt: in besten Händen ist sie da!
»Wilhelm Klein, Sie wissen doch so etwas alles: Wie haben die Griechen der perikleischen Epoche ohne Mokka und Importen auskommen können, und wie und wo in ihrer Kultur macht sich dieser Mangel bemerkbar?« sagt Fritz Eisner und lacht das Beste weg.
»Fräulein Ruth Block geht es nebenbei sehr ordentlich«, ruft Paul Gumpert plötzlich herüber. »Es geht alles ganz glatt. Ich habe nebenbei anrufen lassen. Wozu beunruhigen Sie sich, Meister? Es liegt nicht der allergeringste Grund dazu vor.«
Wenn Fritz Eisner nicht so viel getrunken hätte, so hätte er vielleicht an dieser Auskunft allerhand merkwürdig gefunden (Was geht glatt?) und er hätte sicherlich auch gefragt: ›Woher wußten Sie denn eigentlich wo sie ist?‹ Aber da die Hemmungen in ihm abhanden gekommen waren, so bestanden für ihn nur Tatsachen. Auch ohne Begründung. So unglücklich, wie Fritz Eisner eben noch gewesen ist, so ruhig und so glücklich ist er jetzt.
Landshof sagt der Siegellackstange: »Schau mal nach, Toni, ob mein Wagen schon draußen ist.« (Man sollte auch ein Beerdigungsinstitut haben! denkt Frita Eisner).
Der Theatermann hat sich nun neben Paul Gumpert gesetzt, der schiefen Kopfs und gesenkten Hauptes ihm freundlich und bescheiden zuhört, wie der andere ihm sein zukünftiges Kunstwollen und Wirken an seiner zu gründenden dramatischen Versuchsanstalt auseinandersetzt, dem ›man‹ Opfer bringen müsse, und die nichts mit jener Prostitution der Schaubühne zu tun habe, die dem Publikum nur schmeichle, um es zu berauben und Gewinne zu erzielen. Wen er sich aber unter dem »man« vorstellt, verschweigt er. Paul Gumpert ist als Großkaufmann gewöhnt, sich die fantastischsten Projekte anderer Leute in Ruhe anzuhören und seine Ansicht sich nicht anmerken zu lassen, auch wenn der Mann keinen sehr guten Eindruck auf ihn macht. Das ist Sache der Technik. Das lernt man.
Der Marinier hat jetzt den weiblichen Nachlaß des Mannes der zweiten Gruppe übernommen und erzählt vom chinesischen Theater, in dem diese Kerle den ganzen Tag wie die Katzen mauzen, und homosexuelle Männer Frauenrollen spielen und solche Händchen hätten. Einmal wär's janz nett zu sehen. Die Bühne steht wohl da auf einer sehr niedrigen Stufe noch. Er glaube überhaupt nicht an die Republik China. Unter europäischer Führung hätte es was werden können. Unsere Kolonien drüben wären musterhaft gewesen, und die gelben Jungens hätten schon wirklich besser exerzieren können, wie die pommerschen Grenadiere.
Und dann geht man. Nur wirklich reiche Leute verstehen in solchen Lokalen Rechnungen so zu bezahlen, daß man es nicht merkt. Andere können ihr Staunen nicht verbergen. Aber bei wirklich reichen Leuten sind sie eben plötzlich bezahlt. »Was bin ich Ihnen schuldig eigentlich?« fragt man. »Das nächste mal«, und dann sind sie hops bei einem andern Thema: »Ich lese jetzt nur noch Kriminalromane, das entspannt wie Schachspielen und strengt den Kopf nicht so an«, meint Paul Gumpert. »Das Zeug von heute finde ich gräßlich: schlecht-geschriebene anständige Gesinnung ist noch lange keine Literatur. Aber, wenn ich mal Ruhe habe, setz ich mich mit Joli wohin an die See, vierzehn Tage lang, ganz abseits, und dann hole ich alles nach was ich in den letzten Jahren nicht gelesen habe. Dann werde ich von morgens bis abends nichts weiter tun, als lesen.«
»Und was wirst du von abends bis morgens machen, Paulemann?«
»Das geht dich einen Dreck an, Joli –: ... Ich nehme an, auch lesen. Auch Ihre jüngsten Kinder, Eisner, will ich dann kennen lernen. Sie sind doch wirklich der produktivste Schriftsteller.« (Das war nun eine Gemeinheit!) »Aber kommen Sie, Grumke will auch mal ins Bett.«
Joli reißt sich ein paar Alpenrosen aus der Vase und steckt sie sich an. Ob das Zweiglein mit den ledrigen Blättern und den rostroten Blüten nun frisch bleiben wird, bis sie morgen in später Nacht wieder in Berlin sein wird?
Die bayerische Genealogie an den Wänden atmet hörbar auf, wie sie alle draußen sind. Das Lokal vorn ist schon ganz leer, denn die Polizeistunde ist selbst für dieses Lokal, das es darin besser hat, als alle anderen, schon vorüber. An der Bar ist ein letzter Gast auf seinem hohen Reitstuhl eingeschlafen, und ein Mädchen hat sich auf die Theke gesetzt und seinen Kopf in den Schoß genommen und fingert: ihm in den braunen Haaren seines Genicks herum. Will nicht aufstehen, und beschimpft den Mixer, der sie dazu grob-freundlich bestimmen will.
In dem Tanzraum, dessen Tanzplatte schon gekehrt wird, walzen ohne Musik engumschlungen zwei Mädchen, die keinen Anschluß fanden, dem Hausdiener mit der grünen Schürze vor dem flirrenden Besen herum, der sie freundlich blinzelnd als ›spinneta Luders‹ bezeichnet. Er lebt von solchen beaux restes.
Die Siegellackstange schleppt mit übermüdeten umrandeten Kinderaugen Garderobenstücke, Hüte, Mäntel und Stöcke heran, denn die Garderobenfrauen sind schon heimgegangen. Es wird sowieso immer schon früh, bis sie nach dem Gries da herauskommen bei der alten Herberge und nach der Aue, wo sie den Tag verschlafen. Man drückt dem Jungen Metallstücke und Scheine in die Hand. Wenn der Abend billig war, ist man in so etwas großzügig; und außerdem ist es ein reizender Bengel.
Wilhelm Klein gibt ihm das Geldstück sogar eingewickelt und beide lächeln sich wieder an. Merkwürdig, was doch so ein Menschenbildner für eine geheime Macht über junge Seelen hat, denkt Fritz Eisner.
Und dann geht es zur Drehtür, die kein russischer Großfürst mehr bewacht, hinaus in den eben aufkeimenden Morgen hinein, der zwar keineswegs die Laternen schon überflüssig macht, aber den Himmel hinten über den Dächern weiß werden läßt.
Wilhelm Klein geht zuerst. Hat den Hut nach allen Seiten geschwenkt, schwenkt den Stock und tappt davon mit richtigen Philologenschritten, die sind zehn Zentimeter länger und steiler als die anderer Leute. Dann kommt der Mann der zweiten Gruppe mit der Schauspielerin in der Tolstoibluse, verabschieden sich, hängen sich ein, ziehen davon. Die Würde und Höhe, die die Vertraulichkeit ausschließt – nach dem Dichterwort – ist jetzt ganz von ihm abgefallen. Als letzter jedoch kommt der Marinier nachgeschlendert. Doch, wie sich Fritz Eisner umsieht, hat er die Siegellackstange, die sich sträubt, um das Handgelenk gefaßt und dreht dem Jungen mit einem Polizeigriff den Arm nach hinten: »Lausebengel, jibste den Zettel mal gleich her?!« Und dann hat er ihn und schiebt ihn schnell in die Westentasche. Und dann streicht er den Jungen, als ob er ihn liebkoste schnell über den Kopf, klopft ihm die Apfelbacken und gibt ihm einen Geldschein, der die Augen des Boys strahlen macht, so nobel war keiner von der ganzen Gesellschaft! Und außerdem, was konnte der Mann mit dem Zettel überhaupt anfangen? Er hatte sich ja doch schon gemerkt, was drauf stand.
Dieses Begräbnisinstitut hat aber einen richtigen Gesandtschaftswagen, der schönste, den ich bisher in München überhaupt gesehen habe. Solch Geschäft muß ja doch eine Goldgrube sein. Und der Mitteilhaber für die Außenkundschaft, Herr Speyer, hat einen kaum geringeren. Sicher haben die das für das ganze Land organisiert, das Bestattungswesen. Vielleicht haben sie auch eine Sarg-en-gros-Firma, denkt Fritz Eisner.
»Hören Sie«, ruft Paul Gumpert. »Sie wollten mir doch noch Tips geben, Landshof. Aber nur solche, an denen man nicht mehr verliert, als absolut unumgänglich ist ... lassen Sie, ich behalt's ja doch nicht. Wissen Se was ... nehmen Se mich einfach mit bei paar Sachen, die Sie selbst machen, und belasten Sie mich dann privat dafür. Was Sie machen, da kann ich auch mit reingehen.«
»Also, schön«, ruft Landshof, der schon am Schlag steht. »Ich will dran denken. Herzlichen Dank noch. Ich habe mich lange nicht so amüsiert wie heute Abend ... Gute Nacht, Meister!« (Das klingt verdächtig.)
Und dann klappt der Chauffeur den Schlag zu. Das hallt wie ein kurzer Schuß durch die Morgenstille. Eine gute Tür muß eben so einschnappen an einem guten Wagen.
»Hat denn der Landshof kein Beerdigungsinstitut?« meint Fritz Eisner reichlich bedäppert.
»Haben Sie denn das wirklich geglaubt, Mann?! Das ist doch der Mitinhaber von Landshof und Speyer, das größte und älteste Privatbankhaus von ganz Südbayern.«
Fritz Eisner sagt nur das, was man immer sagt in solchen Fällen, wenn man aufgesessen ist. »Naja, das kam mir auch gleich so komisch vor.«
»Ach Gott«, meint Paul Gumpert, »wissen Sie, aber viel mehr Spaß hat es mir eigentlich doch gemacht, wie Sie ihn durchaus belehren mußten.« Paul Gumpert bringt seinen Mund ganz nahe an das Ohr von Fritz Eisner. »Landshof – aber das unter uns: – ist doch der Hauptgeldgeber der Linken hier, der die ganze Sache in Südbayern finanziert. Ein unheimlich geschickter Bursche und grundanständig dabei. Er hat nur eben mal den Fimmel. Wir sammeln dafür Primitive.«
Und dann kommt der Marinier sich verabschieden, küßt Joli die Hand, ist allen gegenüber von einer fast demütigen Liebenswürdigkeit, die Paul Gumpert verstimmt. »Sei nicht eifersüchtig, Paulemann«, sagt Joli. »Du weißt ja, mein Junge; ich habe dir nie Treue geschworen, ich werde sie dir nur halten. Das ist ja unser Unglück.«
»Also, was ist mit deinem sonderbaren Nietzscheheiligen, Joli? Er hat mir auch sein Programm vorgebetet. Es hatte immer wieder nur den einen Refrain: ›Tu Geld in meinen Beutel‹!«
Joli schüttelt den schönen, dunkeläugigen Kopf. »Nee, Paulemann, dann bleibe ich lieber in Berlin. Ich werde schon weiterkommen. Das macht die älteste Tochter von meinem Vater aber nicht mit, Paulemann, dafür komme ich aus einem zu guten Stall. Ich kaufe mir keine Rollen von deinem Vermögen, Liebling. Das überlasse ich neidlos andern. Und außerdem, der Mann ist ja doch nicht mehr als eine gebildete Null.«
Und dann zieht der Wagen an und gleitet davon, läßt den Widerhall von den Hauswänden zurückwerfen.
›Es fährt sich doch sehr angenehm in solcher weichen Umarmung der Polster. Viel angenehmer, als wenn ich jetzt mit brummendem Kopf, als ob er mir langsam auseinandergeschraubt wird, und dabei bin ich doch ganz klar und überwach ... durch die sich entdunkelnde Straßenleere nach Hause laufen müßte: Reichtum macht nicht glücklich, ist nur bequemer.‹
»Also, was ist bei Ihnen jetzt zu Hause, Eisner? Wie steht's mit der Scheidung? Das müßte doch jetzt wirklich endlich mal zustande kommen? Woran liegt's denn noch? Was macht Annchen? Ich weiß nicht, sie schreibt mir immer so merkwürdige Briefe. Wenn ich ein Psychi ... also, lassen wir das! Aber ich höre von andern das gleiche. Lu sagt es mir auch und Doktor Spanier. Es sind immer Dinge drin, die nicht gehauen und nicht gestochen sind. Und vor allem, die mich nicht das geringste angehen. Das sind doch Privatsachen.«
Vielleicht war es ungeschickt von Paul Gumpert das zu fragen. Eigentlich wußte er doch, wie es stand damit. »Was soll ich denn machen? Ich tu doch, was in meiner Macht liegt«, bricht Fritz Eisner aus. »Es liegt doch nicht an mir, wenn sie alles erst zugegeben haben, und dann nie etwas tun. Die Ehe war ja eigentlich nicht schlecht. Das war mehr. Ich weiß auch, wenn sich Zwei ein ganzes Leben lang zanken, so ist es ebensogut, wie vertragen. Ich weiß auch, es gibt auf gegenseitige Hysterie gegründete Ehen. Aber das war's ja auch nicht. Ich will nicht davon reden. Gewiß, ich bin auch schwierig. Wer ist das nicht? Wenn ich wie Ihr wäre, hättet Ihr meine Bücher geschrieben und nicht ich. Ich weiß das alles. Aber das ist doch noch lange kein Grund, deshalb alles zu verschleppen und zu verschlampen ... Destruktionspolitik ... Zermürbungstechnik ... die Frau hat mich doch mit den Kindern in der Hand. Das weiß sie genau. Ich kann sie doch nicht zwingen. Erst hieß es, sechs Wochen, dann ist alles erledigt. Dann wurde wenigstens noch mit den Anwälten verhandelt. Aber nun hat auch das aufgehört. Hinziehen, hinziehen. Nie ja und nie nein sagen. Nie die Klage einreichen. Was dabei kaputt geht ist gleich, ob der Mann, ob die Kinder, ob das andere Wesen da, das sich mir anvertraut hat. Ich kann sie doch nicht zwingen. Ich kann ihnen doch nicht den Brotkorb höher hängen. Sie sehen ja meinen guten Willen. Ich gebe, was ich geben kann, und was ich gebe, ist zu wenig. Wo es hinkommt, weiß ich nicht. Nie ist etwas für die Kinder da. Wenn ich für eine Kohlenrechnung dreimal das Geld hingelegt habe, wird sie mir sicher das vierte mal unbezahlt ins Haus geschickt. Alles ist systematisch – um zu beweisen, es geht nicht – auf destructio und Verwirrung gestellt. Sie laufen mit geplatzten Schuhen herum für das gleiche Geld, für das andere in Autos fahren. Ich würde ja alles hinnehmen, wenn die Kinder nicht wären. Was ist das für eine wahnsinnige Rechtsprechung, die bei einem Geschäft, in einem Zivilprozeß, wie es eine Scheidung doch ist, einer ganz materiellen Sache, dem, der es anfechten will, nicht gestattet, es anzufechten. Auch wenn er schreit: ›Ich bekenne mich schuldig‹ und ich werde alles tun, was man von mir verlangt! Ach Gott, es hat ja kein Mensch die Ahnung, wie es eigentlich da zu Hause aussieht. Nicht einen Tag, sondern Tag für Tag, die Jahre vorher und all die Monate jetzt schon, diese ewigen Heulszenen und dieses stundenlange Diskutieren vor und mit den Kindern, die in Schach gehalten werden mit Selbstmorddrohungen, die so wenig ausgeführt werden, wie ich mich vom Eiffelturm jetzt stürze. Was soll aus den armen Dingern denn werden, wenn man sie jetzt schon so hin und her zerrt. Das Leben wird es ja nachher noch genug tun. Oder nicht?! Jetzt markiert sie mal gerade wieder die Gesunde. Ich bin eben da gewesen in meinem Haus, und ich bekomme einen Herzkrampf, wenn ich nur daran denke. Ich will mich gewiß den Kindern nicht entfremden. Sie sollen einen Monat im Jahr bei mir sein. Ich gehe ja aus meinem Haus raus, lasse ihnen meine ganzen Sachen da. Ich gebe ihnen so viel, wie sie immer hatten. Sie sollen nicht anders leben, nicht deklassiert werden, dazu hänge ich ja selbst viel zu sehr an ihnen. Ich werde mir doch nicht meine eigenen Finger abhacken. Aber man tut, als ob ich unanständiger an ihnen handeln will, wie ein Straßenräuber. Morgen wird sie wieder die Totkranke spielen. Ich versichere Sie, sie wird Ruth und die Kinder und mich überleben.
Mir ist es ja gleich. Aber ich kann doch nicht einen Menschen daraufhin aus seiner Umgebung herausreißen, daß sie meine Frau wird. Und dann einfach sitzen lassen: Bedauere, es geht nicht. Die Dinge sind stärker als ich. Ich bin doch kein Schuster aus der Mulakstraße, der eben nu mit de andere zusammenlebt, wo von ihm des Kind hat! Mir wär's gleich, aber endlich komme ich doch nicht aus dem Pantinenkeller. Und Ruth Block noch weniger.
Sie kannten doch Annchen von früher. Warum muß all das Nette, das sie doch unleugbar mal hatte, so kaputt gehen an einem Menschen? Schön, soll sie gegen mich haben, was sie will heute. Ich verstehe es. Aber sie soll wenigstens vor ihren Kindern Halt machen, statt sie als Erpressung gegen mich zu benutzen. Ganz gleich, ob sie dabei zerbrechen oder nicht. Endlich sind es doch auch ihre Kinder!«
»Merkwürdig, wenn die Frauen alt werden«, sagt Joli, »fangen sie mit den Männern an zu pöbeln; solange haben sie es wohl nicht nötig. Ich begreif das nicht: die Frau hat doch nun die Kinder. Das sollte ihr doch genügen. Wie kann sie nur jemand, der von ihr fort will, halten wollen. Ich glaube, das ist bezeichnend für die Frauen der vorigen Generation, die noch keinen Beruf und dadurch noch keine Selbstsicherheit hatten. Wir werden das mal nicht tun. Aber wir werden auch nicht bei einem Mann bleiben, wenn wir von ihm fortgehen wollen. Nichtwahr, Paulemann? Wie kann man nur mit so viel Unwürde altern, wie das diese Frauen von vor dem Krieg getan haben?!«
»Ach Gott, Joli, Ihr werdet aber auch nicht viel anders sein. Frauen denken eben immer nur mit dem Gefühl, und wenn ihr Gefühl Haß ist, denken sie eben damit. Sie sind nicht schlechter als wir. Sie sind darin nur anders. Und sie treten viel leichter und skrupelloser, ja, man kann schon sagen, mit einer naiven Gemeinheit, dann über einen andern Menschen hinweg, ohne zu fragen, das liegt nun mal so in den Frauen. Und Ihr, Joli, werdet darin auch nicht viel anders sein. Ihr wißt es nur noch nicht heute. Und dann, Meister, das Hauptgefühl, darüber muß sich jeder klar sein, ist doch bei Ehescheidungen eigentlich nicht mehr Liebe und Haß, sondern die Kränkung des Selbstgefühls als Mann oder als Frau darüber, daß der andere Teil nicht gehalten werden konnte. Und das, diese Verletzung des Selbstgefühls, die sich keiner gern eingestehen will, erschwert doch (wir haben das alle hundertmal erlebt) die Scheidung selbst unter sonst ganz anständigen Menschen unendlich, die sich dann ... mit Verlaub zu sagen ... wie die Schweine benehmen; hart, brutal, gemein, bitter und ungerecht werden. Und wenn's über Leichen geht. Die ihre Kinder, ihr Vermögen, ihren Ruf, ihr alles daran setzen. Nur, um nicht gegen sich selbst gerecht werden zu müssen, werden sie dann ungerecht gegen andere.
Sie kennen doch die reizende Geschichte von dem Dänen, Johannes V. Jensen, von dem Spinnenmännchen, (›Die hat er von mir!‹ denkt Fritz Eisner) das plötzlich auf einen Heidekrautzweig klettert, einen Faden in die Luft flattern läßt, sich daran hängt ... aber hier sind wir schon. Einen Augenblick noch, ich will das nur zu Ende bringen.« (›Wie reizend Joli sich den Fehmantel mit der Hand zusammenhält‹, denkt Fritz Eisner, ›doch ein Geschöpf von einer wundervollen Selbstsicherheit‹.) »Und über die Erika plötzlich hinzugleiten beginnt, und durch die blaue Septemberluft dahinschwebt, und nun denkt, sie ist das einzige, das erste Spinnenmädchen, das je geflogen ist. Aber, wie es sich umblickt, fliegen Dutzende ebenso wie es an ihren Sommerfäden durch die stille Luft hin. So geht's uns, wenn wir glauben, daß wir ein Einzelschicksal erleben, etwas noch nie Dagewesenes ... Es ist immer nur ein Dutzendschicksal. Nebenbei wird das Spinnenmännchen nachher von dem Weibchen aufgefressen. Und das ist auch ein Dutzendschicksal.«
»Paulemann, ich verspreche dir«, (wie reizend Joli doch den Fehmantel vorn mit der Hand zusammenhält!), »ich schwöre dir bei allen Musen Griechenlands: Ich werde dich nie auffressen. Höchstens du mal mich. Hast du verstanden, mein Junge?«
Und dann steht Fritz Eisner allein vor dem Haus und der schöne Wagen mit Herrn Grumbke am Steuer gleitet auf seinen breiten Gummispuren im ersten Licht aufblinkend, mit Signal, das durch die Straßeneinsamkeit gellt, um die Ecke. Morgen um neun wollen sie fahren in einem Tag bis Berlin, über sechshundert Kilometer. Das ist viel für einen Tag.
Fritz Eisner bleibt noch einen Augenblick auf der Straße stehen. Der Sektdunst ist nun ganz aus seinem Kopf heraus. Aber er ist müde und überwach zugleich. Drüben auf dem Dach der Akademie sitzen Drosseln. Jede für sich und singen immer wieder: ›Wach auf, es nahet gen den Tag‹. Und aus den Gärten jenseits ruft sogar ein Pirol. ›Wußte garnicht, daß der Vogel Bülow mit dem gelben Frack auch bis hierher kommt, dachte, er wäre nur in Mecklenburgs Birkenschlägen, wo die Bülows her sind. Es ist doch noch garnicht hell eigentlich. Nur der Himmel ist sehr sehr weiß und silbern mit einem rosigen Ordensband auf der Weste. In den Straßen liegt noch Dämmerung und eine weiße angeschmuddelte Katze schleicht an den Häuserwänden entlang wie das schlechte Gewissen. Aus einer Nebenstraße kommt der Tritt von Polizeiposten. Sie gehen zu zweien, und sie gehen immer anders als die üblichen Menschen, wichtiger und fester und selbstsicherer und langsamer. Sie gehen eben aus Beruf. Und ein Auto schreit aus der Ferne nach ihnen um Hilfe.
In diesen Steinkästen schlafen jetzt nun tausende von Menschen ... Kinder liegen mit offenem Mund und atmen leise und ängstigen sich in den Träumen vor der Schule morgen ... Lungenkranke schwitzen und röcheln im Schlaf ... alte Frauchen verkriechen sich unter drei Lagen von Federdecken und haben es doch nicht warm ... Dienstmädchen schnarchen auf ihren Hängeboden noch die paar Stunden bis zum Morgen, die ihnen bleiben, seit sie mit bloßen Füßen ihren Schatz über die steinerne Hintertreppe heruntergebracht haben, daß es die Herrschaft nicht merkt ... Liebespaare sind eng umschlungen zusammen in den Schlaf hineingeglitten ... und Ehepaare haben sich die Rücken zugekehrt, damit sie auch im Schlaf noch jeder auf seiner eigenen Insel sein können ... alte Fräuleins wärmen sich an ihrer Katze ... und der Stromer hat sich eine Kanalisationsröhre gesucht in der Gabelsbergerstraße, wo sie das Pflaster wieder mal aufgerissen haben, nachdem ihn der Posten da von seiner Bank aus den Anlagen bei der Pinakothek vertrieben hat ... der schläft seinen Mordsrausch aus ... und das schwangere Mädchen, das morgen früh von der Brücke in die Isar springen wird, ihren letzten Kummer, und ist im Traum, wie jeden Abend damals, im englischen Garten wieder bei ihm, dessen Namen sie nie gekannt hat. Aber er ist immer nachher mit ihr zum Donisel gegangen: a Geld hat er scho ghabt, der Bazi ...! und der Kriegskrüppel, der im Schlaf nach seinem Bein greift, das ihn schmerzt, und unter der Decke ins Leere faßt und erschrickt, daß sich ihm die Kehle zuzieht: Wo ist denn eigentlich mein Bein nur hin ...? Und die Lokomotivführergattin, die bei dem andern liegt, weil der Mann doch heute Nachtdienst hat ... Alle, alle sind da hinter diesen Mauern im Schlaf, und ihre Lebensschiffe treiben schnell und langsam, hauchleicht und mühselig stromabwärts. Wie sind die Menschen nur darauf gekommen, sich in diese übereinandergestellten Steinschachteln einzusperren, in diesen Felsschluchten von Straßenlinien, die eine Stadt bilden, ein Leben zu verbringen ...?! Bei mir zu Hause blühen jetzt die Feuerlilien im Garten!‹
Und dann tappt Fritz Eisner die Treppe, die runde Treppe um den Tubus des Riesenfernrohrs, hinauf, in das von oben das blaue Auge des Morgenhimmels, in dem grade die allerletzten Sterne verdämmert und verblichen sind, neugierig hineinblickt und versucht, das Halblicht zu durchdringen, das staubgrau, das wesenlos und doch halb greifbar, das hohe Treppenhaus mit seiner wispernden Ungewißheit füllt.
Schon an der Tür, der weißen Tür, flüstert er leise: »Nuckelino, was tut dir heute weh?« Gott sei Dank, sagt er sich dann, daß ich wenigstens beruhigt jetzt bin, weil alles in bester Ordnung ist. Ich glaube, ich habe ein bißchen viel geredet heute Nacht, aber hier in München hat man ja doch ... »Uih«, (er gähnt) hat man ja doch keinen richtigen Menschen, mit dem man reden kann und ich war so ausgehungert, wieder mal mit meinen Leuten ... der Paul Gumpert ist eine Seele ... ein goldener Junge ... wirklich sehr, sehr anständig: wollte mir doch Geld pumpen ... Ach, ich werde die Türe offen lassen ... vielleicht ruft mich Nuck. Nein, nein, ist nicht da. Was schreit denn wie ein kleines Kind. Aber schriller. Viel schriller. Das ist der erste Mauersegler da oben, der da oben mit seinen Sichelflügeln die klare Morgenluft des Himmels durchschneidet und davon rast: Wie früh solch Tier auf ist, da gehen vernünftige Leute gerade erst zu Bett.
Und dann sinkt Fritz Eisner schwer und traumlos hin. Als Fritz Eisner aufwacht, flattert und knattert in der Sonne eine weiße Mullgardine wie ein Segel durch das Zimmer, und das Zimmer ist überhaupt sehr hell und lichterfüllt bis in den letzten Winkel hinein. Es fehlt nur das Mädchen im Unterrock und der Schwindt aus der Schackgalerie ist fertig. So hell kann es aber am Morgen garnicht sein, denn die Sonne sieht erst viel später am Vormittag hier herein, wenn sie schon fast im Süden ist.
›Der Champagner ist mir schon bekommen, aber nach dem Zahnwasser habe ich einen abscheulichen eisernen Ring um den Kopf. So stelle ich mir die eiserne Krone der Langobarden vor. Auch kein Vergnügen, immer mit so etwas auf dem Kopf, statt Baskenmütze, rumrennen zu müssen. Begreife garnicht, warum Kaiser Karl deswegen über die Alpen ziehen mußte, um sich so ein Ding aufzusetzen. Das kann er doch mit dem Zahnwasser viel billiger haben. Früher ... damals ... zu Zeiten Karl des Großen ... hat man sich eben nur den Mund mit ausgespült und deshalb hat er das nicht gewußt. Muß mir nachher einen reinen Kragen umbinden. Merkwürdig, daß doch solch Kragen nur immer einen Tag sauber und die beiden andern nicht sauber ist! Warum zieht das aber so. Da ist doch die Tür offen. Habe ich denn die gestern ... oder heute früh nicht zugemacht eigentlich? Man kann mich doch hier einfach raustragen ...!‹ »Ach, Fräulein, was bringen Sie denn da?! Ist das noch der Vormittags- oder schon der Nachmittagskaffee? Und warum bemühen Sie sich denn statt der Resi heute höchstselbst, Fräulein Lehmer?!«
»Sö sind aber gestern spät heimkommen!« meint die weiß-blonde Hausdame. (›Also, ich lasse mir das nicht nehmen‹, denkt Fritz Eisner, ›wenn sie es nicht war ... ihre Großmutter muß doch das Modell zu Schwanthalers Bavaria gewesen sein!‹) »Wo warens denn?« flüstert die weiß-blonde Riesin und lächelt verschämt dabei, als ob nicht Fritz Eisner, sondern sie spät heimgekommen wäre, und darüber, wo sie gewesen sei, strikte die Auskunft verweigern müsse. »Was macht denn die gnädige Fräulein? Habens schon wieder was g'hört, wie sie sich befinden tut?«
Fritz Eisner springt mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett und starrt Fräulein Lehmer an. Trotzdem er sich niederträchtig an der Zarge das linke Schienenbein gestoßen hat (das tut man bei so alten Biedermeierbetten leicht; denn, wenn sie auch noch so gut aussehen, die Matratzen sind meist eingelegen und kaum jünger als die Bettlade) trotzdem reibt er sich nicht mal die wehe Stelle. Jetzt ist er wacher als wach. Und im Augenblick rasselt die ganze Scheinwelt, in der er noch eben hin- und herflatterte um ihn zu Boden, wie die Kulissen in einem Theaterverein, in die der jugendliche Held beim Abgang hineingerannt ist.
Jetzt aber ist Fräulein Katharina Lehmer garnicht geschämig mehr, und ob nun solche Mannsperson ein Hemd oder sonst so einen Hanswurstanzug mit offener Jacke anhat, das macht bei ihr garnichts aus. In solch einer Pension gewöhnt man sich derlei Zimperlichkeiten schnell ab. »Noa«, sagt sie, »hat denn die Fräulein nu denn Bamsen scho kriegt?! Ich wünsch ihr ja von Herzensgrund« (das soll Poesie sein), »daß alles gut gehn möcht; is doch an arg anfällig Ding, und dabei schaut's aus wie an Marketenderin ...«
» Wie spät ist's?« fragt Fritz Eisner und ist bei der Waschschüssel. »Schon nach elf?! Richtig, ich wollte Ihnen noch sagen, daß ich für nächsten fünfzehnten kündige ... Fräulein Lehmer!«
»Ah, dös is aber schad«, meint Fräulein Lehmer. »Passens auf, dös gibt a Madel dies mal. I kenn mi in so was aus.«
Und dann geht sie in die Ecke, um zu sehen, ob die Resi auch den Fußboden mit an nassen Hadern aufnimmt, oder ob's da, wie's gern tut, allen Dreck auf einen Haufen kehren tut.
Fritz Eisner will sagen, daß es ja noch garnicht so weit wäre und daß Fräulein Block heute Abend bestimmt zurückkommen will. Aber er sagt es nicht, weil er insgeheim fürchtete, es könnte ihm doch widersprochen werden, und dann würde er vielleicht seine Meinung nicht mehr vor sich selbst aufrecht erhalten können.
»Nu gehen's aber jetzt hin« sagt Fräulein Lehmer streng. »Rufen's net erst an, do störens bloß. I kenns doch, wie harts einem ankommt, wenn man dabei so alleinig liegen muß in seine ... aber was wißt denn ihr Mannsleit davon?! I sag: Immer des zweite Kind mißt der Mo kriegen, dann wird kei Madel mehr wie drei Bankert hoam. Zum Mittag kommens wohl nicht heute? Aber ich heb Ehna auf. On Nierenbraten hats heit, ... da wärs ewig schad drum. Und hinterher haben wir a Marillenturten. Wissens, i sag immer, Herr Dukta«, (›alle sagen sie Meister oder Dokter zu mir. Ich kann doch nicht ewig schreien, ich bin keins von beiden‹), »i sag schon immer: kann sein, was mag: Essen muß der Mensch ...!«
›Das sieht man‹, will Fritz Eisner sagen.
»Jedenfalls, tun schön von mir grüßen, Herr Dukta. I mei scho a, in was für eine Lage solch armes Madel reinkommen kann, davon hat kein Mannsbild kei Ahnung net. Schon wie's hier damals Haussuchung gemacht haben ..., wenn's dös arme Fräulein nur net fassen, hab i mir g'sagt. I werd nebenbei an Ihre Stelle net fortziehen von hier, des Essen wird von Tag zu Tag besser bei uns. Vorm Krieg haben wir ja an Mittagstisch g'habt ... da sinds stundenweit hergelaufen kommen.«
Eigentlich sagt sich Fritz Eisner, wie sie draußen ist, eigen dich ist dieses große Wesen, das Fräulein Lehmer gar keine Kanaille, und in ihrer Art hat sie Ruth sehr gern, und hat ihr immer extra Eier und Butter besorgt, wie's noch knapp war und nichts dran verdient sogar. Einen vorzüglichen bayerischen Beamten hätte sie abgegeben: saugrob ... und doch hat man vor ihm nicht das Gefühl, nur eine Nummer seiner Registratur zu sein, wie man das bei uns da oben hat, und wenn sie noch so korrekt sind.
Drüben qualmen etwelche der vielen Schornsteine, weil es auf Mittag schon geht, leichte Zigaretten ins Blau hinauf. Der Mann sitzt immer noch an seinem Dachfenster, das aus dem Dachrand ausgeschnitten ist wie der Eingang einer Mastaba, eines ägyptischen Grabes, sitzt hinter seinen Blumenkästen zwischen den Ranken der Feuerbohnen, die erst blühen sollen, in Hemdsärmeln und trinkt immer noch von gestern Abend her seine Maß Bier. Vielleicht ist er auch schon beim Frühschoppen. Er ist ein häuslicher, braver Mann und er geht deshalb niemals in's Bräu. Seine Buben müssen ihm alles aus der Gassenschenke über die Straße holen. Heute macht er aber ein mürrisches Gesicht, während er den Schaum vom Krug bläst: ›Dös Bier jetzt hat der Teifi g'sehn,‹ sagt er sich. ›Ka kloans Kind selbst kann ja unter drei Maß an Rausch von kriegen.‹
›Wo ist denn Marley nur‹, durchzuckt es Fritz Eisner, aber richtig, Marley, der Stock, ist gestern doch noch glücklich mit ihm zugleich gelandet und blinzelt ihn aus seiner Zimmerecke an, ruft: hier. Und dann tappt mit ihm Fritz Eisner die Wendeltreppe hinunter. Er hat jenes seltsame Ziehen in den Handgelenken, daß er immer bekommt, wenn er voll innerer Angst ist. Im untern Stockwerk schrillt eine Telefonklingel auf, und er hört seinen Namen rufen, schließt, stürzt todeserschrocken an den Apparat. Aber es ist garnicht von draußen, von Ruth. Nein, durchaus nicht.
»Hier ist das Beerdigungsinstitut von Speier und Landshof. Hätte gern mal gehört, wie's Ihnen bekommen ist, Meister.«
»Hier friedlicher Südhofsdirektor, ach nein, südlicher Friedhofsdirektor Eisner! Leider muß Ihnen die letzte Sendung automatisch verschließbarer Zinksärge retournieren, da sie von den meisten meiner Kunden als gesundheitsschädlich abgelehnt wurden!«
Landshof lacht im Apparat, lacht wirklich so herzlich, wie gestern den ganzen Abend nicht, aus dem Telefon heraus. »Zuerst und zuletzt, wie geht es Ihrer Freundin? Alles andere ist nämlich in diesem Augenblick schnurz und piepe sonst! Und dann, wann kommen Sie zu mir nach Bogenhausen heraus. Einen Abend? Einen Mittag? Heute? Wann Sie wollen! Außerdem hat mir Gumpert auf die Seele gebunden, daß ich mich um Sie kümmere. Aber das war garnicht nötig. Sie sollen sich hier nicht so vergraben! Wann kann denn draußen Ihre Freundin Besuch empfangen? Die ersten Tage wohl nicht. Meine Frau möchte gern mal zu ihr gehen!«
»Ich verstehe garnicht«, sagt Fritz Eisner, aber er bringt es schon nicht mehr ganz so sicher heraus. »Meines Wissens wird Ruth zuerst nochmal heute Abend wieder heimkommen. Sie ist ja nur noch zur Beobachtung mal auf einen Tag dahingegangen. Aber wir werden uns dann melden, wenn es Ihnen recht ist!«
»Gewiß«, kommt es von drüben, »ganz wie Sie es einrichten wollen, ob Sie zu zweien kommen wollen oder allein. Wie's Ihnen am angenehmsten ist. Und dann können wir auch wirklich mal über das reden, worüber wir gestern nicht reden konnten. Sie verstehen schon wohl weswegen?! Wie ist denn eigentlich dieser Marinier da gestern hereingekommen? Wer hat ihn denn eigentlich zu uns mitgebracht gestern Abend? Am sechzehnten machen wir so eine kleine Sache im Garten. Es wird nett, wenn wir gutes Wetter haben. Dazu sind Sie schon jetzt feierlichst geladen. Aber Sie wollen gewiß jetzt zu Ihrer Freundin. Es hieß, Sie wären schon weg. Also, machen Sie es wahr!«
Und dann ist draußen ein weißblauer Münchner Tag ... heiß und herb zugleich, mit glasiger Luft. Die Straßen sind sehr lang und breit. Alle Dinge sind unwahrscheinlich hell. Die Häuser sind klar und leuchten aus hundert Scheiben. Die Bäume aber, die hie und da über Mauern schauen, ferne Plätze beschatten, sind – auch ganz weit hinten noch! – deutlich bis ins letzte Blatt. Alles ist in Kristall gebettete Farbe und von einer fröhlichen Überwirklichkeit.
Eigentlich müßte Fritz Eisner fahren, in die Trambahn sich stürzen, müßte eines von den Autos sich nehmen, die an der Ecke in der Sonne schmoren und warten, wer an sie herantritt, den schlafenden Chauffeur weckt, oder den nichtschlafenden sich aus dem Biergarten am Eck holt. Er müßte eilen, da hinaus zu kommen. Aber er läßt die Tram vorbeifahren und biegt einen Schritt vor dem Auto ... als hätte er nie damit etwas vorgehabt ... wieder auf die Mitte des Gehsteigs zurück ..., pendelt Schritt vor Schritt (Ruth hat doch gesagt, er soll nicht vor drei kommen!) und geht recht langsam, aus Furcht, er könne zu schnell etwa dahin kommen und Dinge erfahren, die ihm nicht genehm sind, und das möchte er gern noch hinausschieben, trotz des Ziehens in den Handgelenken und trotz des Schudderns zwischen den Schulterblättern vor Angst, Ungewißheit und innerer Verzweiflung: ›Was ist eigentlich aus meinem Leben geworden: Ich habe geheiratet. Gut. Ich habe Kinder. Gut. Ich bin enttäuscht und halb zerrieben aus einer Ehe geflüchtet. Gut. Ich hab immer wieder mein Dasein mit Kulissen umstellt. Ich bin gereist. Frauen haben mich gern gehabt, und ich sie auch. Ich bin über die Maßen gelobt, verhätschelt und angegriffen worden. Gut. Ich habe alle kleinen Sensationen des Sammelns ausgekostet und den Haschisch der Verse. Ich habe Sport getrieben und mich in der Sonne gebräunt. Ich habe gekränkelt und bin angegraut. Ich bin bald an die Fünfzig und verliere Zähne. Gut. Aber das bringt das Leben so mit sich. Ganz gesunde Zähne werden mir locker und müssen raus. Das hängt eben mit meinem Leiden zusammen, hat man mir gesagt. Jetzt fängt schon wieder rechts oben einer damit an, sich absentieren zu wollen. Trotzdem, der Saldo ist mir gewogen geblieben. Ich verstehe das alles. Aber in all den Jahren, in meinen tiefsten Depressionen, auf meinen schlimmsten Abwegen, selbst in diesen wüsten Verwirrungen der Kriegszeit habe ich mich bislang eigentlich nie verloren. Tausendmal bin ich vom Weg gekommen, aber ich habe es immer wieder gewußt, daß ich mich zurückfinden würde. Eigentlich hat es nie etwas für mich bislang gegeben – weder Menschen noch Dinge – was stark und wichtig genug für mich gewesen wäre, um dieses mein Ich aus seinem Zentrum zu stoßen, dieses Ich, das immer wieder sich selbst manifestieren muß, und mich unbeirrbar irgend einem Ziel zuschiebt, an dem vielleicht der Weg alles ist. Und nun seit einem Jahr ist das Ziel fort ... und der Weg ist fort. Und wenn ich mich selbst beim Namen rufe, so bekomme ich keine Antwort mehr. So wie Gott, als er rief: ›Adam, wo bist Du?‹ Ich hatte mich noch nie so an einen andern Menschen bis zur Selbstaufgabe verloren. Was hast du denn in dem ganzen Jahr getan? Garnichts. Bücher gelesen. Und ein paar Artikel darüber geschrieben, die mich nichts angingen. Wo bin ich selbst eigentlich bei all dem nur hingekommen?! Ich werde einen Preis aussetzen, für den, der mir das sagen kann. Wie der Illusionist im Varieté! Er deckt ein Tuch über den Mann da oben, zieht es fort, und der Mann ist verschwunden. Hundert Mark zahle ich dem, der es erklären kann!! Hundert Mark sind sowieso jetzt nicht mehr viel wert. Und doch habe ich es eigentlich noch hunderttausend mal besser gehabt als all die andern hunderttausende. Wo sind die Millionen junger Menschen hin, die ich in den Krieg habe ziehen sehen? Die nicht in Europas Erde ruhen, sind für's Leben verloren. Als ob ihnen das Kreuz gebrochen wäre, so hat man ihnen die Seele gebrochen. Ich habe doch das Leben noch verhältnismäßig anständig ohne Hunger, ohne Vorgesetzte, ohne Arbeitsstunden, die abgesessen werden müssen, ohne Schützengraben und Trommelfeuer hingebracht. Gewiß, es hätte ja noch viel fauler kommen können. Ich brauche mich nicht zu beschweren, wenn ich auf die andern sehe. Der Bua da mit den Stutzen, den bloßen Knien, den Haferlschuhen, mit dem Reiherbusch auf dem grünen Hüterl, der seine Zither im schwarzen Futteral trägt und zu der Truppe gehört, die heute im Werdenfelser Garten schuhplatteln geht ... zum Schluß hat er doch nichts auf der Welt, als sein Gewand und seine Knochen, und trotzdem ist er so wundervoll unbeschwert, wie ich es eben nie sein werde. Schon einfach, weil er all die Fragezeichen nicht sieht, über die unsereiner Schritt für Schritt stolpert.‹
Wie voll doch die sonnigen Straßenzüge jetzt werden. Es ist, als ob alle Menschen sich in der Mitte von München gesammelt hätten, und nun nach der Peripherie aus der Stadt heraus wollen. Die Straßenströme schneiden sich wohl, aber zum Schluß will doch alles heraus heute ... an die gletscherfarbene Isar mit ihren Kiesinseln und ihren grünen Flußauen hoher Bäume. Nach Nymphenburg und in den Englischen Garten. Nach dem Nockerberg und zur Theresienwiese. Nach der Menterschwaige und Großhesselohe. Nach Planegg. Nur irgend wohin hinaus, wo die Tannen wie riesige Schachtelhalme Stamm an Stamm stehen, und man sich dann mit seinem Mädel zwischen das Farnkraut legen kann, oder solange Erdbeeren suchen, bis man den andern außer Augen kommt. Man findet sie schon wieder, wenn man will.
Es hat sich doch überhaupt wieder, seit der Krieg gar ist, so langsam herum gesprochen, daß Buchen im Sommer schön grün werden und Schatten geben und daß zu gewissen Zeiten eine Wiese voller Blumen garnicht häßlich mal anzuschauen ist. Jahrelang hatte man das fast vergessen. Aber nun wollen sich mit einem mal alle wieder davon überzeugen. Es ist beinahe ein Run danach.
Auf den Stufen vor der Glyptothek sitzen wieder Studenten und Studentinnen, wie alle Sonntage, in der Sonne. Und jene seltsamen Sonderlinge, ältlich, schlecht gekleidet und verschiedenen Geschlechts, die alle irgend etwas mit Kunst zu tun haben, und an denen München fast so reich einst war, wie der Luxembourggarten. Glyptothek ..., Propyläen ... sonst ist es nur Klenze, aber an solch einem blauen Tag ist es Griechenland. Beinahe wenigstens. Überhaupt gehört doch zu Säulen das absolute Blau des südlichen Himmels, und nur deshalb erscheinen sie uns im Norden oft so sinnlos, wenn ein trüber Tag ihre Linien bricht.
Auf dem Dachrand im Triglyphenfries gurrt ein Taubenpärchen ... darin ist München auch schon Süden ...! Und er duldet mürrisch, daß sie ihm in die graublauen Schillerfedern am Hals pickt. Selbst die Tauben legen hier in München Wert darauf, ihre maskuline Kultur zu betonen. Komisch: In Berlin gehen die Pärchen untergefaßt (›da könnse ruhig her sehen. Des bin ick und des is meine Braut!‹). In Paris tritt der Mann ganz zurück und das Mädchen neben ihm legt ihm, als Zeichen ihrer Gunst, zwei Finger auf die Schulter. In München aber haben sie sich mit dem Zeigefinger ineinander gehakelt, als ob er sie in den Schraubstock damit gespannt hatte: Dös G'spusi!
Was mag eigentlich jetzt mit Ruth sein? Solche Untersuchung ist doch gewiß ungefährlich. Aber wozu der ganze Unsinn? Gern haben wir uns nun doch wirklich. Wozu fehlt einem eigentlich, um das ganz auskosten zu können, das bißchen Gesundheit dazu, das jeder Straßenjunge umsonst hat. Ich glaube, wenn ich jetzt da in den Brunnen meine Hände bis über die Pulsader hineinstecke, dann wird dieses abscheuliche Ziehen da doch aufhören. Ich habe mal so was gewußt, daß so etwas gut dagegen sein soll. Eigentlich doch ganz hübsch, dieser Hildebrandbrunnen mit seinen wuchtigen Figuren vor den Bäumen und seinem breiten Wasserschwall von Becken zu Becken. Naja, man kann nicht so lange in Florenz leben, ohne zu lernen, wie man Wasser über den Rand von einem Marmorbecken führen muß! – aber die andern haben's doch nicht gelernt, diese Stümper!
Oh, dededede, Toms friert. Das Mittel taugt doch garnichts. Im Gegenteil, es wird nur noch schlimmer dadurch. Oah!
Und dann sitzt Fritz Eisner in einem Auto, das, sich selbst zum Staunen, den Krieg überdauert hat, und wie eine Kaffeemühle klappert. Rostig und mit großen Blechflecken im Lack ist. Eigentlich nur noch zehn Zentner Altmetall, das längst wieder verschrottet sein müßte. Aber solch Auto ist wie ein Mensch. Es mag noch so wüst aussehen, solange der Motor noch intakt ist, läuft es eben immer noch weiter. Dann läßt man ihn nochmal überholen, und dann wird es erst endgültig zusammengeschlagen.
Jedenfalls sagt Friß Eisner, der Chauffeur soll Ecke Roswithastraße und Hildegardstraße halten, denn was braucht der Chauffeur zu wissen, wo ich hinfahre, und daraus etwa Schlüsse zu ziehen. Aber der Chauffeur sieht ihn eine Weile an, als müßte er sich schwer besinnen, wo das eigentlich sei. Und Fritz Eisner sagt nochmal – Norddeutsche verstehen die Münchner oft hart – langsam wiederholt er: Ecke Roswitha- und Hildegardstraße! Und da geht's ihm dann auf. »Ah so, der Herr wünschen dohin, wo dös neue Entbindungsheim is.«
»Richtig, mein Lieber, dahin will ich auch.«
Und da ist das große Tor. Und wieder der gleiche Geruch von Karbol, Lysol, Seifenlaugen, Äther, Kampher, Wasserdämpfen. Und dazwischen schwirrt so eine unbestimmbare Süßlichkeit Fritz Eisner entgegen, wie er die schwere Tür aufstößt: So hat doch immer mein Käferkasten gerochen! Merkwürdig, daß Gerüche mit so ganz frühen Erinnerungen verknüpft sind. ›Mensch,‹ sagt Fritz Eisner zu sich, ›nimm dich zusammen. Ruth ist doch gestern viel ruhiger und gefaßter hier heraufgegangen, wie du es heute tust.‹
Zwei Mädchen wischen wieder mit Scheuerlappen die kahlen Steinstufen auf; trotz Sonntag Nachmittag eigentlich: denn hier ist man sehr sanitär. Es sind zwar andere wie gestern Abend, aber es sind doch die gleichen, nur daß sie grade zufällig in verschiedene Individuen eingebettet sind.
Eine Schwester – Schwestern huschen immer von einer Tür in die andere – aber die da ist nicht die Schwester Vronerl mit ihrem riesigen Format und ihren Wurstarmen. Es ist nur eine lächerliche Duodezausgabe von ihr ... eine Schwester huscht über den Flur oben: »Könnt ich zu Fräulein Block hineingehen?«
»No, wissens, ich würd noch an Augenblick warten, bis die Oberschwester kommt. Nachher könnens vielleicht an Moment doch neischauen. Is ja alles prächtig gangen auch. Ist ein arg braves Fräulein. Net an Muck hat's g'tan. Dös Kind bringen wir auch gleich rüber. On herziges Mädel. So an's möcht i a mal haben. San Sö der Vater von der Kindsmutter?«
»Nicht ganz, Schwester«, meint Fritz Eisner, »so alt bin ich wohl doch noch nicht. Oder sehe ich so aus?«
»Dös net grad, aber s'könnt doch a sein. Und des Fräulein hat sogar schon gegessen, als ob's garnichts g'wesen ist. Und sie alle Tag so ane Entbindung mitmacht ... Ein arg liebs Ding und a schönes Madel a.«
›Gott, ich kann diesen Käferkastengeruch doch nicht ertragen. Es wird einem ganz schlecht davon, daß sich alles um einen wie ein Karussell dreht.‹
»Ach, Herr Doktor«, richtig, das ist der Arzt mit seiner weißen Schürze, aus der die Gummischläuche des Stetoskops hängen. Da taucht er ja aus dem grauen Nebel auf!
»Na, sehens Herr, wie haben wir das g'macht. Gut is gangen. Prachtvoll is gangen. Narben gibt's nicht. Gratulier Ihnen zur Tochter. Dös macht heut nix mehr. Im Leben kommts eben so weit, wie wir alten Esel. Und im Krieg kanns Ihnen dann nicht erschossen werden, wie's mir mit mein Buam g'macht haben. Ich werd durch die Schwester sagen lassen, daß da seien. Aber gehn's nicht gleich rein. Kommens zu mir rüber. Reden wir a bisserl mitenand an Augenblick. Schwester, wann's so weit ist, rufen's mich. Heut ist nämlich Großkampftag bei mir. Bloß mit dem Unterschied, daß in einem Großkampftag Menschen sonst aus dem Leben und bei mir ins Leben befördert werden. Da ziehe ich mir also den meinigten schon vor. Trotzdem 's a sakrische Mühen macht.«
Drinnen das Zimmer ist sehr kahl. Und so wie eben solch ein Arztzimmer ist, das den Patienten nicht verwirren soll. Nur eine große Reproduktion eines bekannten Bildes auf dem der schöne Vollbartarzt der Kaiser Friedrichzeit sinnend an der Leiche eines noch viel schöneren langhaarigen, aber bis zum Gürtel nackten jungen Mädchens sitzt, die im friedlichsten Todesschlummer auf einem blütenweißen Lager ruht, unterbricht die heilige sanitäre Ruhe der abwaschbaren ölgestrichenen Wand. Vielleicht schwärmt der Arzt wirklich gerade für dieses Bild. Vielleicht ist es auch nur das unpassende Geschenk einer dankbaren Patientin. Vielleicht soll es auch nur als abschreckendes Beispiel hier dienen, als ewige traurige Erinnerung an die Zeit, da die aseptische Behandlung noch nicht allgemein zur Anerkennung gekommen war.
Fritz Eisner sieht, während der andere spricht, auf das Bild und dann auf den Mann da. Er hat eine ziemliche Glatze, scharfe Brillengläser und gerötete Lider vom Nächte-nie-recht-schlafen. Er hat Sommersprossen und rötliches Haar, das sich langsam schon entfärbt. Seine Ohren sind groß und glatt wie bei einem Buddha, blank und wie geplättet und gestärkt mit einem weißen Rand, als wären sie aus einem alten Vorhemdchen geschnitten. Der ganze Mensch ... der ganze Mensch ist sehr müde, unendlich überarbeitet, grob und mürrisch, aber eigentlich – das riecht Fritz Eisner ihm an – ist es doch ein menschlicher und grundanständiger Kerl.
»Ja, mein Libber«, nuschelt er vor sich hin. »I hab a Mordsangst g'habt. Jetzt kann ich's Ihne ja ruhig eing'stehe. Es hätte ihr doch auch bei der körperlichen Arbeit, die so eine Geburt ist, irgend wo anders a Blutg'fäß platzen können. Aber is gut gangen. Nit grad so ganz glatt. An bissel viel Blut verloren hat die junge Frau schon. (Vielleicht bestrahlens die Milz mal). Aber dös ersetzt sich schon schnell wieder. Sagens mal, warum sind's denn nicht gleich von Anfang an zu mir gekommen? Ich versteh die Herrn Kollegen hier net! Wissens, nähren wollen wir doch nu mal die junge Frau net lassen ... dazu liegt mir dös alles net klar genug. Und wenns wieder mal so weit sein sollte, dann kommens gleich zu mir. Hoffentlich gibt sich das nu alles endlich mal von selbst, wo doch nun das Kind, Gott Lob, da ist. I würd zuerst das Kind in ein Heim geben. I hab der jungen Frau schon die Adressen vermittelt. Da ist ein sehr tüchtiger, junger Kollege: Besser kanns garnicht haben, wie's da hat. Man sollte überhaupt alle Kinder, in die ersten Monate wenigstens, von den Müttern wegnehmen. Dös wer besser für die Kinder und für die Mütter sicher a.
Wissens, i seh viel Elend allweil. Könnens mir glauben, die Hälfte von den Frauen, die zu mir kommen, haben heut kein Hemd mehr auf'm Leib. Net, weil's schlampert sind, sondern, weil's eben kein's mehr haben ... Und dös is noch manchmal besser, als wenn's eins anhaben ... Werden 's denn nu bald heiraten können? Natürlich, wann die Frau net will, und Sie mehra eheliche Kinder scho haben, da ist das schwierig ... Das erleb ich alle Tage.«
›An wen erinnert er mich? Eigentlich kenne ich ihn doch! Aber ich werde ihn wohl nicht kennen. Wenn man älter wird, hat man eben das Gefühl, daß man alle Leute schon mal gesehen hat. So wenig Typen gibt es.‹
»Manchmal sage ich mir doch: ›Es ist a Sünd und a Schande, warum solche Frauensleut noch Bamsen in die Welt setzen müssen. Aber uns sind doch auch die Händ gebunden. Aber nu gehens mal an Augenblick rüber, und bleibens net lang drin heut. Schauens, Sie sind froh, Herr ... aber ich kann Ehna versichern: ich bin noch froher, daß so glatt gangen is. Garnicht schwierig war's. Nicht ein Moment stand's kritisch. Da müssen wir ganz andere Sachen oft tun. Vor einer Stund hat eine Entbindung von aner Sechzehnjährigen eing'setzt mit ein ganz schmalen Becken, an schmalen, und net mal a Kopflagen, da schwitz i schon jetzt Blut und Wasser. Wissens, ich mach das nu seit dreißig Jahren bald mit – dös G'schäft. Aber i reg mi immer wieder von neuem auf ... Herr, können Sie mir vielleicht sagen, wer so was erlauben tut? I net!«
Fritz Eisner ist etwas benommen, will sagen, daß er sich bedankt. Will noch allerhand fragen, wie das Kind ist. Wie Ruth sich ... ob auch gar keine, aber durchaus keine Gefahr mehr ist ... ob ... Seit langen Monaten hat er sich mit dem Vorhandensein dieses Kindes schon auseinandersetzen müssen und jetzt, da es wirklich in Erscheinung getreten ist, ist es ihm, als ob er vor ganz neue und ganz unerwartete Tatsachen sich stellen muß.
Aber, wie er eben zu sprechen anheben will, klopft es, und der rothaarige, alte Arzt mit den geplätteten Ohren springt auf: »Sakrament, Sakrament, was hab i g'sagt: Da holens mi schon! ... No«, sagt er dann und richtet seine müden geröteten Augen unter den scharfen Brillengläsern auf Fritz Eisner, als ob er über etwas tief und erfolglos nachsinnen müßte. »No, nu wollen wir mal hoffen und winschen, daß sich all das nun geben wird bei der jungen Frau ... i mein scho ... es gibt sich ... ganz und gar wieder.«
Das klang verdammt tonlos. ›Naja, der Mann ist eben überarbeitet‹, sagt sich Fritz Eisner. Und dann hat er Herzklopfen und das Ziehen in den Handgelenken, wie er so allein auf dem dämmrigen Gang vor Ruths Tür steht, und mit dem gekrümmten Finger sich doch nicht anzupochen getraut.
Innerlich fühlt er sich der Situation kaum gewachsen: Läßt er Ruth diese ganze gräßlich lange Nacht und den ganzen Vormittag über da allein zwischen fremden Menschen liegen, bezecht sich beinahe, und verschläft diese dümmste Stunde des Mannes, hat sich von Ruth beschwatzen lassen, nur weil er innerlich wünschte, daß es so wäre, wie sie ihm gesagt hat. Wie hat er nur die Fabel von der Untersuchung und dem Einen-Tag-vorher-dasein-müssen glauben können? Wie hat er gestern nicht merken können, als sie vor Schmerzen doch kaum noch von der Stelle kam, nicht ahnen können, daß das eigentlich doch schon der Beginn der Geburt war, so der erste blinde Alarm. Ich sehe doch so was nicht das erste Mal in meinem Dasein. Und wenn ich jetzt überrascht tue, dann ist es albern. Und wenn ich tue, als ob ich es längst gewußt habe, längst gewußt und geahnt habe ..., ja, warum bin ich dann überhaupt von ihr weggegangen? Wie habe ich eigentlich nur so versagen können?‹
Und dann hört er von drinnen seinen Namen rufen und es vollzieht sich alles ziemlich schnell und sehr ohne Programm und ganz ohne Überlegung.
Da liegt dieses junge Wesen nun, sieht eigentlich weder blaß, noch schlecht aus, nur daß sie den Kopf nicht heben will. Wunderschön und ganz verklärt. So schön, wie sie seit einem Jahr nicht mehr gewesen ist, und so ganz mädchenhaft noch mit sehr blanken, stillen Augen und einem kleinen Lächeln, das da in den Mundwinkeln eingefroren ist. Die Haare haben sich etwas gelöst aus dem Knoten und kriechen, wie kleine, schwarzbraune Schlangen über das weiße Kopfkissen hin. Es hat den Kopf auf seine Seite herübergedreht, und sieht ihn nur an, ohne noch zu sprechen vorerst. Und Fritz Eisner, der vor dem Bett liegt und die kleine ... aber die ist schon etwas blutlos ... Ruths kleine blutlose Kinderhand in der seinen spürt, ist diesem Kopf sehr nahe mit seinem Kopf und will was sagen: ›Siehst du, nun hast du auch dein Teil an der Unsterblichkeit abgetragen.‹ Aber er kann nichts sagen, schluckt nur und wird noch stiller.
Drüben auf dem Tisch steht ein unglaubwürdig großer und unglaubwürdig schöner Strauß von rosa Rosen. Solchen, wie zu schenken, nur den reichen Leuten vorbehalten ist. Solche Rosen, wie sie nur ein oder zwei Läden, in die man sich nicht hineintraut, in der Stadt haben. Solche Rosen, die der andere Mensch sein Leben lang nur hinter hohen Kristallscheiben in mächtigen Bündeln prunken sieht, und an denen er gleichsam nur durch die Scheiben hindurchriechen darf. Viel zu erlesen, als daß man davon träumen könnte, auch nur eine davon sich je zu kaufen.
»Ich dank dir auch für die unglaublichen Rosen, Yorik.«
Fritz Eisner sieht hinüber. ›Paul Gumpert, Luci Canstadt‹ steht auf der Karte.
›Warum habe ich ihr denn nicht einmal eine Blume gebracht?! Morgen soll sie einen Wald von Blumen um sich haben. Aber heute, heute, hätte ich ihr welche bringen müssen!‹
»Nein, die sind von Paul Gumpert. Meine kommen noch. Er wollte dich gestern besuchen, und da er dich nicht sprechen konnte, so hat er dir wenigstens diesen Gruß geschickt.«
Ruth ist noch viel zu überanstrengt, um das wunderlich zu finden.
»Du erinnerst dich doch an ihn. Trafen ihn am Revolutionstag. Er sprach noch von deiner Schwester Lena. Der große Baumwollfritze. Und die Canstadt ist seine Freundin. Hast du die nicht mal auf der Bühne gesehen? Eine wundervolle Person. Wir waren nebenbei lange zusammen da in der neuen Bar. Das wär was für dich gewesen. Du konsumierst doch so gerne Menschen. Gumpert hatte ein Nebenzimmer für sich und uns belegen lassen ...«
»Siehst du, und die Wohnung? Da bist du natürlich wieder nicht ...!«
»Was für eine Wohnung, Schätzchen?! Wer redet überhaupt von Wohnung?« Jetzt hat Fritz Eisner wieder Oberwasser ... er ist ja doch ein Prachtkerl. »Wer hat früher überhaupt etwas von Wohnung gewußt?! Ach so ... Du meinst die, die du mir aufgeschrieben hast: die habe ich gemietet. Hier ist die Quittung über die Anzahlung. Sehr schön! Aber, das erzähle ich dir alles morgen. Natürlich sollst du in deiner Wohnung ...«
»Komm, steck dir ne Rose an, Yori. Du hast sie dir auch verdient. Wir wollen einen Klub der rosa Rose gründen, wir beide, als Gegenunternehmen gegen deine violette Aster, alter Herr. Habe ich dich gut hereingelegt, Yori? Armer Junge, du wirst bis an dein Lebensende das Kind bleiben, das herausgeschmissen wird, wenn die andern unter sich bleiben wollen. Eigentlich war's ja eklig. Aber Leute, die viel krank waren, wie ich, verstehen auch die Krankheit in das Leben einzubeziehen. Manchmal habe ich aber doch lachen müssen: die haben sich benommen, die dicke Oberschwester und der Hofrat, als ob ich nicht das Kind bekäme, sondern sie. Erst haben sie sich gegenseitig angeschrien ... ich hab ja nur die Hälfte davon verstanden ... und dann mich. Viel Blut habe ich verloren. Aber weißt du, das sieht nur so schlimm aus. Frauen haben ja nicht so viel Angst vor Blut wie Männer. Drei Stunden ist es her und dabei kommts mir vor, als ob es schon so unendlich lange her ist, daß ich es beinahe ganz vergessen habe, wie es war eigentlich.
Diese Oberschwester, weißt du, die blonde, ist ja doch von einem grausigen Doofkinismus. Ob wir ebenso wären an ihrer Stelle? Aber freuen tue ich mich ja doch, du böser Hund, du.«
»Willst du lieber nicht weniger reden, Nuck? du siehst heute in deiner neuesten Würde nebenbei süß aus.«
Aber Ruth will nicht weniger reden, ist doch etwas überdreht durch all das. »Ja, ich kann immer noch sehr schön sein, wenn ich will ... Wie könnt ich früher wacker schmälen ...! Wem wollen wir es mitteilen? Wollen wir es in die Zeitung rücken? Soll ich's Mutter einfach schreiben? Warum eigentlich nicht? Warum sollen mir die Leute nicht gratulieren? Wo liegt da der Unterschied? Habe ich etwa das Kind auf andere Weise zur Welt gebracht? Und habe ich es etwa dadurch bekommen, daß wir uns über Kants Kritik der reinen Vernunft unterhalten haben, du blöder Hammel, du. Mit achtunddreißig Jahren das erste Kind, das ist auch nicht zu früh, weißt du. Wir haben doch alles geteilt. Und da wir alles zusammen haben: Geld, Wohnung und jetzt auch das Kind, haben wir auch die Jahre zusammen und deshalb bin ich jetzt achtunddreißig und du auch. Eigentlich bin ich ja viel viel älter. Tausend Jahr älter. So alt, wie Eva. Noch älter. Wie Lilith. Adams erste Frau. Was machen sie denn mit dem Kind nur? Hast du es noch nicht gesehen? Ich weiß genau, alle Mütter sagen, daß ihr Kind ... aber es ist wirklich das reizendste Kind, das ich je gesehen habe. Sieht aus wie ein richtiger, wirklicher Mensch schon. Die andern sehen aus wie die Schuster, wenn sie unter den Affen überhaupt Schuster hätten.«
»Da legst du nieder! Ja, was wär denn jetzt dös? Werdens mal machen, daß naus kommen, Sö Herr. An Augenblick zeig ich Ehna noch den Bamsen und dann marsch naus! Manens, i will einen neig'würgt haben, wann die Kindsmutter morgen a Temperatur hat vor dem Herrn Hofrat? So ... nu suchen's sich eins aus!«
Die riesige Schwester Vronerl steht in der Tür. Wie sie sich aufgemacht hatte, konnte man nicht sagen, noch sich erklären. Denn sie hätte keine Hand dazu frei gehabt. Mächtig, blond, ein trächtiges gilbendes Kornfeld steht sie da in ihrer Schwesterntracht mit der Haube und dem holzgeschnittenen Gesicht, das Holbein, der Vater hätte entworfen haben können. Und doch ist sie jetzt irgendwie sehr stolz und sehr glücklich hinter der hölzernen Ruhe ihrer Züge, und hat ganz vergessen, daß sie eben auch in diesem Augenblick, nur die Oberschwester Vronerl ist, die, wie soll ich da sagen ... nun die Verkäuferinnen in den Schokoladengeschäften essen eben nie Süßigkeiten ... sie steht da, so, wie man sich die Mutterschaft, die Fruchtbarkeit, die fecondité gern vorstellt: ein riesiges Weibsbild, das auf jedem ihrer bloßen, mächtigen Unterarme strahlend und überglücklich zwei neue kleine Bündel Menschentum hält. Wie sie das anstellt, die vier Neugeborenen, die nicht einmal schreien und kaum wie kleine plieräugige Kätzchen mauzen, so zu halten, daß keines das andere stört und jedes ganz sicher und fest in seinem Bündelchen da liegt, das ist ihr Geheimnis. Aber sie tut es. Und man kommt garnicht auf die Idee, daß sie vielleicht eins davon fallen lassen könnte. Die ganze Ernte der letzten vierundzwanzig Stunden hat sie da sich zusammengerafft und drückt sie an sich, als ob sie sich nie von ihnen trennen müsse. »Also, suchen's sich eins aus, Herr, sonst nehm ich's mir.«
Wirklich, Ruth hat recht. Die andern haben Gesichter wie aufgeplatzte Kartoffeln, kreisrund die flaumigen Schädelchen, und das da hat doch einen richtigen Hinterkopf und richtige schwarze Haare schon, und sieht, wenn auch etwas schielend, in eine durchaus neue und unbekannte Umgebung. Es hat wohl das Gefühl, als ob es durch seine Geburt in eine überaus komische Gesellschaft geraten ist.
»Also«, sagt Fritz Eisner und tippt dem Lebensneuling auf die Wange. »Ich bin zwar ein bißchen alt für dich, aber du sollst es jedenfalls gut bei mir haben. Wir wollen einen Pakt schließen.«
»Schließe nur keinen Pakt mit ihm, da kommt nicht viel dabei raus,« ruft es vom Bett aus.
»Also, wir wollen vereinbaren, Maud, hauen tu ich dich nicht.«
»Aber ich«, kommts wieder vom Bett herüber.
»Also, schön, dann hau du deine Hälfte, meine wird nicht gehauen. Aber, wenn du ungezogen bist, wirst du einfach von mir enterbt. Das ist schmerzloser. Weißt du, wie ich dein Schwesterchen zu Hause, denn du hast nämlich schon zwei Schwestern, einmal gehauen habe, weil mir doch die Hand ausgeglitten ist, da hat sie gesagt: ›Das nächste Mal enterb mich lieber, Papa.‹ «
»Schwester«, ruft es vom Bett. »Geben Sie mir nochmal mein Kind her. Ich muß mir den kleinen Halunken doch ansehen.«
Und die Schwester Vronerl läßt sich von der Schwester Marie, die jetzt auch mit in das Zimmer eingedrungen ist, vorsichtig ein Kind nach dem andern von den Armen herabnehmen, bis eben die kleine Schwarze nur noch drauf liegt. Und die Miniaturausgabe der Schwester Vronerl steht nun neben ihr und hat vorsorglich um die drei anderen neuen Lebensgäste ihre zarten Arme gelegt mit dem gleichen Ausdruck in den plötzlich beruhigten Zügen, der schon vordem Fritz Eisner bei der Oberschwester Vronerl aufgefallen war. Das spielen die beiden, Vronerl und die Schwester Marie, gern einmal, wenn sichs gerade so trifft, mit verteilten Rollen und sprechen dann noch wochenlang davon. Die meisten Menschen sind ja doch nur Kinder in der Rolle von Erwachsenen.
»Hast du so etwas Süßes schon einmal gesehen? Weißt du, Yorik: ich mache es dann, wie's so ältere Schauspielerinnen machen, in deren Wohnung immer eine junge Nichte lebt, die einzige Tochter ihrer früh verstorbenen Schwester. Sie brauchen garnicht zu lachen, Schwester Vronerl, es ist ja garnicht ihre Tochter. Es ist nur das Enkelkind von der Schauspielerin. Ja, nun mußt du ihr natürlich das Horoskop stellen lassen: ein Mädchen« (es fällt ihr doch etwas schwer zu sprechen, aber Ruth will nicht aufhören zu reden, trotzdem die Oberschwester die beiden dicken Finger vor ihre Lippen legt) »ein Mädchen, so unter dem Stern Saturn geboren, ist in Liebessachen von hitzigem Geblüte. Also ... von mir hat sie das nun mal nicht, Yorik! ... Bring mir Bücher zum Lesen mit ... Sage jetzt nur noch: »Ganz recht hast du, mein Nuckelchen. Das kenn ich ... Ich habe mir das überlegt: ich will doch noch studieren ... Heute ... den ganzen Tag heute, habe ich darüber nachgedacht ... geh nicht Schachspielen. Du bist müde ... hörst du, leg dich auch hin.«
Und dann ist Ruth mitten im Wort eingeschlafen. So ganz leise und übergangslos in die leichte, blutteere Bewußtlosigkeit eines Schlummers hinübergedämmert.
Die Oberschwester greift ihr nach dem Puls, hebt die Hand, lauscht auf die Atemzüge: »Nix is ... müd is ... gangens jetzt.« Und dann löst sie lautlos, – sie hat, – so schwer sie ist, Katzenbewegungen – das Kind, das neben Ruth liegt, ganz leise aus ihrem Arm und legt es in sein kleines, sauberes Metallbett hinüber. »So, nu gehens aber, Sö Herr.«
»Einen Augenblick«, sagt Fritz Eisner und starrt auf das Kind herunter und blickt dann nach Ruth hin, holt einen Block aus der Tasche – so etwas hat er immer bei sich – ein Bleistift und beginnt die schlafende Ruth zu zeichnen. Mit ganz schnellen, feinen, langen Strichen zieht er die zarten, müden Züge nach, wie sie da in den schwarzen Schlangen der Haarsträhnen, die sich an den Schläfen gelockert haben, in das Weiß des Kissens eingesunken sind: »Wissen Sie, Schwester, es gibt so Augenblicke ... da muß ich eben zeichnen. Da wüßte ich nicht, was ich sonst tun sollte!«
»Ah, sans Kunstmaler a?!« meint die Schwester Vronerl, »i dacht, die Fräulein hat mir gesagt, Sie sind so a Kinstler, der wo Bücher macht.« Und damit sieht sie Fritz Eisner, sich nahe an ihn drängend, über die Schulter. »Ganz schön is scho. Aber machens murgen zu Ende. Is ja alles gut gangen. Was wollens eigentlich mehr. Mutter g'sund. Und Kind g'sund. Da kommt fei nix mehr nach. Für so was hab i a Nasen. Naja, wenn man achtzehn Jahr nix anders tut, da kriegt man eben schon dös G'fühl für.«
Die letzten Worte aber spricht Schwester Vronerl schon auf dem Flur draußen, und im nächsten Augenblick ist sie nach drüben nach dem Kreißsaal schon verschwunden, (heute ist eben Großkampftag!) und Fritz Eisner ist allein.
Ruth liegt da drin. Das Kind liegt da drin. Und er ist hier mit einer Wolke von Einsamkeit und leichter Traurigkeit um sich.
›Gott, das Kind ist reizend‹, sagt er sich. ›Hoffentlich wirds mal so schön und so klug wie die Mutter. Das arme Wurm, das wir dazu Gast bei uns geladen haben, ohne zu wissen bis heute, wie wir es eigentlich bewirten sollen.‹
»Ja, aber kommens ja nicht vor vierundzwanzig Stunden wieder. Wissens, Herr, so ane junge Wöchnerin, dös ist wie an echter Minchner, wo nix sagt als: ›Mei Ruh will i ham!‹«
Das war das letzte, was Fritz Eisner noch in den Ohren nachklang, als er so allein die Treppe hinuntertappte. Eigentlich müßte er sich freuen, und Fritz Eisner ist auch in irgend einem Winkel seines Ichs dumpf und tief beglückt, denn er ist ein großer Kindernarr, und er weiß, dieses Kind wird ihn daran hindern, zu altern. Wenn man nicht altern will, soll man überhaupt sein Leben mit jungen Menschen verbinden. Das ist besser als alle Medizinen und Badekuren, baut von innen her die Seele immer wieder auf. Man kann auch mit sechzig Jahr tot sein. Das ist Schicksal. Aber man darf mit sechzig Jahren nicht alt sein. Das ist eigene Schuld. Und er hat auch vor jedem Kind und gar vor einem, das erst Stunden diese Erdenluft atmete, die tiefe ehrfürchtige Scheu vor dem Lebensmysterium. Die andern beiden werden ihm ja doch fortgezogen werden, so viel er um sie kämpfen mag, und es wird vielleicht noch zehn Jahre dauern, bis er sie ganz wieder zu sich herübergezogen haben wird. Aber dann werden es eben ... wenn er dann überhaupt noch nicht seinen Wohnsitz mit dem Jenseits aller Dinge vertauscht haben sollte ... dann werden es eben keine Kinder mehr sein, kaum noch formbar.
Welche sagen, daß die Liebe mit dem Kind nichts zu tun hat, und daß man ebensowenig mit der Liebe ein Kind zeugen will, wie man beabsichtigt, geschlechtskrank zu werden. Daß sie ganz für sich eben bestände, die Liebe, als Verbundenheit zu einem andersgearteten und uns ergänzenden Menschenwesen. Aber eigentlich ist die Liebe zum Kind ja doch die Urform der Liebe. Das andere sind nur Hilfskonstruktionen. Die Liebe zum Kind ist nun mal die einzige Liebe, von der die Natur weiß, weil sie die einzige ist, die sie braucht für ihre ungeklärten Notwendigkeiten. Jede andere Liebe ist, ohne daß es die beiden, Mann und Frau, auch nur ahnen, nur eine Variation dieses Urthemas. Jeder Teil verwandelt sich den andern gedanklich in sein Kind, nur um es lieben zu können. Sie nennen sich mein Mädchen und mein Junge, und alle ihre Zärtlichkeitsnamen, ja ihre ganze Sprache der Zärtlichkeit, ist nur eine Verkindlichung. ›Du warst mir Weib und Kind zugleich ... und geh ich ein ins Schattenreich ... wirst Witwe du und Waise sein ...‹ Aber das ist es nicht, was Fritz Eisner so tief bedrückt. Es ist schwer zu sagen, was das eigentlich ist. Es stammt eher schon aus der Empfindung, daß bei alldem ein Mensch auch trotzdem zuerst er selbst bleibt, und daß eben sein eigenes Leben doch in ihm recht behält, daß er hier allein steht, und Ruth da oben allein in ihrem Bett jetzt ruht, um sich wieder das verlorene Blut anzuschlafen ..., daß sie sich so nahe sein können, wie es unter zwei Menschen in Leben und Lieben nur gehen mag, und daß sie doch eben jeder für sich sind ... und daß man eben die Schmerzen anderer Menschen mit empfinden, aber niemals mitfühlen kann ... Daß er jetzt wieder auf die Straße hinausgehen wird durch die Sonntagssonne und zwischen den Sonntagsmenschen hindurch. Daß er jetzt vielleicht doch noch zum Kolmarer Altar in die Pinakothek gehen wird (denn sie wollen und müssen ihn bald abgeben, und wer weiß, wann man ihn dann wieder in Kolmar wird sehen können ... wann man wieder ins schöne Elsaß hinüber können wird.) Und das ist so eines von den Dingen, die man alle paar Jahre einmal wieder sehen muß, um sich zu überzeugen, daß wir noch auf der Welt sind, und daß sie noch auf der Welt sind. Dieser Grünewaldaltar ist so etwas wie eine neunte Sinfonie und die Elginmarbles, wie der Faust und Madame Bovary und die éducation sentimentale ... wie Paestum mit seinen Tempeln und der Blick von der obersten Sitzreihe des Theaters in Taormina über Sizilien und das veilchenfarbene Meer fort, wie ein Hochsommertag am Neckar ... und unerschöpflich wie die alle! Jedesmal, da man es öfter sieht, ist es auf der Creditseite zu verbuchen.
Es ist mir so ganz und gar entfallen eigentlich, was man nur mit so einem kleinen Bündel wortlosen unerwachten Menschenfleischs tun soll! Und doch ist man irgendwie anders, als man gestern war. Ich müßte auf die Leute zugehen, die immer noch in bunten Scharen – in München ist man auch in der Kleidung farbenfroher als im Norden ... diese Menschen lieben grelle Farben ... schreiendes Rot ... gesättigtes Blau ... und ein Braun, das ganz in Ocker schwimmt. – Viele Frauen tragen bäuerische Trachten mit engen Miedern und weiten Röcken aus blumigen, bedruckten Stoffen ... nicht ganz wie auf dem Land grade ... etwas städtisch abgewandelt ... jeden und jede von den allen da möchte ich eigentlich anhalten, die da nach den Parks und ins Freie hinausstreben und nach den Biergärten ziehen, wo man tanzen kann, und im Schatten unter Bäumen trinkt, in deren Rinde die eisernen Garderobenhaken eingewachsen sind ... wo man vor langen Holztischen sitzt, die mit bierumschwommenen grauen Steinkrügen besetzt sind, und in denen die griffesten Messer stecken für die Lyonerwurst und für die Rettiche. (Heute weht weniger der Hopfengeruch durch die Straßen!) Auf alle möchte ich zugehen, sie anhalten und sie fragen: ›Sagen Sie, mei Lieber, was meinen Sie denn dazu: Ich habe eben solch ein kleines Menschenwesen in meine Gefolgschaft aufgenommen! Ist das nett oder nicht? Irgendwo hier ... da drin ... bin ich mir ja noch nicht ganz klar darüber. Aber jedenfalls, jedenfalls aber hat es mich doch auf eine neue Art ins Leben wieder mal eingespannt. Sie machen solch mürrisches Gesicht! Es geht Sie nichts an?! Sie haben selber drei von der Sorten?! Naja ... aber Sie werden mir doch sagen können, wie ich mich da zu verhalten habe?! Beglückwünschen oder bemitleiden Sie mich ...?‹ Paul Gumpert werde ich jedenfalls schreiben. Reizend die Blumen. Also, solche Rosen hat doch Rosenemil selbst in seinen allerbesten Zeiten nie gehabt. Aber da hat auch das Dutzend fünf Groschen gekostet. Das ist mit den Rosen wie mit den Teppichen. Und von denen sagen die Teppichhändler immer, daß es mit ihnen, wie mit dem Leben ist: Man kann es billig haben, und man kann es teuer haben. Aber meist taugt's billig eben nichts.
Und dann ist Fritz Eisner plötzlich doch vor dem Grünewaldaltar. Er ist garnicht gut aufgestellt hier. Eben nur provisorisch. In Kolmar, in der alten Kirche, im Kloster Unterlinden, da war er doch viel unmittelbarer. Ist ja auch nur noch ein kurzer Gast auf unfranzösischem Boden: Dieser Barbar des Genies, der farbige Gebete in einer ihm eigenen Sprache hinausschreit. Wie gut das Huysmans gesagt hat!
Ein Museum ist eben doch nur ein Museum. Eine Pfandkammer für Kunst. Und dann ist das Licht in München zu weiß. Zuletzt in Kolmar, als ich ihn vor dem Krieg noch sah ... ich ganz allein und er; ich war der einzige, der grad zu ihm vorgelassen wurde ... da war ein später, gewittriger Frühlingsnachmittag, mit einer halbverschleierten goldigbraunen Sonne. Und da leuchteten diese Platten, als ob sie nicht mit Farben, sondern mit pulverisierten Saphiren, Rubinen und Smaragden, Aquamarinen und Topasen gemalt wären aus sich selbst heraus, daß man bis in den Mittelpunkt der Seele erschauerte vor diesen überwirklichen Wirklichkeiten und ganz benommen wurde davon, ehe man überhaupt noch sah, was da auf diesen hölzernen Wänden vor sich ging und mit seinem Sturmwind der Gefühle einen überraste.
Dann aber, als ich ganz wie zerhämmert und durchmassiert wieder hinaustrat in den gewitterschwangeren Frühlingsabend, da war vor mir am Himmel genau die gleiche mystische Wetterwand aufgezogen, grau und dumpf, wie es jene eben noch auf dem Bild war, vor dem sich das Drama der Beweinung des Gekreuzigten vollzog. Und ein Steinblock schimmerte ebenso bronzefarben, wie es da war, wo der Auferstandene in der Gloriole eines gewaltigen Regenbogens in den sternenglitzernden Nachthimmel emporgleitet, so überirdisch und so wesenlos zugleich, daß man meint, die Sterne könnten auch durch seinen Körper hindurchschimmern, wie sie durch den bunten Schein hindurchschimmern, der seinen Körper umgibt. Das Grün des Laubes leuchtete ebenso unwahrscheinlich in der Gewitterluft, und das Weiß der Birnbäume schimmerte ebenso gespenstisch ... das Rot und Gelb von Tulpen in den Beeten flammte ebenso unergründlich tief vor mir auf, wie es vor Minuten noch aus den Gewändern der Heiligen in farbigen Flammen gezüngelt hatte. Die Berge aber, die fernen Vogesen drüben, waren blaue Feenmärchen, über denen ein seliges und kindliches Licht eines noch ungetrübten Himmels schwamm. Und plötzlich ahnte ich, daß diese wildeste und übersteigertste Wirklichkeit doch nur eine Blume eben dieses Bodens hier war. Seltsam genug, aber wild gewachsen in dieser Luft hier. Hier aber, in dem kargen Raum, in der schlechten Aufstellung, in dem kalten Licht, ist es heute doch nicht viel mehr wie ein Museumstück, ist wie eine Urwaldblume in einem Treibhaus. Man kann sie betrachten, ihre Staubgefäße zählen. Man kann sie zeichnen und photographieren. Aber man ahnt nur den dumpfen Brodem warmer Feuchtigkeit, der sie sich einst schuf unter Tropengewittern und Regenstürzen. Hier ist er doch nur eine saubere und merkwürdige Angelegenheit für den Herrn Kunsthistoriker.
Nur eines verstehe ich nicht: Kinder muß dieser Mathias Grünewald nie gehabt haben. Bestimmt nicht. Wie kann er nur ein kleines, ein winzig kleines, blaubemaltes Nachttöpfchen mit drei spitzen Füßen, das allen Gesetzen der Statik Hohn spricht, der Madonna zu Füßen in das Gras und in die Blumen stellen?! Zum Schluß ist doch so etwas kein Dekorationsgegenstand, sondern ein Gebrauchsmöbel. Ich jedenfalls werde nie dulden, daß Maud einen Nachttopf mit drei Füßen kriegt. Ein Kind in dem Alter fällt sehr leicht um. Und ganz abgesehen davon, daß das unästhetisch ist ... wenn solch Töpfchen zerbricht, kann es sich schwer verletzen. Von Malerei mag dieser Meister Mathias viel verstanden haben, so erstaunlich viel, daß bis heute noch keiner seine Geheimnisse hat ergründen können, aber von Kindern und von Kinderpflege hat er sicher blutwenig verstanden. Man sehe sich nur die Windeln daraufhin an. Eigentlich sind es doch mehr Fetzen und Löcher als Windeln. In solch einem modernen Kinderheim, wie das, in das wir die kleine Maud bringen wollen, ist das sicher ganz anders, da liegts in seinem Bettchen, wird gewogen, wird gemessen, bekommt auf die Minute, das, was es bekommen soll, wird in die Sonne rausgeschoben ... aber nur unter einer feinen Tüllglocke ... Hat Tafeln mit Kurven über dem Bettchen und aseptische Handtücher. Täglich kommt der Arzt zweimal, und die Schwestern berichten über sein Wohlbefinden.
Ein Maler war dieser Grünewald, ganz undeutbar, um Jahrhunderte dem Wissen seiner Zeit voraus, einer der wenigen ganz Großen, die bisher über diese Erde gegangen sind. Aber was die Kinderpflege anbetrifft, da ist er doch eigentlich nur ein lächerlicher Dilettant gewesen. Ich will mir eine Photographie kaufen, um Ruth morgen darauf hinweisen zu können. Und dann muß Fritz Eisner nur eben einen Augenblick doch da hineinsehen, wo sie immer Schach spielen. Es ist ein kleines Caféhaus, in alter Gegend, im ersten Stock eines alten Hauses, in das sich selten ein Nichtschachspieler verirrt. Es ist wie die Menschen, die hierher kommen, völlig aus aller Zeit herausgehoben. Über der Tür steht deutlich: ›Kinder unter fünfundvierzig Jahren ist der Zutritt verboten.‹ Aber das wäre nicht nötig gewesen. Vor fünfundvierzig verirrt sich doch keiner dahin. Sie haben vor einem halben Jahrhundert schon hier gesessen, und sie werden in einem halben Jahrhundert noch hier sitzen: immer dieselben Leute. Es gibt für alle hier keinen Sommer und keinen Winter. Keinen Wochen- und keinen Sonntag. Es gibt nur gelbe und schwarze Figuren und weiße und schwarze Felder, auf denen man mit denen hin- und herziehen kann. Es ist garnicht wahr, daß diese Leute nicht sterben. Im Gegenteil, sie sterben genau so wie andere Menschen. Aber acht Tage oder zwei Monate, bevor sie sterben, ist schon ein Doppelgänger von ihnen an der gleichen Stelle, von der sie sich zurückziehen mußten. Und deshalb merkt man es nicht.
Es hat Krieg gegeben, und der Frieden ist wieder ausgebrochen. Es hat Revolution gegeben. Und es war auch ein, zwei Wochen so eine Sache, bei der sich niemand recht auskannte, die hieß Räterepublik. Aber die hier haben es kaum bemerkt. Dann ist es eben wieder abgekommen, genau so, wie das Kieseritzkygambit. Das habens früher auch mal gespielt. Und dann hat man eingesehen: es ist doch keine gute Eröffnung. Und heute spielt es kein ernsthafter Spieler mehr, weil schwarz dann besser steht.
Viele der Schachspieler haben wie die Fischottern hängende Schnurrbarte, an denen sie gern beim Nachdenken kauen, und unter denen sie Beschimpfungen für den Gegner hervorknurren, die sich auf dessen schachliche Fähigkeiten beziehen, und desto heftiger werden, je peinlicher die eigene Lage geworden ist. Sie sind nie gekleidet, diese Schachspieler. Im besten Fall gerade noch angezogen. Aber auch da soll man nicht zu genau hinsehen. Zigaretten kennen sie nicht. Zigarren essen sie mehr, als daß sie rauchen. Und dem Schnupftabak sind sie nicht abgeneigt. Sie duzen die Kellnerin, die vielleicht eine Jugendfreundin von ihnen ist. Diese aber behandelt sie deswegen nicht mit größerer Achtung. Schachspieler verzehren nichts und ihre Trinkgelder sind schundig.
Fritz Eisner will nicht spielen. Denn Ruth sagte doch noch, er solle lieber nicht Schachspielen. Aber vom Zusehen beim Schachspielen hat sie bestimmt nicht gesprochen. Und außerdem möchte er einen Kaffee, nichts wie einen Kaffee. Ihm ist etwas flau von der Sonne, der Hitze und der Erregung.
Wirklich, der Schwarze ist doch ein Patzer erster Ordnung, ein Korkser erster Klasse ... der Herr Mittermair, der früher bei der königlich bayerischen Post war und nun sich hat pensionieren lassen, vielleicht weil er es mit seiner Beamtenehre nicht vereinen konnte, daß nunmehr die Briefe noch weniger langsam bestellt werden. Hätte er jetzt den Springer auf d4 statt auf b4 gezogen, so hätte er in zwei Zügen die weiße Dame gehabt. Sie hatte doch nur noch f1, und da kam der Läufer h8 und Weiß mußte aufgeben. Stärker wie ein kleines Pferdchen ist er nämlich auch nicht. Er kann dem Mittermair wohl eine kleine Qualität, aber nie eine Dame vorgeben. Wirklich, so etwas kann einen als Kiebitz scheußlich ärgern, daß einer eine gewonnene Partie einfach so verschenkt.
»Sie, Herr Mittermair, ich hab heut a kleines Mädchen bekommen!«
Herr Mittermair nimmt seinen Schnurrbartzipfel aus den dicken Lippen und glotzt Fritz Eisner verständnislos an. Denn er ist noch in seiner Kombination und hat noch garnicht gemerkt, daß die ein großes Loch hat, wie eine Marneschlacht.
»Schachatio benevolentiae!« knurrt er. Denn im Schach hat jeder seine eigenen Redensarten beim Schachbieten ... »oder wanns kein Latein net verstehen, mei Libber: Schach dem Küni!«
»Teils lächerlich, teils verächtlich«, sagt der Weiße kühl, zieht den König auf c1 und öffnet damit ein verdecktes Turmschach für schwarz.
»Ah sooo«, sagt der Herr Mittermair enttäuscht und kratzt sich mit dem stumpfen, abgeknabberten Daumennagel hinter dem Ohr. »Ah sooo!« Aber dann ist es doch langsam in sein Hirn gedrungen, was Fritz Eisner ihm eben vorher eröffnet hat. »Sso ..., sso, Herr, a Mädel habens? Was tuns denn noch damit?! ... Jo, da wer i eben emol die Türm austauschen. Wer hat früher überhaupt was von Türm gewußt?! Die von Jericho habens a umg'blasen!«
Man soll beim Schach nicht zusehen, denkt Fritz Eisner und geht wieder.
Wie still nur jetzt die Straßen sind. Draußen sind sie schon bis auf den letzten jetzt, und die ersten von draußen kommen noch nicht wieder herein. Aber es ist garnicht wahr: Still sind die Straßen eigentlich garnicht, denkt Fritz Eisner. Das ist ganz etwas anderes: Still sind die Straßen bei Nacht, und doch sind sie uns da viel näher. Es gibt doch so eine eigene Sonntagnachmittagslangeweile, die, wie ein Schlafmittel im Wasser, in der Luft aufgelöst ist. Die Häuserreihen da drüben sind durchaus nicht anders als gestern. Der Himmel ist ebenso weißblau mit der gleichen Föhnwolke von Nord nach Süd hin, wie er Samstag Nachmittag schon war draußen über Nymphenburg. Es ist auch genau so sommerlich warm. Kein Spatz flattert weniger in Ligustersträuchern. Die Trambahnen fahren eher schneller als gestern. Die Straßen waren eigentlich auch nicht viel voller, sonst um die gleiche Zeit. Also, daran liegt es gewiß nicht.
Und doch gähnt alles unterirdisch, und keiner und keines weiß, was es mit sich selbst anfangen soll. Selbst die Kinder, die gestern sich jagten und schrien, hocken da auf dem Steinrand eines Vorgartens und vergessen sogar, einander böse Worte zu geben. Und der Soldat oder wenigstens ist er noch feldgrau maskiert – geht mit seinen Schnürschuhen, die er aus russischer Gefangenschaft wieder heimgebracht hat, von der Ecke Tengstraße zur Laterne und von der Laterne zur Ecke Tengstraße und läßt alle zwanzig Schritte einen scharfen kurzen Pfiff, der an den Schrei einer Turmschwalbe erinnert, als Signal aufflammen. Das gilt vielleicht niemand. Jedenfalls lockt es niemand herbei. Alle Dinge und Wesen scheinen mir plötzlich aus ihrer Alltagsordnung herausgehoben zu sein. Und nun wissen sie nicht, was sie mit sich selbst anfangen sollen. Es macht den Eindruck, als ob sie über die Zwecklosigkeit ihres Daseins nachdenken und nackt und bloß vor dem Nichts stehen. Es scheint, als ob an einem solchen Sonntag Nachmittag die ganze tiefe Sinnlosigkeit einer Stadt mit all den Menschen, die hier zusammenhausen, plötzlich mit einem Schlage sich ihrer selbst bewußt werden muß, und daß sie ... diese tiefe Sinnlosigkeit ... vorher nur der Wochentag übertüncht hatte.
Vielleicht lieben und heiraten alle die Menschen hier nur, gehen nur aus, schließen sich zu Bünden, Klubs und Gemeinschaften zusammen, treiben nur Politik, gehen nur auf die Bierkeller, stopfen sich nur in Lokale, spielen nur Schach, laufen nur ins Kino, hetzen sich nur über Fußballplätze oder rennen nur zu den Matchs ... alles das nur, einzig und allein nur dieser sommerheißen Sonntagnachmittage wegen, an denen sie sonst dem eigenen Nichts innen, und dem Nichts, in das sie sich eingebettet haben, in die leeren Augenhöhlen starren müßten. Die meisten Menschen sind wirklich auch sehr ungern nur mit sich selbst zusammen, weil sie schlechte Gesellschaft nicht lieben. Man sagt immer, der englische Sonntag ist so trostlos. Trostloser, wie das hier, kann er doch auch nicht sein. Jeder Sonntag ist trostlos in einer Stadt, weil mit einemmal kein Mensch mehr weiß, was er mit sich selbst anfangen soll.
Aber Fräulein Lehmer ist zu Fritz Eisners Erstaunen zu Hause geblieben und Essen hat sie ihm aufgehoben. In Pensionen hat es sich als günstig erwiesen, Mahlzeiten sich aufheben zu lassen. Sie mögen zwar halb kalt oder eingebritzelt sein, aber man bekommt doch mehr, als wenn man sich selbst unter den Blicken der Mitpensionäre etwas auftut.
»No, was hab ich g'sagt, Herr Dukta,« ruft sie ihm entgegen und lacht dabei über das ganze Gesicht. Und Signore Guiseppe Seibel winkt ihm gleichfalls mit der Hand herüber. In der Ecke sitzt der Marinier neben einem Blumentisch mit zwei Freunden und sie alle rauchen aus englischen Stummelpfeifen feingeschnittenen Maryland, dessen süßlicher Virginiaduft den großen Raum nicht unangenehm parfümiert. Und auch sie winken Fritz Eisner vertraulich mit der Hand herüber. Bei so etwas Inoffiziellem gratuliert man zwar nicht förmlich unter Männern, aber man muß doch irgendwie zu erkennen geben, daß man es ganz nett findet und mitfühlt. »Was hab ich g'sagt? A Madel is's!«
»Hören Sie, Fräulein Lehmer, ich würde mir eine Trompete dazu nehmen oder ein Megaphon, wie bei einer Ruderregatta.«
Aber Fräulein Lehmer lacht nur noch mehr, lacht wie ein Erdbeben, daß alles nur so an ihr schwabbert: »No ... hab ich das nicht vorziglich erraten, Herr Dukta, daß diesmal a Madel wird! Wissens, die arme Fräulein Block ... es hat mir doch kei Ruh gelassen mit ihr, und da hatt ich nämlich heut früh um zehn schon angrufen draußen, und hab Sie dann erst geweckt. I habs ja schon g'wußt, wies gangen ist. Und deswegen hab ich auch net geduldet, daß Sie nochmal anrufen, da draußen, Herr Dukta!«
Wie hat doch Ruth gesagt: ›Du wirst immer das Kind bleiben, das herausgeschmissen wird, wenn die Erwachsenen miteinander zu reden haben.‹
Und dann sitzt Fritz Eisner an seinem Schreibtisch und sieht den häuslichen Mann drüben wieder hinter seinen Feuerbohnen im Dachfenster sitzen mit seinen Hemdsärmeln und seinem Maßkrug, den die Buben ihm aus der Gassenschenke über die Straße da holen müssen. Ob er noch beim Frühschoppen oder schon beim Nachmittagsschoppen ist, läßt sich schwer feststellen. Wirklich, die Resi, die Theres, das Zimmermädchen, ist merkwürdig. In der Woche scheint sie einen großen Bogen um das Zimmer herum zu machen, und heute hat sie hier plötzlich wer weiß wie ordentlich gemacht. Nichts ist zu finden. Auf dem Schreibtisch, wo meine Notizen sonst liegen, sind die gedruckten Artikel. Und die Ausschnitte hat sie mitten auf den Tisch gepackt. Und sogar die Schubfächer vom Schrank hat sie aufgelassen. Was hat die Theres eigentlich da zu suchen? Sie weiß gewiß, daß da Ruth immer ihre Keksschachtel stehen hat. Ich nehms ihr nicht übel, daß sie nascht. Es wäre unnatürlich, wenn sie's nicht täte. Aber es ist doch zum mindesten zu verlangen, daß sie die Schubfächer wieder zumacht. Und außerdem, wenn sie die Keksdose schon rausgenommen hat, daß sie sie wieder genau an Ort und Stelle stellt und nicht auf die andere Seite herüberschiebt.
Aber die Resi, die so gegen Abend zurückkommt, weil sie bei Tisch bedienen muß – aber sie geht dann nochmal fort: nur eine Servierschürze bindet sie sich über das Sonntagskleid und tut sie nachher wieder ab und trifft sich mit dem andern noch ... in der Woche hat man eben arg wenig Zeit! – die Theres will das natürlich wieder nicht gewesen sein, sagt, sie hat heute überhaupt hier nicht ordentlich gemacht, weil der Herr Dukta doch so spat aufgestanden seien. Nur den Waschtisch hät's gemacht. Und dös Bett grad zusammeng'räumt. Aber heute war ja auch Sonntag. Und denn hät's den beiden Herrn die Zimmer zeigen müssen, die's sich angschaut hätten, weil daß sie's vielleicht mieten möchten, wenn der Herr Dukta und die Fräulein jetzt wegziehen täten. Eine ganze Weile hätten sich's ang'schaut.
»Was sind denn das für Herren gewesen, Resi?«
»Jo, da bin i halt überfragt. Feine Herren sans g'wesen.«
»Waren Sie denn die ganze Zeit dabei?«
»Net grad die ganze«, meinte Resi.
›Wirklich komisch‹, denkt Fritz Eisner. ›Ach ja, zum Schluß wird es die Resi eben doch gewesen sein. Wenn ich über die Keksdose gegangen wäre, würde ich's doch auch nicht so glatt eingestehen. Vereidigt ist sie ja nicht. Und dann braucht sie nichts aussagen, was sie selbst belastet.‹
Des Abends treibt es aber Fritz Eisner doch zu dem Mann, der so gut Beethoven spielt, weil er es eben doch bei sich allein nicht aushalten würde. Und vor allem auch, weil er gerade heute Sehnsucht nach Beethoven hat, damit sich darin so die letzten Schlacken von all dem von vorher lösen können. In ihm ist jetzt diese Leere und die vollkommene Windstille. Ist die Stimmung, wie nach einem endlich glücklich bestandenen Examen: Was nun kommt, weiß ich nicht; aber all das, was vorher war, geht mich Gott Lob nichts mehr an. Gewiß, ich bin eigentlich gar nicht ausdenkbar glücklicher als ich vordem noch vor vierundzwanzig Stunden war unter diesen Ungewißheiten, Kämpfen und Quälereien. Aber ich war doch erfüllter eigentlich, als ich mich noch damit herumschlagen mußte. Ich begreife das nicht: mehr als vordem spüre ich jetzt die Einsamkeit meiner eigenen Seele, so, wie wenn man beim Wandern durch den Schnee eines Winterwaldes seinen eigenen Herzschlag hört.
Drüben in Ruths Zimmer fängt schon an, die Dunkelheit sich zusammenzuballen. Sie kommt wie Rauch aus den Zimmerecken. ›Nuckelino, was tut dir heute weh?‹ Ach nein, sicher gehts ihr jetzt besser, als all die Zeit vorher. Und so hätte also die blöde Quälerei all der Monate doch einen Sinn für sie gehabt. Und so etwas vergißt sich dann viel leichter, als wenn es das nicht einmal gehabt hätte. Aber darf man bei den Dingen des Lebens überhaupt nach einem Sinn fragen? Es scheint doch, als ob der letzte Sinn des Lebens nur das Leben selbst ist. Und der allerletzte, uns Männern verschlossene, eben der, es weiterzugeben. Sonst wäre ja sicherlich all das nicht so tief in der Frauenseele verankert. Wie sie da mit dem Kind im Arm einschlief ... nicht, als ob das Kind bei ihr Schutz gesucht hätte, sondern sie bei dem Kind. Was ich eigentlich ohne Ruth machen soll, kann ich mir nicht recht mehr vorstellen, trotzdem ich doch bald achtundvierzig Jahre vorher ohne sie ausgekommen bin.
Und dann würgt Fritz Eisner unten das Abendessen herunter. Sonntag gibts immer den kalten Aufschnitt, von dem jede Scheibe vielleicht anders schmecken würde, wenn sie nicht alle nach dem Metall der Servierplatte schmecken würden. Aber es wird doch wohl besser sein, ich rufe da bei diesem Doktor Rabe erst an mal. Man trifft ihn zwar immer fast, aber möglich, daß er gerade heute einmal fort ist. Die drei Mariniers sitzen noch plaudernd, lachend und vergnügt und etwas angetrunken um eine Flasche Whisky, die sie irgendwo erbeutet haben, neben dem Blumentisch, Virginia qualmend aus ihren kurzen Stummelpfeifen und erzählen sich englische Witze, die ebenso wie der Pfeifenrauch den Raum angenehm, aber doch etwas unfein parfümieren, wollen Fritz Eisner in ein Gespräch ziehen, aber er sagt, daß er weg müsse und erst noch telefonieren wolle.
»Siebenundneunzigdreizehn. Halloh, Doktor Rabe, was macht der Samowar? Ist er gut angeheizt? Das ist nett! Dann komme ich noch zu Ihnen. Wer ist noch da? Der Bankier Landshof? Ach, den habe ich ja gestern kennen gelernt. Freut mich. In ungefähr einer halben Stunde bin ich bei Ihnen. Nein, soll mich nicht mit dem Auto abholen. Wozu, ich gehe lieber ... so schöne Luft heute.«
Und dann geht Fritz Eisner durch die Dämmerung unter braun und harzig duftenden Pappeln dahin zu diesem Doktor Rabe da hinaus, der irgendwo weit draußen schon, wo sich Schwabing in Land, Park und Einsamkeit auflöst, sein nettes Rabennest in einem alten Landhaus aufgeschlagen hat, das eben aus der Zeit stammt, wo die Villa noch Landhaus hieß und ein Landhaus war. Das Haus soll mal irgend einem Günstling oder einer Prinzengeliebten gehört haben. Aber das sagt man von den meisten alten Häuschen so hier herum.
Die beiden Rabeneltern ... der Doktor und seine runde, wirklich rabenschwarze Frau ... haben hier eine Insel der Gastlichkeit in dem sonst so ungastlichen München. Es ist ein ältliches Ehepaar, das nur füreinander lebt, und deshalb vielleicht, weil es einander so sicher ist ... gerade deshalb an dritten Menschen so viel Anteil nehmen kann. Wirklich, sie sind beide zu Ruth und ihm sehr nett und sehr delikat gewesen. Und da wird es sich wohl schicken, daß er hingeht und es ihnen erzählt. Und außerdem trifft man immer nette Menschen dort, die sich im Rabennest bei einer Tasse Tee seelisch anwärmen. Und es ist nicht lauwarmes Spülwasser, was sich den Namen Tee anmaßt, sondern richtiger Tee aus China oder da so herum. Und außerdem sorgt dieser Doktor auch dafür, daß die Gespräche bei ihm nicht nur lauwarmes Spülwasser sind, denn er ist ein grundgebildeter und philosophisch geschulter Kopf.
Doch das ist vielleicht das Unglück seines Lebens gewesen. Schriftsteller, Maler, Musiker und alle Leute die frei schaffen wollen, dürfen nicht zu gebildet sein. Sie verlieren dadurch an Unmittelbarkeit und an Persönlichkeit. Und vielleicht hat ihm diese Überfracht an Bildung auch im Weg gestanden, um einmal ein großer Kapellmeister zu werden, wie das sein Lebenswunsch war; solch ein ganz großer, der mit Symphonieorchestern vor Hunderttausenden in Europa und Amerika die gewaltigen Tonwerke wie Pyramiden auftürmt. Über den zweiten Taktstockschwinger einer mittleren Operettenbühne war er sein Lebtag nie hinweggekommen, und dann hatte er es vorgezogen, so etwas andern zu überlassen, die solche Tätigkeit besser ausfüllten, und auch sicherlich mehr brauchten, als er oder seine Frau. Einer von ihnen mußte doch wohlhabend sein, denn wie hätten sie sonst so leben können, wie sie lebten.
Es war auch ein komischer Gedanke, diesen etwas grämlichen Doktor Rabe sich als Operettenkapellmeister, geschminkten Tanzmädchen und girrenden Chansonetten den Takt zuklopfend, vorzustellen. So ungefähr, wie Fontane in einem Brief mal schreibt, als er in einem Hotel in Brüssel die Figur des Pythagoräischen Lehrsatzes mitten zwischen den Unflätigkeiten auf einer Klosettür findet. Er nahm sich da aus (sagt Fontane) wie ein Professor in einem Bordell. Nein, für so etwas war dieser Rabenvater nicht leicht, nicht beschwingt und nicht fade genug. Solche Musik nannte er gern Schmalz, das schnell ranzig wird. Und er hatte den Satz, verkündet, daß das Unmusikalischste auf dieser Welt – unmusikalischer noch als ein Emailleeimer, der aus einem Güterwagen fällt – der Schlager von vorgestern wäre. Wenn Doktor Rabe selbst einmal einen alten Walzer spielte, hätte bestimmt kein Mensch danach tanzen können. Aber, wenn er aus seinen trillernden Fingerspitzen das Scherzo aus der Pastorale formte, so sah man wirklich die Töne wie geflügelte Engelskinder in der Luft tanzen.
Und er ist so herrlich taktvoll dabei, dieser Doktor Rabe. Er setzt sich nie ungebeten an seinen Bechstein. Aber er läßt sich auch nicht stundenlang bitten, bis er es tut. Er weiß, wann man Musik brauchen kann, und wann man ihr aus dem Wege gehen will. Und er wird fühlen, wie verlechzt ich gerade heute nach Beethoven bin. Und dabei ist er sicher kein bedeutender Klavierspieler, dieser Doktor Rabe. Er ist auch da spröde und hat nicht viel Technik. Aber, aus seinen Wunschträumen, wie er sich einen Bach oder einen Beethoven orchestral aufbauen würde, holt er mit seinem Flügel überraschende Feinheiten heraus, von denen man garnicht ahnt, daß sie ein zuletzt doch mechanisches Instrument, wie ein Flügel, das den Ton nicht zu halten vermag, wenn der nach ihm schon aufgeklungen ist ... sie doch hergeben könnte. ›Keine Macht der Erde kann das‹, sagt er immer, dieser Doktor Rabe. ›Aber, es uns vergessen zu machen, daß man es eben nicht kann, das ist das letzte Geheimnis des Spielers.‹
Und dieses Geheimnis besitzt Doktor Rabe, wenigstens innerhalb seiner vier Wände. Und die hat er gleichfalls sich ganz so geschaffen, wie er selbst ist. Er hat keine Kostbarkeiten und keine Museumsstücke um sich; aber die Barockkommoden sind mit sicherm Geschmack gekauft. Die chinesischen Schalen und Vasen auf ihnen sind wirklich alt. Und wenn man auch schon bessere gesehen hat, man hat doch auch schon viel schlechtere gesehen. Die Teppiche sind gerade keine Jordis und Kula. Aber es ist doch nicht grobe Jazzmusik der Anilinfarben schon. Und die Prismenkronen sind eben die letzten, die noch gut und einfach sind. Kein alter Stuhl ist wie der andere. Die riesigen Tische sind nicht gerade mehr gut, aber noch erträglich. Die dreiarmigen Leuchter, die Girandolen, sind nicht Silber, sondern Messing. Aber es brennen richtige Wachskerzen in ihnen, und sie sind nicht in elektrisches Licht ummontiert worden. Auch die wenigen Bilder sind ganz still und undekorativ, sehr unmünchnerisch, nur Malerei. Ein früher etwas trüber Corinth. Ein ein wenig zu schwärzlicher Schuch und ein paar Unbekannte der Franzosen der Courbetzeit. Sie sind auf dem neutralen Grau der Wand sonore und ernste Farbflächen, genau wie die Musik, die ihr Besitzer liebt.
Und doch klingt alles hier zusammen zu einer anständigen und warmen Behaglichkeit. Die Dinge kommen einem hier so freundlich und ruhig entgegen wie die Menschen. Sie überfallen einen nicht, sie warten und fragen einen nicht. Und Fritz Eisner liebt weder bei Dingen, noch bei Menschen, daß sie ihn fragen. Er schätzt das sogar überaus wenig.
Ja, und der Doktor Rabe krächzt irgend etwas vor sich hin, begrüßt Fritz Eisner in einer selbstverständlichen Manierenlosigkeit, die man im Süden für unhöflich hält, und die doch herzlicher ist, als die gespielte freudige Überraschung, die in München üblich. Die Kerzen brennen in goldenen Höfen in den Girandolen, und die kleine Rabenmutter hat die Holzkohlen im Samowar zum Glühen gebracht. Und das ist eine Kunst, die nicht jeder kann. Ein paar Menschen sitzen still herum – im Goldschimmer der Wachskerzen, die durch die geöffneten Fenster, trotz der Mullgardinen davor leise flackern und von einem kleinen Kobold von Nachtfalter umtanzt sind, der das Flackern noch verstärkt.
Und richtig, da ist Landshof wieder, ist nur auf eine halbe Stunde, wie er sagt, mit seinem Wagen herübergekommen, weil der Chauffeur heute seinen freien Tag hat, und weil seine Frau draußen im Sommerhaus in Tutzing ist. Eine blonde Russin ist auch da, wie ein weißes Eichhörnchen, die malt und Puppen macht, hart und absprechend ist, wie so Russinnen leicht sein können, und auch werden müssen, wenn sie von den Behörden schikaniert werden, wie sie es hier in München wird, trotzdem sie nun schon bald zwanzig Jahre hier lebt. Und eine vergrämte Volksschullehrerin ist da, die nicht an ihren Kindern in Giesing, denn die lieben sie, sondern an der Beschränktheit der Schule, an der sie sich zerreibt, zugrunde gegangen ist.
Fritz Eisner hat auf der Zunge, wie er hereinkommt, sofort zu sagen: ›Denkt mal, ist das nicht nett? Naja, ein Mädchen. Ruth will sie Maud nennen, aber vielleicht läßt sich das noch ändern.‹ Aber er sagt es dann doch nicht. Warum fragen ihn die andern nicht. Aber die fragen ihn nicht danach, weil er eben nichts sagt.
»Der Mann da hat mich gestern schön hereingelegt. War ich eigentlich sehr betrunken, Herr Beerdigungsdirektor? Hat er Ihnen erzählt? Wie gehts Ihnen so?« Und Fritz Eisner sieht dabei das erste mal (gestern war sein Beobachtungsvermögen etwas getrübt) sich diesen Landshof genau an. Ein dunkles, weiches Gesicht, buschige Brauen, sehr verschlossen, vielleicht gutmütig, vielleicht hart, ganz weltmännisch und doch den Kopf eines Fanatikers dabei. Er lebt schon seit fünfundzwanzig Jahren hier unten, und ist eigentlich einer der wenigen Norddeutschen, die ich hier kennen gelernt habe, denkt Fritz Eisner, die ganz unvermünchnert sind. Merkwürdig, wie fest doch eine deutsche Stammesart gerade bei jüdischen Menschen ist, sodaß sie sich nie verwischt.
»Ach Gott, wissen Sie Meister«, meint Landshof und lehnt sich sehr behaglich in seinen Stuhl zurück dabei. »Wenn man früher jemand auf der Straße traf und fragte: ›Wie geht's es Ihnen?‹, so sagte er gut oder schlecht. Heute sagt er: ›Wie soll's mir gehen?!‹ Das heißt schlecht. Aber selbst, wenn's mir gut ginge, so wäre es den andern gegenüber eine Gemeinheit, in einer Welt voll Blut, Armut und Qualen, in der Selbstmord endemisch ist, und der Meuchelmord ein Gesellschaftsspiel geworden ist, es laut und öffentlich zu bekennen, daß er sich da wohl fühlt. Aber Sie sehen aus, Meister, als ob es Ihnen doch heute sehr gut geht.«
»Der Tee ist wirklich vorzüglich, Rabenmutter«, sagt Fritz Eisner und lächelt still vor sich hin. (Aber wozu soll er schon aus der Schule plaudern?) »Eigentlich haben Sie recht, Landshof: Wer Europa seit neunzehnhundertvierzehn miterlebt hat und kein Pessimist und kein Zyniker geworden ist, ist entweder ein Esel oder ein Heiliger. Ich habe zu beiden kein Talent. Aber Sie zum zweiten wenigstens. Denn nur ein Heiliger kann nach alldem noch an die menschliche Seele glauben. Und das tun Sie doch wohl? Ich glaube, all das was Sie wollen, ist richtig. Als Rechenexempel muß es aufgehen. Aber es geht nicht auf, weil einfach die menschliche Seele nicht mit in Rechnung gestellt worden ist. Sie wissen ja. Goethe: Es gibt kaum ein Gutes auf der Welt, zu dem der Mensch zu bringen ist, und keine Dummheit, zu der er sich nicht freudig mißbrauchen läßt.«
Fritz Eisner ist immer etwas direkt, aber Landshof liebt es nicht sehr, auf solche Dinge Antwort zu geben. Und, da er schweigt, geht Fritz Eisner nur immer mehr aus sich heraus. »Ach Gott, lieber Freund, Sie müssen nicht denken, daß ich etwa nicht Ihrer Ansicht bin, so friedlich ich eben sonst bin. Ich würde alles tun, was ein Mensch nur tun kann, wenn Sie mir garantieren, daß ich damit nicht nur den Einzelnen, sondern die ganze menschliche Dummheit in Fetzen reiße.«
»Sie haben leider recht, Meister«, meint Landshof.
»Aber das alles, guter Rabenvater, sind ja keine Dinge, die so einen alten politischen Stromer, wie ich es bin, aus der Ruhe noch bringen würden. Ich habe so wenig dagegen, daß das Warenhaus von Rosenthal & Pfeffer in Allgemeinbesitz ... oder wie Sie es nennen wollen ... übergeht, wie ich etwas dagegen habe, wenn Sie es mit dem Bankhaus Speier & Landshof tun würden. Sie sollen mich nur meinen Fähigkeiten entsprechend beschäftigen. Und mich geht auch die Hand voll jüdischer Menschen nichts an, trotzdem ich doch selbst dazu gehöre. Es kratzt mich wohl unangenehm, aber es verwundet mich nicht. Es ist kaum ein Streifschuß. Ich bin gewohnt, politisch zu denken, und ich weiß, was los ist.«
»Antisemitismus ist der Sozialismus der Dummen, das hat schon der alte Bebel gesagt«, meint Doktor Rabe und gießt Tee ein. Die Atmosphäre ist hier so ausgeglichen, daß selbst politische Dispute wie Plaudereien am französischen Kamin wirken.
»Was die Leute da machen,« fährt Landshof auf, »ist nicht mit einer Binsenweisheit abzutun. Das ist mehr. Und einzig darum zittre ich davor, Rabenvater. Ich habe in meiner Jugend richtiggehend noch Gemore gelernt, und wollte sogar Rebbe werden. Ich fehle noch heute an keinem Schabbes in der Synagoge. Aber zuerst bin ich Mensch, und dann Jude. Und zuerst will ich, daß der Mensch als Mensch auf dieser Welt lebt. Selbst, wenn er es nicht wert ist, wie die ... also ... also reden wir nicht weiter darüber: Finden Sie nicht eigentlich Gumpert nett? Wie lange kennen Sie ihn schon, Meister?«
»Na, so fünfundzwanzig Jahr bald, denke ich«, meint Fritz Eisner. (Jetzt schläft Ruth sicherlich.) »Und ich bin immer gut mit ihm ausgekommen. Sonst ist es doch meist bei Jugendbekannten so, daß, wenn der eine einen Namen bekommt, und der andere reich wird, nimmt der eine dem andern sein Talent, und der andere dem einen sein Geld übel. Das habe ich dutzendmal erlebt. Das heißt, ich kenne es nur von der einen Seite aus. Und wenn das richtig ist, was ich immer sage, die besten Freunde sind die Leute, die uns sogar so gern haben, daß sie dezent genug sein können, sich nicht um unsere Angelegenheiten zu kümmern, dann muß ich Paul Gumpert schon zu meinen allerbesten Freunden zählen. Und denken Sie, Landshof, hören Sie zu, Doktor Rabe: er war doch gestern kaum betrunken, und trotzdem hat er mir ganz offensichtlich Geld, money, Zaster, Dollars, Pfunds, Pinke-Pinke, Gulden, Schweizer Franken, was ich immer hätte von ihm haben wollen, das hat er mir pumpen wollen. Und, wo Geld anfängt, hört doch sonst die Freundschaft auf. Ich glaube nebenbei zwar nicht, daß er gerade jetzt Sorgen hat ... (So sah's ja nun wirklich nicht aus.) Dazu ist er ja auch zu groß und eigentlich nicht zu erschüttern; aber, daß er so ein ganz klein wenig einen dicken Kopf hat, wie man zu sagen pflegt, das war doch eigentlich schwer zu übersehen. Nicht wahr, Herr Landshof?«
» Ich glaube,« meint Landshof, (bisher war er Kommunist und jetzt ist er der Großbankier) »es scheint mir«, meint er sehr bedächtig, »Gumpert liegt auf der falschen Seite. Ich habe ihm das auch gesagt. Ich verstehe von seiner Sache nicht viel. Aber ich sehe doch den Kurszettel, und habe doch meine Informationen. Gewiß, letzten Endes wird er recht behalten mit der Kunstseide. Aber, ob er es als Kaufmann noch erleben wird, das ist die Frage. Die heutige Zeit ist mit vielem fertig geworden. Sie kann auch mit Gumpert & Mühsam eines schönen Tages fertig werden. So was muß natürlich nicht sein ... aber es ...!«
»Gewiß, als Kaufmann kann ich ihn auch nicht beurteilen, aber, wenn er da ebenso klug und vorsichtig ist, wie er als Sammler ist, wird er wohl schon wissen, was er tut«, meint Fritz Eisner. (Gute Zigaretten hat der Rabe.) »Wirklich als Sammler setzt dieser Gumpert einen Fuß vor den andern, wie ein Maultier auf dem Saumpfad. Ganz sicher, fast schon mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, hat er sich ein gutes Stück nach dem andern gekauft und eigentlich nie vorbeigegriffen. Gewiß, er hat gute Berater gehabt, aber er selbst hat noch einen viel besseren Sinn für Qualitäten gehabt. Und er hat immer genau gewußt, wann er zugreifen muß und wann nicht, von Anfang an. Er hat das gesammelt, was ich hätte sammeln mögen, wenn ich seinen starken Atem gehabt hätte. Und er ist nie kleinlich gewesen. Er hat lieber für ein gutes Stück zwanzig Mille gegeben, als für zwei mittlere je zehn. Solchen Menschen lieb ich nicht nur, den verehre ich geradezu. Na ... und hat er etwa mit Joli einen schlechten Geschmack gezeigt? (Wir stehen gleich jenem in der Sünder Reihe!) Naja, ich kannte doch auch seine Frau, wie sie noch M'chen Liebmann war. Es war eine Vernunftsehe. Und bekanntlich gibt es keine Ehe, die so unvernünftig ist, wie eine Vernunftsehe. Daher wohl auch der Name. Gumpert hätte gern meine Schwägerin damals geheiratet. Sie war auch reizend. Und er war nicht der einzige. Es war eine ganze Aktiengesellschaft, die sie heiraten wollte. Und einer kann doch nur bei so einer Aktiengesellschaft zum Schluß die Aktienmehrheit bekommen. Und den Vorsitz bei den Hauptversammlungen führen. Naja, und das war er eben nicht. Und deshalb hat er dann M'chen Liebmann geheiratet. Was vom kaufmännischen Standpunkt aus berechtigt und durchaus klüger war. Meine Schwägerin, Hannchen Maier, ist indessen krank geworden, seit Jahrzehnten leidend, verarmt, früh gealtert und eheverlassen, und was man will ... Ihr Sohn Lulu, auch Ludwig das Kind genannt, ist nebenbei ein eifriger Parteigänger von Ihnen, Landshof, oben in Berlin.« »Ludwig Maier? Ludwig Maier?? Da wollten wir doch mal solch einen jungen Menschen aus Berlin eventuell nach Rußland zur Weiterausbildung in die Parteischule schicken. Hieß denn der nicht so? Das kann doch immerhin sein: Guter Redner, ein bißchen sehr jung noch, reichlich verworren noch, aber begabt. Sie haben nichts davon gehört?! Woher sollten Sie auch? Er selber wird es noch garnicht wissen.«
»Also, Paul Gumpert ist der einzige aus der ehemaligen Aktiengesellschaft, der sich heute noch – und dabei hat er nicht mal Vorzugsaktien gehabt – heute noch um Hannchen, die so ein bißchen in Kunstgewerbe macht, noch sehr geschickt kümmert, ohne daß sie es eigentlich merkt. Er ist schon ein anständiger Junge. Und dabei ist er doch so reich geworden, daß er das garnicht mehr nötig hat, anständig zu sein. Und er ist auch wieder der erste von meinen alten Berliner Freunden, der sich hier um mich gekümmert hat. Ich bin garnicht so für Freunde. Ich halt's mit dem ollen Ibsen: ›Troll, sei dir selbst genug.‹ Aber, daß er da gestern plötzlich kam, hat mich doch eigentlich sehr gefreut. Ich hab's gerade sehr brauchen können. Es war doch ganz nett, trotzdem ich, als meiner Mutter jüngster Sohn, solche Lokale nicht liebe, in denen der Kellner vornehmer als die Gäste ist. Ich verstehe dann immer nicht, warum er die Gäste bedient, und die Gäste nicht ihn!«
»Wie kommen Sie eigentlich zu dem Marinier, Eisner?« meint Landshof sehr nachdenklich und sieht Fritz Eisner mit seinen großen dunklen Augen von unten her in einem leisen Staunen, in solcher Art Frisson von Staunen, an.
»Aus der Pension her. Ich kenne ihn auch nicht näher. Er ist nur mit einem Kapitänleutnant da befreundet, der ganz charmant wie alle die von der ehemaligen Marine ist, und wie alle die etwas anglisiert, und immerhin mit einem weiteren politischen Blick begabt ist, wie die Stoppelhopser aus dem alten Heer. Als ich zum Beispiel hier, das ist schon bald ein Menschenalter her, als preußischer Spion hier bei den Schniegerl diente, da hatten ... wir einen Secondeleutnant, der hatte von seiner Königlichen Hoheit, dem Herrn Prinzregenten Luitpold eigenhändig an Dienstrevolver bekommen, damit durfte er jeden, den er traf, wenn er noch dummer war, als er, sofort totschießen. Aber er soll ihn bis heute, auch im Krieg, nie gezogen haben. Ach Gott, sie sind so alle eine Sorte eigentlich. Ganz freundlich, diese Mariniers. Vielleicht sind sie es auch nicht. Ich habe zum Beispiel doch immer im Krieg gefunden, – soviel ich davon weiß – daß letzten Endes noch die geringere Verrohung bei den Mannschaften war. Aber man kann natürlich in so was nicht generalisieren. Und außerdem, die meisten Rohlinge vergessen in meiner Gegenwart, es zu sein. Weil ich ihnen keine Gelegenheit dazu gebe. Zu mir sind sie also immer sehr freundlich, diese Mariniers. Ich bin nämlich für sie solch alter Karpfen mit Moos auf dem Kopf. Leicht ehrwürdig schon und etwas stupide. Und ich lasse sie gern bei dem Glauben. Wissen Sie denn mehr von ihnen??«
»Ach nein«, meint Landshof sehr ruhig, »ach nein ... durchaus nicht, wirklich nicht ... ich meinte nur Sie wissen etwas.«
Und plötzlich hat der Doktor Rabe sich zurückgezogen, ohne daß es einer gemerkt hat, hat drin im dunklen Nebenzimmer den Flügel geöffnet und zu spielen begonnen. Und Zorn und Groll und Leidenschaft und unerwiderte Liebe und Unglück ... die Männertränen des ersten Satzes der Apassionata kommen wie Anklagen, Schmähungen gegen das Schicksal aus dem Dunkel in den goldroten, kerzenlichtdurchzuckten Raum hinübergeweht. Mal wie Sturmwind über aufgewühltem Meer, der den Gischt von den Wellenköpfen mitreißt und einem ins Gesicht peitscht. Und mal wie das tiefe Atemholen dazwischen, die Sekunde der Ruhe im Aufruhr der Luft und der Wellen.
›Wie merkwürdig‹, denkt Fritz Eisner. ›Der Mann spielt doch eigentlich etwas, das mich sehr angeht. Und das doch in diesem Augenblick schon irgendwie hinter mir liegt, als ob es eigentlich schon garnicht mehr mein Leben wäre.‹
Aber plötzlich leitet der da drin in den zweiten Satz über, ins des-Dur-Adagio, leicht, lockend, heiter und weich, Tröpfeln vom Laub der Bäume und das Aufzwitschern eines dadurch erwachenden Vogels dazwischen. Nacht und Mond und weißer Nebel über einer Wiese. Die Welt kann sehr schön sein, und das Leben sehr glücklich. Nicht froh gerade, aber weich, glücklichmachend und streichelnd wie eine Frauenhand. Es kann so sein, daß man sich mit vielem aussöhnt, was man als unversöhnlich je empfunden hatte. Wie hauchleicht es aus dem geheimnisvollen Dunkel herüberweht. Wie der Mondschein selbst. Wie der Wind, der durch die Erlen am Seeufer seufzt. Der Mann dadrin spielt nicht mehr. Er liebkost nur die Tasten, und sie seufzen ihre Klangseele in die warme Finsternis hinein.
Dann hört man drin den Deckel des Instruments leise einschnappen, und der Doktor Rabe steht wieder zwischen ihnen. Man weiß genau, daß er es nicht schätzt, gelobt zu werden, und deswegen redet eigentlich keiner von seinem Spiel.
»Wissen Sie auch, daß wir heute ein kleines Mädchen bekommen haben?« sagt Fritz Eisner.
»Deswegen habe ich Ihnen auch das vorgespielt«, sagt der andere und gießt sich umständlich am Samowar eine Tasse Tee ein.
Landshof lächelt still vor sich hin. »Hoffentlich ist Ihre junge Frau zu dem Gartenfest wieder vernehmungsfähig. Für mich ist das nämlich Ihre Frau ..., nichtwahr?«
»Jedenfalls geht es ihr ja nicht schlecht«, meint die kleine schwarze Rabenmutter. Der Name ist schlecht gewählt. Sie ist ja nur eine Rabenfrau. Aber sie ist die Mutter für so viele, die keine mehr haben, oder deren Mutter nicht gerade parat und greifbar ist, daß der Name doch richtig gewählt ist.
Und dann sitzt man, plaudert ... Landshof ist merkwürdig still doch geworden; vielleicht hat er ein bißchen viel geredet schon heute. Man spricht von den Dingen, von denen man in München immer spricht in diesen Kreisen. Von Kunstausstellungen und Ausflügen ins Gebirge, vom Walchenseeprojekt, und ob das je fertig werden wird. So etwas weiß Landshof. Fritz Eisner kämpft dafür, daß man die fahrbaren Feldbibliotheken wieder aufkauft, und sie als Lichtbringer ins flache Land schicken soll. Aber wo sind sie hin? Aber wo sind sie hin? Für bessere Trinkgelder verschoben, wie unsere Lastautos aus dem Krieg, die heute in Spanien über die Pyrenäenpässe rollen, während wir keine mehr auch nur für die allernötigsten Transporte von Gütern und für die Landwirtschaft haben. Die kleine ältliche Russin schimpft auf alles, haßt alles, aber sie schimpft klug und haßt nicht grundlos. Man fühlt doch, daß sie auch verehren und lieben könnte ... nur gibt es hier nichts für sie außer einem kleinen Faunskopf in der Glyptothek, und den Sonnenblumen geradeüber von van Gogh.
»Spielen Sie uns noch was«, bittet Fritz Eisner. »Etwas von Bach, Rabenvater.«
»Also, dann will ich mich ... fügen«, sagt der Rabenvater. Alle lachen. Und trotzdem hört jeder das sicher zum zehntenmal von ihm.
Dann aber baut er da drin auf seinem Bechstein wie in alter Werkkunst die feine, mathematisch-klare und mathematisch-genaue Gothik solches Tongebildes auf, stellt es wie einen gespenstischen Dom in die Nacht hinein. Denn die Kerzen sind bald heruntergebrannt. Die Gardinen hat man beiseite geschoben der Kühle halber, und draußen vor den breiten Fenstern träumt eine wundervolle Nacht. Eine schmale Mondsichel hängt rötlich fern über Baumkronen. Die Nachbarhäuser sind ganz in Gärten versunken, kaum daß ein Dach und ein Giebel aus der Laubfinsternis dämmert. Wenige Laternen ... hier ist die Straßenbeleuchtung nicht splendide, seit Jahren wird darüber geklagt; aber für so etwas hat man jetzt kein Geld ... schimmern wie Leuchtkäfer durch die Pappeln und Rüstern. Ein Wasser, das unweit dem Haus vorüberzieht, schnell und fließend, wie alles hier, gluckst und gurgelt manchmal durch das Atmen der Büsche.
Über all dem jedoch liegt der glitzernde Duft der Sterne. Eine Sternennacht, wie sie im Norden kaum der August hat. Denn die bayerische Hochebene mit ihrer dünnen Luft hat nicht nur schöne Wolkengebilde, sondern auch schöne Sternennächte: und der Himmel ist schon nicht mehr ganz der des Nordens. Er erscheint einem irgendwie fremdartig und südlich in seinem funkelnden Reichtum der Sternbilder, die man nicht sogleich erkennt ...
Aber nun will man doch gehen. Trotzdem es sonst oft hier sehr spät schon geworden ist.
Der Rabenvater und die Rabenmutter begleiten ihre Gäste noch bis an die Gartentür.
»Bei mir verkehrt man. Eingeladen wird nicht. Ich bitte das nochmals zur Kenntnis zu nehmen«, sagt der Doktor Rabe jedem, während er ihm die Hand schüttelt. »Bei mir wird man auch eingeladen ... nämlich wieder zu kommen« sagt die Rabenmutter.
»Die Güte der Bewirtung wird bei uns durch Sonnenuntergänge ersetzt«, meint Doktor Rabe.
»Und ... Musik!« sagt Fritz Eisner. »Nochmals tausend Dank.«
Die kleine Russin, das weiße Eichhörnchen, wohnt gegenüber, und die Lehrerin wird überhaupt über Nacht da bleiben. Sie geht Sonntagabend in München nicht gern über die Straße. Und auch in der Straßenbahn hat nach zehn Uhr jedwedes solch einen kleinen Rausch. ›Nüchterne sind nach den Statuten von der Fahrt auszuschließen!‹
»Soll ich Sie mit meinem Wagen erst nach Hause bringen? Ich habe ihn aufmachen lassen. Es ist schön luftig. Der kleine Umweg macht mir nichts aus.«
»Ach nein«, meint Fritz Eisner, »nehmen Sie es mir nicht übel, Landshof. Ich möchte gerade gern heute noch ein bißchen gehen. Es ist solch herrliche Nacht.«
Aber Landshof versteht. »Gewiß«, sagt er, »ich kann das Ihnen vollkommen nachfühlen. Sie wollen etwas allein sein, nach all dem. Ich seh Sie dann oder vorher nochmal. Meine Frau kommt auch bald heraus, sobald Ihre Frau Besuche empfangen darf.«
Fritz Eisner lacht. »Na, hoffentlich wird es ihr dann gehen wie meiner Großmutter. Sie war berühmt dafür, daß sie Wochensuppen kochen konnte ... Früher hat man ja die Wöchnerinnen acht Tage hungern lassen. Und als nun Frau Giese, die Schwester ihrer Köchin, das sechste Kind bekommen hatte, da stellte sich meine Großmutter selbst an den Herd und komponierte eine ihrer herrlichen Wochensuppen. ›So, Karoline‹, sagte sie ›nun nehmen Sie mal die Wochensuppe und tragen Sie‹ ..., das heißt, sie wird wohl du gesagt haben ... ›also trag se gleich mal zu deiner Schwester hin.‹ Aber nach fünf Minuten war Karoline schon wieder da. ›Na, Karoline, warum kommste denn so schnell schon wieder?‹ sagt meine Großmutter. ›Ick bin jarnicht reinjejangen‹, sagt Karoline. ›Das finde ich auch sehr recht von dir, daß du die Wöchnerin nicht stören wolltest.‹ ›Ach nee‹, meint Karoline, ›nee doch, Madame, det is doch Freitag heute, und den Freitag, wo meine Schwester dran is, daß se de Haustreppe scheuern muß ... und da hab ick ihr die Suppe denn jleich auf de Treppe jejeben‹!«
Landshof lacht immer noch schallend, als er im Auto sitzt: »Also ich wünsche Ihnen, daß es so sein soll. Auf das Treppenscheuern legen wir keinen Wert. Man ist auch von Wochensuppen in der neueren Medizin zu Lindtschokoladen übergegangen.«
Und damit schaltet Landshof, lacht, winkt und gleitet fast lautlos, aber sehr schnell davon, in die Lichtkegel seiner Scheinwerfer hinein, die das Laub der Bäume am Weg hellgrün und fantastisch aufglühen machen.
Und Fritz Eisner geht auch, atmet auf, wendet sich um: Wie schön diese Nacht ist! Was mag Ruth jetzt machen? Nuckelino, was tut dir heute weh? Garnichts wird dir weh tun. Und das kleine Wesen! Maud ist doch kein hübscher Name, schmeckt nach schlechten englischen Romanen und nach den Abziehoblaten von Filmdivas. Eigentlich sieht das Kind ja doch wie der Leierkastenaffe Chicco aus. Wie wundervoll so der Sternpuder da zwischen den Baumkronen am Himmel da oben stäubt und flimmert! Und warum nur alle Pflanzen des Nachts so viel mehr duften als am Tag. Hier müssen wo Birken stehen. Ach, natürlich, da drüben sind sie.
›Heiliger Himmel, was knallt denn da mit einmal, eins, zwei, drei, vier Schüsse. Das kann garnicht weit von hier doch sein. Hört denn diese blöde Schießerei hier draußen noch nicht auf? Das habe ich doch seit mindestens vier Monaten nicht mehr gehört? Aber Platzpatronen waren das nicht, die bellen mehr. Das waren auch keine Gewehrschüsse, die kreischen mehr auf. Und summen dann noch nach wie Hornissen. Das müssen Maschinenpistolen gewesen sein, so ganz kurz aufeinander und dann schnattern sie so etwas ... pach pach pach packk ... das wars. Und scharfe Schüsse waren das sicher! Aber hören tut man garnichts mehr, nur einen Augenblick wars, als ob einer wimmerte. Aber es kann auch ein Fensterladen gewesen sein, der gequietscht hat. Es ist garnicht so ganz windstill ... Nein, das ist ein Auto, was da Signal gibt ... Es wird garnichts sein, nur die übliche Sonntagsschießerei von ein paar angetrunkenen Soldaten vielleicht, die morgen mit drei Zeilen in den Münchner Neuesten abgetan wird: ›Zu einer Schießerei kam es in der Gartenwirtschaft zum Miesbacher Toni in der Niederbergerstraße ...‹ Das Dumme ist aber, daß man sich über so etwas ja doch immer wieder erschreckt, trotzdem man genau weiß, es ist eigentlich nichts passiert. Schön – wenn Krieg ist! ... Davor is eben Krieg ...! Aber im dicken Frieden müßte so etwas doch verboten sein.‹
Dann jedoch nimmt Fritz Eisner den Stock Marley in die Faust und marschiert stramm vor sich hin. Er pfeift sogar: ›Ein freies Leben führen wir‹ und dann ›Nun leb wohl, du kleine Gasse‹. Aber er braucht garnicht zu pfeifen, um zu zeigen, daß er keine Furcht hat, denn es begegnet ihm hier draußen in dieser sternschönen Einsamkeit ja kein Mensch, vor dem er Furcht haben könnte.
Und endlich ist wieder das Leben da mit Straßenbahnen und Gartenlokalen, aus denen die letzten Gäste turkeln, und Musikern, die, Trompeten in schwarze Tücher gehüllt, noch mit den letzten Mädchen unschlüssig an der Eisenpforte stehen. Hinter dem Siegestor, ganz in der Ferne dämmert durch das Laubnetz hoher Pyramidenpappeln die Lichtfülle der Ludwigstraße schon. Gott Lob, daß er bald zu Hause ist.
Der breite Platz vor der Akademie ist wieder nächtig dunkel und zeichnet die Schatten des Dachs und der Bauformen auf seinem Pflaster groß und italienisch wuchtig ab. ›Tags ist das eine aufgeblasene Langeweile. Nachts doch immer ein Stückchen Italien hier‹, denkt Fritz Eisner.
In der Tür drüben stehen die drei Mariniers. Wie sie ihn ankommen sehen, geben sie sich plötzlich lachend und geräuschvoll die Hände, verabschieden sich ostentativ-lustig von einander. »Good bye, old boy«, rufen zwei dem Dritten über die ganze Straßenbreite noch nach. Ob der eine die beiden andern bis hier herangebracht hat, oder, ob die beiden den einen heruntergeleitet haben, läßt sich eigentlich nicht sagen. Als Fritz Eisner an den zwei vorübergehen muß, lachen sie ihn sehr freundlich und von Herzen guter Dinge an und sind überhöflich zu ihm. ›Nein, er brauche nicht abzuschließen. Sie würden es für ihn tun.‹ Das Haustor war offen. Also werden die Mariniers den Dritten doch nur heruntergebracht haben.
Wie aber Fritz Eisner im Dämmer die Treppe hinauftappt, sagt es in ihm plötzlich: ›Was in aller Welt nochmal mag das da nur für eine Schießerei gewesen sein?!‹
*
Ja, und dann kommt eine sehr nette Zeit für Fritz Eisner. Und München ist doch wirklich eine reizende Stadt. Man kann sich gar keine bessere wünschen. Man kann im Hofgarten Nachmittag sitzen, und man kann in die Nepomukkirche von Asam gehen in die Sendlingerstraße, und man ist in einem bunten Engelschwarm wie in einem Flug von bunten Schmetterlingen plötzlich. Es sind Museen da, und es sind nette Cafés da. Und wenn man über die Straße geht, erlebt man immer irgend etwas. München ist ja eigentlich keine Stadt zum Schlendern, wie Wien oder Paris, aber es ist auch keine Stadt, in der ›arbeiten‹ nur mit großen Buchstaben geschrieben wird, wie in Berlin, wo man glaubt, daß der Mensch für die Arbeit da ist, statt erkannt zu haben, daß die Arbeit für den Menschen da ist.
Und Ruth gehts wirklich vorzüglich, eigentlich. Fritz Eisner ist jeden Vormittag und Nachmittag da draußen bei ihr und schleppt von dem Schrannenmarkt an Blumen heran, was es gibt. Kleine blaue Schwertlilien und Moosrosen und Rhododendren und Alpenkornblumen und Türkenbund und Venusschuh, Bergrosen, die zehn mal so rot wie Heckenrosen, Nelken und große Enzianen wie eine blaue Nacht in Tunis, und kleine duftende Nigritellen, die nach Schokolade und Vanille riechen. Die Blumenfrauen da kennen ihn schon. Das schönste sucht er in den Körben ... denn eigentlich sollen ja diese Blumen überhaupt nicht gepflückt werden oder gar in den Handel gebracht werden. Und Fritz Eisner würde sicher in Strafe genommen werden, wenn er es, wie der Dichter wünscht, auf den Fluren gesucht hätte (ganz abgesehen davon, daß sie da meist garnicht wachsen). Aber hier kümmert sich eigentlich niemand darum. Außerdem sind sie seit Jahrzehnten gepflückt worden, und da sehen die alten Frauchen, die sie sammeln, garnicht ein, warum das mit einemmal unter der neuen Regierung nun anders werden soll. Und wo sie sie finden, und sie ihre Großmutter schon gefunden hat, do werdens a net weniger, denn, da kommen die Fremden, die Preißen, ja doch nicht hin, die wos so sinnlos abbrocken tun ... Nachdem die Blumenvasen der Anstalt erschöpft sind, kommen alte, gesprungene, ausrangierte Gläser für Wattetampons, Klammern, Pinzetten und Instrumente heran, um ihre Buntheit und Fülle aufzunehmen.
Ruth gehts wirklich sehr gut. Sie hat keine Ohnmachten mehr. Nicht mal leichte. Sie ist weder schwach, noch blaß, hat sich all ihre Seiden- und Spitzenwäsche mit hier herausgenommen, wie auf eine Hochzeitsreise. Und sie sieht wunderhübsch darin aus. Sie hat kein Fieber (kaum ein bißchen erhöht, aber das muß eben so sein). Und die Sache mit dem Bluten ... naja, daß das nicht so schnell, wie bei andern, aufhören würde, das hat man sich ja gleich gesagt. Außerdem ist es ja eigentlich nicht der Rede wert, was sie noch verliert an Blut. Und dann ist es nur eine vasomotorische Störung. Solche Dinge sagen die Ärzte immer, wenn sie mit ihrem Latein zu Ende sind, und mans nicht merken soll; und vasomotorisch ist gerade wieder mal sehr Mode. Der Mann mit den geplätteten Ohren ist sehr, überaus zufrieden mit ihr und mit sich. Auch so freundlich ist er zu ihr, hat sich neulich sogar neben das Bett gesetzt und sich mit ihr unterhalten. So leutselig wie das Schwester Vronerl in all den Jahren kaum erlebt hat, daß er zu einer Wöchnerin g'wesen sei.
Und vor allem ißt Ruth an einem Tag so viel, wie sie es sonst fast nicht in einer Woche getan hat, freut sich von einer Mahlzeit auf die andere. Schon, daß es kein Kordonetbief gibt ... denn sie hatten zu Hause eine Weißnäherin, die sagte, sie könne das ewige Kordonetbief, das sie an allen feinen Häusern jetzt kriegt, schon nicht mehr sehen, ohne übel zu werden ... schon das begeistert sie. Wirklich, sehr munter ist sie. Und sie sieht auch garnicht ein, warum sie nicht schon aufstehen soll.
Und das Kind ist gerade genau so gesund und so kräftig und so munter ... dabei schläft es von vierundzwanzig Stunden zweiundzwanzig am Tag ... wie es nur sein kann. Nur, daß es schöner und vernünftiger und lebhafter ist, als die gesamte Konkurrenz hier. Nur ein Kind wäre ebenso reizend, sagt die Schwester Vronerl, das von der sechzehnjährigen Muatter, die leider gleich nach der Geburt hieg'wesen ist, dös arme Ding, dös. »Schrecklich, stell dir das vor, sechzehn Jahre! Oder sie wäre sogar erst sechzehn geworden! Was braucht so etwas überhaupt schon so etwas wie ein Kind zu kriegen? Verstehst du das, Yorilein?!!«
»Seit wann bin ich denn Jurist ... das ich so etwas verstehen sollte, mein Nuckelino?! Aber reden wir von anderen Dingen.«
Die ganze Zeit plaudert Ruth und liest oder schreibt Briefe und allerhand sonst, was sie so immer tut, ohne Ermüdung in den unmöglichsten Körperlagen, in denen jeder andere innerhalb von drei Minuten einen Starrkrampf bekäme. Denn sie liebt es sehr – im Gegensatz zu Fritz Eisner, den schon der Geruch von Tinte übel macht, trotzdem doch Schreiben sein Metier ist – mit der Feder umzugehen. ›Kinder kriegen,‹ sagt sie, ›macht ihr garnichts. Jeden Monat zwei, wenn's sein muß.‹ Aber das wäre auch wieder übertrieben. Nur die Zeit vorher möchte sie nicht nochmal durchmachen. Wenn sie daran zurückdenke, käme sie sich wie der Reiter über dem Bodensee vor.
Ja, und ein Tag geht so nett in den andern hinüber. Fritz Eisner steht früher auf, liest noch etwas, arbeitet, denn endlich muß er ja was tun! – schreibt mal an seine Frau, wie es nun eigentlich mit der Scheidung stände, macht sich Notizen für seine Berichte aus den neuen Büchern, schmökert aber wie stets lieber in alten herum, um sich da Kostproben herauszupicken. Und dann wartet er noch die zweite Post ab, steckt sich die Briefe für Ruth in die Tasche und macht sich so fertig da zu Ruth herauszupilgern, so langsam, um zehn so ungefähr. Er schlendert noch über den Korridor, plaudert mit Zimmernachbarn oder was seinem Naturell mehr liegt, mit Zimmernachbarinnen, und sucht sich die Theres, um ihr zu sagen, und auf die Seele zu binden, von den Büchern, Zetteln und Schreibereien nichts anzufassen.
Die Theres steht aber heute mal zufällig im Zimmer des Korvettenkapitäns, der gerade mal auf ein paar Tage verreist ist ... ein Journalist ist ja viel unterwegs.
»Also, Theres, nichts auf dem Tisch, und vor allem auf dem Schreibtisch anfassen. Schwören Sie mir beim heiligen Josef!«
»Ah, Sie sind aber an Schlimmer«, meint Theres verschämt, als ob das ein unsittliches Begehren wäre.
Und dann fährt Fritz Eisner zu Ruth heraus, die immer noch im Bett liegt, jeden Morgen sich mit einem neuen seidenen Spitzenhemd anputzt, und von Tag zu Tag hübscher wird, sich mehr und mehr erholt und besser aussieht. Nur noch liegen bleiben soll sie. Sie versäumt ja nichts. Es ist auch ganz hübsch hier oben. Das Haus liegt frei, und, wenn man auch auf keine gelbe Wiese gerade herab – die von Tannen umsäumt ist, und auf den Glanzschnee der unweiten Berge grade hinübersieht, und, wenn auch diese Wiese, die nicht-vorhandene, keineswegs ein Phänomen ist, wie jene es war ... denn am Vormittag war sie gelb, und am Nachmittag grün oder sonstwie bunt, wie eben Wiesen im Mai zu sein pflegen ... und das kam daher, weil sie ganz mit übergroßen gelben Sonnen des Tragopopon ... solche Quartausgabe des Löwenzahns, der Butterblume ..., besternt war; und diese Sonnen öffnen sich mit ihren gelben Strahlen nur in den Vormittagsstunden, und schließen sich schon um die Mittagszeit wieder ... wenn auch hier von solchen täglichen Wundern, wie draußen in Ebenhausen, keine Rede sein konnte, und nur Baustellen mit Beifuß und Knöterich und gutem Heinrich und alten Sprungfedermatratzen, verrosteten, und Emailleeimern ohne Boden und Steingutscherben von Maßkrügen da unten waren, und links auf dem Fußballplatz der Mann mit den hundert Beinen sich austobte ... rings um das Haus, ... weiter draußen, gab es doch dann Felder, Bäume und Lauben, und ferne, blauduftende Bergzüge mit Silberpuder drauf. Und es gab den tiefen Himmel mit den weißen Wolkenstreifen, der München so schön machen kann.
Das Kind ist wirklich ganz nett. Erst hat es etwas abgenommen. Und nun beginnt es zuzunehmen. Um das Kind braucht sich niemand Sorge zu machen. Es gedeiht eigentlich von selbst. Es schreit und schläft sich so langsam ins Leben hinein. Aber nach ein paar schönen Tagen meint der mit den geplätteten Ohren, es wäre doch Zeit, daß man es in die Anstalt da gibt, da könne man eben immerhin besser auf das Kind achten. Hier sei man mehr für Brustkinder eingerichtet. Und Fritz Eisner muß selbst mit einer Schwester den Transport überwachen. Die Schwester ist ein sehr junges, blondes Ding, aus der Ulmer Gegend. Sie ist gar keine Schwester, sondern eine Hilfsschwester noch. Und sie ist sehr stolz auf die verantwortliche Mission, zu der man sie ausersehen hat, ist von einer stillen, durchglühten Zärtlichkeit zu dem Kind, das sie da im Arm hält. Das heißt, zu dem gazeverschleierten Bündel, das es birgt. ›Eine schwäbische Madonne eines Ulmer Schnitzmeisters‹ denkt Fritz Eisner, ›sehr herb und sehr lieblich zugleich ...! Da schreiben sie nun dicke Bücher, die Herren Kunsthistoriker, über: ›Das Deutsche in der Kunst.‹ Arbeiten mit Stämmen und Ländern, und keiner denkt daran, einfach einmal die Menschen der Gegenwart und die Bildwerke von ehedem in den Typen und in ihren seelischen Bezirken gegenüberzustellen: schwäbische Menschen und schwäbische Bildwerke.‹
Das Haus, in das das Kind – man hat sich auf so viel Namen geeinigt, daß jeder eigentlich es nennen kann, wie er will ... Ruth bleibt bei Maud und Fritz Eisner ist zu Isotta übergegangen – das Kind also gebracht wird, liegt mitten in Laubbäumen, ist hell mit Terrassen umgeben und blitzsauber, mehr Villa als Kinderheim, mit großem rasengrünen und rosenduftenden Garten, in den, statt der Büsche, Körbe mit schlafenden Säuglingen gepflanzt sind. Es hat, wie alle solche Häuser, eine Oberschwester, die sehr lieb, sehr vornehm und sehr leise ist. (Aber, man soll sie mal mit der Schwester Agathe keifen hören, wenn was nicht klappt, und die Kinder ihrer Abteilung mehr Stuhl haben als Vorschrift ist). Nur eines unterscheidet eigentlich dieses Haus hier von den Villen seiner Umgebung. Es ist ständig ... wie solche Radiostation von unsichtbaren Wellen ... von den unsichtbaren Wellen eines unerhörten Geschreis umflossen, ein Papageienhaus ist ein Menonitenkloster dagegen.
Und das Kind wird unter unvermeidlichen Förmlichkeiten übergeben. Die Schwester Agathe findet's so an herziges Butzerl. Aber sie hat noch nie ein Kind übernommen, das sie nicht so genannt hätte, und wenn es wie ein abgezogener Hase ausgesehen hätte.
Als Fritz Eisner zurückkommt, weint Ruth. Sie ist sehr unglücklich, hätte das Kind ja doch lieber behalten; und daß sie es dort sehen kann, so viel sie immer will, genügt ihr ja eigentlich nicht, aber der Arzt wünscht es doch. Und dann geht's ja aus hundert Gründen wahrhaftig nicht (sowie sie wissen, wann sie heiraten können). »Aber sieh mal, es hat es weiß Gott besser da, als bei uns. Eltern sollten das immer tun. Es liegt da im saubern Trockenbett, hat von Minute zu Minute seine Wartung und Pflege. Keine nervöse Mutter reißt es aus dem Korb, wenn es gerade schlafen will. Und kein noch nervöserer Vater schreit, man soll den Arzt holen, es hat so komisch die Augen verdreht. Das wird der Anfang von Epilepsie sein. Ein angeheirateter Großonkel von seiner Mutter ist als Kind daran gestorben, das heißt, es können auch Zahnkrämpfe gewesen sein. Damals war die Medizin noch nicht so weit. Jedenfalls ist er gestorben. Ach nein, er ist ja nur beinahe gestorben. Richtig hat er das erst mit fünfundachtzig Jahren nachgeholt ... Da hat's also seine Wartung und seine Pflege, wird, sowie Sonne scheint, auf die Terrasse geschoben, wird vor und nach jedem Trinken gewogen. Kann die Ammen wechseln, wie andere die Krawatten ... wird entlaust ... (ach nein, das verwechsle ich) ... wird vom Arzt täglich fünfmal beäugt ... hat die sanitärsten Mundtücher seit Abraham ... lebt in wohltemperierten, staubfreien, durchlüfteten, ölfarbeglänzenden Zimmern ... kein Millionär kann sein Kind ...«
»Ja, aber der Millionär hat seine Million!«
»Irrtum, der Millionär hat seine Million auch auf der Bank liegen, und lebt nur von den Zinsen, und die hast du doch auch. Täglich zweimal kannst du dir davon abheben, soviel du brauchst. Und du hast deine Nachtruhe und ich habe vor allem die meine.«
Und dann sind sie wieder bei der Wohnung. Was nun mit solcher Wohnung alles sein kann ... woran man da denken muß, das ist überhaupt erstaunlich für Fritz Eisner. Genug, sie ist hübsch und bekommt Sonne. Und sie ist mit sehr anständigen, modernen Möbeln, solchen, die nach der Höhe der Mitgift variieren, und deren höchstes Lob es sein kann, daß sie nicht gerade beleidigend scheußlich sind ... es ist Geschirr da für Gut und für Alltag, und ebenso Gläser- und Silber- und Alpaccabestecke für zwölf Personen. Ja, und in der Küche haben sich sicher einige Kochtöpfe und Pfannen befunden, schon, weil die Leute ein Mädchen hatten, das jetzt bis zum fünfzehnten nach Haus gegangen ist, und für die doch gekocht haben wird. Und ein famoser Schreibtisch war da ... also ein Schreibtisch, groß, flach, niedrig, mit genug Platz für die Beine, und man konnte rechts wie links sicher alle Notizen ausbreiten, und hatte immer noch genug Raum für Manuskripte und Bücher neben sich, eine Seele, eine Köstlichkeit, ein Juwel von einem Schreibtisch. Und da will Ruth wissen, wie die Gardinen ausgesehen haben, wie tief sie heruntergegangen sind, wie die Fensterrahmen waren, ob es Spachtelgardinen waren und wieviel Kissen auf der ›Cautsch‹ gelegen haben. Also, das interessiert doch wahrlich keine Seele, ist doch völlig gleichgültig. »Ich glaube, die Gardinen waren aus rosa Tüll und in blauer Seide waren Josua und Kaleb, die Kundschafter, mit der Traube eingewebt ... und auf denen im Salon, ja da waren natürlich Pfauen zwischen Päonien. Ich kann mich natürlich auch irren: So genau habe ichs nicht gesehen. Beschwören kann ichs natürlich nicht. Gardinen! Was gehen mich überhaupt Gardinen an?! Ich bin gegen Gardinen.
Außerdem ist es ja doch nur ein Provisorium hier, mein Nuckchen. Ich bin wie eine Meise. Man kann sie mal ein paar Wochen in den Bauer sperren, aber man kann sie nicht lange drin halten. Sie kratzt aus, oder sie geht ein. Ich kratze ja doch hier aus. Ich gehe da doch dahin, wo ich mir Tropäolum pflanzen kann. Gott, bist du ungebildet! Was soll dein Soziologieprofessor einmal von dir nur denken?! Tropäolum ist so eine bunte, rote, feuerrote und gelbe Kapuzinerkresse, mit runden Blättern, graugrünen Blättern, und die Blumen sehen aus, wie bunte kleine Masken, die sich kupferne emaillierte Helme aufgestülpt haben. Damals habe ich sie mir auf meinem Balkon in der Kaiserallee gepflanzt, weißt du, in der Wohnung da habe ich das Kind verloren. Aber da wurden es nur kleine Murkels, kamen nicht hoch. Bei mir jetzt ranken sie im Herbst alle Zäune und Wege zu. Und wenn man tausend von den feuerroten Blüten in die Schalen getan hat, sind morgen früh wieder zweitausend neue da. Das ist wie beim chinesischen Feuerwerk, wo auch immer ein Stern aus dem andern kommt. Und eines schönen Morgens aber, nach dem ersten Frost, sind alle, aber auch alle, mitten in der Blüte noch, erfroren und zusammengesunken. Aber solange ... solange, verstehst du ..., haben sie durch Monate nichts getan als geblüht und schön ausgesehen ... Auf die Dauer wirst du mich hier doch nicht in ein Bauer sperren können, und dann gar noch in solch ein riesiges Vogelhaus, in solch eine Stadt, wie selbst Minka noch ist.«
Aber Ruth will eigentlich nichts davon wissen. Sie ist in einer Stadt aufgewachsen (wenn auch grüne Bäume vor ihren Fenstern waren da am Kanal) und sie will weiter dort leben. Sie braucht Menschen, Menschen und nochmal Menschen. Es können nie genug sein. Je mehr es sind, desto mehr Rhythmus kriegt das Dasein, und desto bunter ist es. Umgekehrt wie bei deinen ... wie hießen sie doch? ... Tropenkoller oder so ähnlich. Sie muß da sein, wo was geschieht, und liebt es nicht, dort zu sein, wo alles schläft, wie dein Tropäolumkoller. »Und dann will ich doch noch studieren, wenn ich mein Geld aus England erst habe. Und wie kann ich das, wenn ich auf einem Kaff mit dir wohnen muß?!«
»Gott, es gibt ja auch Kaffs bei Universitäten, Nuckchen. Aber, wenn du studierst, mußt du dich natürlich tätowieren lassen, sonst glaubt man dir deine akademische Bildung nicht. Und da wollen die Frauen doch nicht zurückbleiben. Die lassen sich jetzt auch tätowieren neuerdings.«
»Das haben wir nicht nötig«, ruft Ruth und lacht.
»Ja, und was willst du denn studieren? Ich finde immer all die jungen Menschen, die studiert haben ... wenn sie fertig sind, sind sie heute wie junge Vögel, die aus dem Nest gefallen sind ...«
Aber Ruth hält das für eine Verhöhnung ihrer heiligsten Lebenswünsche. »Also, wir wollen uns nicht zanken«, meint Fritz Eisner. »Man darf Frauen gegenüber recht haben, aber man darf es ihnen nie sagen, dann werden sie nämlich unangenehm.«
»Warum?« meint Ruth. »Ich werde ja ein Nest haben, also brauche ich nicht rauszufallen. Und einen jungen Vogel habe ich doch selber schon. Machst du dir eigentlich aus dem Bankert was?«
»Natürlich, sogar Shakespeare hat ja schon eine besondere Vorliebe für sie gehabt.«
*
Ja, so gehen die Tage hin. Eigentlich ist es immer das gleiche, nur, daß es etwas einsamer um Ruth geworden ist, und sie die Ruhe um sich und den gleichmäßigen Stumpfsinn der Umgebung ... alte gehen mit oder ohne Kind auf dem Arm aus dem Haus, und neue kommen allein herein, um auf den Augenblick zu warten, bis sie es, wie die andern, wieder verlassen können ... und es sind auch immer wieder die gleichen, schnell vergänglichen Sensationen, die ihr die Schwestern zutragen ... und daß sie diese Gleichförmigkeit um sich schlechter verträgt als vorher. Jetzt, da das Kind doch fort ist. Und selbst der Bericht, wie viel Isotta-Maud schon zugenommen habe, und daß sie nicht mehr so gräßlich schiele, sondern richtig um sich gucke, vermag ihre Verstimmung nicht zu zerstreuen.
Besuche bekommt Ruth kaum. Nicht mal die Frau Landshof, die doch kommen wollte, hat sich blicken lassen. Nur das Fräulein Lehmer ist mal da gewesen an einem Nachmittag, und hat ihr eine Tüte Malzbonbons mitgebracht. Wer sollte auch kommen?! Die Russin sogar, die wie ein weißes Eichhörnchen aussieht, und sich sonst viel um sie gekümmert hat, läßt sich ebensowenig sehen, wie die Rabenmutter. Vielleicht wissen sie auch nicht, wo Ruth sich aufhält. Nur eine sehr merkwürdige Dame wäre bei ihr aufgetaucht heute früh, deren untere Hälfte mit den Gesundheitssandalen Osiris und schwarzen Wollsocken entblößt, und deren obere Hälfte mit einer Art von Sack, der durch einen Druckknopf zusammengehalten wurde, verhüllt war, (gottlob, Ruth setzt so nett die Worte bei solchen Erzählungen) und die ihr die getrockneten Bananen und die Erdnüsse dort ... »(aber der Hofrat hat sie mir verboten) und das Buch über Säuglingsgymnastik mit dem Motto: ›Nicht fort – sollt Ihr Euch pflanzen, sondern hinauf!‹ gebracht hat, und die behauptet hat, sie kennt dich seit fünfundzwanzig Jahren. Wenn wir mal siebzehnhundert Kilometer westlich von Sidney bei den Goldwäschern sein werden (man weiß ja nie, was kommt, alter Hammel!), wird bestimmt auch eine Jugendliebe von dir in der Wüste zusammen mit einem Kängeruh angehüpft kommen. Und ihr Mann kennt dich auch. Ist das eigentlich der Wilhelm Klein. Du hast mir doch unterschlagen, daß du ihn kennst. Man kann wohl im Augenblick nicht besonders stolz darauf sein, ihn zu kennen, aber er würde mich schon brennend interessieren. Nur er wird so scheußlich doch jetzt angegriffen. Was ist denn da eigentlich los gewesen? Irgend eine schmutzige Affaire mit einem minderjährigen Angestellten in einem Nachtlokal, für die man die Beweise in der Hand hat.«
»Was ist das gewesen?!« ruft Fritz Eisner so laut, daß Ruth die Finger an den Mund legt, (nebenan ist eine schwerkranke Frau!).
»Hast du denn das nicht gelesen, da steht's doch selbst, wenns nicht wahr ist, so ist es doch sehr peinlich für einen Menschen, der im öffentlichen Leben steht, derart durch die Gosse gezogen zu werden. Garnicht seinetwegen. Aber die Sache, der er dient, und die er vertritt, wird doch dadurch schwer kompromittiert.«
»Höre«, meint Fritz Eisner und beginnt mit einem Stielchen Alpenrosen zu spielen, das er sich aus einer Vase zupft. »Ich glaube das nicht. Zum mindesten nicht in so grober Form. Ich kann natürlich nicht meine Hand für ihn ins Feuer legen, aber ich habe so das Gefühl, er ist auch hier mehr Platoniker ... im doppelten Sinne, oder er will vielleicht auch mal Sokrates und Alkibiades spielen. Aber du hast schon leider zu recht: verdammt peinlich ist es in so etwas hineingezogen zu werden. Gib doch mal den Artikel her. Ach, sehr faul ... faul. Ein netter Jugendbildner ... eine kleine, aber überaus amüsante Scene spielte sich ... ein Lokal, in dem sich sonst nur der internationale Abschaum des ostjüdischen Schiebertums und der Lebewelt ... der Wolf im Schafspelz ... wie stellt sich unser hochverehrtes Ministerium für Erziehungswesen ... vielleicht mag besagter Herr beizeiten sich um ein anderes Feld für seine ›neuartigen jugenderziehlichen Programme‹ ... wir Bayern wenigstens ... da Herr Professor Wilhelm Klein sich geäußert hat, daß er viel zu hoch stände, um etwa zu diesen lügenhaften Angriffen Stellung zu nehmen, so sind wir gern bereit ..., mit anderm Material aufzuwarten, wenn etwa dieses ...« Also, schon mehr gottverdammt-peinlich!!
Wenn man an einen solchen Menschen mit einer weißen Weste, und die hatte er ja zum Schluß doch, garnicht mehr heran kann, dann zieht so etwas immer, und macht ihn, ganz egal, ob es wahr ist oder nicht, für alle Zeiten unmöglich. Und es ist auch so eine unangenehme Eigenart dieser Leute, immer dann noch zu kämpfen und sich zu wehren, wenn sie nichts mehr als schweigen müßten. Denke doch nur an den Fall Oskar Wilde, der sich selbst die Schlinge um den Hals legte, trotzdem man nichts mehr wünschte, als ihn nicht zu hängen.«
»Sieh doch mal, hier steht noch 'was darüber in der Nummer von vorgestern, Yorik. Weißt du, die Zeitung bringt mir immer Schwester Vronerl mit.«
»Wo denn?« meint Fritz Eisner und ... er sitzt auf dem Bettrand ... aber der Schrecken wirft ihn beinahe um. »Um Himmels willen, was ist denn das?! Steht das hier wirklich? Das fingierte Attentat auf den jüdischen Bankier S. W. Landshof stellt sich nun doch wohl als eines jener bekannten Betrugsmanöver heraus, als das wir es von Anfang an gekennzeichnet hatten. Was für ein Attentat?
Warum hast du mir denn das nicht gesagt, Nuck?! Das ist doch der famose Kerl, mit dem ich Sonntag dann nochmals zusammen war. Er wollte mich an dem Abend ja noch mit seinem Auto mitnehmen. Und so ein, zwei Minuten danach habe ich dann die Schüsse gehört. Gott, wir haben doch so viel Schießereien hier in München gehört, in der Zeit damals, ganze Nächte hindurch, seitdem nimmt man das ja nicht mehr blutig ernst.«
»Ich habe ja auch keine Ahnung davon gehabt«, meint Ruth. »Bisher stand nur immer ein Bankier S. W. L. eines bekannten Bankhauses. Wer kann vermuten, daß das der war. Und außerdem hast du mir seinen Namen doch garnicht gesagt. Es stand ja auch in allen Zeitungen. Er sagte, er hätte drei Leute zu der Straßenkreuzung gesehen mit einer großen Pistole, die plötzlich im Licht seines Scheinwerfers auftauchten. Und er hat deshalb sich ganz weit im Auto vorgelegt, hat Vollgas gegeben, zwei Kugeln haben aber trotzdem die Autotür durchschlagen, die andern sind über ihn weggegangen. Und von der einen Kugel hat er einen Steckschuß in die Hand bekommen; weil sie doch schon durch das Metall gegangen ist, hatte sie eben ihre Kraft verloren. Und die andere hat ihn nur ganz wenig an der Schläfe gestreift. Jedenfalls ist er noch bis nach Hause gekommen. Trotz des Blutverlustes. Ich kann dir ja die Nummern noch heraussuchen. Sie müssen da sein.«
»Ach nein, das ist nicht nötig, mein Kind. Weißt du, die negativen Seiten des Lebens interessieren mich eigentlich nicht«, sagt Fritz Eisner. (›Was soll ich Nuck aufregen. Mutter hat immer gesagt: Von einer Wöchnerin muß jede Aufregung ferngehalten werden, sonst kriegt sie Kindbettfieber.‹) »Ach nein, mein Süßchen, laß das nur.« Und Fritz Eisner erzählt, daß gestern wieder ein Goldkamel aus Lybien angewandelt gekommen wäre, und daß zu seinem und aller Leute Staunen die Bücher eigentlich doch noch vorzüglich gingen. Man könne sich nicht erklären, wo sie hinkämen. In Deutschland kaufe in diesen elenden Zeiten doch sicher keine Seele eins. Aber sie gingen in Waggons über den besetzten Westen ins Ausland nach Holland, und weiter vielleicht nach Amerika. Denn mit jedem Tag fiele doch die Mark mehr, und deshalb wären sie eben doch von Tag zu Tag billiger. »Die schönsten Werke über bildende Kunst, von denen man nur träumen kann, daß man sie sich einmal kaufen wird, kosten zum Beispiel da draußen fast garnichts mehr.«
Schwester Vronerl bringt stolz das Essen, und Fritz Eisner soll sich ›überzeugen‹, muß kosten, und muß deshalb wenigstens von jedem Gang einen Bissen nehmen. »Also, es lohnt sich schon, wenn einem so gut gekocht wird, ein Kind zu kriegen«, sagt er zu ihr.
»Jo, wissens, in der dritten Klasse do is nicht so gut, aber das würden a die Madels, wo so vom Land kommen, garnet vertragen, und vor allem würdens stehen lassen. Die müssen täglich ihr Knödel mit Kraut haben und ihre Maß Bier.«
Ja, und dann geht Fritz Eisner, küßt Ruth: heute Nachmittag käme er vielleicht etwas später.
»Na, Schwester Vronerl?« fragt er leise draußen auf dem Gang, »wie lange meinen Sie denn, daß Fräulein Block noch bei Ihnen bleiben muß?«
»A bah, von zu wegen meiner könnt's schon weg sein. Die Bluterei wird ja doch net so bald fortgehen. Und obs da hier bei uns is' oder umenand laufen tut, wird sich wohl ziemlich egal bleim ... Aber darüber hat der Herr Hofrat zu verfügen ... net i.«
... Und dann hängt Fritz Eisner in irgend einem kleinen Fernsprechautomaten (besser, man spricht von hier!) am Bahnhof am Telefon: »Hier Speyer & Landshof, Bankgeschäft.« – »Hier Fritz Eisner. Könnte ich Herrn Landshof persönlich sprechen?« – »Einen Augenblick!« – Aber es dauert eine ganze Weile doch. – »Nur einen Moment noch, ich stelle Ihnen gleich die Privatverbindung her.« – Und dann klingt Landshofs Stimme drüben auf, unverändert, ruhig und etwas spöttisch, wie das so seine Art ist.
»Ach, Meister, entschuldigen Sie, daß meine Frau noch nicht zu Ihrer gekommen ist. Aber wir hatten einen Patienten im Haus.«
»Das höre ich erst eben ... und deshalb rufe ich an. Wie geht es dem Patienten?«
»Er trägt den Arm noch in der Schlinge, sonst ganz gut. Die Kugel ist ja im Knochen stecken geblieben, und sie haben sie mir dann herausgepolkt. Das war eine Sache von fünf Minuten. Und steif bleibt die Hand wohl auch nicht.«
»Hören Sie, Landshof, ich glaube, ich kenne die Zusammenhänge der Sache. Ich habe sogar heute früh zufällig mit meinen eigenen schönen Augen ...«
»Liiilieber Meister«, kommt es sehr ruhig aus dem Apparat. »Und sie glauben wirklich, ich kenne sie nicht?!«
»Ja, aber ich würde mich an Ihrer Stelle dann ...«
»Etwa unter den Schutz unserer Polizei stellen?! Sie sind ein Naivling, Meister! Was soll ich denn da? Sie verwechseln das! Damit hat doch unsere Polizei in München garnichs zu tun, Meister!«
»Schön, Landshof«, meint Fritz Eisner, »dann werde ich eben zur Ettstraße gehen, und sagen, was ich weiß. Oder doch zum mindesten vermute. Aufklären könnens die dann.«
»Sie sind doch so ein netter und harmloser Mensch, Eisner. Seien Sie vernünftig. Hören Sie auf einen alten Praktiker. Gehen Sie lieber in den chinesischen Turm heute Nachmittag, und trinken Sie da Kaffee; aber lassen Sie Ihre Hände von solchen Dingen weg. Und, wenn es mir so ein bißchen besser erst wieder geht, besuchen Sie mich mal.«
Aber am Nachmittag geht Fritz Eisner doch zur Ettstraße. Es hat ihm keine Ruhe gelassen. So etwas gibt es doch nicht. Das ist ja Wahnsinn, was dieser Landshof sich da einbildet. Wozu ist denn eine Sicherheitspolizei da? Der Landshof ist schon eben so verbittert, daß er sich solche Dinge einbilden kann. Vielleicht wäre man an seiner Stelle auch nicht anders. Es ist ein ziemliches Gewimmel um das große Polizeigebäude. Allerhand Uniformiertes strömt bedrohlich in den Bau hinein und aus ihm fort.
›Noch nie seit dem Frieden wieder habe ich von irgend einer Seite etwas anderes gehört, als die Worte: Herrschaft, Macht und Staatsgewalt‹, denkt Fritz Eisner. ›Das Wort ›Staatsgemeinschaft‹ ist doch bei uns in Deutschland überhaupt noch unentdeckt‹ und dann steht Fritz Eisner vor dem Portal und überlegt sich, ob er hineingehen soll oder nicht. Der Landshof wird doch auch wissen, was er sagt.
Wie häßlich solch eine Polizei ist. Sowie man sie betritt, fühlt man: hier ist der Mensch nichts mehr. Sowie man einen Fuß weitersetzt, weiß man: wer da hinter diese eisernen Gitter einmal gekommen ist, in diesen langen Gängen sich einmal verirrt hat, der hat kein Recht mehr auf Leben, mit dem kann geschehen, was will. Wenn's nicht geschieht, so ist es eben, weil man liebenswürdig mit ihm umgeht.
Viel, viel Soldaten in allen Abschattierungen trampeln durch die langen Gänge, haben da was zu erledigen, tun sich wichtig, oder sind bedrückt. Überall ist ein grauer, staubiger Geruch und eine graue, staubige Denkweise. Irgend ein armer Kerl wird nach dem schwer vergitterten Teil des Hauses herübergebracht mit übereinander gefesselten Händen. Wie traurig so was ist. Sicher hat dieser arme Teufel da, dem man sein Menschentum fortnimmt, nichts anderes getan, als das, was ich in seiner Lage schon vor fünf Jahren getan hätte. Was muß das eigentlich für ein grundanständiger Kerl sein!
Endlich aber steht Fritz Eisner doch vor einem Mann in einer blauen Litewka, der sehr bedeutungslos aussieht, weichlich und etwas schläfrig, durchaus nicht unfreundlich ist, aber Fritz Eisner doch aus dem einen Augenwinkel heraus mißtrauisch betrachtet. ›Er müßte eigentlich Gummikragen tragen‹, denkt Fritz Eisner.
»Ich möchte einige Wahrnehmungen zu dem Mordanschlag auf Herrn Bankier Landshof machen,« beginnt Fritz Eisner. Er hat sich das genau zurecht gelegt, was er sagen wird, aber jetzt stockt er schon und stottert wirres Zeug und sagt eigentlich die Hälfte von dem nicht, was er sagen wollte.
»Sssso, ssso«, sagt es aus der Litewka mit dem Gummikragen und Fritz Eisner fühlt fast körperlich den freundlich gelangweilten Blick. »Sssso, ssso, dös is an Mordanschlag ...! Also ... an Mordanschlag is g'wesen! Wir haben darüber bisher sehr an andere Meinung g'habt.«
›Gott, ist das ein fieser Bruder‹, denkt Fritz Eisner. ›Und über diese Leute werden nun täglich Hunderte von Büchern geschrieben. Ein typischer und beschränkter Kleinbürger. Tückisch, verdrückt und mürrisch unter dem bißchen Lack seiner falsch betonten Liebenswürdigkeit.‹
»Wissen, Herr, da kommen so viele täglich. Wenn wir jeder Meldung und Vermutung nachgehen wollten, do würden wir nie zu einem Resultat kommen. So, so, in einer Pension wohnens also. Sind Sie Ausländer? Nein? Und da meinens also, weil's da zufällig so an paar Herren Offiziere kennen, und, weil die wissen müssen, daß Sie zufällig Herrn Landshof kennen gelernt haben ... na, mei Lieber, davon kann net die Red sei. Wir verfolgen da ganz bestimmte und sichere Spuren, über die ich Ihnen aus amtlichen Gründen aber hier garnichts sagen kann. Den haben seine Spezi abgelauert. Oder es kann dem Herrn ja auch zu Paß gekommen sein. Es kann bestellte Arbeit sein. Wissens, wir kennen so was ganz genau, das können Sie unbesorgt sein, mein Lieber. Es kann aber auch ein fingierter Selbstmord sein. Wissens, solche Sachen laufen uns da täglich durch die Finger. Das Publikum denkt immer, wir haben garnichts weiter zu tun, als nun jeder falschen Spur nachzulaufen. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben soll, Herr Eisner, lassens die Hände von so was. Dös wollt ich Ihnen nur für alle Fälle einmal gesagt haben.«
»Wenn Sie meinen«, sagt Fritz Eisner, »Herr Kommissar«, (›Wie sagt man denn eigentlich zu solchem Menschen?‹) »aber ich glaubte bisher, es wäre meine Pflicht als Bürger eines Volksstaats, solche Dinge, wenn sie mir zu Ohren kommen, an die Behörden weiterzugeben. Und ich dachte bisher, bei meinen geringen juristischen Kenntnissen, daß ich mich vielleicht strafbar machte, wenn ich es nicht täte. Aber ich lasse mich auch sehr gern von Ihnen eines Besseren belehren. Entschuldigen Sie die Störung, Herr Kommissar.«
Aber der entschuldigt sie garnicht, denn er hat sich schon längst über einen blauen Aktenbündel gebeugt, den er sich herangezogen hat, und er merkt garnicht mehr, wie Fritz Eisner leise und reichlich vertattert die Tür hinter sich wieder zuzieht. ›Nix, wie naus‹, wie sie in Baden immer sagen.
Und erst, als Fritz Eisner im Hofgarten sitzt (Landshof will er lieber nichts davon sagen, ihm genügt es jetzt zu wissen, daß Landshof recht hatte; was braucht jener zu wissen, daß er sich eigentlich doch nur lächerlich gemacht hat), als er da gemächlich über die Baumkronen schaut und nach den Fresken hinblickt, auf denen Ludwig der Erste von Bayern mit schönen Sprüchen die Befreiung Griechenlands vom Türkenjoch begleitet ... ›Papadoupolos zerschmettert die türkische Flotte ...!‹ und dazu hat er einen Bratenrock an und Vatermörder ... und als er da so auf dem Eisenstühlchen hockt, die Spatzen füttert und seinen Kaffee trinkt, erholt er sich so langsam wieder von der Ettstraße. Die negativen Seiten des Lebens interessieren ihn nun mal absolut nicht. Die Spatzen da unten beißen sich auch. Sie versuchen, einander selbst die kleinste Krumme Brot wegzureißen, sie schreien, sind lärmend, sind neidisch, böse und eifersüchtig aufeinander, sie sind berühmt als frech ... eben weil es Spatzen sind ... aber ... aber sie sind uns doch weit voran, denn es ist noch nie etwas davon bemerkt worden, daß sie eine Ettstraße und Kommissare haben. Über die natürliche Gemeinheit jeglichen Lebewesens gehen sie doch eigentlich nicht hinaus. Und dann sind sie auch wirklich viel netter anzusehen, trotzdem es nur Spatzen sind. Das Menschenleben ist doch ziemlich raffiniert und gemein!
*
Aber Ruth erzählt Fritz Eisner davon am nächsten Morgen nichts. Erstens würde das Ruth nur aufregen. Und wozu soll das gut sein? Seine Mutter hat schon immer gesagt, man soll von einer Wöchnerin alles fernhalten. (Was doch sicher wieder auch zu weitgehend ist.) Aber Ruth ist noch sehr jung, und deswegen kann sie immer noch schlecht begreifen, wie das in der Welt eigentlich zugeht; während ein älterer Mensch das ja noch weniger begreifen kann, aber langsam eingesehen hat, daß er doch nichts daran zu ändern vermag und deshalb eben keine Notiz weiter davon nimmt. ›Wirbelwind und trocknen Kot laß sie drehn und stäuben!‹ Naja, so schön sagt er sich nun das ja gerade nicht. Aber dem Sinne nach sagt er sich ja doch nichts anderes. Und dann ist Ruth ja immer so ein Stück weiblicher Michael Kohlhaas. Sie redet sich fanatisch ein: Recht muß Recht bleiben. Bei all ihrer Klugheit ist sie eben doch noch sehr unerfahren.
Sonst gibt es eigentlich garnichts Neues. Ach ja, von Joli kommt eine Karte: ›Teurer Meister, wenn Paul eins auf der Welt haßt, so ist es Ingwer. Dieses zur Steuer der Wahrheit. Ihre Joli.‹ Große Schriftzüge, rund, verlegter Druck, jedes Wort in einem Zug geschrieben. So hatte Fritz Eisner sich auch das vorgestellt. Und der Feldzug gegen Wilhelm Klein in den Zeitungen geht weiter. Wilhelm Klein, schreibt man, will Klage wegen Verleumdung anstrengen. Das sollte er lieber nicht tun.
Ja, und wenn ferner ... also, selbst wenn all das mit Ruth nicht zusammenträfe gerade, ist es ja immerhin noch fraglich, ob ihr Fritz Eisner das erzählt hätte. Er lügt zwar nie, (wie er glaubt) aber er verschweigt aus Lebenstechnik. Er ist zwar durchaus kein Schweiger, wie jener Wilhelm von Oranien, der als der Schweigsame weiter durch die Zeiten und durch die Geschichtsbücher geistert, aber er ist als Verschweiger kaum minder bedeutsam.
Bücher jedoch bringt er ihr. Ganze Arme voll von Büchern schleppt er ihr zu. Er muß da immer an seinen Schwager Egi Meyer denken (seit endlosen Zeiten hat er doch nichts mehr von ihm gehört), der dank seines professoralen Berufes eine so beneidenswerte Übung im Büchertragen hatte, ob er die sich drüben in Südamerika bewahrt hat?) wenn er (Fritz Eisner) je drei Bände unter jedem Arm geklemmt, durch die Ludwigstraße wandert ... weil er doch auch sich bewegen muß. Neue Bücher und alte bringt er, die man doch einmal lesen muß. Denn Ruth liest viel. ›Herrgott‹, denkt Fritz Eisner immer, ›wenn man sich sagen muß, daß sie doch erst fünf, sechs Jahre mit Verständnis gelesen haben kann ... denn vor dem sechzehnten Jahr ist man doch nur ein kümmerlicher Leser, der in die Dinge, auch wenn sie unvergänglich gerade uns haften bleiben, doch nur halb eindringt, und wenn er, Fritz Eisner, dagegen gerade ein Vierteljahrhundert länger sich mit den Büchern hier herumschlägt ... so ist es doch erstaunlich, was sie alles weiß, und zu wie viel sie Stellung genommen hat, und vor allem ist es geradezu erschreckend für mich, wie sie im Lauf von einem Jahr, denn so lange leben wir doch schon zusammen – wenn man alles rechnen will – doch mein Vorsprung ihr gegenüber sich verringert hat. Es kommt mir manchmal vor, als wäre sie Achilles, und ich die Schnecke. Bald muß sie mich doch eingeholt haben. ›In hundert Schritten macht's die Frau, in einem Sprunge macht's der Mann‹, das ist doch falsch. In einem Sprunge macht das die Frau heute, was der Mann mühselig in hundert Schritten sich ergangen hat. Man sieht das ja schon jetzt an den Universitäten.
Fritz Eisner liest nicht schnell. Er schmökert lieber, so wie man raucht. Und er ist der Ansicht, daß er so mehr Genuß vom Lesen hat, und ihm mehr haften bleibt. Aber Ruth liest einen mordsdicken Band an einem Nachmittag aus und weiß zum Schluß noch mehr von den Einzelheiten, hat ganze Sätze wortgetreu behalten, und hat die Figuren plastischer vor sich gehabt, als er es eigentlich hatte. Sie hat besser aufgemerkt, eben weil ja doch ihr ganzes Leben schneller, und vor allem auch gedrängter, von ihr erlebt wird, ausgefüllter, mit stärkerem Puls und mit weniger leeren Stellen.
Vielleicht fehlt es ihr darüber an innerer Ruhe und Beharrlichkeit. Sie kann nie lange bei einem Ding verweilen, ob das ein Bild, ein Gedicht, eine Blume, ein Buch, oder ein Mensch nur ist. Sie will einsammeln und deshalb tauscht sie täglich das Heute für das Gestern aus. Während es Fritz Eisner garnicht mehr so sehr am Heute liegt, und er vielmehr darum nur bemüht ist, ein guter Lagerverwalter und Nutznießer seiner selbst und seines inneren Besitzes zu sein.
Und zusammen ist das doch kein schlechtes Gespann endlich. Das eine Pferd bremst das andere, wenn es zu schnell laufen will. Und das andere reißt das eine mit, wenn es ganz stehen bleiben will.
Aber eigentlich könnte Ruth doch wirklich mal wieder da herauskommen. Sie ist schon weit über vierzehn Tage da drin, in diesem Käfig. Und schade drum, gerade ein paar herrliche Tage. Solche von einer unvergeßlichen Bläue mit dem Himmel eines Altdorferschen Bildes in der Pinakothek. Vielleicht hätte man nach Garmisch, oder sonst wohin fahren können. Schade um jeden sonnigen Tag im Leben, den man eingesperrt ist, statt ihn auszunützen. Jeder Tag ist Gewinn, damit man sich zum Schluß wenigstens mit etwas weniger großer Bestimmtheit dahin aussprechen kann, daß der Hauptteil des Lebens nicht nur schlechtes Wetter und schlechte Laune war.
Und dann ist Fritz Eisner wieder bei Ruth im Zimmer mit der Aussicht auf den Fußballplatz, die Beifußbüsche, die verrosteten Sprungfedermatratzen und die fernen dämmrigen Berge, deren Weiß in der Julisonne langsam abstäubt. Heute pudern sich die Frauen mehr. Ruth hat sich mit der Zeit hier recht häuslich eingerichtet. Sie steht ja schon stunden- und nachmittagsweise auf. Es schadet ihr nichts, aber es nützt auch nichts gerade, das wird wohl noch eine Weile dauern mit dem Blutverlust, bis der so ganz sich gibt. Aber zu bedeuten hat es durchaus nichts, das versichert der Hofrat alle Tage. Sie hat eine kleine Bibliothek um sich, einen Blumengarten, und die Filiale eines Schokoladengeschäfts, und die Abteilung eines Schreibwarenladens. Und sie hantiert im rosigen Kimono zwischen diesen vier Läden herum. Es wäre auch ganz nett hier, wenn nicht das ganze Haus so nach Käferkasten röche. Mit der Zeit wird man nämlich sehr abgestumpft, ja vielleicht sogar gegen seelisches Elend, menschliche Leiden schneller, als gegen peinliche Gerüche. An den beiden ersten kann man vorbeidenken, und das geht viel rascher als man glaubt. Am andern kann man nur schwer vorbeiriechen. Immer wieder sind zum Beispiel die gleichen und doch anderen Mädchen mit Wassereimern im Treppenhaus und scheuern mit Bürsten die Steinstufen. Bei den ersten damals ist es Fritz Eisner durch und durch gegangen. An den zweiten ist er still vorübergeschlichen. Und heute nickt er ihnen zu und meint, es muß wohl so sein, daß diese Mädchen da am Tag vor ihrer Entbindung, oder so ungefähr doch, die steinernen Treppen scheuern. Und wenn er selbst drin im Kreissaal wäre, er hätte sich vielleicht auch schon dem angepaßt. Es ist kaum glaublich, wie schnell sich doch eigentlich der Mensch an die Schmerzen anderer Leute gewöhnen kann.
Und Fritz Eisner baut vor Ruth auf, was er mitgebracht hat. Fragt, wie sie sich mit Le Feu von Barbusse abgefunden hat. Aber Ruth ist es zu roh doch, und sie redet davon, daß doch das Ethische, das sicherlich auch im Krieg wäre ... oder Jahrtausende, von Pindars Oden an, hätten jämmerlich gelogen ... zu kurz endlich käme.
Aber Fritz Eisner will nichts davon wissen. »Solange es einen Krieg gibt,« ruft er, so daß Ruth die Finger an den Mund legt, denn der Frau im Nebenzimmer geht es doch garnicht nach Wunsch. Ihr Herz ist schwach. Sie kann sich nicht wieder erholen, und die Entbindung des sechsten Kindes hat ihr einen, vielleicht den letzten harten Stoß noch gegeben! (wer erlaubt das nebenbei?) »Nein ... weißt du ... meine Mutter erzählte mir immer eine Geschichte von einem jüdischen Verbrecher, zu dem der Henker in die Zelle kam, ihm auf den Hals klopfte und sagte: ›Einen schönen Hals zum Köpfen!‹, worauf der dem Henker ins Gesicht schlug, daß jenem Hören und Sehen verging. ›Wie konnten Sie‹, sagte der Rabbiner, als er dem Verbrecher die letzte Tröstung gab, ›dem Mann, der die letzte irdische Gerechtigkeit an ihnen vollstrecken soll, noch derart mißhandeln?‹ ... ›Nu ... laß er mich nischt köppen!‹ sagte der Verbrecher ... Das muß unser Verhältnis zum Krieg werden; ihm so lange in die Schnauze schlagen, bis er böse wird und uns nicht köpft. Solange es einen Krieg gibt, in dem einem Mann ein kleiner Finger der linken Hand abgeschossen wird, ist kein Wort der Beschimpfung für die Schweinerei eines Krieges stark genug, weil dieser einzelne abgeschossene Finger der linken Hand dieses einen Mannes viel schwerer wiegt, als alle Beschimpfungen, die auf der Welt gegen den Krieg ersonnen werden können von Ewigkeit zu Ewigkeit. Aber wir wollen uns nicht darüber streiten, schon weil wir ja doch eigentlich einer Meinung sind ... Also, was hast du noch gelesen?!«
Und dann sprechen sie weiter von den Büchern, die Fritz Eisner Ruth gegeben hat. Lauter Bücher von Leuten, die im Krieg gefallen sind: von Reinhold Sorge und Trakl und Lichtenstein, Peter Baum und Stadler und Péguy, Sack's verbummelten Studenten und so fort.
»Man sollte sie eigentlich nicht lesen wegen ihrer selbst«, meint Ruth, »sondern, um sich darüber klar zu werden, was man von all denen hätte erwarten können. Gewiß, es sind Zehntausende von Dichtern in allen Ländern gefallen, von zukünftigen Dichtern, Künstlern, Formern einer neuen Welt, eines sich umgestaltenden Europas, aber von denen wissen wir nichts. Nicht mal die Namen. Und vielleicht wußten sie selbst nicht, welche Rolle ihnen noch zugeteilt gewesen wäre. Aber die hier haben doch alle ihr erstes und zweites Wort schon gesprochen. Und was wäre ihr drittes geworden?!«
Aber Ruth hat sich endlich dann doch mehr an einen Roman von Hermann Bahr geklammert, um den sie herumphilosophiert, findet ihn immerhin noch besser, als all das.
Fritz Eisner jedoch will davon eigentlich nichts wissen. »Bahr ist solch alter Rattenfänger, und früher sind ihm auch alle Kinder nachgelaufen, wenn er seine Triller pfiff. Du meinst, Ruth, ich stoße mich daran, daß er katholisch geworden ist. Nicht katholisch genug ist er mir geworden. Ich bin auch nicht so blind, um nicht zu sehen, daß er geistig nach allen vierundsechzig Richtungen der Windrose ständig Ausschau hält. Kennst du das kleine Gespräch über Marsyas von ihm ...? Aber die Romane, die er gemacht hat ... es ist nicht gerade seelischer Kientopp ... aber so etwas ist doch alles, als ob es vor unausdenkbaren Zeiten geschrieben wäre. Endlich hat uns doch nur einer etwas zu sagen, dem die Dinge dieser Welt an die Nieren gehen. Und am meisten doch der, dessen Nieren nicht mehr so völlig intakt, sondern etwas angebufft sind. Sagen wir, wie Bang ... oder, um in der Nähe zu bleiben wie Schnitzler. Schnitzler ist eigentlich der, der Hermann Bahr sein will. Aber jede Zeit braucht trotzdem Leute wie Bahr. Sie sind für sie wie das Mittagessen. Es kann vorzüglich sein, und morgen haben wir wieder Hunger.
Aber, weißt du, mein süßer Nuck, man sollte wirklich Literatur nicht mehr so wichtig nehmen, wie ich das tue. Wie seltsam heute doch: Jede Generation lebt auf einer andern Insel im Archipel des Lebens, und sie ist immer durch das Meer von allen übrigen getrennt. Wirklich nicht so brennend und wichtig sollten wir sie nehmen, denn die Literatur hat ja eigentlich gar keine Position mehr zu verteidigen in dieser Gegenwart, weil sie einfach keine mehr hat. Vorerst ist sie mal auf unbestimmte Zeit aus dem großen Spiel ausgeschieden, auch wenn wir ... das heißt, hier von uns beiden wohl mehr ich ... noch so sehr uns dagegen sträuben, mein süßer Nuckelino. Du wirst nebenbei von Tag zu Tag hübscher. Ein Kind haben steht nun mal einer Frau doch noch besser immerhin, als eines erwarten.«
Ja, und dann kommt im weißen Kittel mit seinen übermüdeten und geröteten Augen der Mann mit den geplätteten Ohren herein und setzt sich – Ruth hat sich gerade einen Augenblick hingelegt und ist leise eingenickt – sehr vorsichtig auf den Bettrand. Warum soll der alte Mann das auch nicht tun. Er sieht so viel Negatives in seinem Dasein und hat sich wohl trotzdem den Sinn für ein schönes Menschenwesen nicht ganz verschütten lassen.
Fritz Eisner aber, der an der andern Seite des Bettes sitzt und Ruths Hand hält, winkt er zu, ja nicht aufzustehen. Er sieht, ehe er zu reden beginnt, kritisch und scharf und zugleich doch wie bewundernd auf Ruth eine ganze Weile durch seine scharfen Gläser herunter.
»Kannten's den Altenberg, der in diesem Jahr in Wien an einer Pneumonie gestorben ist ... hab ihn immer gern g'lesen.«
»Gewiß«, nickt Fritz Eisner.
»Da ist so eine Geschichte von ihm, wo der Mann ... er ist wohl auch etwas älter schon ... und der Hausfreund ... ich krieg ja von so was immer nur die Rechnungen zu sehen in mein Loeb'n ... des Abends beim Nachtmahl am Tisch sitzen, und die blasse und etwas kränkliche, junge Frau bei Tisch eing'schlummert ist. Und da sitzen nun beide still dabei, zwei Wächter an den Toren ihres Lebens, wie der Altenberg schreiben tut ... Wissens, mei Libber, daran muß ich im Augenblick nämlich denken. Heute bin ich noch der eine. Von morgen an, denn ich mein, sie kann schon morgen, wann's sich ruhig hält, heimgehen ... was soll's eigentlich hier noch? Was's tun soll, werd ich ihr schon genau sagen. I geb ihr so meine gedruckte Verhaltungsmaßnahmen außerdem noch mit ... von morgen an sind Sie dann also nur noch der eine Wächter. Passen a bisserl auf. Wissens, es ist ja sehr gut eigentlich gangen, aber a Mordsangst hab i schon g'habt.«
Aber das Wort Mordsangst hat der Mann mit den geplätteten Ohren doch wohl zu sehr betont, denn plötzlich schlägt Ruth die Augen auf und lächelt so vor sich hin. Männer sind mürrisch, wenn sie geweckt werden, junge Frauen lächeln ... schaut nacheinander lächelnd nach beiden Seiten hin zu Fritz Eisner und zu dem Hofrat.
»Also«, sagt der, »i hab das eben schon g'sagt: Gehens murgen heim. Was tuns eigentlich noch hier? Was brauchens hier noch abzuwarten? Dös wird schon von so gut werden. Und wanns denken, daß net in Ordnung gehen will, kommens noch mal zu mir in die Sprechstunden. Ich könnt auch morgen Abend das Zimmer wieder brauchen. Wir haben net so viel in der ersten Klasse. San's mit mir zufrieden g'wesen? Ich mit Ehna schon. Nu heiratens bald. Und dann kommens mir ja net wieder. Das Kind ist prächtig, nimmt zu und hat auch fast gar keine Temperatur mehr.« (Ruth schrickt zusammen). »Der Kollege hat's mir gestern telefoniert. Dös macht nix, dös kommt vor. Dös gibt sich wieder. Legens sich nicht wieder hin. Stehens auf nachher. Gang's a bissel spazieren auf der Straßen unten mal, wenns mögen. Aber nur a paar Minuten. Oder Ihr Freund nimmt an Fiaker oder einen Taxi und fahrt Sie so ein bißchen hier umenand und morgen um drei schau ich denn noch mal nach Ihnen, junge Frau ... Grüß Ehna Gott.« Und damit ist der Hofrat zur Tür hinaus.
Ruth ist sehr froh und sehr glücklich, springt plötzlich in ihrem Kimono herum wie eine Geisha zur Shamise beim Sperlingstanz. Vorher schlich sie nur erst durch das Zimmer. Morgen gleich auf der Heimfahrt wird sie das Kind besuchen, um zu sehen, wie es da untergebracht ist. »Denn auf deine Erzählungen kann man sich ja doch nicht verlassen. Und dann werde ich in die Wohnung gehen und nach den Gardinen schauen ... denn auf deine Erzählungen ist doch gar kein Verlaß!« Ja, sie ist nicht einmal jetzt die schonungsbedürftige Patientin mehr, die sie vor zehn Minuten ja noch war, und sie springt um Fritz Eisner herum, fängt an, ihre Sachen zu packen, sich zu überlegen, was sie der Schwester Vronerl zum Abschied schenken kann, und der andern, der kleinen. Und sie umarmt das erste Mal Fritz Eisner wieder und schmiegt sich an ihn. Und plötzlich, wie sie sich an ihn preßt, hört Fritz Eisner so etwas wie Knistern und Knittern von Papier in seiner Rocktasche und wird furchtbar verlegen, faßt sich an den Kopf und beginnt dann aber doch zu lachen.
»Poche restante!« ruft er. »Da habe ich doch noch einen Brief an dich seit drei Tagen in der Tasche. Warum fragst du mich auch nicht nach so was.«
Und er lacht und gibt Ruth das große Büttenkouvert, das mit einer altmodischen, etwas ausdruckslosen Schrift ... so eine, wie sie vor vierzig, fünfzig Jahren in der Schule gelehrt wurde, die Adresse trägt. Dem Format nach kann es eine Verlobungsanzeige sein. Von einer Kusine. Kusinen verloben sich immer.
Aber Ruth wird sehr ernst, reißt den Brief auf, liest ihn ganz schnell und schiebt ihn dann unter das Kopfkissen ihres Bettes. Sie ist ganz rot geworden vor Schreck. Denn dann wird sie rot, nicht blaß.
»Also, was ist?«
»Ach, nichts«, meint Ruth. »Was soll ich dich damit belästigen, alter Herr?«
»Hör mal, ich möchte wissen, was los ist?«
Da aber fängt Ruth – und das ist nun durchaus nicht ihre Art, aber sie ist wohl noch nach den Wochen jetzt etwas schwach und dadurch hemmungslos – Rekonvalescentinnen sitzen die Tränen immer sehr locker – wild fängt sie an zu schluchzen. Und das kennt Fritz Eisner: sie weint selten, aber dann wirft sie das Schluchzen nur so, und es ist nichts dann aus ihr herauszubekommen. Man kann sie weder beruhigen noch sonst etwas dagegen unternehmen. Man kann weiter nichts tun, als warten, bis es aufhört. Und so langsam, Wort für Wort, in langen Pausen, sickert es endlich durch ihre Tränen und durch ihr Schluchzen hindurch: »Die Mutter hat mir geschrieben. Sie will kommen. Nach mir sehen. Und Mutter will mich vielleicht ... sie hofft, daß ich wie immer, ihre gehorsame Tochter sein werde ... dann mit nach Berlin nehmen. Über das Gewesene würde zwischen uns, das verspricht sie mir, kein Wort verlauten. Sie hat nämlich von deiner Frau jetzt Briefe bekommen ... wie viel schreibt sie nicht ... Du mißhandelst mich seelisch und körperlich ... ich läge krank ohne Hilfe und Pflege hier in München. Sie meine es nur gut mit mir, und deswegen soll Mutter mich retten und vor allem mich deinem unheilvollen Einfluß entziehen, den du auf alle Menschen ausübst. Es tut ihr ja leid über ihren eigenen Mann solche Dinge sagen zu müssen, aber sie könne versichert sein, sie kenne dich besser in bald zwanzig Jahren als irgend ein Mensch in der Welt, und du könntest wohl auch nichts dafür, daß du so wärest, wie du bist, das läge eben von jeher in deiner Familie. Sie spräche auch nicht im eigenen Interesse, sondern nur als mitfühlende Mutter von Töchtern mit einer andern armen Mutter ... ›Ich finde immer, Leute wie du gelten nur deshalb als unanständig, weil sie zum Schluß anständiger sind als die andern, mein Yori.«
Ruth schmeißt sich lang auf das Bett hin. Es wirft sie ordentlich bei jedem Satz hoch, sie kann kaum vor Schluchzen sprechen. »Weißt du, ich muß bekennen; ich würde auf so etwas nicht kommen, das sind keine feinen Mittel. Ich würde sie in der gleichen Lage nicht brauchen, so etwas kann doch nur eine Frau tun! Ich habe ihr doch endlich nichts fortgenommen. Du gehörtest ihr doch innerlich schon lange nicht mehr. Du warst doch damals wie ein Groschen, der auf der Straße lag, jede konnte dich aufheben, die sich danach bückte. Habe ich ihr je etwas Böses nachgesagt? Habe ich ihr je etwas nehmen wollen, was ihr wirklich gehörte? Habe ich je gesagt, das ist dein Haus, in dem die da wohnen?! Das sind deine Sachen und deine Sammlungen, die du dir in zwanzig Jahren mühselig an allen Ecken und Enden zusammengesucht hast, zwischen denen die Frau und die Kinder leben. Nimm sie dir doch für uns mit! Sie gehören mir dann doch auch. Habe ich je gesagt: Erst komme ich, und dann deine Kinder? Gib ihnen nicht so viel von deinem Leben, gib's mir!? Ich habe ja gewußt, als ich mit dir ging, mit wieviel Belastungen ich dich nahm, und daß ich dich teilen mußte. Ich habe bis heute alles ausgehalten, mit zusammengebissenen Zähnen, eben, weil ich mir sagte, es wird ja doch mal anders werden, und jetzt, wo ich ein Jahr um dich gekämpft habe, wo ich dir ein Kind geschenkt habe ... wie heißt es doch im Faust: War es nicht mir und dir geschenkt?! ... da bekomme ich hinterrücks diesen gemeinen Eselsfußtritt ... Aeh!«
Bei dem letzten Wort hat sich Ruth so in die Kissen verwühlt in ihrem Schluchzen, daß sie eigentlich von Fritz Eisner mehr erraten noch, als gehört werden kann. In langen Schritten geht Fritz Eisner im Zimmer auf und ab. Er weiß, daß Frauen – und vor allem späte Frauen – gerade in solchen Kämpfen wie die, in die sie hier verwickelt sind, zu Mitteln greifen, deren er von Natur aus nicht fähig wäre, und für die man nur schwer die richtige Kennzeichnung finden kann ... daß sie (und oft gerade die, von denen man es kaum erwarten konnte nach ihrem ganzen Wesen und ihrer ganzen Geistigkeit!), wie Kinder dann werden, die eine Puppe lieber zerstören, als sie der andern zu gönnen, daß sie dann ... wie er neulich noch von einem Gefängnisdirektor eines Frauengefängnisses las, ihre Kinder, ihren Mann, das Vermögen, seine Stellung, sich selbst, die Gegnerin, alles, aber auch alles kalt und heimtückisch zugrunde richten, und vernichten können und daß man da zwar die Handlungen nicht begreifen kann, und nur sich mit einem: ›Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!‹ sich eben mit ihnen abfinden muß.
Aber Fritz Eisner ist doch innerlich tief erschrocken, und in diesem Augenblick stürzt irgend etwas in ihm ein, was sich da noch an Gefühl für seine Frau aus den langen Jahren des Zusammenlebens ... auch wenn das unerfreulich und schwierig eigentlich von je doch gewesen war, es war eben doch eine Gemeinsamkeit gewesen ... bewahrt hatte, und er fühlt nur noch eine schneidende Kälte, die in ihm hochsteigt. Bisher, bei all den Quälereien war es immer noch in ihm gewesen: Ach Gott, das arme Tierchen, sie kann doch eigentlich nichts anders. Sie ist nur krank, schwach, unmöglich, hilflos, ein verheultes Kind von fünfundvierzig Jahren, das eben sich und die Umgebung quälen und niederziehen muß ... Aber ich kann mich doch nicht seelisch und geistig zugrunde richten lassen.«
... Umgib dich nicht mit absteigenden Menschen, rät Prentice Mulford ... immer nur mit aufsteigenden. Durch all diese Peinlichkeiten hat das ja immer noch hindurchgeleuchtet: schlecht ist sie doch eigentlich nicht, nur schwach ... Ich will ihr alle Freundschaft bewahren, die man einem Menschen bewahren kann, aber ich muß weiter, ich muß über sie fortsteigen, ich muß rechts gehen, und sie links, ich muß mich von ihr lösen, wenn ich nicht daran zerbrechen will. Es ist vielleicht schlecht von mir, es tut mir weh, aber ich kann nicht anders.
All das war die Jahre immer in Fritz Eisner gewesen. Und plötzlich ist auch das alles fort, wie er so neben dem schluchzenden Wesen, das sich da in ihren Kissen von wildem Weinen nur so wirft, in langen Schritten auf und nieder geht.
Es ist kein Haß, keine Wut, kein Schrecken und kein Zorn, nicht einmal ein negatives Gefühl mehr da, schlimmer als das alles: Es ist gar kein Gefühl mehr da. ›Gut, wenn sie nicht gewußt hätte, um was es sich dreht, wenn sie nicht gewußt hätte, daß Ruth jetzt in diesen Wochen doch niederkommen muß, wenn er jetzt nicht vor vierzehn Tagen noch das Abend für Abend mit ihr besprochen hätte, daß, und wie sie es nun endlich regeln sollte des Mädchens wegen, mit der er da zusammen hause, seinethalben, ihretwegen, ihrer Kinder wegen, um denen endlich die Ruhe zu geben, die sie brauchen ... wenn er ihr an materiellen Sicherheiten nicht alles und mehr geboten hätte, als er eigentlich geben konnte ... wenn sie ihm auch nur einen Funken Zuneigung noch gezeigt hätte ... und wenn sie je hätte glauben können, er käme wieder ... alles hätte er begriffen. Endlich war es ja sein Beruf, für menschliche Dinge mehr Verständnis zu haben, als andere Leute. Aber, daß sie sich, sowie er sich schlafen gelegt hatte, hatte hinsetzen können, und nach all den Gesprächen, diese Briefe noch an Ruths Mutter schreiben, und sie noch heimlich in der Nacht zum Bahnhof tragen konnte ... irgend etwas gefror und erstarrte da in ihm und er wußte, daß wie bei Grönlands Binneneis Aeonen vergehen konnten, bis es je wieder auftaute.
»Also, mein Liebling, dann wollen wir deine Mutter kommen lassen. Warum nicht, Ruth? Sie wird sicher eine nette und feine alte Dame sein. Das heißt, viel älter als ich ist sie doch garnicht. Ich habe ja überhaupt alte Damen sehr gern und hasse alte Frauen.«
Aber Ruth will davon nichts wissen. Sie schluchzt immer noch. Sie hat Angst vor ihrer Mutter. Sie haben nie zu gut in diesem Leben gestanden. Sie ist großjährig, sie hat ihr eigenes Vermögen, und bekommt noch mal mehr ... aus England ... und trotzdem fürchtet sie sich wie ein Kind, das eine schlechte Zensur bekommen hat. Sie reist fort. Sie läßt sich nicht sprechen von ihr. Und das Kind? »Soll ich ihr vielleicht das Kind unter die Nase halten: Du bist Großmutter, freust du dich?! Gut, wenn wir ihr sagen könnten, dann und dann werden wir heiraten, so sieht sich all so etwas ganz anders an. Und dann: Du kennst meine Mutter nicht. Ich habe ihr doch nun genug Kummer gemacht, daß ich mit dir weggelaufen bin. Und sie ist wirklich eine sehr egozentrische alte Dame. Ich schreibe ihr, sie soll bleiben wo sie ist. Und was ist das mit dem Haus in der Hohenzollernstraße? Wie kommt sie denn dazu, ohne meine Einwilligung, da auch nur einen Finger zu regen?«
»Ach Gott, mein Nuckchen«, (man soll Wöchnerinnen nicht aufregen, hat meine Mutter immer gesagt, das bekommt ihnen schlecht. Und vor allem auch, wenn sie selbst nähren. Aber Ruth nährt ja garnicht.) »Ach Gott, weißt du, mein süßes Nuckchen, ich bin ja eigentlich von Hause her nicht dafür, gegen Leute unfreundlich zu sein. Und man soll es vor allem vermeiden, gegen solche besonders unfreundlich zu sein, die sich die Mühe genommen haben, uns mit erheblichen geldlichen Unkosten und – wenigstens von einer Seite mit erheblichen, schmerzlichen, körperlichen Unannehmlichkeiten das Danaergeschenk des Lebens zu vermitteln. Ich will ja keineswegs so weit gehen und so veraltet sein, wie die Bibel, die behauptet, man soll Vater und Mutter sogar dafür ehren, ich möchte nur dich und deine Generation ehrfurchtsvoll bitten, sie deshalb nicht gerade unfreundlicher zu behandeln, als man das mit andern Menschen zu tun gewöhnt ist. Sieh mal, die Erfahrung hat mich gelehrt, daß gerade die Leute, die bei so etwas am meisten toben, nachher sich am besten damit abfinden. Auf die Menschen aber, die sich auf die Freiheit ihrer menschlichen Einstellung dabei berufen, ist meist nachher sehr wenig Verlaß. Das ist so wie bei meinem Freund Meyer.«
»Was geht mich eigentlich dein Freund Meyer an?« Ruth fährt wieder auf und heult los und dabei hatte sie doch eben beinahe schon gelacht. »Ich will deine Geschichte nicht hören!«
»Also, die Geschichte mußt du hören: Mein Freund, ich sage Meyer, war ein wohlhabender Herr jüdischen Geblütes und jüdischer Gesinnung. Aber er war ein etwas cholerischer Mann, der gern aufbrauste und schimpfte und polterte. Und dieser Meyer konnte sich nicht retten vor herumreisenden Schnorrern, die zu ihm kamen, sich weder abweisen, noch herauswerfen ließen, und solange warteten, bis er sie doch vorließ, und sie ihm dann ihr erdichtetes Elend vorlügen konnten. Er konnte schreien, toben, die Leute beschimpfen, sie herauszuschmeißen versuchen ... er wurde sie nicht los. Und jeden Tag kamen wieder neue Schnorrer. Einer gab überhaupt dem andern die Tür in die Hand.«
»Und was hat das mit mir zu tun!!?«
»Du mußt doch einen Menschen ausreden lassen. Alle ließen – das war das Erstaunlichste! – seine Tobsuchtsanfälle ganz ruhig über sich ergehen, bis meinem Freund Meyer doch eines schönen Tages die Geduld riß, und er einen anbrüllte: ›Zum Donnerwetter nocheinmal – warum kommt Ihr denn eigentlich alle zu mir? Und warum laßt Ihr denn eigentlich Euch das alles von mir so ruhig bieten, wenn ich Euch ›runterputze?‹ Der Schnorrer lächelt nur still vor sich hin in seinen rötlichen Vollbart hinein. ›Also, raus mit der Sprache!‹ brüllt mein Freund Meyer, daß die Wände wackeln. ›Nuuu,‹ sagt der Schnorrer und wühlt langsam sich ein kleines dreckiges Zettelchen aus der Tasche seines langen schmierigen Schubitz, das er sehr umständlich auseinanderfaltet ... ›Hier steht doch auf meine Liste von de Klienten, die ich mir vor acht un ä halben Silbergroschen sogar hab kaufen müssen: ›Arnold Meyer, Siegesmundstraße vier ... schimpft, aber gibt‹!«
Ruth lacht und jetzt hat sie Fritz Eisner doch ungefähr da, wo er sie hin haben will. Ihm ist es zwar noch garnicht so klar, was er tun soll und was richtig ist. Jedenfalls vor vierzehn Tagen wäre dieser Brief ihm noch unangenehmer geworden und noch peinlicher wäre er gewesen, wenn sie ihre Absichten gerade da ohne jede Vorrede wahr gemacht hätte, und einfach hier in München bei ihnen aufgetaucht wäre. Vor allem will er aber jetzt einmal Zeit gewinnen, um das ruhig später mit Ruth bereden und nach allen Windrichtungen durchsprechen zu können.
»Also, Ruth, das eine kannst du dir für dein langes Leben und auch noch für deinen Professor der Soziologie merken: Wer schimpft, der gibt. So wird's mit deiner Mutter doch auch sein. Und wenn sie nur deine Babyausstattung rausrückt, von der du mir immer vorgefabelt hast, mit dem Spitzensteckkissen und den Tragkleidchen aus hellroter Seide, das wäre doch herrlich! Das Zeug trägt zwar kein Baby der Welt mehr, aber denk mal: wenn wir beide so die Ludwigstraße Arm in Arm entlangflanieren, und eine Kinderpflegerin mit der Nursetracht schleppt uns das Kind in einem rosaseidenen Tragkleidchen, das beinahe auf das Pflaster nachschleift, hinterher, oder wir machen es, wie es in Italien immer ist: Vornweg rauscht die Frau mit der Schwiegermutter, und hintennach komme ich, armselig und bescheiden, als Gatte mit dem Kind im Tragkleidchen in rosa Tarlatan auf dem Arm. Alle sind in Seide und Samt, nur der Gatte allein trägt einen Anzug aus Löschpapier. So ungefähr wie ich.
Also, nun paß auf, wasch dir die Augen aus. Und nun wollen wir noch so ein bißchen hier herum fahren mit 'ner Droschke, damit du mal wieder siehst, daß es auch außerhalb von diesem Haus der Schmerzen eine Welt noch gibt, wenn auch keine besonders erfreuliche. Das heißt, gerade die Welt, auf die es ankommt, ist immer gleich erfreulich: Die Amsel auf der Eberesche, und der Schmetterling über der Wiese, das zischende Grün der Isar, und die Kontur der alten Bäume im Englischen Garten, die allein auf dem Rasen stehen, ist weder durch den Krieg noch durch die Revolution, irgendwie beeinflußt worden. Alles andere sind zum Schluß doch Nebensächlichkeiten.«
»Mit Ausnahme von Maud«, ruft Ruth.
»Ja, weißt du, so ist das nämlich immer mit Kindern. Erst wird ein Geschrei ihrethalben gemacht. Und dann will man sie doch nicht wieder hergeben, so unlieb sie auch waren. Und weißt du, Nuck, irgendwie muß der Mensch ja doch selbst für die Zusammensetzung der nächsten Generation sorgen. Wenn man das nur andern überlassen würde, würde sie zu dumm, zu roh, zu unkultiviert und zu niederträchtig werden ...«
Ja, und dann kommt Ruth am nächsten Tag wieder in die Pension. Sie ist zwar noch etwas schwach in den Knien, aber das hindert sie nicht. Sie fährt dann gleich in die Wohnung und stellt zu ihrem Erstaunen fest, daß diese doch ... selbst die Gardinen, die eben Gardinen schlechthin sind, aus Erbstüll ... über alle Anwürfe von ihrer Seite erhaben ist, durchaus ein menschliches Quartier, an dem nichts auszusetzen ist, wenn nicht, daß man selbst anders und zwischen andern Möbeln wohnen würde. Aber, wie Meyer-Arnswalde im Reichstag immer sagte: ›Meine Herrn ... es geht auch so!‹ Und es geht sogar vorzüglich so. Bei einer gewissen Stufe der Sauberkeit, der Bequemlichkeit, der Raumentfaltung, ist es nämlich gleich, wie man gerade wohnt.
Ja, und dann wird lange beraten, was eigentlich mit jener alten Dame zu machen, die vor zweiundzwanzig Jahren ebensolche junge Mutter war, wenn sie auch da schon in den Dreißigern vielleicht war oder so herum, heißt es nicht schon im Code Napoléon: la paternité et l'âge des femmes sont incertes ... Soll man ihr grob abschreiben? Oder soll man ihr schreiben, sie solle herkommen und sich überzeugen, wie sie von Fritz mißhandelt wird, körperlich und seelisch? Ja, aber, da ist doch noch ein Punkt ... ein schreiender Punkt ... ein niedlicher, rosiger Punkt mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen, der in der Obhut der Schwester Agathe stände, der man noch heute Schokolade schicken müsse, sonst tränke das Kind sicher zwei Strich pro Flasche weniger ... »Man könnte ihr ja«, meint Ruth lachend, denn sie malt so etwas gern und mit vielen witzigen Einzelheiten aus, »das Kind so allmählich und bruchstücksweise vorführen ... vorausgesetzt ... scilicet natürlich, wie dein alter Lehrer immer sagte ... daß man der überraschten Großmutter sagen könnte: von der Ehe ist bisher ja nur das Kind da. Und das übrige (hier ist der Brief von unserem Anwalt!) wird in allernächster Zeit nachgeholt werden. An uns lag es ja nicht, wenn es nicht schon längst geschah. Wir haben auch nicht das Geld für die Gebühren (kostet das eigentlich was??) gescheut, sondern wir sind, wie du ja wissen wirst, mit der Scheidung von Fritz, die die Anwälte in wenigen Wochen zuerst durchführen wollten, bald Jahr und Tag von der Gegenpartei hingehalten worden. Jedenfalls, das Wichtigste einer Ehe haben wir schon: Wir haben uns gern ... ich hoffe, ich spreche da auch für dich (sonst sollst du mich kennen lernen, blasser Schurke!) und wir können garantieren, daß unsere Ehe nicht kinderlos bleiben wird. Und sieh mal, ich will ja das Kind auch bald bei mir haben, und ich habe es lieber als Frau Eisner hier um mich, denn als Fräulein Ruth Block. In so etwas bin ich einfach lächerlich-unmodern und komisch.«
Fritz Eisner lacht. Aber irgend etwas an dem Plan scheint ihm nicht geheuer. Gewiß, Annchen hat noch im letzten Brief geschrieben, es läge nur an den Kindern, sie hätte schon längst schon des lieben Friedens willen ... und außerdem, was wäre überhaupt an ihr gelegen, sie wäre ja doch ein alter, niedergetretener Mensch, der keine Ansprüche mehr stellen dürfe, weil sie eben kein Vermögen besäße! (›Immer wirft sie mir vor, daß sie nichts besitzt. Ich habe sie doch nie danach gefragt.‹)
Aber Fritz Eisner gibt auf diese Briefe nicht mehr viel, hat langsam gelernt, daß man mit Briefen nicht weiterkommt. Er erkennt eigentlich schon an der Handschrift, was in ihnen steht, und wie sie gehalten sind und weiß, daß sie heute das und morgen das Gegenteil davon sagen können, und daß in ihnen bei aller Verwirrung, die sie verraten, doch eine ganz bestimmte Taktik liegt, die man im Krieg als Zermürbungstaktik mit Vorteil in Anwendung gebracht hat.
Ruth jedoch hat sich in den Kopf gesetzt, sie wird jetzt noch mal hinfahren, und sie wird selbst mit ihr sprechen. Sie hätte das ja schon mal getan. Endlich wäre Annchen doch auch nur eine Frau, die nicht anders empfinden könne, als sie. Es könne für sie doch keinen Sinn haben, eine haltlos gewordene Position noch länger zu halten, vor allem, da sie beide doch jetzt durch das Kind verbunden wären und eine gemeinsame Wohnung genommen hätten – bisher hätten sie beide nur in der gleichen Pension nebeneinander und eigentlich nicht ganz miteinander gelebt – wäre doch für sie keine Hoffnung mehr, daß er wieder zurückkehre. Und er könne doch viel besser als freier Mensch wieder um sie und um die Kinder sich bekümmern, wenn er Ruhe hätte, und nicht durch dieses ewige Hin und Her und diese ständig neuen Erregungen eigentlich an sich selbst und am Leben gehindert würde. Sie würde ihn nie davon zurückhalten, hindern, zu ihr oder zu den Kindern zu gehen. Und sie würde es den Kindern in der Zeit, da sie in ihrem Hause leben würden – so angenehm machen, wie sie könne – denn endlich wären es ja doch schon bald Menschen, Gymnasiastinnen, die demnächst in der Schule gesiezt würden, und keine verhetzten Babys, denen man noch Märchen von der bösen Stiefmutter erzählen könnte. Eine Frau könne doch nicht so einsichtslos gegen andere handeln, wenn sie selbst keinen Vorteil mehr davon hat. Das müsse Annchen doch einsehen, wenn man ihr das klar auseinandersetze. Und ein anderer könne über so etwas viel unbefangener sprechen als wenn man es, der Mann, selbst täte.
»Und du wirst dann mit den Kindern sprechen, wenn sie wirklich dagegen sein sollten. Endlich kennen dich die Kinder ja auch so lange, wie du sie kennst. Und ich habe immer das Gefühl, aus jedem lustigen Brief und aus jeder kleinen Zeichnung und jeder gepreßten Blume, die sie dir geschickt haben, daß sie mit dir viel besser doch endlich stehen, und zu dir viel mehr innerlich sich hinneigen, als zur Mutter. Und das ist schon dadurch eigentlich begründet, daß es eben Töchter sind.«
Fritz Eisner glaubt eigentlich nicht sehr daran, daß das zum Ziel führen wird. Aber endlich muß es doch noch einmal versucht werden. Vielleicht hat er bisher alles falsch gemacht, und man kann in einem ruhigen Gespräch alles ordnen, was zu ordnen ist. Hundertmal war's doch schon beinahe so weit, und immer wieder sprang die Gummischnur zurück, und man war wieder da, wo man angefangen hatte. Das konnte doch nur sein Ungeschick sein. Und außerdem würde es Ruth wirklich gut tun, einige Tage aus München und von dem herben Boden hier wegzukommen, dorthin, wo Land, Landschaft und Menschen weicher und freundlicher, und das Leben unproblematischer und ruhiger und glücklicher schien, auch, wenn es all das vielleicht garnicht war. So wie der Bettler in Neapel vielleicht noch ärmer, als der in Oslo ist, aber doch das Leben weniger pessimistisch ansieht, mehr von der Sonnenseite aus, eben weil er mehr Sonne hat ... Besonders gut sah ja Ruth gerade wirklich nicht aus. In der Klinik, da draußen in Nymphenburg hatte sie eigentlich besser ausgesehen. Vielleicht war sie da auch besser gepflegt worden, wie das hier geschah. Und dann hatte der Mann mit den geplätteten Ohren eigentlich recht gehabt, es war gleich, ob sie da blieb, oder wegging. Der Blutverlust ging nur sehr langsam zurück.
Gott ja, also versuchen mußte man es schon, denn die Mutter hatte noch einmal dringlicher geschrieben, und Ruth hatte ihr geantwortet: Gewiß, sie würde sich sehr freuen, wenn sie käme, aber sie möchte noch ein paar Tage warten, bis sie dann bei ihnen in ihrer Wohnung ihr Gast sein könnte. Auf den Brief selbst war sie aber nicht mit einer Silbe eingegangen. Ende nächster Woche möchte sie nur kommen. Sie würden sie dann vom Bahnhof abholen, ›aber sie könnte leider nicht eher‹ das konnte Ruth sich doch nicht verkneifen, ›weil sie sich erst von den letzten körperlichen und seelischen Mißhandlungen erholen müsse.‹
Als aber die Mari Kohlhofer noch schrieb, sie möchte doch erst zwei oder drei Tage später kommen, weil daß ihr Mutterl noch immer hart Wasser lassen tät, aber dann am Sonntag früh würde sie schon in der Wohnung sein, und alles gricht haben ..., und da ihre Zimmer hier in der Pension ... der Marinier hatte sie doch nicht gemietet, er meinte, sie wären zu hoch, und das Treppensteigen würde sein Herz anstrengen ... an ein altes russisches Ehepaar abgegeben waren, das langsam seinen Schmuck aufaß, aber eigentlich nicht den Eindruck machte, als ob es je welchen besessen hätte, sondern eher den, als ob es den anderer Leute gerettet hätte ... und das durchaus darauf bestand, schon einen Tag früher zuzuziehen ... so brachten sie eben, Fritz Eisner und Ruth Block, ihre Koffer und Bücherkisten und all das Gelump, das sich so im Laufe von dreiviertel Jahren bei ihnen angesammelt hatte ... denn es ist ja doch merkwürdig, mit wieviel Zeug sich der Mensch immer wieder belastet ... schleppten es dorthin in die neue Wohnung, bauten davon Barrikaden im Korridor mit Hilfe des Portiers und des Chauffeurs, schlossen die Wohnung wieder ab, und fuhren mit dem gleichen Chauffeur zum Bahnhof.
Nur ein kleines Köfferchen haben sie mit, können ja doch höchstens zwei, drei Tage bleiben, denn es muß ja noch alles eingeräumt werden, in die Schränke, bevor die Mutter kommt. Die ist doch so krankhaft ordentlich.
Im letzten Augenblick schiebt Ruth noch solche ganze Schachtel mit Tabletten in den Koffer, die sie früher immer genommen hat, wenn sie ihre wahnwitzigen Koliken bekam. Eigentlich sollte sie so etwas nicht nehmen, aber es mußte doch etwas da sein, wenn sie mal allein war, und sich keine Spritze geben konnte, weil es zu plötzlich kam. Überhaupt sollte doch das Giftzeug längst weggeworfen sein. Kein Arzt sah es gern, daß sie es nahm. Es war nur gerade für den äußersten Notfall zugelassen.
»Was willst du eigentlich noch damit? Schmeiß doch das Giftzeug weg. Du wirst es ja mit Gottes Hilfe doch nie mehr brauchen«, sagt Fritz Eisner.
»Ach nein, Yori, später einmal. Fürs erste habe ich das Gefühl, so etwas muß ich doch noch immer bei mir haben. Wer sagt mir denn, daß nicht jede Minute wieder mal solch Anfall kommen kann. Was würdest du wohl tun, wenn es jetzt auf der Fahrt passierte?«
Der Zug ist leer. Eisner und Ruth bekommen ein ganzes Abteil für sich, sitzen Hand in Hand, sprechen sehr wenig. Überhaupt sollte Ruth ja nicht reisen, meinte der Hofrat. Nun, dieser halbe Tag, oder wie wenig es war, würde ihr nicht schaden, sagt sie. Und wie weich sitzt man ja auch. Aber es wird ihr sicher ganz gut tun, denn sie hat seit einem Jahr eigentlich keine Felder mehr gesehen ... »Und mein Blick ist, selbst wenn's Bäume gab, doch immer von Häusern begrenzt gewesen. Und wenn man nur die sieht, dann weiß man doch garnicht, was eigentlich in der Welt los ist. In all den Jahren vorher ist das mir immer wieder passiert, daß ich plötzlich ganz erstaunt aus dem Eisenbahnfenstern gesehen habe: Also, der Roggen ist wirklich schon gelb, und das Heu ist schon eingefahren, da muß ich doch den ganzen Frühling beinahe verschlafen haben. Aber es war garnicht wahr, ich hatte ihn garnicht verschlafen, entweder bin ich krank und bettlägrig gewesen, oder ich war in eine Schule, in einen Kursus, in ein Büro, oder in eine Redaktion eingesperrt.«
Und langsam schwindet so indes das München, die Frauentürme, die Hochebene hinter ihnen. Die hübschen weißen kleinen Orte kommen in der samtgrünen Ebene oder inmitten atmender, manchmal von rotem Mohn fast glühender (das sieht schön aus, aber der Bauer freut sich kaum darüber) wellender Kornfelder auf sie zu und schwinden wieder. Man glaubt bei jedem neuen Blick, daß man das all da eben schon einmal gesehen hat. Diese Felder, die wie Spielbretter geteilt sind ..., die weißen kalkstaubigen Wege und Landstraßen, die lang, wie mit einem Lineal das leichtbewegte Land durchschneiden ... die weißen Spielzeugkirchen aus dem Holzspielkasten – wie von Ignatz Taschner entworfen – die Maibäume und das Wirtshaus zum Ochsen mit der breiten Einfahrt und den grünen Läden gleich der Kirche gegenüber ... alles hat man schon einmal gesehen. Wald gibts kaum hier. Bäume wenig. Man liebt keinen Schatten auf den Feldern. Hier wird Korn gebaut und Vieh gehalten, auf den kurzfelligen dichten Wiesen mit der starken Grasnarbe. Es ist ein rauhes, aber ein fruchtstarkes Land. Aber es ist ein wundervoller hoher Himmel über dieser Erde und eine sehr helle, sonnendurchflutete Luft. Und das Gebirge, das immer mehr schwindet, ist nur noch wie ein blausilberner Traum am Horizont.
Die Bauern auf den Mähmaschinen. Die Mädchen, die ein Ochsengespann führen und übergroß am Hügelrand gegen die Luft stehen. Die Kinder aus dem Vorwerk mit dem bunten Schulranzen, die zum Nachbardorf, zum Lehrer, ziehen, selbst sie schon haben alle etwas von Holzschnitten. Und man versteht plötzlich die Bauerngeschichten, die Ludwig Thoma einst als Agricola schrieb: Um dieses Volk Hühner da, das vor dem vorbeifahrenden Zug in die Wiesen hinein wegstäubt, wird beim Ausgedinge zwei Stunden lang verhandelt werden.
Und dann verändern sich allgemach Land und Menschen. Die schwäbischen Türme von Augsburg spielen wie eine Fatamorgana in der Ferne. Breite melancholische Flußniederungen mit Kiesanschüttungen unterbrechen den grünen Samt von Wiese und Korn. Graue Weiden kehren im Wind das Silber ihrer Blattunterseiten dem sausenden Zug entgegen, und die feuchten Niederungen sind, soweit man sehen kann, überzogen mit dem filzigen Gestrüpp des Seedorns, der Ölweiden, die die Farbe der Ölbäume auf den Hängen von Fiesole haben.
Alles ist starr und stark in diesem Korn- und Weideland, oder melancholisch und hart. Menschen, Tier und Pflanzen werden hier groß. Und wenn sie nicht groß werden, so werden sie stämmig. Aber irgend etwas fehlt. Richtig: Wo sind eigentlich die Obstbäume? Wo Wein? Wo die Dichte der Buchenwälder? Wo die Wiesen, die im Blau der Salbei schimmern und ein Sternhimmel von Margaritten sind? Wo ist die weiche Linie der Hügel und der malerische Traum kleiner Städtchen? Wo das Flußband, das im Silbergrau durch das hohe Grün der Uferwiesen seine schönen Schleifen zieht? Wo sind die Schmetterlinge, die sich tummeln wie buntes Feuerwerk? Und wo ist der Rebstock an den Hängen? Wo die Gärten voller Gemüse und Feuerlilien und Kalikanthus und Blumen? Wo die Schwalben, die sich jagen? Und wo der Kirschbaum, der eben abgeerntet wird? Wo die Abende, die so weich sind wie ein Schwanendaun, daß man die ganze Nacht nicht schlafen, sondern nur gehen möchte? Und wo die Luft, die so still ist, daß sie nicht mal die Blattränder der Rosen zittern macht? Hier oben geht immer ein Wind.
Und dann fällt der Zug hinter Ulm. Und dann kommt auch das alles. Schlehen im Oberland, Trauben im Unterland. Und immer reicher wird es. Das Flußband ist noch schmal, eine blaugescheckte Silberschlange zwischen den Wiesen. Aber es wird breit werden. Die Obstbäume werden immer älter und mächtiger, und die Rebgärten ziehen sich immer höher die Hänge hinauf. Die Sonne ist so warm, daß man bedauert, daß die Wagen noch keine Vorhänge wieder haben. Denn die sind ja alle im Krieg kassiert worden, um sie in die Militärtuche mit hineinzuweben. Und die Papierstoffe dann haben den Krieg nicht überdauert, waren bald wie Zunder zerfallen, und nun gibt's eben keine Vorhänge. Aber davor war ja Krieg! Und das helle, weiße, klare Silber der Sonne oben auf der Hochebene, das Silhouetten aus allen Schatten machte, das von vorhin, ist ein schönes, warmes Gold geworden, das gleichmäßig alle Dinge: die Bäume, die Buchenwälder, die Weinhänge, die kleinen Städtchen im Grün, und die Menschen, die in den Gärten schaffen, die Kinder, die in den Bächen planschen ... überall winken Badende dem Zug nach ... die Leute, die die Reben schneiden ... alles, alles umhüllt und durchwärmt.
Und dann ist Spätnachmittag. Das Schloß liegt rostbraun im Grün. Der Fluß ist da. Die alte Stadt daran: Die Waldberge fallen wie Samtportieren zu ihr herab. Die ganze alte Stadt ist von jungen Menschen bevölkert. Kindern, Studenten. Jedenfalls junge Menschen! Selbst die alten Leute wollen jung sein. Hier scheint der Krieg schon überwunden. Nirgends mehr ein Soldat. Kaum einer, der noch eine feldgraue Jacke trägt. In München hat man immer noch das Gefühl einer besetzten Stadt im Kriege. Soviel Militär ist da. In München ist man lustig. Hier ist man fröhlich. In München ist man lärmend. Hier lacht man. In München sind die Farben bunt und die Linien hart. Hier sind die Farben und die Linien weich. In München weht ein Malzgeruch von den Brauereien über die Stadt hin. Und hier weht in den engen Gassen am Neckar doch ein Weinduft. In München brüllen sie und raufen sich. Hier singen sie und werden leicht sentimental. Und wenn sie sich hier noch kaum beschimpfen, haben sie in München schon das Messer aus der hirschledernen Hose. Durch München schießen die Flösse, von mächtigen Floßknechten gelenkt, auf dem grünen, schäumenden Isarwasser. Und hier treiben kleine Boote, fein, wie auf den japanischen Holzschnitten, in endloser Zahl zwischen schwimmenden Jungen und Mädchen in dem ziehenden Graugrün des Neckars. Und die alte Brücke schwingt sich immer noch – »wie ein Vogel, der über den Wipfel fliegt« – von Ufer zu Ufer und »klingt von Wagen und Menschen,« so wie sie Hölderlin sah, sie, die Goethe als die schönste Deutschlands pries, und sie, zu der der unglückselig verliebte, kurzbeinige Schweizer von seinem Fenster aus hinüberschmachtete und sich selbst als grüner Heinrich fühlte.
Fritz Eisner zeigt auf zwei Wagenspuren im Weg, den sie hinansteigen. »Siehst du die beiden Eindrücke hier? Du denkst gewiß, es sind einfache Räderspuren von solcher altmodischen Kalesche, mit denen die Corpsstudenten und die reichen Fremden hier immer noch herumfahren, wie in der Lichtenthaler Allee, wo auch keine Autos fahren dürfen. Irrtum ... an dieser Stelle stand ... wie der Professor W. sagt ... vor hundertzwanzig Jahren die Wiege der Romantik. Und das sind noch die Eindrücke von ihr. Tieck, Arnim, Schlegel, Brentano, Eichendorff sind täglich heraufgekommen, sie schaukeln, und die Fohrs und Oliviers und die Schmidts und wie sie alle heißen, haben hier ihre köstlichen Waldbilder von Fluß, Schloß und Tal gemalt. Von hier aus ... kneif mich nicht immer ...! Unterbrich mich nicht immer, wenn ich dich in die Literatur einweihen will! «
Im Stadtgarten ist Musik. Und wenn es auch mehr Zaungäste unter den breitblättrigen Kastanien gibt, als Gäste, man hört doch zu. Und es ist nicht mal Militärmusik, wie in München oder Zillerthaler, die ping ping auf ihren Zittern machen, sondern man spielt so gut man kann die Ouvertüre zu Bizets Carmen. Ohne daran zu denken, ob das besonders vaterländisch ist. Denn dieser Bizet ist doch sozusagen ein doppelter Erbfeind, erstens als Franzose und zweitens als Jude. Es liegt eine stille Luft eines italienischen Abends in den Gassen und um das Schloß, und von der Ebene draußen kommt eine drückende Hitze wie der warme Atem eines Backofens herangeweht. Und doch macht die Luft nicht müde, erschlafft nicht, sie macht nur behaglich. Man vergißt in ihr, daß man eigentlich arbeiten sollte. »Siehst du, Nuck, die Gemeinheit des Lebens ist wohl überall die gleiche letzten Endes; aber es gibt doch einige Stellen, wo man das weniger empfindet. Hast du großen Hunger? Oder wollen wir noch ein bißchen gehen vor dem Abendbrot? Wir haben schöne Zimmer, und du legst dich früh schlafen. Und morgen fahren wir herauf, und dann kannst du noch einmal mit Annchen reden. Sie wird dir nicht die Augen auskratzen. Fremden Menschen gegenüber ist sie immer sehr beherrscht und durchaus nicht unliebenswürdig. Und du bist ja bei weitem die logischere und die redegewandtere von uns beiden. Aber ich fürchte ... ich glaube, wir haben das schon einmal gesagt ... wenn du die Sprachgewalt eines Jaurés und die eiserne Logik eines Kant hättest, du würdest wenig ... aber ich hoffe, ich irre mich, Nuckchen ... Frauen denken nun mal mit dem Gefühl. Aber eigentlich verstehe ich auch nicht, warum Annchen eine so aussichtslose Sache immer noch hält. Sie kann doch nur erreichen, daß ich nicht geschieden werde von ihr. Sonst nichts.«
»Gott, weißt du, ich überlege mir ja auch schon hin und her, Yori, wie würde ich handeln? Ich glaube, ich bekäm's doch nicht fertig, so über einen andern Menschen hinwegzutreten. Hätte sie von Anfang an: ›Nein ... niemals‹ ... gesagt, es wäre vielleicht doch noch anders zwischen uns gekommen. Aber sie hat immer ja gesagt und uns von Vierteljahr zu Vierteljahr an der Nase herumgezogen. Heute sind doch für all das die Voraussetzungen nicht mehr da. Du kannst vielleicht noch zurück. Ich schwer. Und sieh mal, ich möcht doch das Kind bald bei mir haben können. So etwas muß doch zum Schluß jede Frau einsehen, und wenn es ihr noch so schwer fällt ... Ich jedenfalls ...«
»Ach, weißt du, Nuck, wir wollen uns von andern Dingen unterhalten. Hier ist es nämlich wirklich hübsch. Wir können zum Beispiel drüben langsam zum Philosophenweg gehen, und dann sehen, wie in der Ebene die Sonne untergeht, und der Neckar in roten Windungen aufglüht. Wenn wir aber Glück haben, sehen wir auch den Rhein bei Speyer wie einen Lavastrom aufleuchten, und die Türme des Münsters wie aus schwarzem Papier geschnitten darüber gegen den Himmel stehen.
Da unten, da hinten, in dem kleinen Schlößchen ist Rottmann geboren, und er hat später in Griechenland eigentlich nicht viel andere Farben gefunden ... ich habe dir ja die Bilder in der neuen Pinakothek gezeigt ... als er hier sah, wenn er als armseliger Kastellanssohn auf den Hängen der Bergstraße herumkletterte zwischen den Obstbäumen, den wilden Rosen, den Mandeln, dem Wein und den Kästen ... das sind Edelkastanien, Maronen, das mußt du dir für deinen Soziologen noch merken. Solch einem Menschen ist so furchtbar schwer zu imponieren ... Früher hat man nebenbei sehr viel Wein hier noch gebaut. Die Römer haben ihn hergebracht. Hier waren Villen an den Hängen. Hier war ein Kastell. Hier sind noch Brückenreste. Hier zogen die Straßen für die Legionen entlang, hier drüben hat man einen der schönsten und größten Mithrassteine gefunden, aber jetzt ist kein Wein mehr hier oder nicht der Rede wert. Die Erde hat sich abgekühlt wohl. Ich kann's ihr nicht übel nehmen. Ich wäre auch, wenn ich mir so an ihrer Stelle die Menschen als Masse betrachten würde, die da auf ihr herumkrabbeln, merklich kühler geworden. Ich wäre ein einziger Nordpol geworden. Oder ich hätte aus meinen Vesuven solange Feuer gespuckt, bis alles genugsam vorbereitet gewesen wäre, um das mißglückte Experiment dieser Menschheit noch einmal von vorn zu beginnen.«
»Ach Gott, Yori, das ist auch wieder nicht wahr, das ist eine von deinen bekannten Lügen. Das Experiment ist zur Hälfte vorzüglich geglückt bisher. Nur die andere Hälfte ist so jämmerlich mißlungen. Und das Unglück ist, daß bislang immer noch die mißlungene Hälfte mehr Macht in der Welt hat, als die gelungene. Aber das wird ja auch mal anders werden. Dafür werden wir Frauen sorgen. Verstehst du?«
»Gewiß«, sagt Fritz Eisner, denn es gibt so Themen, bei denen Fritz Eisner sich abgewöhnt hat, zu widersprechen. Außerdem, seine Mutter hat immer gesagt: man soll ... »Gewiß, sieh mal nur, wie schön der Goldstaub draußen über der Ebene liegt von der letzten Sonne. Sieh mal, wie die schwarzen Bootchen da unten auf dem silbernen Strom, und dieser Vierriemer da ...! wie ein Wasserläufer sieht das aus. Du weißt doch, diese komischen Insekten, die so ganz schnell auf den Teichen Schlittschuh laufen. Jetzt werden die Lichter unten an den Ufern angesteckt, und ein Glühwürmchenschwarm tänzelt über die Böschungen hin. Und jetzt steckt auch die Bergbahn ihre Lichterreihe an. Und siehst du, da flammen sie auf in den kleinen armen Gassen am Fluß, und in den feinen, reichen Straßen am Schloß. Von überall her kommt mal hier und mal da ein neues Glühwürmchen angeschwärmt. Und wie unerhört weich und milde die Linien der Berge hier sind, die sich zur Ebene öffnen, und wie dicht und voll das Haar ihrer Wälder ist, das sie ganz überzieht, fast bis zum Fluß herunter. Die Gärten hier sind ja auch nur blumengewordener Wald. Kennst du den Baum hier? Ich auch nicht. Hier sind viel Baumpensionäre aus aller Welt: Tulpenbaum, Gingko ..., ›dieses Baumes Blatt aus Osten‹, wie Goethe singt ... Paulownie ... Trompetenbaum ... Gleditschie ... stimmt alles nicht ... macht nichts, ich kenne ihn auch nicht.«
Auf dem Neckar treibt ein breites Boot, wohl mit sechzig bemützten Studenten. Sie lassen sich von kostümierten Bootsleuten rudern, aber das Schiff treibt ja fast von allein. Sie haben Schnürröcke und schwingen Weinhumpen und singen dazu. Es sieht wirklich hübsch aus, und es klingt auch recht hübsch durch die rosige Dämmerung herauf. Ruth ist ganz beglückt und gerührt davon.
»Ach weißt du, die Studenten spielen nicht mehr die Rolle wie einst hier, das heißt die Verbindungen. Ich glaube, wir tun falsch daran, wenn wir sie als lustige Burschen nur nehmen. Aber wirklich, wir wollen umkehren. Du sollst doch nicht so viel gehen. Setzen wir uns lieber noch eine Stunde in den Garten vom Hotel hin und gehen wir dann zeitig nach oben, denn du sollst doch mindestens vierzehn Stunden am Tag noch liegen. Der Arzt hat mir auf die Seele gebunden, darauf zu achten. Aber so diese leichte Morbidezza steht dir garnicht schlecht. Ich finde, alle Leute sehen sich nach dir um.«
Aber Ruth mag das nicht. »Schönheit ist ein Geschenk, nicht immer ein angenehmes«, sagt sie, »man kann nichts dafür.«
»Irrtum, mein Kind, jede Schönheit ist doch auch ein Versprechen des Körpers von seelischen Dingen, und, wenn auch sie selten von einer Frau eingelöst werden (ohne persönlich zu werden!) vorhanden sind sie. Also ist Schönheit doch kein Geschenk.«
Und dann stehen sie noch eine ganze Weile auf dem Balkon und sehen über die vom Mond bestäubten Waldberge weg.
»Vielleicht ist das zu schön, um hier immer zu leben.«
»Nein, es ist wohl doch nicht zu schön, denn dann würde man es überbekommen. Ich habe es doch nun bald tausendmal und mehr hier gesehen, kenne jeden Baum auf zehn Kilometer im Umkreis, jede Biegung des Flusses in jeder Jahreszeit und Beleuchtung, und ich kann die paar Kilometer bis zu mir heraus nie fahren, ohne aus dem Fenster zu schauen, als sähe ich es das erste mal so. Wie gesagt, das Leben ist ja überall gleich gemein; aber, man soll da hingehen, wo man es am wenigsten merkt. Wenn man es sich aussuchen kann.«
Von unten dämmern Geräusche herauf. Die Musik des Stadtgartens hat aufgehört. Die letzten Liebespaare schleichen schon wie trunken durch die Laubnacht der Kastanien. Fritz Eisner will sagen: ›Hör mal, Ruth, wozu sind wir eigentlich hier? Wozu willst du dich aufregen? Mutter hat immer gemeint: man soll ... Wir haben uns doch beide gern. Es ist noch nie die Rede davon gewesen, daß wir uns trennen könnten; und jetzt schon garnicht. Laß das morgen sein. Wir fahren mit einem Schiffchen den Neckar hinauf. Wir gehen wohin und legen uns in die Sonne, bis wir braun, wie die Kastanien am ersten Oktober sind. Hast du deinen Badeanzug eigentlich mit? Ich will nochmal mit den Kindern reden. Vielleicht hat das einen Sinn. Was du machst, wird sicher sinnlos sein, und wenn du die Logik eines Kant und die Beredtsamkeit eines Jaurès ... Ich will nichts weiter. Ich habe keine allzu schönen Erinnerungen an das letzte mal, vor drei, vier Wochen. Wie lange ist das eigentlich her? Ach ja, vor vier Wochen war es.‹
Aber dann scheint ihnen doch am nächsten Morgen die Sonne durch die Streifen der Gardinen, und Ruth weckt ihn, daß sie nun in sein Haus herausfahren wollen, sie hätte schon anrufen lassen, daß sie kämen. Die ganze Fahrt ist Ruth sehr freundlich und zärtlich, redet viel, kommt vom hundertsten ins tausendste. Es ist ein sonniger, ganz reiner Julitag noch mit einem tiefblauen Himmel über den grünen Bergen. Ostwind dabei, und alles ist deshalb sehr weiträumig. Die Waldberge haben helle Kanten gegen den Himmel, und man sieht deutlicher als bei West ihre Wellen und ihre Gliederung. Die Seitentäler, die sonst wie Kulissen wirken, die zu nahe an die Rampe herangerückt sind, sind heute von großen, fast nicht endenden Tiefen. Denn es ist erstaunlich, wie das Medium der Luft hier Berge und Wälder einmal fast bis an unser Auge heranschiebt und das andere mal es in unergreifbare Ferne rücken kann.
Und wie schön heute der Fluß ist. Er ist niedrig, ganz graugrün, kaum angefärbt von den roten und lehmgelben Erden, die er mitgerissen, und so schnell ist er, daß die kleinen Boote nur so in seinen Strudeln dahinjagen. Es hat eben lange nicht geregnet, und deshalb schießt er mit kleinen blitzenden Wirbeln um Steinblöcke, die aus dem Wasser ragen, und drängt sich dort, wo das Tal schmäler wird, zusammen, verliert jede Schwerfälligkeit und zieht blitzend und schäumend weiter.
Da ist das Haus. Es könnte mal renoviert werden, von außen etwas gestrichen und im Fachwerk etwas verputzt werden, und der Garten wartet auch der Schere des Gärtners seit bald fünf Jahren wieder. Aber das Obst hat so reich angesetzt, daß die Bäume gestützt werden mußten.
Teddy springt ihnen entgegen, ein amüsanter, kleiner Straßenräuber von einem stichelhaarigen Terrier, den ein Soldat aus dem Ort vor einem Jahr noch als ganz kleinen Kerl aus einem vergasten englischen Schützengraben gezogen hatte, und der so in Ermangelung seines Herrn nach Deutschland in Kriegsgefangenschaft gekommen war. Und Teddy freut sich hündisch mit Fritz Eisner. Teddy ist zwar unmöglich, aber er ist unwiderstehlich, und er ist ein Charakter.
Wie kann ein Haus mitten in der Julisonne stehen und doch so unfroh und gedrückt innen sein. Das alte Mädchen ist gewiß fleißig, und das kleine Mädchen ist dick und lustig und tut, was man ihr sagt und von ihr verlangt. Zwei Menschen müssen doch eigentlich mit so einem Haus fertig werden, aber sie werden es nicht, weil sie gegen die passive Resistenz der Hausfrau nicht aufkommen können, und wenn sie, statt der vier, ein Dutzend Hände hätten ...
Alles ist in den vier Wochen noch weiter zurückgekommen, das sieht Fritz Eisner mit einem Blick in das Treppenhaus schon. Er geht durch die ungelüfteten, halbdunkeln Zimmer unten, stößt die Holzläden auf, und wie eine Staubschicht empfindet er diese Schicht von Unfrohheit, die über all den schönen Dingen jetzt liegt, die er in bald zwei Jahrzehnten sich mühselig zusammengetragen hat, und mit denen er bis vor kurzem doch so verwachsen war, daß es ihm ebenso weh tat, wenn auch nur ein Karlsbader Rubinglas zerschlagen wurde, als ob er sich selbst dabei in den Finger geschnitten hätte.
Jetzt spürt er nichts als die kalte Lieblosigkeit und vielleicht den Haß dagegen. Seit er aus dem Haus ist, pflegt das keiner mehr recht. Und es ähnelt heute mehr dem Magazin eines Trödlers und kleinen Antiquitätenhändlers, als dem Wohnmuseum, das er sich da erschaffen wollte. Es ist ihm, als ob gezeigt werden soll, daß man an den Dingen hier kein Interesse mehr hat. Eine Barockkommode, die er hat schicken lassen, steht noch im Garten an der Hauswand in ihrer Holzverschalung. Es ist niemand da gewesen, sagen die Mädchen, sie in das Haus zu tragen, und im Haus wäre auch kein Platz dafür. Aber durch den Regen hat sich das Furnier gelöst, und die Politur ist stumpf geworden. Gewiß, man ist da, man hat sich schnell etwas zurecht gemacht, aber nicht gut gerade. Man scheint liebenswürdig sogar und hat doch sehr starre Augen (das kennt Fritz Eisner). Die Kinder aber freuen sich mit Teddy um die Wette mit ihnen. Denn eigentlich können sie nicht nur den Vater, sondern auch dieses hübsche Mädchen da ganz gut leiden.
Scheinbar wissen sie nichts. In Wahrheit alles. Denn erstens wissen ja Kinder immer mehr, als man glaubt, und zweitens sind sie ja tägliche Zeuginnen der Scenen und Lamentationen der Mutter, die ihnen nichts vorenthält und ihre jungen Seelen wie ein schweres Gas niederdrückt, sowie sie einmal doch höher steigen wollen.
Die ältere, die Gymnasiastin, die sich schon mit den Komposita von hystemi herumschlagen muß, ist eigentlich längst über ihre Mutter hinausgewachsen. Und die kleine, die krank jetzt war ... und sie hustet doch immer noch etwas, trotzdem ein Tag so blau wie der andere war, und sie viel in der Sonne gelegen hat und schwimmen gegangen ist ... sie will auch nicht recht wieder zunehmen (war doch dick wie eine Nudel vordem) ... die Kleine hat Gott Lob ein viel zu glückliches Naturell, um sich auf die Dauer niederzwingen zu lassen, sagt sich, wenn auch unbewußt bisher, wie der Vater: die negativen Seiten des Lebens interessieren mich nicht ... auch nicht bei meinen Herren Eltern. Außerdem kommt sie sich bedeutend vor, weil sie auf sich achten soll und, weil sie Arbeiten nur sich schicken läßt, aber nicht in die Schule geht. Denn so viel, wie ihre Schwester hat sie mit der Schule nicht vor. Genau wie ihr Vater einst, den die Mitschüler den Ritter Bayard ohne Furcht vor Tadel nannten.
»Also, mit Teddy sollte man eigentlich nicht verkehren und auch nicht mehr mit ihm reden«, meint Fränze ... »Ulrike hatte doch gebrütet. Weißt du das nicht, Papa? Fünf Eier hatten wir ihr untergelegt. Drei sind faul gewesen. Eines hat sie selbst zertrampelt und aus einem war eben Pipelinchen gekommen.«
»Siehst du, Fränze, selbst die Hühner sind jetzt schon für das Einkindersystem«, sagt Fritz Eisner und Annchen, sie ist heruntergekommen, es ist Burgfriede erklärt, der Kinder wegen und außerdem muß man doch mal zu Rande kommen ... Annchen wirft Fritz Eisner einen Blick zu, als ob sie sagen will: aber es ist doch unmöglich von dir, so etwas vor Kindern zu erwähnen.
»Und das Pipelinchen war so ganz klein und so ganz dumm und so ganz niedlich und ist durch die Drahtmaschen geschlüpft und kaum, daß es draußen war, hat ihm Teddy den Hals langgezogen. Vielleicht hat er auch nur mit ihm spielen wollen. Aber das hat Pipelinchen eben doch nicht ausgehalten.«
»Ja, und dann kleine Griechin, hat es eben den Styx überflattert und ist im Hades gelandet, da wo alle Dinge sich im Nichts berühren. Und wir, ich und du, Bruder und Schwester, und Hühnchen und Großmutter zugleich sind. Aber dafür konnte Teddy eigentlich nichts, das ist seine Raubtiernatur.«
»Ja, aber noch etwas schreckliches ist passiert, was ich dir eigentlich garnicht schreiben wollte: Levi hat seine sämtlichen Jungen aufgefressen.
»Und die zwei, die wir noch gerettet hatten«, ruft Hänse, die kleine, »vor seiner Mordgier, sind an Trommelsucht gestorben, so dicke Bäuche haben sie gekriegt. Wenn sie noch länger gelebt hätten, wären sie geplatzt.«
Levi hieß garnicht Levi, denn seit wann führen weiße belgische Riesen so alttestamentarischen Namen? Sie hieß Baby. Und sie lief den Kindern wie ein Pudelchen durch den Garten nach und sie riefen immer: Baby, Baby! Aber die Gassenbuben draußen verstanden Levi und riefen ›Levi‹. Und dann kamen sie ebenso an den Zaun geschnuppert, wenn man ihr Löwenzahn und Ampfer hinhielt. Und so war sie eben zu dem Namen Levi gekommen, diese Kindsmörderin.
Ja, nun würde Ruth etwas hier bleiben, denn sie sei müde von der Reise. »Und ich will mit Euch ein bißchen spazieren gehen. Legen wir uns an den Neckar und Teddy nehmen wir mit und in einer halben Stunde oder so, oder einer Stunde hole ich Ruth wieder ab ... Vielleicht kannst du dann nochmal mit Annchen besprechen, was Ihr zu besprechen habt. Meine Ansicht kennst du ja.«
Und dann geht Fritz Eisner mit den Kindern fort, läßt die beiden Frauen zurück. Vielleicht, daß sie sich untereinander besser verstehen werden, einfach als Frauen. Endlich sind es doch nur noch rein materielle Fragen, die erledigt werden müßten. Und da ihm an Geld wenig liegt, sofern er gerade so leben kann, wie er es gewohnt ist ... die Automobilwünsche des Lebens hat er sich längst und gründlich abgeschminkt, will nur so ungefähr in seinem Niveau bleiben ... sparen ist er nicht gewohnt und daran hat er bislang recht getan, denn so hat er wenigstens nie im Leben etwas verloren. Auf sein Haus erhebt er keinen Anspruch, und es liegt kein Grund vor, daß er gegen die Menschen, die sich ihm anvertraut haben, ob das eine Frau war, die bald zwanzig Jahr neben ihm gelebt hat, oder seine Kinder, an denen er wortlos hängt, und die an ihm hängen ... solange er auch nur einen Pfennig selbst habe ... anders sein wird, als vorher ...
Man nimmt doch kein Messer und hackt sich in seine eigenen Hände!
Wirklich, vielleicht werden die Frauen sich leichter untereinander verstehen! Und mit den Kindern wird er reden, daß und weshalb er sich jetzt auch der Form nach von ihrer Mutter trennen muß, und daß es, wenn das erst einmal geschehen ist, sicher besser sein wird für sie, als es jetzt war.
Endlich sind sie doch alle in all den Jahren sehr vernünftig gewesen. Warum ist nur das nicht in ihre kleinen Köpfchen hineinzubekommen? Und sie weinen und schreien, wenn man nur davon redet, wie Annchen schreibt. Und deshalb könne sie es eben den Kindern nicht antun, daß nachdem sie ihren Mann verloren, nun auch jene den Vater verlieren sollen.
Ja, und dann liegt Fritz Eisner mit den Kindern am Neckar in einer Wiese am Rand und unten gurgelt das Wasser. Libellen spielen im Schilf, reizende metallene Stäbchen mit tiefblauen Schimmerflügeln, setzen sich auf ein Ampferblatt und gleiten wieder hoch, suchen sich eine Genossin, mit der sie in der Luft sich umgaukeln. Und Teddy springt nach ihnen, halb auf dem Kiesstreifen des Ufers, halb im aufspritzenden Wasser, schnappt er nach ihnen und faßt sie nie und überschlägt sich, purzelt beinahe ins Wasser, und schnappt und springt schon, sich von neuem überschlagend nach dem nächsten Libellenpärchen. Teddy ist ein Fighter, eine Kampfnatur, und durch Mißerfolge läßt er sich nicht abschrecken. Die Kinder lachen und hetzen ihn, aber das ist gar nicht nötig. Die Sonnenfische blitzen auf dem Flußband, und ein Schillerfalter, groß und blau, wie ein kleiner Vogel so groß, kommt vom Wald herübergeschwebt, – sie sind stolze Flieger, diese Schillerfalter ... und setzt sich zu ihren Füßen auf den Uferrand, um mit seinem langen, entrollten Rüssel Feuchtigkeit zu trinken und dabei, selig und flügelbreitend, hin und her zu trippeln, und wieder zu entschweben, stahlblau und dunkel wechselnd, wie eben so der Flug eines Schillerfalters ist.
Ein Dampferlein zieht vorbei mit winkenden und tücherschwenkenden Menschen; und einen Pfauenschweif von Wellen mit glitzernden Augen, den er auffurcht, zieht er hinter sich her ... in dem sich, je nach dem, ob sie dem Himmel zugekehrt oder von ihm weggewendet sind, die Sonne oder das Blau des Himmels spiegeln.
»Ach, guck einmal, Papa«, ruft Hänse, »das sieht doch genau so aus auf dem Wasser, als ob der Schillerfalter da fliegt.«
»Ach, das bricht nur die Strahlen in verschiedenen Winkeln«, sagt die Gymnasiastin. Sie ist eben nicht mehr so kindlich.
Von einem Reiher, der oben zieht, fällt der Schatten auf das Wasser, und dann bemerkt man ihn erst, wie er da drüben im Berg in eine Buche sich senkt, ein paarmal von Ast zu Ast noch schwebt mit leichten Schlägen, und dann, halb vom Laub verdeckt, seinen langen Hals und seinen gelben, bösen Schnabel aus dem Grün streckt.
Die Schwalben ziehen ihre langen Runden ganz niedrig über den Fluß hin, beseelt und flüchtig, zierlich und stahlschillernd mit den zwei Mondsicheln ihrer Flügel. Fliegen gerade nur, weil es ihnen Spaß macht, als ob sie gar keine Geschäfte damit verbänden; einfach des Fliegens willen tanzen sie ihre Kurven federleicht und beschwingt. Sie setzen ohne Anlauf über das Weidengebüsch fort und sie stürzen sich plötzlich, als wären sie ein Stein und würden geworfen, hundert Meter weit in die Wiesen hinein, und schon sind sie wieder auf dem Fluß und treiben wie eine Feder im Wind.
»Also Kinder«, sagt Fritz Eisner und sieht den Schwalben zu: Herrlich, was die für eine leichte Lebensauffassung haben! »Also Kinder, wie lange kennen wir uns eigentlich? Eine ganze Weile schon. Es war nicht immer ganz nett. Aber, was an mir lag, habe ich getan. Ich bin ja kein Spielverderber. Wie war's denn eigentlich so zu Hause in den letzten Wochen?«
Fränze zieht ein ernstes Gesicht. »Ach Gott«, sagt sie »ich bin ja viel in der Schule, und dann habe ich zu Hause zu arbeiten. Ich kümmere mich nicht sehr darum. Aber ich glaube für Hänse war es nicht gut. Sie geht nicht in die Schule jetzt. Ich würde Hänse weggeben an deiner Stelle. Ich war nebenbei auch mal zwei Tage zu Hause. Etwas marode – du weißt schon! – dank der amerikanischen Ernährungshilfe.«
»Ach Gott«, sagt Hänse, »Mutter, weißt du, ist wie solch Kinderbagger, solch Spielzeugbagger, den du uns mal bei Wertheim gekauft hast, der immer wieder dasselbe Wasser hochzieht und wieder reingießt, mit ihrem ewigen Reden und Jammern. Es hat gar keinen Sinn, denn das Wasser wird doch nicht weniger davon, Papa.«
»Ja, Kinder, meint Ihr nun, ich werde etwa zu Euch schlechter sein, als bisher, wenn ich jetzt Ruth heirate?«
Die Kinder schweigen einen Augenblick und spielen mit Grashalmen, die sie sich gezupft haben. »Ach nein«, meint Fränze endlich, »der Mensch ist so wie er ist, und eigentlich haben wir uns immer doch gut verstanden, Papa.«
»Ja, aber warum Kinderchen schreit und weint Ihr denn eigentlich den ganzen Tag, daß es Mutter nicht zugeben soll?«
Fränze stuppt mit dem Ellbogen zu Hänse herüber und Hänse stuppt sie zurück. Sie wollen nicht recht mit der Sprache heraus.
»Ach Gott, Papa«, sagen sie, eigentlich beide zu gleicher Zeit, »ach Gott, du weißt doch, wie Mutter ist, das ist wirklich nicht wahr, das schreibt sie doch nur so, um dich ...«
»Nein«, sagt Fränze, und sie ist doch eher die Wortführerin, »wir haben ihr doch noch vorgestern gesagt, daß wir doch auch nun mal unsere Ruhe haben wollen, und daß wir das ewige Dich-schlechtmachen und das Schimpfen auf Ruth garnicht mehr hören wollen. Sie sollte es schon eben unsertwegen dann tun.«
»Ja«, sagt Fritz Eisner, »seht mal, Kinderchen, Ruth hat doch vor ein paar Wochen ein kleines Mädchen bekommen.«
Fränze sieht vor sich hin auf das Wasser und auf Teddy, der böse knurrt und sich bemüht, mit den Zähnen einen Stein aus dem Boden zu reißen, der dort aus dem Schlamm heraussteht.
Aber Hänse sieht zu Fränze herüber. »Ach«, sagt sie und strahlt über das ganze Gesicht, »ach, weißt du, das ist ja doch reizend, da haben wir ja wirklich noch ein kleines Schwesterchen bekommen. Da mußt du dich gewiß auch sehr mit freuen, Papa.«
Fränze sieht Hänse an und sagt nachdenklich: »Von dem Standpunkt betrachtet, hast du ... hast du ungefähr recht.« Und dann wendet sie sich an Fritz Eisner. »War's schwer, Papa ...? Ich meine für Ruth!«
»Leicht war's nicht, Fränze. Sieh mal ... Ruth möchte doch nun gern das Kind bei sich haben, und das geht besser und ist auch für das Kind besser, wenn sie dann meine Frau ist. Das versteht Ihr noch nicht so ganz. Aber warum soll solch Würmchen nicht einen richtigen Vater und eine richtige Mutter haben, wie Ihr es gehabt habt. Ihr verliert ja dadurch den Vater nicht.« – »Naja«, meint Fränze wieder. »Wir sind ja dafür, solange wie überhaupt davon die Rede ist, immer eingetreten, daß Mutter das machen soll mit der Scheidung«, das Kind spricht so merkwürdig klar und juristisch sicher, »dann können wir die Hälfte der Zeit bei dir sein, oder alle Ferien wenigstens. Und später, wenn ich studiere, dann kann ich ja auch dort mal studieren, wo Ihr seid. Jedenfalls kannst du Mutter ruhig sagen, daß wir keinerlei Schwierigkeiten machen.«
»Ach, Pap«, sagt Hänse, »hast du vielleicht eine Photographie von unserem Schwesterchen da, sonst mußt du mir gleich eine schicken. Ich sammle welche für mein Album.«
Aber in diesem Augenblick springen beide Kinder schreiend auf und ins Wasser, denn Teddy kommt mit einer Ente im Maul, der er wohl Schwimmunterricht geben wollte, einem weißen, hübschen Tier, das noch verzweifelt mit den Flügeln schlägt, angeschwommen.
Aber Teddy wird verprügelt, und die Ente, die erst wie tot auf dem Wasser liegt, erholt sich langsam und paddelt dann schwanzwackelnd doch wieder davon, ihren Genossinnen nach, die schnatternd davongestoben waren. Wie aber alle so weit im Fluß sind, daß ihnen nichts mehr passieren kann, stellen sie sich auf die Entenpfoten und beschimpfen aus sicherer Ferne den frechen und gemeinen Hund.
Ja, und dann geht ... die Kinder mußten sich erst wieder etwas in der Sonne trocknen, denn sie waren ein ganzes Stück in den Fluß hinausgesprungen ... geht Fritz Eisner mit Fränze und Hänse langsam heim durch die Margaritenwiesen, die blühende Salbei und durch das Tanzen der Libellen und Seejungfrauen am Ufer, denen Teddy wieder nachspringt. Denn hier bekommt man keine Prügel. Also, kann man es auch tun, wenn die andern da, diese Leute, die er sich angestellt hat für sein leibliches Wohl, hinsehen.
Warum muß er eigentlich die Kinder nun fast ganz dieser Frau überlassen? Erstens sehnt er sich nach ihnen, wenn sie nicht um ihn sind, daß er manchmal ganz krank wird, und zweitens versteht er sie doch besser wie diese Frau. Eigentlich ist sie da im Hause jetzt das Kind, und jene schon die Erwachsenen. Und außerdem ist doch überhaupt die beste Mutter der Vater ... wenigstens für Töchter.
In der Tür kommt ihnen Annchen entgegen: »Ich habe mich schon zu Tode geängstigt, wo du so lange mit den Kindern bleibst«, sagt sie und verzieht das wie erstarrte Gesicht. »Ich sehe dann immer gleich so scheußliche Dinge, Fritz.«
»Also«, sagt Fritz Eisner, »ich habe mit den Kindern jetzt gesprochen. Sie haben mir versichert ... aber wo ist Ruth?!«
»Ruth«, sagt Annchen sehr ruhig und unter der Ruhe lauert etwas, wie in den Fünkchen da lauert, das in den starren, zusammengezogenen Pupillen glimmt, »Ruth wollte nicht mehr auf dich warten und ist fortgegangen.«
»Adieu«, sagt Fritz Eisner und dreht sich kurz um. »Da kommt gerade meine Elektrische ... Kinder, ich sehe Euch nochmal.«
Fritz Eisner ist eiskalt da drin, hat wieder das Binneneis Grönlands im Herzen: ›Wenn sie wenigstens nach dem Hotel gefahren ist! Wer weiß, was da war? Was diese beiden Frauen gesprochen haben?‹
Die hohen Ulmen am Neckar sausen vorbei und die alten Birnbäume. Er möchte gern den Schaffner bestechen, doch noch schneller zu fahren, aber es würde nichts nützen, denn an den Ausweichen muß die Bahn ja doch auf die andere warten. Irgend etwas ist da passiert. Wozu hat Ruth die Tabletten mitgenommen? die sie doch eigentlich nicht brauchte? Und die ihr die Ärzte so ungern gegeben haben. Und heute Vormittag auf der Fahrt, da war sie doch eigentlich fast sentimental gewesen und ganz weich; und gerade das liebe ich doch so an ihr, daß sie das fast nie ist. Ich hatte geglaubt, der Genius des Ortes, die Heidelberger Luft. Ich habe hier oben auf der Molkenkur mal einen hartgesottenen Schieber, der Existenzen in seinem Leben nur so gemäht hat, wie einen Schloßhund heulen sehen, als hinter den Pfalzbergen die Sonne sank.
Aber am Karlstor, wo man umsteigen muß, kurz danach erwischt Fritz Eisner doch ein Auto. Warum rast er denn nur so? Es wird garnichts sein! Vielleicht ist auch Ruth garnicht nach dem Hotel gefahren. Vielleicht will sie sich gerade mal allein das Schloß ansehen. Hatten sie nicht heute früh davon gesprochen, daß sie eigentlich doch mal zusammen als fromme Helene; und er als der Mann, dem nachher ›der Salat aus beiden Ohren fliegen tat‹, wie hieß er doch, ›der geliebte Schorch‹ ... (diese Trümmer rauh und morsch) auf das Schloß klimmen wollten. (Ach fühl doch bloß mal, wie ich schwitze!) Dieser ewige Junggeselle von Busch sah die Kehrseite der Ehemedaille schärfer, als manch ewiger Ehemann ... Ja, ja, ein Dom läßt sich eben nur von der Ferne gut übersehen.
Sie wird schon unten im Garten auf einer Bank sitzen. »... Der Arzt ist schon bei der gnädigen Frau. Ich glaube, sie haben sie schon wieder zum Bewußtsein gebracht ... das Mädchen wollte das Zimmer aufräumen, und es dachte, es ist keiner drin und wie sie klopfte, lag die gnädige Frau auf dem Teppich ... aber der Arzt war auch in einer Minute wieder gleich da ... solche Sachen kommen ja öfter bei uns vor.«
Oben auf dem Korridor kommt schon ein älterer, mürrischer Mann mit einer Magensonde in der Hand, die er eben in ein weißes Tuch sich schlägt, ihm entgegen. »Ach«, sagt er, »abba, do kummt nix noch. Wie kommt sie eigentlich zu dem Gift? Sie hat's auf dem Tisch stehen lassen die Schachtel, und da hab ichs gleich gelesen, was war und's Gegengift gegeben. Und ä Magesonde hab ich für alle Fälle gleich mitgenumme. Do wirds zwar heit noch ä bissel taumlich sei; aber, was soll noch nochkumme?! Jedenfalls stecke Sie sich's ei, die Schachtel. Und dann hot sie mir a gesagt, die junge Fraa, daß sie schun so viel bekomme hat, jetzt in der Schwangerschaft, und des is wohl ihr Glick gewese. Aber nun, sagen Sie mir in aller Welt, do ware doch Blutspure im Wasser nachher beim Mageinhalt? Des versteh ich net. Sie hot mir g'sagt, sie blutet leicht, aber des kenne doch vielleicht auch so was wie Krampfadern in der Speiseröhre ... sie hot wohl sehr viel Narkotika kriegt, denn sie hot ä gehörige Portion genumme. Wir beide, ich und Sie, wäre net so schnell wieder uffgewacht. Des hält unser Herz nimmer aus. Des is mir ganz klar. Sind Sie nebenbei der Mann von der Daom??«
»Ich werde es, Herr Doktor. Haben Sie schon meine Adresse? Hier ist sie.«
»Ja, und noch ans, tun Se, als ob nix gewese is. Des is bei solche Sache immer 's beschte. Do is man am sicherste, daß sichs net gleich wiederholt. Ich bin än alter Arzt, ich wees so was.«
Und dann sitzt Fritz Eisner bei Ruth am Bett, hält ihre Hand. So bei ihr zu sitzen, das hat er gelernt. Er ist ein vorzüglicher Krankenpfleger im letzten Jahr geworden. Aber Ruth erholt sich sehr schnell. Des Abends ist sie eigentlich schon wieder ganz munter.
»Wollen wir noch heute Nacht fahren? Ich glaube, wir haben hier nicht mehr viel verloren.«
Ruth nickt nur.
»Du kannst im Zug ebensogut schlafen und sieh mal, deine Mutter will doch übermorgen schon bei uns sein.«
Fritz Eisner geht noch einmal herunter in die Telefonzelle. »Hör mal, Annchen, Ruth hat soeben einen Selbstmordversuch gemacht. Womit ist gleich. Das Zimmermädchen hat sie bewußtlos am Boden gefunden, und man hat schnell einen Arzt gerufen, der sie wieder ins Leben zurückgeholt hat. Hast du ihr etwas zu bestellen?«
»Sie hat die Suppe sich eingebrockt, soll sie sie auch auslöffeln!«
»Schluß«, schreit Fritz Eisner, und haut den Telefonhörer herunter, daß aus der Muschel ein Splitter von dem Hartgummi herausspringt.
Und dann gehen sie aus dem Hotelzimmer. Wie sie in der Türe stehen, meint Fritz Eisner: »Hör mal, Nuckchen, ich ... ich muß dich doch noch einmal wieder lächeln sehen.«
»Vergiß Marley nicht«, sagt Ruth, und ein Lächeln kommt so langsam aus den Augenwinkeln zu Fritz Eisner herüber, das Fritz Eisner aus Hunderten von Nächten nur zu gut kannte.
Und dann sitzen sie im Zug, der fast leer die warme Rheinebene hinabbraust, zwischen den unendlichen Tabaksfeldern, den Dörfern und den hunderttausenden von breiten und geduckten Obstbäumen dahinjagt unter dem flackernden und mitziehenden Sternbildern am wie dampfenden Nachthimmel.
»Ja«, meint Ruth, »ich habe aber doch Angst vor meiner Mutter.«
»Warum? Sie wird sehen, daß ich zu dir und dem Kind gut bin, und das ist die Hauptsache. Erzwingen lassen sich die Dinge nicht. Und mal wird es schon von selbst werden. Ich glaube, wir haben an den Kindern, an Fränze und Hänse jetzt gute Bundesgenossen. Um heute zu leben, muß man doch überhaupt die Kunst des Wegdenkens haben. Und außerdem, der liebe Gott hat doch nicht zuerst die Ehe und dann die Liebe erfunden.«
Ruth lacht sehr. Aber dann schluchzt sie wieder auf. »Ja, aber du kennst doch meine Mutter nicht, wie sie ist.«
»Warum? deine Mutter wird auch nicht anders sein, wie andere Mütter. Weißt du, mit solchen Müttern geht es einem oft im Leben, wie es uns geht, wenn wir so in einer Gesellschaft eine junge Frau kennen lernen und mit ihr so grade anfangen, etwas intimer werden zu wollen. Kneif mich nicht ...! Die erzählt uns dann, daß sie in unglücklicher Ehe lebt, denn sie wäre eben ein vornehmer Mensch, und ihr Gatte ein ungebildeter und abscheulicher Parvenu, mit einem Wort, ein Knote und ein brutaler Poebel, der sie knechte und auf ihrer Seele täglich mit Nagelschuhen spazieren ginge. Und dann will es der Zufall, daß man den Mann kennen lernt, und innerhalb einer halben Stunde sieht man, daß natürlich er der wertvollere von beiden ist, dieser feine, stille, zarte, anständige und gebildete Mann, dessen Seele täglich von den hochhackigen Schlangenhautschuhen seiner Kanaille von Frau zu Brei gestampft wird ... Hau mich nicht immer! so wird es mir sicher mit deiner Mutter gehen.«
Und jetzt lacht Ruth wieder.
»Sage mal, Ruth, warum hast du denn das eigentlich heute getan? Wenn du nicht schon nicht an mich denken ...«
»Ach Gott, Yorichen, alter Junge, sei mal gerecht, du hättest dich ja doch gefreut, wenn du mich los geworden wärest, du gehörst doch eigentlich ganz anderen Dingen, als so von Frauen hin und her gerissen zu werden. Das geht dich doch im letzten Grunde alles einen Dreck an. Und was habe ich von einem Kind, wenn ich es nicht habe. Und dann ... man hat sich doch heute wirklich abgewöhnt, den Tod eines einzelnen Menschen wichtig zu nehmen.«
»Es scheint mir, kleine Ruth, als ob du damit doch nicht ganz auf dem Boden der Tatsachen, wie der Vollundganzpolitiker sagt, dich befindest. Sieh dir mal an, was ich in meinen Leben geschrieben habe. Kennst du irgend etwas, das ich angefangen und nicht zu Ende gemacht hätte? Nicht ein Kapitel eines unvollendeten Romans gibt es bei mir in den geheimsten Winkeln meines Schreibtischs. Wenn ich eine Sache beginne, und ich bekomme keinen Schlaganfall, ehe ich fertig bin, so führe ich sie zu Ende, so gut oder so schlecht ich kann, aber zu Ende mache ich es.
Wir beide, Ruth, haben zusammen unternommen, einen neuen Roman unseres Lebens zu dichten. Wie kamst du dazu, vorher fahnenflüchtig werden zu wollen? Man kann viele Dinge dieser Welt sich nicht erzwingen, aber man hat nicht das Recht – das müßtest du als Kommunistin doch wissen – den Kampf aufzugeben, bevor man sie sich errungen hat und sollte man auch darüber hinwegsterben endlich.
Wenn ich mit jemand eine Klettertour mache, und wir sind angeseilt, was würdest du davon halten, wenn ich in der gefährlichsten Situation den Strick durchschneide, trotzdem ich genau weiß, mein Partner muß dann auch in die Tiefe kollern? Denn wir halten uns gegenseitig.
Nun, Ruth, was denkst du darüber???«
Der Zug braust in die Station. Er quietscht in allen Bremsen, denn das Wagenmaterial ist ja immer noch sehr herunter.
»Bruchsal – umsteige – nach Karlsruhe und Bade-Bade«, ruft der Schaffner draußen auf dem Gang.
»Hören Sie, Schaffner«, meint Fritz Eisner und tippt ihm auf die Schulter, »hier haben Sie nicht drei Mark, sondern zwei ganz echte wirkliche Schwyzer Franken: die Dame hier muß heute Nacht gut und ungestört schlafen.«
*
Also alles hatten sie verschlafen. Den Lärm und die neue Lokomotive auf dem Stuttgarter Bahnhof. Das Hin und Her und die Abfahrsignale. Die aufgehende Sonne, die gleich in Obertürkheim in einem blutig schwelenden Dunst hoch stieg und nicht nur einen schönen, sondern mehr noch einen erbarmungslosen heißen Tag versprach, das Rattern und Pusten auf der Geislinger Steige, das Ulmer Münster und dahinter von der Höhe herab, als er zuerst aufstieg, das graugrüne Band der Donau, die grünen Türme der alten Patrizierstadt Augsburg sogar.
Und erst als die hinter der moorigen Ebene mit ihren grauen Seedornbüschen und den Weidenketten und den Kiesbecken des Lechs verschwanden, wachte Fritz Eisner auf und setzte sich – der Schaffner hatte für seine beiden Schweizer Franken die Obhut über ihren Schlaf getreulich seinem Nachfolger empfohlen und außerdem war der Zug wirklich nicht allzu besetzt gewesen, so daß vielleicht niemand auf den Gedanken gekommen war, sie zu stören – setzte sich erstaunt und verschlafen hoch und es dauerte eine ganze Weile, bis er feststellte: ›Also ich sitze hier in einem Eisenbahnabteil D-Zug zweiter Klasse. Da in ihm Bilder vom Eibsee und Hohenschwangau sind, so geht er nach Bayern. Da draußen eine weite grüne Ebene ist und Kühe und hinten ein blauer Gebirgszug, der mit Silber belegt ist, auf Kuppen und in den herabfließenden Narben und Schrunnen, so werden das wohl die Alpen sein da in ihrer ganzen Abmessung.
Nicht nur Wettersteingebirge und Karwendel. Nein, von der Schweiz bis in Tauern hinein. Also werden wir vielleicht so in fünfundvierzig Minuten in München wieder eintreffen. Mit Ruhm bedeckt haben wir uns inzwischen gerade nicht.
Wie ruhig und fest Ruth da drüben noch schläft. Nur den Mantel, den sie nun wirklich nicht braucht, hat sie in der Nacht herunter geworfen. Die Morgensonne scheint ihr in das Gesicht. Aber sie schläft so fest und ruhig, daß sie das garnicht zu stören vermag. Eigentlich hat sie doch mal wieder Glück gehabt. Ob sie es wirklich gehabt hat, weiß ich nicht. Darüber sind die Meinungen verschieden. Aber ich habe es gehabt, denn wenn sie nicht eben die ganzen langen Monate vorher soviel von dem Opiumzeugs da als Spritze und Tabletten in den Körper und den Magen bekommen hätte, so würde sie jetzt noch viel viel fester schlafen, so daß sie überhaupt nicht mehr zu erwecken wäre. Selbst wenn man ihr den Magen ausgepumpt hätte, wie es geschehen war. Denn es war ja doch schon gerade genug in den Körper, ins Blut und ins Hirn davon gegangen, genug, um das Herz zu lähmen. Aber so war es ihr wie Mitridathes gegangen, der sich so an Gifte gewöhnt hatte, daß, als er sie brauchte, um nicht in die Hände seiner Todfeinde, der Römer, zu fallen, sie eben nicht mehr verfingen. Ist doch ein bißchen wild, ist doch ein wenig unberechenbar. Was heißt das eigentlich? Jetzt, nachdem wir ein Kind haben, jetzt nachdem wir in eine Wohnung ziehen wollen, plötzlich wieder fahnenflüchtig werden zu wollen? Eigentlich hatte ich ihr mehr Verantwortungsgefühl zugetraut. Mir und dem Kind gegenüber. Ich habe doch garnicht daran gedacht, weggehen zu wollen, wie kommt sie dazu, es bei mir und bei uns zu tun?! Es gibt immer Augenblicke, wo man kein Recht mehr über sich hat. Und es ist ja ein Unsinn gewesen. Bisher hat sich niemand von unseren Leuten in München daran gestoßen, daß wir nicht verheiratet sind, und sie werden es auch in Zukunft nicht tun. Und dem Kind, das sicher gerade jetzt zweite Ration kriegt, ist das genau so gleichgültig, wie alles andere in der Welt auch. Es sei denn eben diese zweite Ration, die es durchaus zum weiteren Aufbau seines Ichs braucht. Es war doch eine heller Wahnsinn von ihr. Es kommt doch nur darauf an, in welcher Perspektive man die Tatsachen sieht.
Wie sie daliegt jetzt, ist das Gesicht halb in der Sonne, halb im Schatten. Auch das Haar ist halb stumpf, halb im Glanz. Fast blauschwarz ist es. Eine Strähne hat sich herausgemacht, und flattert über die Stirn hin. Unter den brünetten Wangen treibt ab und zu eine wechselnde Welle von Rot dahin. Und der feine Mund läßt die etwas breiteren Schneidezähne manchmal frei. Manchmal schließt er sich über ihnen.
In den ganzen letzten Monaten hat es eigentlich nur an einem Haar gehangen, daß man so etwas nicht mehr hatte. Zehnmal, zwanzigmal wollte sie untergehen im Strom, und jetzt, da sie sich mit aller Mühe doch bis auf das andere Ufer gezogen hat, und eben etwas festeren Boden wieder unter den Füßen spürt, macht sie einem solche Dummheiten. Eigentlich sollte man sie tüchtig zusammenschimpfen.
Draußen naht so die erste Ahnung von München. Vielleicht müßte man von hier aus sogar schon die Bavaria auf der Theresenwiese schimmern sehen. Da ist der Keller eines Bräus in der blauen Morgenluft, und seine breite Wand, die gegen die Schienenstränge zugeht, ist noch über und über von den Einschlägen der Kugeln gepunktet. Ein letztes Andenken an die Tage, da München entsetzt wurde. Also wirklich, man hätte es bequemer haben können.
Ruth – denn der Zug wird langsamer – macht erst das eine und dann das andere ihrer großen dunklen Augen auf, ist sehr erstaunt, sich in einem Eisenbahnabteil zu finden und lächelt Fritz Eisner an.
»Na, mein Liebchen«, sagt der, »mein süßer Hammel, haste gut geschlafen? Oder biste noch miede?«
»Beides«, sagt Ruth. »Was wollen wir eigentlich hier?«
»Aussteigen und in unsere Wohnung gehen«, sagt Fritz Eisner.
»Seit wann«, Ruth gähnt verstohlen, »haben wir eine Wohnung, Yorry?«
»Seit heute. Da fahren wir jetzt hin.«
»Ach ja«, sagt Ruth, »jetzt erinnere ich mich wieder, du, bist du böse auf mich? – Ich habe wohl eine große Dummheit gemacht?!«
»Das muß man als ein unbefangener Zuschauer dir schon bestätigen, meine Süße. Sieh dir mal draußen die grünen Bäumchen an. Sind sie nicht ganz nett. Und die Sonne! Und die weiße Luft über den Dächern da. Und die Schwalben, die da oben schreien und fliegen! Und wie hübsch das nach verbranntem Malz schon wieder riecht. Ist das nicht ganz nett alles? Und wenn du jetzt zu Maud kommst, so wirst du sehen, daß sie inzwischen 246 Gramm zugenommen hat und blubbert und kakelt. Und warum willst du solchen Dingen dich vorzeitig entziehen? Warte es doch ab!«
»Ach, weißt du«, sagt Ruth, »ich verstehe es ja auch nicht mehr. Das war mir plötzlich alles so furchtbar nah. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Aber du hast recht, Yorry, das sieht doch alles ganz freundlich aus hier, und meinst du wirklich, daß unser kleines Fräulein inzwischen soviel zugenommen hat? Ich werde gleich heute heraus fahren.«
»Das wirst du nicht tun. Sondern du wirst deinen Opiumkater etwas ausschlafen dir. Aber ich gestatte dir sogar zu telefonieren. Da wird man dir sagen, wie Maud inzwischen gediehen ist.«
Ja, und dann ist man auf dem Bahnhof wieder und steigt aus. (Fritz Eisner sagt sich: wozu sind wir eigentlich dahingefahren?)
Die, die aussteigen, beneiden jene, die weiter fahren. Denn jetzt kommt das Gebirge, Alpenmatten, Berge und oben die weißen Schneeflächen und die Gletscher, die wie Silbergeschirr still und kühl erglänzen. Der Süden mit abendlichem Gewimmel, in dem die Menschen das Singen immer noch nicht verlernt haben, trotz allem, was da vorher war. Mit »Venedigs Gondeln im Kanal« und Michel Angelos »Nacht«, die groß und schwer auf einem Marmorsarkophag träumt.
Und die, die weiter fahren, beneiden die, die aussteigen. Denn München an solchem Sonnentag wie heute mit seiner Klarheit und seinem fröhlichen Wind, der Isar, die durch die Brücken schießt, schäumend und jaspisgrün, dem blausilbernen Rokoko in dem Parkdickicht Nymphenburgs, seinen knorrigen Deutschen und seinen warmglühenden Tizians in der Pinakothek, mit seinem kühlen Bier und seiner Nachmittagsstunde im Hofgarten unter den Arkaden, ist ja doch etwas, was man nicht gern ausläßt. Es verbindet, wie Peter Hille vom Wein sagt, den Norden mit dem Süden. Und die Luft weht hier nicht nur den Alpen zu, sondern sie kommt auch in sehr gerader Linie über die Alpen her von den Alpen herunter.
»Dummkopf«, sagt Fritz Eisner, als sie im Auto sitzen, das sie die lange Ludwigstraße herunterfährt, »sieh dir das an, das ist doch alles ganz nett. Wozu will man diese Dinge nicht mehr sehen? Denke, du säßest hier als die Frau eben besagten Fr. E., in diesem Wagen. Willst du mir sagen, was dadurch anders wäre? Du hättest genau soviel Haare auf dem Kopf wie so. Du wärst nicht eine Stunde älter oder jünger. Maud schrie deswegen nicht mehr und nicht weniger. Wir würden nicht ärmer und nicht reicher. Und ich würde dich voraussichtlich weniger gern haben, als ich dich jetzt habe, denn der Herr Staat hätte mir das Versprechen abgenommen, es zu tun. Und solche erpreßte Versprechen werden nicht immer von mir gehalten. Dann schon eher freiwillige.«
»Jaja«, meint Ruth, »das wäre dir zuzutrauen«, und sieht immer noch mit etwas verglasten Augen um sich auf die Häuserreihen und die Baumwipfel, die da an dem offenen Wagen vorbeiziehen. Aber langsam wacht sie doch unter dem scharfen und frischen Luftzug ganz auf.
»Du«, sagt sie, »weißt du, weswegen ich dich nicht ausstehen kann? Weil du immer so dickköpfig bist. Wenn ich sage, es geht rechts herunter, sagst du, es geht links herunter. Und darüber ärgere ich mich. Und nachher hast du recht. Und da ärgere ich mich nochmal.« Sie lehnt sich an Fritz Eisner: »Kann ich hier auf diesem Kissen noch ein halbes Stündchen schlafen?«
»Nein, wir sind ja doch gleich da.«
Fritz Eisner hat zwar den Schlüssel zu der Wohnung, aber das Mädchen wird sicher nach Hause gefahren über die Zeit sein. So etwas tun Mädchen in solcher Lage meist.
Wie gesagt, es ist ein neues Haus, und es ist ein komfortables Haus mit großen Zimmern und sauberen glatten Decken. Es hat auch einen hübschen Blick. Auf der einen Seite zwar auf Nachbarhäuser, und von der, wo sie schlafen, auf braune Dächer sogar. Aber auf der anderen über weite Flächen und sehr schwere grüne Baumwipfel hin.
Aber das Mädchen ist da: eine stille, prachtvolle Augsburgerin von einer inneren freundlichen Vornehmheit. Und es holt die Sachen herauf. Und es hat schnell sehr gute weiße Brötchen und einen Kaffee und Butter und einen Aufschnitt da, und sogar einen Orangenjam. Es ist alles sehr sauber. Die Wohnung ist still und kühl, denn auf der Sonnenseite sind die Jalousien heruntergelassen. Man sitzt an einem Tisch allein, und das erste mal nicht mit zwei Dutzend Leuten aus der Pension, mit denen man freundliche Worte zu wechseln hat. Man wird in Zukunft auch bestimmen, was man essen will, und nicht darauf warten, was einem vorgesetzt wird. Man wird nicht auf ein, zwei Zimmer festgenagelt sein, sondern man wird einen größeren Käfig ohne Nachbarn haben. Wenigstens wird man sie nicht sehen. Man kann in das Badezimmer gehen und sich brausen, wann man will, ohne es vorher bestellen zu müssen und dem Zimmermädchen anzumelden. Man hat, wie bei sich, wieder über 6 Regale fort eine Bibliothek. Und sogar eine, die man noch nicht kennt, und in der man also Entdeckungen machen kann. Und vor allem hat man einen schönen großen Schreibtisch. Und wenn man nun noch mal in ein paar Monaten Maud sich holen wird, dann spielt man ganz richtig Familie mit einer Aureole von Behaglichkeit, Stille und vielleicht auch etwas Langeweile um sich herum.
Und auch Ruth ist darüber sehr froh. Sie spürt den Unterschied zwischen einer Pension und einer Wohnung und redet sogar etwas von einem neuen Wirkungskreis. Alle Frauen lieben so dicke Worte. Und wie sie die Wirtschaft organisieren – eines ihrer Lieblingsworte! wird, und vor allem, wen sie einladen muß. Denn sie hat immer das Gefühl, man muß andere Leute bei sich sehen. Weil das früher bei ihnen zu Hause so war. Allwo es in einer Saison zwölf Diners und zwei große Gesellschaften mindestens gab, und die Köche immer gleich die Geschirre vom vorigen Mal abholten, wenn sie die neuen brachten.
Und nach einer Stunde sitzt Fritz Eisner am Schreibtisch, und nach zwei Stunden schreibt er noch, und des Nachts zwölf herum, als Ruth ihn das dritte Mal ruft: sie langweile sich hinten, und er möchte endlich kommen – schreibt er immer noch.
»Was und warum schreibst du eigentlich so den ganzen Tag über, du Halunke?« sagt Ruth und blinzelt aus den Kissen hervor.
»Warum ich schreibe?« sagt Fritz Eisner. »Weil mir der Schreibtisch so gefällt. Und, weil es so nett ruhig ist. Die wenigsten Schreibtische haben die richtige Höhe. Der ist ideal geradezu, als ob er für mich nach Maß gearbeitet wäre. Und was ich schreibe? Einen Roman! Es fehlt gerade einer. Was hast du dagegen, wenn ich acht Romane in meinem Leben geschrieben habe, sehe ich nicht ein, was mich hindern soll, den neunten zu schreiben.«
»Wovon handelt er denn?«
»Ach Gott: es setzt sich einer in den Schnee und erfriert.«
»Na endlich mal 'was anders! Auf die Todesart warst du bisher in deinen Romanen noch nicht verfallen.«
*
Ja, und dann kommt so nach vierzehn Tagen (es ging eben nicht eher), und man muß sie feierlich einholen, Frau Johanna Block, Ruths Mutter.
Sie ist eine kleine Dame, und sie ist eine etwas dickliche Dame, und sie ist weiß wie ein Schneehase. Sie hat Ruth die großen dunklen Augen mit auf den Weg gegeben, die die an Maud, von deren Existenz jene noch nichts ahnt, weiter gegeben hat. Und sie ist eine sehr kühle, und eine sehr vornehme Dame. So vornehm, daß es schon etwas langweilig ist mit ihr, und man nicht recht weiß, was man eigentlich reden soll, da man die Klischees ihrer Unterhaltung nicht beherrscht mehr. So wenig, wie sie die unseren. Ihr Kleid ist von einer gediegenen Vornehmheit. Und außerdem hat man die Empfindung, müßte sie noch einen Hut mit Bindebändern tragen. Aber sie trägt ihn nur sichtbarlich unsichtbar.
›Eigentlich‹, denkt sich Fritz Eisner, sollte es sehr dramatisch werden. Denn man müsse die alte Dame – sie ist nebenbei kaum sieben Jahre älter als er – und er ist noch durchaus nicht gewillt, sich als alten Herren zu bezeichnen – doch so schonend darauf vorbereiten, daß sie inzwischen Großmutter geworden ist. Und das wird immerhin ein etwas peinlicher Moment sein und man wird gut daran tun, etwas Hofmannstropfen und Riechsalz schon in Reserve zu halten und den mütterlichen Fluch in Ruhe und Zerknirschung hinzunehmen. Ruth hat es ihr gleich auf der Bahn oder wenigstens im Auto sagen wollen, denn sie hat es immer mit der Offenheit. Während Fritz Eisner dafür ist, sie erst mal möglichst behaglich frühstücken zu lassen. Eventuell sogar erst sich ausruhen und dafür Kraft anschlafen zu lassen. Überhaupt ihr erst zu zeigen, daß wir es hier durchaus menschlich haben, und daß Ruth keineswegs von ihm körperlich und seelisch mißhandelt wird. Und dann werden wir so mit dem kleinen Zehen von Maud beginnen und langsam über den Daumen zur ganzen Figur übergehen. Es wird etwas schwierig sein, denn solche Worte sind sicher, so lange sie denken kann, in ihrer Familie nie gefallen, und es wird auch einen kleinen Weinkrampf geben. Und erst wird sie sagen, sie nimmt keine Notiz davon. Und sie betrachtet das Gespräch als ungeführt. Aber nach einer Woche spätestens wird sie sagen: »Ich möchte mir das arme Wurm doch einmal ansehen,« und wird dazu bemerken, daß da eigentlich Maud nichts dafür kann, da sie keineswegs von uns vorher gefragt wurde, ob sie sich auf diese absonderliche Reise in die Welt hinein überhaupt einlassen wollte. Und dann wird – man ersetzt die Tragkleidchen heute durch Torfmulltrockenbetten – sie die Babyausstattung vollkommen unzulänglich finden, und wird stürzen, solche zu kaufen. Auch wird sie von Haus, was noch da ist, denn davon erzählst du mir ja immer, durch eine verschwiegene Person nachschicken lassen. Man wird ihr potemkinsche Dörfer aufbauen, und einige Male Freunde zum Abend bitten. Damit sie auch ja überzeugt ist, daß ihre Tochter hier ›angenehm und gesellig‹ lebt. Und man wird sie auch zu Landhofs zu dem Gartenfest mitnehmen, damit sie weiter die Überzeugung gewinnt, ihre Tochter verkehrt hier nicht nur mit Straßenräubern und Bohémiens, sondern auch in »Häusern.« Denn darauf legt sie von je Wert. Und sie führt in Berlin ganz genau Buch darüber, zu welchen Leuten man gehen kann, und zu welchen nicht. Und mehr noch, welche Leute man einladen kann, und welche nicht. Und darin keine Fauxpas zu machen, scheint eine der wichtigsten Aufgaben ihres Lebens zu sein. Ihres Lebens, von dem man doch gar so wenig weiß, und das einem so ganz fremd bleibt, und an dem sie – eine Dame alten Stils! – niemand, auch die Tochter nicht, teilnehmen läßt. Ob und welche Rolle Männer in ihrem Leben gespielt haben, außer ihrem Mann, der an dreißig Jahre, oder noch mehr, älter war, ist unbekannt. Jedenfalls lebt sie, solange sich die Tochter erinnern kann, genau in dem gleichen Stil, der sie vom Leben distanziert hält. Man kann nicht sagen, daß sie interesselos ist, aber noch weniger, daß sie für irgend etwas tiefere Anteilnahme hat. Vielleicht nicht einmal für sich selbst.
Wenn sie in Geldsachen komisch ist, und nicht begreift, daß hier ihre Tochter die gleichen Rechte oder fast die gleichen wie sie an der Verwaltung des Vermögens hat, so ist das garnicht Habgier. Denn sie hat ja nichts von ihrem Besitz – sondern einfach die Überzeugung, daß in ihre Dinge ihr niemand hereinzureden hat, so lange sie lebt. Daß es aber garnicht mehr ihre Dinge allein sind, das erkennt sie nicht an. Außerdem ist sie wohl der Meinung, daß ihre Tochter, die mit einem älteren Manne auf und davon gegangen ist, doch zwischen heut und morgen mit jeder Summe und mit jedem Besitz fertig sein würde ..., was Ruth nun wirklich nicht liegt. Oder daß dieser böse Mann, der ihr die liebende Tochter entrissen, nun auch noch ihr und ihrer Tochter Vermögen entreißen würde. Daß dieses Vermögen ihr aber, da sie in den Händen schlechter Ratgeber ist, unter den Fingern zerbröckelt, das hat sie bisher noch nicht bemerkt. Und es ihr klar zu machen, hat keinen Zweck, da sie immer den Anderen mehr glauben würde.
Ja, und dann also kommt Ruths Mutter, von Fritz Eisner bisher nie gesichtet, und von Ruth mit Zittern und Zagen erwartet. Denn in diesem Kampf zwischen Mutter und Tochter ist diesesmal die Mutter die stärkere. Und, daß dem so ist, hat seine tiefe Begründung. Denn, wie zum Beispiel – in dem Kampf der Ehe die Frau deshalb meist Siegerin bleibt, weil sie eben nichts hat, wie diesen Kampf; während der Mann nicht nur seine Position in der Ehe, sondern auch seine Position der Welt gegenüber, sich in seinem Beruf, gegen eine ganze breite Öffentlichkeit zu verteidigen hat, und deshalb nach zu viel Fronten zugleich kämpfen muß, um nach der einen seine volle Kraft und all seine Truppen einsetzen zu können – während die Frau also nur den einen Kampf kennt, und alles für ihn einsetzen kann – genau so war es hier gewesen: Ruth kämpfte darum sich durchzusetzen, im Beruf, als Frau, politisch ... sie hätte diesen Kampf leicht vermeiden können, und er war ihr gewiß nicht durch das Leben aufgezwungen worden ... aber sie mußte ihn führen. Und diese Frau da kämpfte eben nur um das Eine, um die Macht über ihre Tochter, weil sich eben der Mann schon nach kurzen Jahren diesem Kampf durch die Flucht in den Tod entzogen hatte – das heißt, er war ein alter Mann und starb einfach; vielleicht aber deswegen, weil er eben einer jungen Frau doch nicht mehr gewachsen war, und weil sie ihn zwang, jung zu sein, da er es doch nicht mehr war; er konnte es gewiß für Stunden, aber doch nicht immer. Und woher soll Jugend ahnen, wie es dem Alter zumute ist ...?!
Also ... also dann kam sie eben und war eine ganz nette, und nicht unfreundliche, und sogar etwas scheue Dame, die nicht wußte, wie sie sich diesem Manne da gegenüber stellen sollte, der nun seit Jahr und Tag ja eigentlich seit zwei Jahren schon – mit ihrer Tochter zusammenlebte, der keineswegs unbekannt war, dessen Namen man häufig las, und der sogar noch häufiger genannt wurde, und der garnicht daran dachte, wie sie das in den Büchern ihrer Jugend mit Abscheu gelesen hatte, sie, nachdem er sie pflichtschuldigst verführt und sie sich mit ihm vergessen (sie brauchte auch in Gedanken noch solche altmodischen Worte!) hatte, sie nun pflichtschuldigst zu verlassen, und im Elend, grau und dürftig, sitzen zu lassen ... oder sie zuerst als femme soutenue in einen netten Käfig zu sperren, durch die Höllen und Höhlen des Lasters zu schleifen, bis sie in die Hände eines andern überging, um in immer schnellerem Wechsel immer tiefer zu sinken. Und sie war fast beleidigt, daß dem nicht so war, und, daß diese Künstler, zu denen er doch gehörte, eigentlich weit weniger bohèmehaft waren, als es in solchen Dingen in den Kreisen ihres Mannes ehedem üblich gewesen war ... allwo eigentlich jeder in der Linkstraße, oder weiter draußen nach Schöneberg zu, seine Freundin in einer nett möblierten Dreizimmerwohnung sitzen hatte, die Freundin, die beim Theater oder beim Ballet war, und die mal eben vor die Hunde nachher ging, wenn sie nicht vorzog, es nicht zu tun, sondern mit Abfindung den Herrn Postsekretär Lehmann zu heiraten, oder eine brave, alte Zimmervermieterin zu werden.
Wirklich, als sie hier endlich ankam, an einem gut gedeckten Tisch mit Nymphenburger Porzellan und reichlichem Silber saß, und viele Schüsseln mit vielen leckeren, in Berlin zur Zeit noch unbekannten Dingen vor sich sah, und ihre Tochter über das ganze Gesicht lächeln und strahlen sah, und unbefangen sie plaudern hörte, wobei die den fremden, älteren Herrn zwar duzte, aber sonst kaum tat, als ob sie ihn besonders gut kenne, hatte sie das Gefühl, daß sie wie Meister Anton die Welt nicht mehr verstände. Ein gefallenes Mädchen hat sich auch als gefallenes Mädchen zu benehmen!!!
»Hör mal«, sagt Ruth endlich, »da ist wieder ein Brief für dich. Von Silbermann & Goldberger. Ich habe ihn nicht aufgemacht. Wozu soll ich mich schon früh am Morgen ärgern? Wie ich dich kenne, wirst du ihn auch liegen lassen.«
»Nein«, sagt Fritz Eisner, »den Appetit kann er mir nicht mehr verschlagen. Denn ich bin vollkommen satt. Gib nur her. Entschuldigen Sie, liebe Frau Block, wenn ich einen Augenblick mal hier herein sehe ... Von den Anwälten!«
»Du«, sagt Fritz Eisner nach einer Weile. »Ich glaube, der Brief wird dich auch einigermaßen interessieren. Am 20. August ist der Termin festgesetzt. Silbermann schreibt, das Vernünftigste ist, nicht zu erscheinen. Wenn er allein da ist, wird er es sicher in der einen Sitzung zum endgültigen Urteil bringen. Wenn ich dazwischen rede, so ist anzunehmen, daß noch ein neuer Termin angesetzt wird. Also schön, ich werde mich tot stellen. Aber die Sache ist doch wirklich jetzt zum Schluß ganz gut und schnell und korrekt gegangen.«
Ruth ist sehr rot geworden. Ihre Augen schimmern sogar noch etwas feuchter als sonst. Sie reicht den Brief ihrer Mutter zu. »Da lies mal«, sagt sie. »Und weißt du, Mama«, und sie sagt das ganz ruhig und beiläufig: »Und nun werde ich mir morgen Maud aus'm Kinderheim holen. Oder denkst du etwa, ich werde als zukünftige Frau Fritz Eisners unser Kind in einem Kinderheim lassen?! Und nun kannst du dir auch heute Nachmittag mal – ich verabsäumte« (auch in diesem Augenblick verließ Ruth nicht ihre etwas gehobene Diction) »ich verabsäumte bisher, dich von dieser, unserer Privatangelegenheit in Kenntnis zu setzen – dein Enkelkind ansehn. Denn wie ich schon eben bemerkte: Das Wichtigste, das man zu einer Ehe braucht, haben wir schon.«
*
(Die alte Dame bekommt keinen schlechten Schreck. Aber dann nimmt sie es doch mit mehr Fassung hin, als der lachende Fritz Eisner es je von ihr erhofft hatte. Jedenfalls sagt sie das, was sie in diesem Fall zwangsläufig zu sagen hat: »Gott ja, das arme Wurm kann ja eigentlich nichts dafür.«)
Ruths schwere Stunde
ist der vierte Roman
in einer Kette von fünf Romanen:
Einen Sommer lang
Der kleine Gast
November achtzehn
Ruths schwere Stunde
Eine Zeit stirbt
die die Schicksale der gleichen Menschen
über ein Lebensalter weiterspinnt.
Sie sind gesehen aus der Perspektive
des Erzählenden, Fritz Eisner.
Georg Hermann