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Ja, Emil Kubinke hatte sich ganz richtig und wirklich verlobt. Er hatte sogar einen echten Verlobungsschnupfen sich geholt – denn er war etwas erhitzt gewesen, als er oben auf den Autoomnibus geklettert war.
Oh, was hatte Emil Kubinke für einen Schnupfen! Er hatte das Gefühl, als wenn ihm die Nase langsam zum Gesicht herausgeschraubt würde, und als ob ihm jemand dazu mit langen Nadeln durch den Hinterkopf stäche. Vor seinen wehleidigen Augen schwammen graue Schleier, nur angenehm unterbrochen von den feurigen Punkten, die darin wie Mücken auf und nieder tanzten; und selbst die Zigarren, die ihm Herr Löwenberg gab – der plötzlich für Pauline und alles, was sie anging, nur noch rein väterliche Gefühle im Busen hegte – selbst die Zigarren des Herrn Max Löwenberg schmeckten Emil Kubinke wie ein Gemisch von Stroh, alten Lumpen und verbrannten Knochen, trotzdem sie doch direkt über England kamen, und man sie mit Verstand rauchen mußte.
Und Pauline bekam kurz danach auch einen echten Verlobungsschnupfen, daß ihr die Augen übergingen. Und als der von Emil Kubinke wieder gut war, da fing er wieder von vorn an; und als der von Pauline endlich gut war, da begann er auch wieder von neuem. Kurz – es war ein ganz echter Verlobungsschnupfen, der Kinder und Kindeskinder zeugt.
Aber nicht einzig durch den Schnupfen bekundete Emil Kubinke seine Verlobung, nein, er kaufte auch am nächsten Abend mit Pauline beim Uhrmacher zwei Trauringe, sehr schön blank, sehr schön breit, ganz neu und blitzend, ohne einen Riß und ohne eine Schramme, niemand konnte ihnen ansehen, daß sie nur drei Mark kosteten.
Und nun konnte Emil Kubinke keine Bewegung machen, ohne daß ihm der gelbe Ring zublitzte und ihn an sein Glück erinnerte.
Gesagt hatten natürlich Emil Kubinke und die rotblonde Pauline keinem Menschen etwas; denn sie sprachen ja, wie sie meinten, mit niemandem im Haus. Desto erstaunlicher ist es, daß schon am nächsten Morgen das ganze Haus von oben bis unten, vom Keller bis zum Dach aufs genaueste unterrichtet war, daß sich der junge Mann vom Barbier – nicht der mit der Tolle, sondern der kleine Schwarze – und das rote Dienstmädchen von Löwenbergs gestern im Grunewald ›richtig‹ verlobt hatten. Es mußte also solch eine Art Telepathie die Bewohner dieses Hauses miteinander verbinden. Die Ansichten aber über diese Verlobung waren verschieden gefärbt. Etwelche – mit Pieseckes an der Spitze und der runden Hedwig auf dem linken Flügel – mißbilligten sie, als unpassend für ein hochherrschaftliches Haus; andere sagten, es wäre hier aber auch Matthäi am letzten gewesen; und wieder andere meinten, es käme bei solchen Leuten doch wirklich ganz und gar auf eins heraus.
Frau Betty Löwenberg aber zog gleich Schlußfolgerungen, dachte schon an Hochzeitsgeschenke und sicherte sich noch aus der Hinterlassenschaft des alten Onkel Herzfeld vier Damasttischtücher, die nur ganz kleine Stockflecken hatten, und zwei gelbe Moderateurlampen, die man ja leicht für Petroleum umändern lassen könnte. Und wenn sie ihre Kindersachen bis dahin nicht noch einmal Aussicht hatte zu brauchen – die Wickeltücher, die Jäckchen, Mützchen und Strümpfchen, so könnte sie ja Pauline auch davon gleich einen Packen mit zur Hochzeit schenken. Denn Verwendung würde Pauline ja schon demnächst dafür haben. Davon war Frau Betty Löwenberg fest überzeugt.
Herr Ziedorn hingegen meinte, daß er sich beizeiten nach Ersatz umsehen müßte, und er nahm noch einen dritten jungen Mann an, der eben ausgelernt hatte, dem er wenig zu zahlen hatte, der gerade aus Stolp in Pommern kam, der Herr Neumann hieß, groß und ungeschlacht wie ein Neufundländer war – ja die Ähnlichkeit ging sogar bis zum Geruch – und der ein Gesicht wie eine aufgeplatzte Pellkartoffel hatte. Bis Emil Kubinke heiratete und sich selbständig machte, würde wohl Herr Neumann sich soweit vermenschlicht haben, daß man ihm dann die Kunden außer dem Hause überlassen könnte. Und wenn Herr Ziedorn dann wieder einen neuen ebenso billigen Herrn Neumann aus Stolp engagieren würde, so hätte er sein Geschäft bedeutend vergrößert, ohne daß er deshalb mehr an Gehältern zu zahlen brauchte.
Herr Ziedorn selbst konnte sich nämlich seinem Institut wirklich nicht mehr recht widmen, da ihn die Fabrikation des vorzüglichen »Ziedornin« und die immer zahlreicheren Sitzungen des Ausschusses der Fachausstellung leider zwangen, noch mehr und noch ergiebiger denn früher von Hause fern zu bleiben. Immerhin erreichte Herr Ziedorn damit, aus uns unerklärlichen Gründen, daß auch seine Damenkundschaft sich vergrößerte. Und während ehedem sie sich örtlich auf eben jene Nebenstraße beschränkte, wallfahrteten sie jetzt auch von weither zu dem Laden des Herrn Ziedorn; und andere Kundinnen, die schon lange in entlegene Stadtviertel hinübergewechselt waren, bewiesen nach wie vor dem Laden des Herrn Ziedorn eine unverbrüchliche Anhänglichkeit.
Emil Kubinke aber lief Morgen für Morgen straßauf, straßab, blieb in einem Rennen, und nur im Vorüberfliegen naschte er schnell und heimlich, – denn Pauline brachte ihn immer bis an die Tür, – heimlich und schnell noch ein paar Küsse; ähnlich wie ein Taubenschwänzchen, ein Karpfenkopf, solch grauer hastender Schmetterling, der surr über einer Blüte steht, gleichsam in wilder Jagd den Honig saugt, und der dann sofort weiterfliegt, gehetzt, schattenhaft, pfeilschnell, wer weiß wohin. Und den ganzen Tag über kam Emil Kubinke kaum zum Sitzen, denn Ziedorns Geschäft war ja, wie wir schon sagten, eine Goldgrube.
Des Abends jedoch ist Emil Kubinke dafür der erste, der aus dem Laden wutscht, selbst noch früher macht er, daß er fortkommt als Herr Tesch, wenn er zum Witwenverein ›Verlorenes Glück‹ muß. Und ohne das Abendbrot anzurühren, tappt Emil Kubinke dann schon hinten die Korkenziehertreppe hinauf nach Paulines Küche. Aber jetzt liest er nicht mehr Pauline Uhlands Herzog Ernst von Schwaben vor, – trotzdem Emil Kubinke noch mit zwei vollen Akten im Rückstand ist – denn mit der Verlobung pflegen ja gemeiniglich alle Bildungsversuche aufzuhören. Und die hübsche, rotblonde Pauline scheint ebensowenig Verlangen zu haben, weiter dem fünffüßigen Jambenschicksal des heldenhaften Fürsten zu lauschen, und sie ist sogleich von ihm wieder reumütig – als sei dieser Emil Kubinke mit seinem Schwabenherzog nie in ihr Leben getreten – zum dreiundvierzigsten Heft der ›schwarzen Millionengräfin‹ zurückgekehrt.
Aber da Frau Betty Löwenberg ihre Trauer ob Herrn Herzfelds Dahinscheiden nunmehr als beendet ansah und Herrn Max Löwenberg mit seinem Londoner Zylinder allabendlich vom Café in die Gesellschaft und von der Gesellschaft ins Café hetzte – (denn was hat man denn vom Leben?!) – so konnten ja Emil Kubinke und Pauline sich ungestört der Gegenseitigkeit ihrer Neigung versichern.
Und jetzt duldete Pauline nicht mehr, daß etwa unbefugte Blicke, daß etwa eine Hedwig von ihrem Kammerfenster aus sie belauere, nein, jetzt ... da nicht mehr nur allein Unlands Herzog Ernst von Schwaben gelesen wurde, sondern sie beide ganz richtig verlobt waren mit dem Ring am Finger, jetzt sorgte Pauline schon dafür, daß die Gardinen, Rouleaux und Vorhänge nichts verrieten von dem, was dahinter in Küche und Kammer vorging. Oder wie jener altitalienische Novellist mit der schönen Offenheit des Südländers hier gesagt hätte: ›Messer Emil Kubinke und die rotblonde Signorina Pauline verschafften sich fürder noch öfter dergleichen glückliche Stunden, die der Himmel nach seiner heiligen Barmherzigkeit jedem bescheren möge, so sich danach sehnet.‹
Emil Kubinke und die rotblonde Pauline waren richtig und fest verlobt – nicht etwa, daß sie nur so miteinander gingen, wie Herr Tesch mit seiner nicht unbemittelten Landwaise mit Kind. Nein ... keineswegs. Und sie zankten sich deshalb wie alle Verlobten. Sie mißverstanden sich, waren eifersüchtig wie alle Verlobten. Sie machten sich Szenen, und sie vertrugen sich nur dafür desto inniger. Kurz und gut – sie waren gerade ebenso närrisch und gerade ebenso verschossen ineinander, wie solche jungen Leute es immer sind, die doch gar nicht wissen, wie gut es das Schicksal mit ihnen meint, – denn die Menschen quälen sich ja nie so sehr, wie wenn sie sich wirklich von ganzem Herzen lieb haben.
In vernünftigen Stunden aber, die es ja auch bei Verliebten gibt, sprachen sie ganz ernst von ihrer Heirat und ihrem zukünftigen Leben, erwogen die Aussichten, berechneten auf Heller und Pfennig, was sie ausgeben wollten und könnten, und stritten darüber mit ganz roten Köpfen, auf Leben und Tod, ob sie sich – vorausgesetzt natürlich, daß er nicht zum Militär käme – gleich zwei Betten anschaffen sollten oder besser erst eine Chaiselongue und ein Bett. Emil Kubinke war nämlich aus Gründen der Sparsamkeit durchaus nur für Chaiselongue und Bett, während Pauline sich durch nichts in der Welt von der inneren Notwendigkeit zweier Betten abbringen ließ. Die Trauringe aber machten getreulich jede kleine Schlacht, jedes Zerwürfnis, jede Reibung mit, kriegten von jeder ihre Beule, ihren geheimen Riß, ihre glanzlose Stelle und ließen nur zu bald das gelbe Messing durchschimmern; und sie stachen auch keineswegs mehr so schön in die Augen wie in der ersten Woche, und Emil Kubinke strich den seinen jetzt schon ganz heimlich über den Rockärmel, wenn er sich einmal an seinem Glanz erfreuen wollte. Und es kam vor, daß er den Ring den ganzen Tag über bei der Arbeit nicht mehr sah.
Mählich rückte aber so das Jahr weiter – man merkte es ganz deutlich, denn es gab Staub und heiße Tage, und die Sonne kochte mittags den Asphalt flaumweich; und die Straßenbahn ließ gerade vor Ziedorns Institut die rechten Gleise auf die linke Seite verlegen, und nachdem sie damit fertig war, die linken Gleise wieder auf die rechte Seite. Kein Mensch wußte weshalb. Und dazu kam sie mit geheimnisvollen Maschinen angerückt, die einen milchigen Saft spuckten, und die den ganzen Tag über brummten wie die Hummel in einer leeren Gießkanne. Und nicht genug damit, machten sie in großen, rauchenden Feuerkieken Hockeyschläger heiß und glätteten mit ihnen das kaffeebraune Asphaltpulver, daß von dem beißenden Qualm selbst die Jungfrau mit dem Merkurstab husten mußte. Und dann kam die Kanalisation und riß den Bürgersteig auf, machte lange, tiefe Furchen und häufte den Sand zu für die Jugend höchst beachtenswerten Bergen; während sie noch auf der anderen Seite der Straße ein Kabel mit ›eins, zwei, drei hupp – eins, zwei, drei hupp!‹ – von einer riesigen Spule abhaspelten und in den Boden versenkten.
Also – man merkte ganz deutlich, es wurde Sommer in Berlin. Man hätte gar nicht auf die bestaubten Bäume zu sehen brauchen und auf die vielen Droschken mit Bettsäcken, umgestülpten Kinderwagen, Schließkörben, Hutschachteln, Reisetaschen, Plaidrollen und Koffern. Ja, die feinen Leute kamen sogar schon wieder nach Hause.
Und Frau Betty Löwenberg lag ihrem Mann täglich in den Ohren, es wäre für Goldhänschen höchste Zeit, daß er aus Berlin herauskäme. Und sie erzählte immer von neuem – so etwas riß dann bei ihr gar nicht ab –, daß der Kleine von Nora Mannheimer wie eine Posaune aus Heringsdorf zurückgekommen sei ... gar nicht wieder zu erkennen! Daß aber der kleine von Grete Salinger wie eine Posaune hingegangen und wie eine Spinne zurückgekehrt war, das unterschlug Frau Betty Löwenberg ihrem Mann. Und außerdem wären alle ihre Bekannten da; Rosenauers sogar schon seit drei Wochen.
Acht Tage lief so Frau Betty Löwenberg von einem Warenhaus ins andere, um ihre Toilette – denn sie hatte, wie sie sagte, nicht ein Stück mehr zum Anziehen – etwas zu vervollständigen, und um für Goldhänschen eine Schachtel mit Sandformen zu kaufen. Und erst im allerletzten Augenblick, nachdem Frau Löwenberg zwölfmal telephoniert hatte, kam der allerletzte lachsfarbene Strandmantel, und Frau Löwenberg konnte ihn gar nicht mehr in den Koffer legen, weil sie froh war, daß sie den überhaupt noch zubekommen hatte, sondern sie mußte den lachsfarbenen Strandmantel im Karton mit in die Gepäckdroschke nehmen.
Und wieder trug Emil Kubinke mit Pauline ihren Schließkorb, – nur damals vor einem Vierteljahr hatten sie ihn zusammen hinauf getragen. Den Bettsack aber schleppte Emil Kubinke allein. Unten vor dem Haus jedoch bildeten die Vorübergehenden schnell Spalier; auch Pieseckes und fünf andere Portierleute von nebenan und gegenüber hatten sich eingefunden, um den Exodos der Familie Löwenberg beizuwohnen und den Droschkenkutscher zu bewundern, der in fachmännischer Vollendung auf dem Dach seines Vehikels die zahlreichen Gepäckstücke verstaute, und den Bettsack mit einem mächtigen Schwung noch heraufwarf, daß er da ganz oben wie ein entgleister Luftballon liegen blieb. Die Plaidrolle, den Sportwagen, den Soxhletapparat jedoch, die drei Kleinigkeiten, nahm er noch so außer Paulines Korb neben sich auf den Kutscherbock.
Dann kam Pauline mit Goldhänschen herunter – er sah in seinem roten Jäckchen mit den blanken Knöpfen genau wie ein Leierkastenaffe aus – und stieg ein. Frau Löwenberg kam mit ihrem Karton und Herr Löwenberg, der sie nur zum Bahnhof brachte, folgte mit schrägem Kopf, um seinen Zylinder nicht zu beschädigen.
Pauline, die noch von dem intimen Abschied von vorhin ganz rote Augen hatte, weinte, schämte sich vor ihrer Herrschaft, und weinte und schluchzte doch. Und als nun der Kutscher die Leine nahm und abfuhr, da winkte Pauline noch lange mit dem Taschentuch heraus nach Emil Kubinke, der grüßend an der Bordschwelle stand, fuhr sich über die Augen und Goldhänschen über die Nase und winkte wieder mit dem flatternden Tuch.
»Adieu – ich – schreibe – dir – auch – jleich –« – Ja, die rotblonde Pauline!
Emil Kubinke sah und sah, bis der Wagen um die Ecke bog, aber dann ging er langsam in den Laden zurück, und er kam sich schwer verwaist und sehr bedauernswert vor, denn ihm blieb nichts als sein Schmerz, seine Sehnsucht und das Vergessen in der Arbeit. Solange Emil Kubinke vorn bei den Kunden war, beherrschte er sich ja, – aber wenn er hinten in den Verschlag ging, um die Messer abzuziehen, dann schluchzte er doch jedesmal herzhaft auf; denn der brave Emil Kubinke war eben in der Schule nur bis Ober-Quarta gekommen ... gerade bis Ober-Quarta.
Aber schon am nächsten Mittag kam Herr Schultze mit seinen leichtgekrümmten Beinen in den Laden und brachte für Emil Kubinke eine Karte von Pauline aus Heringsdorf: ›Liber Emil! Hier ist es schön. Wir wohnen auch ser fein. Gestern wahr Kuhrkapele. Seit Deiner Abreise schleichen die Stunden so langsam dahin, als trügen sie eiserne Fesseln, und oft überschleicht mich Trauer und Schwermut. Ach Du bist so weit entfernt von mir! vergiß meiner nur nicht! Und sollte Deine Abwesenheit auch Jahre währen, treu in feuriger Liebe wirst Du mich wiederfinden. Pauline.
Die Frau grißt auch.‹
Emil Kubinke war beglückt und las die Karte ganz heimlich immer wieder, sowie in der Arbeit eine Pause eintrat. Und wenn er nicht verlobt gewesen wäre, so wäre ihm vielleicht aufgefallen, daß Anfang und Nachschrift in Rechtschreibung und Inhalt sich merkwürdig von dem Mittelteil der Karte unterschieden, der keinerlei Schreibfehler aufwies in seiner gehobenen und schon mehr leidenschaftlich-schwungvollen Ausdrucksweise. Und noch mehr hätte es ihn befremden müssen, daß Pauline von ›seiner‹ Abreise redete, da es doch ganz offensichtlich war, daß Pauline abgereist war, sogar nach Heringsdorf, während er doch nachweislich an Ort und Stelle geblieben war. Gewiß, das hätte ja Emil Kubinke auffallen können. Aber, wie schon bemerkt, Emil Kubinke war eben verlobt und verliebt, und das ist ziemlich gleichbedeutend mit verminderter Zurechnungsfähigkeit.
»Zeijen Se doch mal her, Kollege, was Ihre Liebste da jeschrieben hat«, rief Herr Tesch.
Und wenn Emil Kubinke auch sonst sehr scheu und verletzlich in seinen Gefühlen war, so reichte er doch diese Karte seinem Kollegen, Herrn Tesch, nicht ungern hin, denn warum sollte die Welt nicht wissen, wie hingebend er geliebt wurde.
»Ach Jott – det kenn ick!« sagte Herr Tesch lachend, »jenau desselbe haben sie mir ooch schon jeschrieben. Des ist aus 'n vollständijen Liebesbriefsteller. Det kann ick Ihnen jedruckt, schwarz auf weiß kann ick Ihnen det zeijen. Aber da hat sie sich noch versehen, da hat sie den falschen Brief jenommen, den nach der Abreise des Jeliebten. Ick sage Ihnen, det is jar nicht so einfach, da immer das Richtije rauszufinden.«
Emil Kubinke war sehr niedergeschlagen.
»Meinen Sie wirklich?« stotterte er.
»Aber was soll denn das Mädchen sonst tun?« sagte Herr Tesch belehrend. »Nich wahr, vormachen will se Ihnen doch was. Jebildt soll's für Sie auch sein, jelernt hat se nischt, – da schreibt se's eben ab!«
»Ick kann es aber doch nicht glauben«, sagte Emil Kubinke bestimmt und entschlossen.
»Denn jlauben Se's eben nich«, meinte Herr Tesch und band einem kleinen Knaben den Frisiermantel so fest um den Hals, daß er den Jungen beinahe erwürgte.
Als aber die nächste Karte die gleichen Anomalien zwischen Kopf, Schwanz und Mittelstück zeigte und sogar darin stand: ›aber ich schwieg so lange, weil mir die Ruhe Ihrer Seele heilig war‹ – Ihrer Seele!! da schien es Emil Kubinke doch nunmehr ziemlich wahrscheinlich, daß seine Pauline den vollständigen Liebesbriefsteller zum Dolmetscher ihrer Gefühle gemacht hatte.
Was aber Pauline nicht schrieb, war, daß sie jeden Abend, wenn Goldhänschen eingeschlafen war und Frau Betty Löwenberg noch mit Rosenauers zu Lindemanns gegangen war, jeden Abend gut eine Stunde lang mit dem Kutscher von drüben vor der Tür stand und natürlich in allen Ehren mit dem jungen Mann mit den gelben Stulpenstiefeln plauderte, schäkerte, lachte, sich puffte und knuffte, sich hetzte und herumbalgte – und dabei als drittes Wort ›mein Bräutigam in Berlin‹ im Munde führte.
Und Pauline hätte den sehen mögen, der dabei etwas gefunden hätte. Und auch wir wollen hier nicht päpstlicher als der Papst sein und irgendwie der schönen rotblonden Pauline etwa einen Vorwurf machen. Sie handelte darin eben nicht anders, als es alle Mädchen tun, nämlich gerade so wie die Skatspieler: wenn sie auch ein bombensicheres Blatt haben, so halten sie doch für alle Fälle solch einen kleinen Coeur- oder Carobuben bis zuletzt in der Hinterhand ... denn man kann nie wissen, wie das Spiel sich noch dreht.
Ja, – Löwenbergs also hatten mit Reisen den Anfang gemacht, und einer nach dem andern von den hochherrschaftlichen Mietern flog ihnen nach, und bald waren fast im ganzen Haus die Jalousien herunter. Markowskis kamen beinahe zuletzt, die fuhren nach Saßnitz. Und die runde Hedwig schleppte mit Herrn Piesecke zusammen, schwitzend und japsend, Koffer und Körbe. Herr Markowski aber kam noch einmal in den Laden, um schnell ein paar letzte Aufträge für Rennwetten zu geben, während Hedwig schon lief, um eine Droschke zu holen. Und als sie mit ihr ankam und ausstieg, da sprang sofort Manne, der auf dem Damm schon mit schiefem Kopf gewartet hatte, mit einem Satz in den Wagen, setzte sich ganz breit mit seinen krummen Dackelbeinen mitten in den Vordersitz und sah frech aus der Droschke heraus zu Emil Kubinke herüber. ›Wir verreisen!‹ sagte Männe mit den Augen, und in seinem Blick lag eine abgrundtiefe Verachtung für alles, was nicht mit zur Familie gehörte, – besonders aber für diesen jungen Mann, der da immer des Morgens rasieren kam.
Frau Markowski kam auch, eine dicke, gute Frau, in einem lehmfarbigen Kostüm, das ganz prall saß und all das einschnürte, was sich eben einschnüren ließ. Aber, da sich eben nicht alles einschnüren ließ, so sah Frau Markowski aus, als ob sie solch einen richtigen, ausgewachsenen Fußball verschluckt hätte. Und der Kutscher lud auf; Frau Markowski stieg in den Wagen; Herr Markowski stieg in den Wagen und sagte: »Na, Kutscherken, iberlegen Sie's sich, – wird das Pferd des ooch alles ziehen können?!«
Und Hedwig wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn, und dann kletterte sie hinein, ohne Emil Kubinke zu beachten, und nahm Männe auf den Schoß.
Als jedoch der Wagen schon ganz weit fort war, da sah Männe immer noch zum offenen Fenster hinaus, und sein Blick sagte deutlich, mit jener abgrundtiefen Verachtung für alles, was nicht zur Familie gehörte: ›Wir verreisen.‹
Aber, als Emil Kubinke in den Laden zurücktrat, da war ihm doch seltsam schwül zumute, und der plötzliche Schrecken war ihm bis in die Kniekehlen gefahren, der plötzliche Schrecken, der ihn durchzuckte, als er sah, daß die dicke, runde Hedwig – Emil Kubinke erblickte sie gerade von der Seite, als sie einstieg – doch vielleicht für ein junges Mädchen etwas allzu füllig und an der falschen Stelle allzu rundlich erschien. Donnerwetter! Das war Emil Kubinke so plötzlich durch und durch gegangen, gerade so, als ob der Zahnarzt beim Plombieren auf einen bloßliegenden Nerv bohrt. Der Schweiß kam ihm in kleinen Tropfen oben auf der Stirn.
Ach, sagte er sich, mit dem Ton, mit dem man so etwas Unliebsames wegwischt, ganz weg – ach Unsinn!
Aber Herr Tesch schien Emil Kubinkes Verwirrung bemerkt zu haben.
»Menschenskind«, rief er mit jener biederen Gradheit, die ihn zierte, »Menschenskind, hören Se mal, hören Se mal, ich jloobe, ich jloobe, bei Ihre Stiefliebste piept es.«
Und Emil Kubinke antwortete das, was man immer antwortet, wenn man eigentlich der gleichen Meinung wie der andere ist:
»Sie sind wohl verrückt!« –
Jener Tag aber, von dem Emil Kubinke wähnte, daß er über sein ganzes Schicksal entscheiden müsse, kam immer näher. Emil Kubinke glitt ihm entgegen, wider Willen, wie ein Hammel, der auf schräger Ebene herabtrotten muß; hinten sieht er schon den Schlächter stehen, aber er kann nicht mehr rechts und links, nicht rückwärts mehr, er muß vorwärts, denn die anderen drängen nach, und immer näher kommt er dem mörderischen Beil.
Nicht etwa, daß es keine Zeiten gegeben hätte, da Emil Kubinke es gern sah, wenn er zum Militär genommen worden wäre, – was hatte er denn aufzugeben gehabt? Ja, Emil Kubinke hatte sich sogar lange Zeit mit der Absicht getragen, als Freiwilliger einzutreten und Lazarettgehilfe zu werden. Aber jetzt sagte er sich, daß an dieser einen Stunde, an diesem einen Vormittag sich sein ganzes Leben, sein Glück, einfach alles entschiede. Gott ja, zweimal hatten sie ihn schon so mit durchwutschen lassen, aber dieses Mal, das letzte Mal, da würden sie ihn schon beim Kanthaken kriegen, da würden sie ihn nicht loslassen ... Solch Pechhengst wie er wäre. Wenn sie ihn jetzt nähmen, könnte er sich ebensogut aufhängen; denn dann wäre ja doch alles vorbei. Zwei, drei Jahre vielleicht, so ganz und gar heraus; und Pauline, seine treue, rotblonde Pauline, die ihm fast täglich aus Heringsdorf schrieb – die würde sich hüten, noch drei Jahre zu warten.
Und Emil Kubinke redete sich schon vorher in wilden Zorn hinein: mit welchem Recht der Staat eigentlich nur über Menschen verfügen dürfe, über ihn bestimme, ob er wolle oder nicht. Er, der Staat, dem es ja sonst ganz gleichgültig wäre, wenn er, Emil Kubinke, morgen verhungere, und der ihm noch nie einen Groschen habe zukommen lassen. Emil Kubinke verstand nicht, wie man es wagen könne, ihn auf Jahre aus allem herauszureißen, aus ihm eine Nummer, eine Zahl zu machen. Wenn er Freude am Soldatenspielen hätte, gewiß, gewiß – aber, ob darüber nun sein ganzes Leben entzweiginge, danach frage niemand. Die ganze Unverantwortlichkeit und die ganze Unerbittlichkeit des Staates, dieser wesenlosen Macht, die wie eine Wolke über ihm hing, wie eine drohende Gewitterwolke, die jeden Augenblick ihren zerstörenden Blitz schleudern konnte, und die nicht einmal sah, wo sie hintraf, sie kamen Emil Kubinke nun zum Bewußtsein.
Er war ja bisher kaum je mit dieser Macht zusammengestoßen, hatte noch nie die schwere Hand gefühlt, die so mitleidlos und blind zufaßt, und nun schwebte sie plötzlich über seinem Leben, und schon wähnte er, daß die Finger ausgestreckt wären, um ihn zu packen und zu vernichten.
Stunden auf Stunden lag Emil Kubinke jetzt jeden Abend in Ängsten und Sorgen in seinem Bett, sah den schwarzen Nachthimmel, sah Sterne, sah von den Lokalen am See Raketen und Feuerschlangen und bunte Kugelgarben in langen, hohen Kurven über die Dächer steigen und in schönen farbigen Schlangenlinien herabrieseln. Und er zermarterte sich dabei in tausend schwarzen Gedanken, bis er doch endlich – angeregt durch Herrn Teschs musikalische Begabung (er schnarchte Triller) – einschlief, böse Dinge träumte und am andern Morgen wie aus dem Wasser gezogen erwachte.
Aber die Zeit nahm keine Rücksicht und marschierte mit beleidigender Gleichmäßigkeit weiter, von vierundzwanzig Stunden zu vierundzwanzig Stunden. Und der Herr Staat, die hochlöbliche Militärbehörde, die Kreisersatzkommission kümmerte sich noch viel weniger um Emil Kubinkes Bedenklichkeiten, ja, sie bereitete sogar mit jener außerordentlichen Exaktheit und jener echt preußischen Ordnungsliebe, die sie von allen ähnlichen Instituten der übrigen Kulturstaaten angenehm unterscheidet, jedwedes auf das allergenaueste und peinlichste vor, um Emil Kubinke zu empfangen. Für seine Sentiments und für Emil Kubinkes Sorge ob der ausdauernden Treue der rotblonden Pauline – denn, wenn sie auch Emil Kubinke täglich schrieb: ›selbst nach jahrelanger Abwesenheit wirst Du (werden Sie) treu in feuriger Liebe wiederfinden Deine (Ihre) Pauline‹ ... so wäre es doch von diesem höchst unvorsichtig gewesen, es auf eine Probe ankommen zu lassen – für all das aber hatte man an anderer Stelle nun ganz und gar kein Verständnis. – Das Organ dafür fehlte der hochlöblichen Kreisersatzkommission vollkommen.
Ehe aber Emil Kubinke sich versah, da war auch schon der Tag herangekommen, und er tappte los nach dem Tempelhofer Feld. Noch beim Abschied hatte Herr Tesch ihm den guten Rat gegeben, er solle sich – was ihm ja nicht schwer fiele – so dumm stellen, wie ihm möglich wäre; und wenn er trotzdem genommen würde, dann solle er nachher sehen, daß er in die Küche käme, da lebe er einen Tag wie die Made im Speck.
Und es regnete natürlich, so ganz fein von einem zartgrauen Himmel herab, wie es das sonst nur im Herbst tut, und Emil Kubinke ging fröstelnd und langsam; aber wenn er noch so langsam dahintrottete, das nützte ihm gar nichts, jeder neue Schritt brachte ihn nur mehr seinem Ziele zu. Je näher aber Emil Kubinke dem Kasernenviertel kam, desto mehr Leute überholten ihn, die in beschleunigtem Schrittmaß dem gleichen Ort zustrebten. Und ehe Emil Kubinke sich versah, stieß er auch schon auf die ersten Vorposten des Militarismus. Da kam ein hochbeladener Heuwagen, auf dem Mannschaften hockten, und ein Einjähriger ging eilends zur Kaserne, blaß und hager, mit einer Brille, einem zu langen Hals und einem schiefen Koppelschloß. Einen Augenblick blieb Emil Kubinke dann vor dem Schaukasten eines Photographen stehen, und er hatte schon ein ganz militärisches Gepräge. Da gab es Reservistenbilder mit roten Backen und roten Aufschlägen, Photographien von Leutnants und Hauptleuten gab es in zwangloser Wichtigkeit, und dann sah man die Unteroffiziere der achten Kompagnie, die eine Biertonne mit § 11 umlagerten. Alle Chargen aber trugen große weiße Handschuhe – mächtig wie Seehundsflossen. Und die Damen in schwarzen Kleidern mit ihren runden, stumpfsinnigen Augen konnten nur Feldwebelsgattinnen sein, man suchte beinahe, wo sie die Kokarde trugen.
Als Emil Kubinke sich jedoch umwandte, da erblickte er auch schon drüben, links auf dem Feld, Mannschaften, die in kleinen Trupps übten; und eine Reihe stand auf einem Bein und schlenkerte mit dem anderen Bein hin und her, daß sie gingen wie die Lämmerschwänzchen; und eine andere Reihe wieder nickte und wackelte mit dem Kopf, wie eine Versammlung von chinesischen Pagoden, während eine dritte Reihe immer auf der Stelle hüpfte und vergebens versuchte, die Anziehungskraft der Erde zu überwinden. Noch andere aber streckten nach Zählen, hockend wie die Frösche, immer ›eins, zwei‹, ›eins, zwei‹, alte Knüppel von Gewehren vorwärts; und ein Offizier, hoch zu Pferd, umkreiste alle diese langen, bunten Striche wie ein Schäferhund seine Schafherde. Und ein Feldwebel mit gewaltigem Schnurrbart ging mit wippenden Schritten zwischen den Reihen auf dem niedergetretenen Grasboden hin und her mit einem Gesicht, als ob er mindestens drei von seinen Leuten zum Mittag verspeisen wollte und eben zwei schon zum Frühstück gegessen hätte. Zwischen den Knöpfen seines Waffenrocks jedoch blickte ein sehr bedrohliches, schwarzes Notizbuch hervor.
Ach, Emil Kubinke wurde doch recht unheimlich zumute, als er das sah; und dazu immer noch die Trommler, die ihre Wirbel übten, und die Hornisten, die bei jedem Ton kieksten und quieksten wie ein Schwein unter dem Messer. Ach Gott, Emil Kubinke fiel das Herz in die Hosen, und am liebsten wäre er gar nicht weitergegangen.
Aber da war er auch schon auf der schwarzen Brücke mit ihren vielen Spalten, durch die der Rauch der Züge, die unter ihr hinfuhren, in vielen kleinen Wölkchen drang. Und das weite Feld lag mit den runden Kronen der paar Pappeln da, und drüben vom Kreuzberg her kamen auf einem schmalen Wegstreifen die Leute herüber, eine lange, gleitende Kette, und auf dem Feld selbst stand die Reihe der schreitenden – einzeln und zu zweien und dreien – in seltsam großen, scharfen, dunklen Silhouetten gegen die silbergraue, durchsichtige Luft.
Einen Augenblick sah Emil Kubinke noch zurück über den weiten, weiten Plan der Schienen. Da unten in der Tiefe zogen sie sich mit breiten Furchen bis in das riesige, graue, verdämmernde Häusermeer hinein, aus dessen gekräuselten Wellen die zahllosen Kirchtürme wie Mastbäume hervorragten, und in dem ganz drüben, wie eine goldene Boje, die schwere, goldene Kuppel des Reichstags schwamm. Oh, diese Summe von wunderbaren Dingen und Formen da unten, von komplizierten Bauten! Diese langen Herden von Güterwagen! Diese Lokomotivställe, die alle ihre Schienen auf einen Punkt schickten, und aus denen die müden Renner mit glänzenden Augen glotzten! Oh, die langen Wellblechschuppen, wie graue Schlangen; diese Bahnhofshallen, die da fern, platt und breit lagen, gleich Riesenschildkröten; und gar diese breiten Eingänge in das Häusermeer, das die Züge ordentlich in sich einzutrinken schien! Seltsame Türme, mit einem Rätselwort bezeichnet, blockierten diese Rachen; seltsames Geäst von Signalstangen streckte vor ihnen seine langen, schwarzen Arme gen Himmel. Züge kamen und gingen; unablässig verband und trennte sich das vom Körper der Großstadt, und Emil Kubinke sah neidisch, wie sich jetzt so ein Zug herausschob, solch schöner D-Zug mit langen Wagengliedern, eine einzige Kette, ein Tausendfuß mit einem Krebskopf. Elegante Menschen von stoischer Reiseruhe strichen noch an den Fenstern im Gang vorüber, und langsam schob der Zug sich vor, ganz langsam, als hätte er viel Zeit übrig. Aber sowie er aus dem Wagenmeer sich herausgewunden hatte, da schien auch schon die Lokomotive den Kopf in den Nacken zu legen, wieherte gell und freudig auf wie ein Renner, dem man die Zügel locker gelassen hat – und stürmte dann vor ... didumdada, didumdada, didumdada, immer schneller, immer weiter, bis nur noch hinten ein Rauchfähnchen wehte. Emil Kubinke aber stand da oben, und er hatte Tränen in den Augen – warum konnte er denn da nicht drinsitzen.
Und dann eilte unten über den Schienenweg so eine kleine, einsame Lokomotive, – merkwürdig, wie sicher sie ihren Weg durch all die Verästelungen nahm, wie sie sich durchwand, rechts, links, vor und zurück, und dazu kleine Wölkchen warf. Aber auch sie dachte nicht daran, Emil Kubinke mitzunehmen.
Vor dem Eingang an der Mauer der Kaserne jedoch, da ballte sich nun die harrende Menge zu dichten Knäueln; Schutzmannshelme tauchten daraus hervor, Hausdiener von den Warenhäusern, Postschweden, Taxameterkutscher und Bierfahrer. Und gerade als Emil Kubinke kam, öffnete sich die eiserne Pforte, und die Menge strömte ein, in den Hof, wie Wasser in ein riesiges Becken. Und an den verschiedenen Ecken des Hofes standen Soldaten mit Tafeln, von denen Buchstaben und Zahlen leuchteten, und jeder suchte sich sein Fleckchen, der ängstlich im Laufschritt und jener langsam mit absichtlicher Pomadigkeit. Ganz bunt waren die Reihen zusammengewürfelt; der war dick und der war lang; der war in der Joppe und der hatte hochgekrempelte Hosenbeine; der trug einen meterhohen Stehumlegekragen über der bunten Plüschweste, und der hatte nur ein Knüpftuch über dem halboffenen Hemd; der hatte eine Schirmmütze und jener einen Schlapphut. Emil Kubinke aber war stolz auf seinen Straßburger Panama. Und wenn ›linksum‹ kommandiert wurde, machte die Hälfte rechtsum, und wenn ›kehrt‹ kommandiert wurde, machte die Hälfte linksum. Ein Gefreiter aber übte vor Langeweile drüben hinter der Front für sich langsamen Schritt, – so wie unsereiner für sich ein Liedchen trällert.
Allmählich aber setzte der Regen stärker ein, und die Feuchtigkeit kroch so schön an den Stiefeln hoch; und während Emil Kubinke noch so stand, kaum um sich zu sehen wagte und bibbernd der Dinge harrte, die da kommen sollten, da rief mit einer Donnerstimme, als verkünde er ein neues Evangelium, der Offizier mit dem dicken Bauch und den schweren silbernen Raupen auf der Schulter: »Feldwebel – führen Sie die Leute in die Exerzierhalle«, und gleich darauf sprang der Feldwebel zurück, stellte sich mit einem Ruck auf beide Füße und riß den Mund auf wie ein Scheunentor; wie ein Frosch, der nach der Fliege schnappt, sah er aus: »Still stand!« Eigentlich sagte er auch das noch nicht, sondern irgendein Laut flog durch die Luft, wie das Schrillen einer Dampfpfeife; aber die Leute verstanden es doch und fühlten die Wichtigkeit dieses Augenblicks durch alle Glieder zucken. »Ohne Tritt marsch!«
Und dann setzte sich die ganze Gesellschaft schwerfällig in Bewegung, trat sich gegenseitig auf die Hacken und stolperte in die Halle hinein. Die aber war ganz erfüllt von einer grauen, seltsamen Regenschwüle, einem unheilvollen, trübfeuchten Grau, in dem gleichsam die Erwartung dieser ganzen hineintrottenden Menschenschar sichtbarlich widerzitterte.
Hier drin aber war alles schon für den Empfang vorbereitet, und während der Feldwebel die Namen aufrief, laut, kurz, abgehackt, wie Flintenschüsse: Falk, Falke, Falkenberg, Fangauf, Fanselow, Fantin, Feilchenfeld, Felsch, Feising, – da guckten sie schon alle ganz ängstlich hinüber nach den Schrifttafeln für die Augenmessung; blickten nach der galgenartigen Maschine, an der man die Länge jedweden Menschenkindes ein für allemal mit unfehlbarer Sicherheit feststellen konnte, indem man ihm in ingeniöser und heimtückischer Weise ein Brett auf den Kopf fallen ließ; nach den Schreibern lugten sie, die da alles in große Listen hineinschrieben und ihr Schicksal in Händen hielten; und nach den Offizieren und Ärzten spähten sie, die ganz ruhig miteinander plauderten, als ob von ihnen nicht das Wohl und Wehe von Hunderten abhinge. Der Feldwebel aber, – im Gefühl, daß er zukünftige Vaterlandsverteidiger vor sich habe, – fuhr schon irgendeinen halbbetrunkenen Schlächtergesellen, mit breitem Totenkopfring um die Krawatte, an, warum das Schwein nicht die Hände an die Hosennaht lege, wenn er mit ihm spräche. Und als Emil Kubinke genau hinsah, da war das doch derselbe Mensch, mit dem er – Emil Kubinke – damals auf dem Tanzboden, wohl gut vor einem Vierteljahr, den häßlichen Streit gehabt hatte, der Kerl war es doch, der damals nachher mit dem uckermärkschen Ackergaul losgezogen war. Und Emil Kubinke empfand eine gewisse Genugtuung, daß es jenem jetzt auch nicht besser ging als ihm.
Wir aber, die wir weit mehr eingeweiht sind als Emil Kubinke, wir wissen genau, daß die Beziehungen von Gustav Schmelow zu unserem Freunde intimere und feinere waren, und daß beider Schicksal viel inniger miteinander verknüpft war, als der arme Kubinke ahnen konnte.
Und sieh da, nun standen schon vorn bei den Bänken zehn splitternackte Menschen als einzig helle Flecke in all dem Grau, etliche waren ganz weiß und zart, und andere wie mit langen, siebzehnköpfigen roten Lederhandschuhen auf den Armen und einem knallroten Halstuch. Und ein ganz kleiner Buckliger war auch dabei, der sah wie ein Kartoffelkloß aus; und ein Artist prunkte damit, daß er ein mächtiges Segelschiff in zweifarbiger Tätowierung auf der Brust trug.
»Wie in Freibad Wannsee«, sagte jemand ganz tief.
»Nur keene Mächens bei!« meinte ein andrer. Und schon begannen andere bei den Bänken sich auszuziehen; die taten es schnell, die langsam und ungern, als ob sie sich schämten.
Einer nach dem anderen aber trat vor und stand so blank und bloß und allein unter der Maschine und bemühte sich, recht groß auszusehen. Der Arzt behorchte und klopfte, fragte, ließ das rechte und linke Bein heben, maß den Brustumfang und untersuchte die Sehkraft, und der Offizier, der dabei saß, meinte, wenn einer einen zu kurzen Fuß hatte, ob der Mann nicht etwa doch diensttauglich wäre, er mache ja sonst einen ganz kräftigen Eindruck.
Und ganz langsam, stundenlangsam ging das, und einer nach dem anderen trat zurück, der ernst und besorgt, aber sich zum Lächeln zwingend, und der mit heller Freude in den Zügen. Und richtig, jetzt kam der Schlächtergeselle heran; zwei blaue gekreuzte Beile hatte er in den rechten Arm tätowiert. Ganz deutlich konnte Emil Kubinke sehen, wie sich die Züge des Offiziers aufhellten, als er die Blicke über die Gestalt dieses robusten Menschen wandern ließ, an dem kein Gramm Fett war, sondern nur eitel Muskel und Sehnen, von Kopf bis Fuß, vom Fuß bis zum Scheitel. Solche Leute hatte der Offizier gern.
»Sie, hätten Sie etwa Lust zur Marine?« sagte der Offizier, und seine Stimme klang sehr freundlich.
»Zu Befehl, Herr General!« brüllte Gustav Schmelow, nahm dabei den Kopf ins Genick und klatschte, jetzt schon ganz militärisch, mit den Handflächen gegen die bloßen Oberschenkel.
»Wegtreten«, sagte der Unteroffizier.
Und einem neuen Gustav Schmelow klappte schon das Brett auf den Kopf.
›Verflucht, den haben sie gefaßt!‹ sagte sich Emil Kubinke.
»Sie da!« rief ein Unteroffizier, »Sie, Mann, Sie glauben wohl, Sie brauchen sich hier nicht auszuziehen!«
Ach, das galt ihm, und ganz langsam zog sich Emil Kubinke einen Stiefel nach dem andern, einen Strumpf nach dem andern aus, und dann saß er, das Hemd zwischen den Knien auf der Bank und fröstelte; und er dachte, wie gut es doch die rotblonde Pauline hätte, – die brauchte nicht zum Militär.
Aber ehe Emil Kubinke sich noch versah, da war er auch schon von der Waage herunter, da stand er schon am Marterpfahl und das Brett klappte ihm auf den Kopf, daß er in den Knien nachgab, und er fühlte, wie alle Augen auf ihn gerichtet waren.
Aber ihn lächelte der Offizier nicht an, nein, der war ganz brummig und gleichgültig, er gähnte sogar verstohlen, und der Arzt sagte: »Tiefer, atmen Sie tiefer« und dann »sind die Augen besser geworden?« und »ach so, Sie sind ja Barbier!« Und als Emil Kubinke noch irgend etwas stotterte, rief der Stabsarzt dem Schreiber ein paar Worte zu, aus denen Emil Kubinke, der nur wie durch Nebel alles sah und hörte, so irgend etwas wie ›DU‹ verstand, und dann hieß es »wegtreten«, und ein anderer nahm seinen Platz ein.
Emil Kubinke war fertig, war erledigt, über sein Leben war entschieden – sicher, sicher hatte man ihn genommen. Wie Steine bei einem Bergrutsch, so polterte plötzlich die Erkenntnis über ihn weg, er war ganz verdattert vor Schreck, und er schluckte und schluchzte ganz heimlich, als er mit bebender Stimme den Unteroffizier, der da bei den Kleidern stand, fragte:
»Entschuldigen Sie, Herr Unteroffizier, bin ich genommen worden?«
»Mensch«, sagte der Unteroffizier und sah auf den kleinen Emil Kubinke von seinem vollen Gardemaß herab, »Mensch?! Jenommen!? Wo denken Sie denn hin?! Wir werden uns doch hier nich mit Sie die janze Front runjenieren!«
Also frei war er, freigekommen. Emil Kubinke stieg mit dem rechten Fuß in das linke Hosenbein, und das Hemd zog er zweimal verkehrt an und die Strümpfe wand er sich beinahe um den Hals. Also nicht, ... nicht, ... na, das mußte er sofort Pauline schreiben. Wie nett das eigentlich hier war ... wirklich belustigend ... der Offizier war doch ein intelligenter und sympathischer Mensch ... ja überhaupt unsere Offiziere in Preußen! Und auch der Arzt gefiel Emil Kubinke. Herr Gott, wie ulkig das aussah, der Mensch dort trug ja ein Bruchband, das hatte er noch nie gesehen! Also frei war er, ganz frei, und den andern hatten sie genommen, sogar zur Marine. Der würde sich auch freuen! Aber ... aber ... eigentlich muß es ja doch ganz nett beim Militär sein. Man ist immer in frischer Luft, und zuviel zu tun ist auch nicht. Famos, was man da für'n faulen Tag leben kann. Wirklich und wahrhaftig ... er wäre ganz gern Soldat geworden. Sicher, wenn nicht gerade jetzt das mit Pauline gewesen wäre. Er hätte sich sogar auch jetzt gefreut, wenn er Soldat geworden wäre ... von je hatte er für das Militär etwas übrig gehabt ... ja er konnte sogar sagen, er schwärmte für das Militär. Eigentlich ... tat es ihm doch leid, daß sie ihn nicht genommen hatten, denn es ist doch ganz was anders, wenn man sagen kann, man hat gedient. Er hätte sich schon dazu geeignet. So gut wie der Mensch da hätte er auch Unteroffizier werden können. Er hätte sogar Offizier werden können. Das Zeug dazu hatte er. War nicht Kurt von Rehbach Leutnant geworden? Und der hatte immer noch drei Plätze unter ihm gesessen, und im Lateinischen hatte er sogar nur Vieren bekommen, während er doch manchmal ›drei bis vier‹ gehabt hatte. Leutnant hätte er auch werden können, ebensogut wie Kurt von Rehbach... Es war doch schade!
Und dann bekam Emil Kubinke solch Büchlein ausgeliefert, und ehe noch eine Viertelstunde verging, da hieß es für seine kleine Abteilung ›ohne Tritt marsch‹, und Emil Kubinke holte aufatmend – er wollte seine militärische Begabung noch einmal zeigen – mit einem gewaltigen Schritte aus und trat seinen Vordermann.
»Riesenrindsvieh«, sagte der, sonst nichts.
Draußen aber hatte jetzt der Regen aufgehört, die Sonne war durchgedrungen, und der blaue Tag lag vor Emil Kubinke. So ganz langsam trottete der nun nach Hause, behaglich wie nach einem warmen Bad. Er sah vergnügt auf die Züge herunter, über das weite Schienennetz hin, nach den Kirchtürmen und Kuppeln Berlins, die alle jetzt von dem Rauch, dem rußigen Atem der Großstadt, schon weit mehr im Trüben lagen denn des Morgens. Bei den Soldaten blieb Emil Kubinke wieder stehen und fand das Bild sehr hübsch und ansprechend und beurteilte mit kritischer Miene, wie die da hüpften, mit den Beinen schlenkerten, mit den Köpfen nickten und nach den Brustscheiben die Gewehre hoben. Na, was Besonderes war das auch nicht, so gut wie die würde er das längst machen, und so unrasiert, wie der Feldwebel da, würde er nicht zum Dienst gekommen sein; denn wenn man schon mal Soldat ist, muß man doch ganz anders auftreten.
Aber je weiter Emil Kubinke sich vom Kasernenviertel entfernte, je seltener die roten Kragen, Achselklappen und blanken Knöpfe wurden, je mehr die schmucklose, tüchtige Arbeitsbiene, der schlichte Zivilist wieder zu seinem Recht kam, desto lieber fühlte sich Emil Kubinke damit einverstanden, daß man ihn nicht zum Militär genommen hatte, und tief und tiefer versank hinter ihm die ganze Welt der Kommandos, des Drills, der Uniformen, der Chargen, jene Welt der Abteilungen, Kolonnen, Kompagnien und Bataillone, – ja sie existierte eigentlich schon überhaupt nicht mehr. Und Emil Kubinke verstand gar nicht, wie man in ihr leben und aufgehen könnte. Aber den andern da, den Kerl mit dem Totenkopfring um die Krawatte, den hatten sie gefaßt. Emil Kubinke war nicht schadenfroh, aber dem gönnte er's, den sollten sie nur ordentlich schinden. Und Emil Kubinke hielt es doch jetzt für ein Glück, für ein großes Glück, daß sie ihn nicht genommen hatten, und ganz heimlich klopfte er beim Gehen auf das braune Büchlein, das man ihm gegeben, als wäre das ein Talisman, der ihn nun fürder vor allen Übeln bewahren müsse.
Wir jedoch, die wir tieferen Einblick in die Geschehnisse haben, wissen, daß es tausendmal besser für Emil Kubinke gewesen wäre, wenn sie ihn genommen hätten und jenen Schlächtergesellen Gustav Schmelow hätten laufen lassen. Die rotblonde Pauline wäre stolz gewesen, einen Soldaten zum Bräutigam zu haben, und sie wäre treu wie Gold gewesen, Emma und Hedwig aber hätten dann nicht ihn, sondern wirklich eben jenen Gustav Schmelow als Vater für... Aber wozu jetzt schon, wir werden das alles ja bald genug zu hören bekommen.
Und Herr Tesch stand vor der Ladentür, als Emil Kubinke zurückkehrte, und rief:
»Na, wie war's denn, Sie Vaterlandskrüppel?«
»Ach«, sagte Emil Kubinke sehr ernst und sehr wichtig, »um ein Haar hätten sie mich genommen. Der Offizier, der dabeisaß, wollte mich durchaus nicht loslassen, aber der Stabsarzt sagte doch, er könne das wegen meiner Augen nicht verantworten. Mir ist es ja ziemlich gleichgültig, aber wissen Sie, meine Pauline wird sich furchtbar freuen.«
Also Emil Kubinke war militärfrei, und Pauline freute sich wirklich, wenigstens schrieb sie: ›Mein heißgeliebter Emil! Welche seligen Stunden bereitete mir Dein (Ihr) Brief, o wie danke ich Dir (Ihnen) dafür. Liebe ist dem Herzen Bedürfnis und kann dieselbe das Leben zu einem Paradiese gestalten.‹ Denn die rotblonde Pauline begnügte sich jetzt nicht mehr damit, einen Brief schlicht abzuschreiben, sondern sie polkte sich aus verschiedenen Briefen die Rosinen heraus, nahm hier eine Probe aus den ›allgemeinen Liebesbriefen für Jünglinge beiderlei Geschlechts‹ und da einen Satz aus dem ›Brief eines erhörten Liebhabers‹ oder aus den ›Vorwürfen wegen Vernachlässigung‹; (aber mit dem Kutscher von drüben stand sie des Abends noch immer vorm Haus). Ja, Pauline machte es jetzt ganz ähnlich, wie es mein Freund Albert in der Obertertia machte, der zwar sehr gute Augen hatte, jedoch sehr schlechte Aufsätze schrieb, und der beim Klassenaufsatz stets und ständig den Anfang vom rechten Nebenmann und den Schluß vom linken Nebenmann abschrieb. Und wie der liebe Gott das eine Mal nachher den Schaden besah, da handelte der Anfang von Albertchens Aufsatz von dem ›Vergleich zwischen Hektor und Achilles‹ und der Schluß von dem ›Vergleich zwischen Ajax und Odysseus‹, – denn der Lehrer hatte zwei Themen zur Wahl gestellt.
Mit dem Sommer jedoch ging es in diesem Jahr 1908 – aber ist das eigentlich je bei uns anders? – in diesem Jahr 1908 ging es mit dem Sommer, wie es auf dieser Erde mit allen Annehmlichkeiten eben zu gehen pflegt. Wenn man denkt, sie sagen Guten Tag, ziehen sie schon den Hut und empfehlen sich. Also er war verdammt kurz und sehr fragwürdig, der Sommer, und er bekam sehr früh gelbe Blätter, – mit einemmal waren sie da, wie die grauen Haare an den Schläfen, – und mit einemmal waren die Abende wieder kühl und ließen alles in Regen und Wind erschauern, so daß die Bäumchen in den Straßen mit ihren zwei Dutzend vergilbender Blätter, von denen das Wasser herabrann, aussahen, als ob sie über sich selbst weinten. Und der Regen klatschte auch nicht mehr mit schweren Gewittertropfen, sondern er überprickelte alles wie mit tausenden und tausenden von feinen Nadelstichen.
Und oben, oben an der Küste sammelten sich die Schwalben, und die Stare strichen über das Wasser, und hoch in der mattblauen Luft zog das erste Volk von Wildgänsen in einem langen Winkelzug nach Süden hin. Und von Norden kam dann der Wind, und er blies mit vollen Backen, peitschte durch die Dünen und brach in das sommerliche Land ein; und er brachte Nebel für die Abende mit aus den Reifnächten Norwegens. Es war nicht das letzte, aber das erste Wort, das der Herbst sprach; und er hörte von nun an nicht mehr auf, seine Sprache zu reden, ja selbst durch die sommerlich anmutenden, warmen Tage klang sein Unterton, klang es hindurch von Müdigkeit und Sterben; und das Frösteln zog jeden Abend wieder herauf und legte sich über die Welt. Man begann sich zu wundern, wie früh man wieder Licht anmachen mußte, und wie lange doch in den Straßen die blaue Dämmerung hing.
Und langsam wurden hie und da in Emil Kubinkes Haus wieder die Jalousien hochgezogen, und die Reinmachefrauen putzten die Fenster; es war, als ob Argus, der hundertäugige Wächter der Jo, allmählich erwachte und ein Auge nach dem anderen öffnete.
Frau Betty Löwenberg aber kam fast zuletzt, blieb solange als möglich in Heringsdorf – sogar noch länger als Rosenauers; – aber endlich sagte sie sich doch, daß es höchste Zeit wäre, wieder nach Berlin zu fahren, denn sonst wäre sicherlich ihre Schneiderin auf Monate hinaus besetzt, und die halbe Saison könne vorbeigehen, ehe sie ihre Winterkostüme bekäme. Das Fräulein Mizzi Bergholzer hatte ihr zwar geschrieben, daß sie sich ›bestimmt noch eigens für die Gnädigste freihalten würde‹ – aber der Teufel trau einer Schneiderin.
Markowskis aber hielten es ebenso an der Zeit, zurückzukehren, weil Frau Markowski glaubte, daß sie sich nicht länger ihren Pflichten entziehen dürfte. Denn Frau Markowski war, wie gesagt, eine umfängliche Dame, und sie war eine gute Dame, und Manne war ihr einziges Kind, und aus all diesen Gründen war sie seit Jahren in der ›Bewegung‹. Sie fütterte die Jugend in Volksküchen ab, sie sorgte mütterlich für uneheliche Wöchnerinnen, sie versuchte Krüppel davon zu überzeugen, daß ein Erbauungsbuch noch besser als ein Schnaps wäre, und außerdem recherchierte sie und verteilte Bons auf Heizmaterialien an gottergebene, aber bedürftige Familien, die mit diesen Tickets einen regen Handel unterhielten – kurz: Frau Markowski linderte und beseitigte das großstädtische Elend. Und keine Hintertreppe war ihr zu steil und zu schmal und zu hoch, – denn die ›Bewegung‹ tat ihrem Körper und ihrem Gemüt wohl. Und auch Herr Markowski sagte, daß es höchste Eisenbahn wäre, nach Hause zu fahren, denn zum Renard-Rennen in Hoppegarten wollte er unbedingt wieder in Berlin sein; und deshalb also packte man auch in Saßnitz wieder Körbe und Koffer.
Die Zeit bis dahin aber war Emil Kubinke doch recht lang geworden. Nicht etwa, daß er den Tag über nichts zu tun gehabt hätte, mehr als genug; und Haararbeiten gab's auch – dank der Geschäftstüchtigkeit des Herrn Ziedorn, – die Hülle und Fülle. Aber diese Abende, o diese Abende! – wenn da Emil Kubinke die lange Korkenziehertreppe hinaufstieg, die jetzt im Sommer so still war und nicht von lustigen, klappernden Schritten und vom Lachen, Quieken und Jachtern der Mädchen widerhallte ... wenn Emil Kubinke dann oben in seiner Dachkammer saß und zu lesen versuchte, so ging es ihm mit seinem Buch wie jenem Mönch es mit dem Buch der Bücher ging, daß aus den Seiten leibhaftig Satanas in Gestalt eines lockenden, üppigen Weibes emporstieg und seine Christenseele arg verwirrte.
Sofern das noch wenigstens nur die rotblonde Pauline gewesen wäre, die aus den Seiten des Buches aufflammte, so wäre dagegen ja nichts einzuwenden gewesen, das war nur recht und billig, und sie hatte auch wohlbegründete Ansprüche darauf; aber wir müssen hier leider bekennen, daß keineswegs die rotblonde Pauline allein die Königin dieser Träume Emil Kubinkes war, sondern daß über sie eben jenes verlockende Spiegelbild ›Weib‹ befehligte, in jedweder Gestalt. Die dicke Hedwig und die lange Emma tauchten wieder aus dem Dunkel empor, und braune und blonde, helle und schwarze, schlanke und feiste gesellten sich zu ihnen, ja meist sogar hatte das holde Trugbild gar keine festen Formen, hatte gar keine bestimmten Umrisse, glich nicht der oder jener, sondern sehnte sich nur unbezwinglich und inbrünstig danach, vom Leben selbst mit Inhalt und Greifbarkeit ausgestattet zu werden.
Und so trieb es immer wieder Emil Kubinke hinunter in die nächtigen Straßen, mit Lärm und Hasten im Spiel des Lichts, und mit Einsamkeit und schleichenden Paaren in dunkelgrauer, regenfeuchter Luft. Aber wieder war in der Quadrille keine einzige Tänzerin, die seiner harrte, kein Plätzchen gab es, in das er sich bei dem lustigen Chassez-croisez einfügen konnte – niemand schien seiner zu warten, niemand schien seiner zu achten, und selbst wenn er schon einmal glaubte, daß ihm ein Blick Ermunterung versprochen hatte, so wagte Emil Kubinke in einer plötzlichen Furcht endlich doch nicht seine Verbeugung zu machen und zum Tanz zu engagieren. Und was etwa jetzt zur Reisezeit im Haus selbst noch verfügbar gewesen wäre, das war alles schon von Herrn Neumann und Herrn Tesch und zehn anderen auf Wochen voraus bestellt, so daß der arme, richtig verlobte Emil Kubinke nun Abend für Abend mit Wünschen und Blicken draußen vor den Türen bettelte und stets noch hungriger heimkehrte, als er ausgezogen war. Und er mochte noch soviel und noch so innig an seine rotblonde Pauline denken, das goß nur Öl ins Feuer, und immer wieder irrten seine Gedanken und Sehnsüchte von ihr ab, jenem unbestimmten Trugbild nach, dem er hoffte jetzt und jetzt endlich wieder einmal Form und Inhalt und Greifbarkeit zu geben.
Aber wenn das Emil Kubinke wieder einmal höchst schmählich mißlang – so belobte er sich ob der Unwandelbarkeit seiner Treue, an deren Festigkeit alle Versuchungen zerschellten und zerstoben, und stolz sagte er sich, daß er Pauline geradeso treu wäre wie Pauline ihm. Ja, der brave Emil Kubinke war eben noch sehr jung, und er dachte sich alles noch sehr einfach, und das gerade schien ihm am einfachsten zu sein, was am schwierigsten und fast unlösbar ist. So hatte der brave Emil Kubinke zum Beispiel noch die vorgefaßte Quartanermeinung, zur Liebe gehöre Treue, schlichtweg wie die Schale zum Ei; und er konnte sich durchaus noch nicht klar darüber werden, daß die große Herrscherin da oben garnichts von Treue weiß, daß die Treue beim Mann immer nur ein negatives Verdienst ist, ein ärmlicher Trost für Unterlassungssünden und im besten Fall ein eitler Selbstbetrug, und daß wir zum Schluß sie doch nur auf der Minus- und nicht auf der Plusseite des Lebens verbuchen.
Ja – und Pauline brachte Emil Kubinke eine wundervolle große Perlmuttermuschel mit, die auf einer Staffelei stand. Das Damenbad in Heringsdorf war darauf gemalt in Öl, richtig mit der Hand. Und ›Souvenir de Heringsdorf‹ stand schräg und schwungvoll darüber. Und Pauline lachte übers ganze Gesicht, war braun wie eine Kastanie, und Goldhänschen sah wirklich wie eine ›Posaune‹ aus und hatte richtige Mahagonibeine bekommen. Nur Frau Betty Löwenberg – sie platzte vor Gesundheit – sagte, sie hätte sich gar nicht erholt, die See wäre nichts für ihre Nerven, und ein zweites Mal täte sie das nicht.
Aber als Emil Kubinke des Abends sich wieder in Paulines Küche einfand – den Uhland hatte er heute nicht mitgebracht – da waren zwar Frau Löwenberg und ihr Mann schon ins Café gegangen, denn Frau Löwenberg hatte gesagt, daß sie überhaupt die ganze Zeit über in Heringsdorf zu Hause gehockt hätte und keinen Menschen gesehen hätte – und Menschen müßte sie sehen! und Herr Löwenberg war gerade heute, gerade heute sehr kleinlaut und nachgiebig ... aber, aber für sie beide war eben Poldi angetreten, Poldi, Löwenbergs neue Wiener Köchin, allerbeste, halb tschechische halb österreichische Mehlspeisenmischung, Poldi mit der böhmischen Granatbrosche, Leopoldine Nowotny, die Entdeckung von Frau Rosa Heymann.
Eine Schauspielerin hatte Poldi nämlich mit nach Berlin genommen, aber da die Schauspielerin binnen kurzem wieder nach Wien, sprich Czernowitz, zurückgekehrt war, – ›indem daß erstens die Berliner von derer Theaterspielerei an Dreck verstehn, und zweitens, die Berliner Kavaliere schundige Wurzen sein, die an zwar alle die Gurgel mit Sekt waoschen tun, aber sonst kan Geld net ausgöben woll'n‹ – da aber besagte Schauspielerin wieder an die Stätte ihrer Triumphe zurückgekehrt war, so war plötzlich das arme Polderl aus dem lustigen ›sibten‹ Bezirk nach dem kalten, harten Norden verschneit worden, ehe sie noch recht verstand, wie das eigentlich zugegangen war.
Aber, wenn das Polderl auch nicht gerade schön war und nicht gerade jung war, so besaß sie doch etwas, das eine weit bessere Empfehlung darstellte, nämlich ein kleines, altes, fleckiges und verfettetes Schulheftchen, aus dessen zittrigen Schriftzügen man entziffern konnte, daß man zur Linzertorte vierzehn Deka Mandeln samt: Schale reiben müsse und zu Spitzbuben zweiundvierzig Deka Mehl und zehn Deka Zucker nehmen müsse, während man zu einem Eiscreme mit Schlagobers nicht über vier Dotter nehmen dürfe. Und alle Geheimnisse von weißem und schwarzem Kirschkuchen, von Traunkirchener Schneeballen, von Mohnbeugerln, Biskuitrouladen, Bröselknödeln und Briesragout, von böhmischen Dalken und Marillenkoch waren genau und umständlich darin verzeichnet. Und alle diese Geheimnisse standen nicht etwa zum Scherz in dem Buch, sondern Poldi Nowotny verstand kunstgerecht ihre papierne Existenz in eine duftende und schmackhafte Wirklichkeit umzusetzen.
Und diese Poldi mit ihrem alten Schulheftchen hatte Frau Rosa Heymann entdeckt, hatte sie aufgefunden bei irgendeiner ganz obskuren Achtzig-Taler-Vermieterin. Am liebsten hätte sie sie ja gemietet, aber da sie selbst schon jedes Jahr nach Karlsbad mußte, war es leider notwendig, daß sie für sich auf das Polderl verzichtete. In der Familie jedoch sollte und mußte es bleiben, und deshalb heuerte sie es laut Auftrag für ihre Tochter Betty und verknüpfte so das Nützliche mit dem Angenehmen und Billigen, indem sie sich die besten Ribiselstrudeln und Topferln für ganz umsonst und in durchaus bekömmlichen Abständen sicherte und zugleich der Dankbarkeit ihrer Tochter gewiß war.
Und diese Poldi Nowotny hatte mit dem heutigen Tag bei Löwenbergs Einzug gehalten und das Interregnum von hundert Stützen und Aushilfen und anderen hochgesegneten Individuen beendigt, und sie war arg lieb und freundlich zur rotblonden Pauline und schwätzte ganz lustig etwas daher, das für Pauline ›beiläufig‹ völlig unverständlich war, wenn sie auch unleugbar darin Spuren einer entfernten Ähnlichkeit mit der deutschen Sprache feststellen konnte. Während wieder Poldi Nowotny für ihr Teil auf alles, was die rotblonde Pauline zu ihr sagte, nur mit »Hoa – woas!« antwortete. Und da so jede nur das hörte, was sie selbst sagte, so unterhielten sie sich beide ausgezeichnet. Und diese Poldi Nowotny saß nun auch mit in der Küche, und diese Poldi Nowotny schlief nun auch mit im Mädchenzimmer, und wenn immerhin Emil und Pauline in ihrer Gegenwart sprechen konnten, was sie wollten, – da sie es doch nicht verstand – so konnten sie sich doch nicht mehr ausschließlich der Hauptsprache der Verliebten bedienen, da diese Sprache überall verstanden wird ... im ›sibten‹ Bezirk und im ›zehnten Hieb‹ genau so gut, ja vielleicht noch besser als in Wilmersdorf, Schöneberg und Charlottenburg.
Außerdem war aber auch in dem Verhältnis von Pauline und Emil Kubinke eine Änderung eingetreten. So lange waren sie ein Liebespaar gewesen, das zufällig verlobt war, und nun waren sie ein verlobtes Paar, das zufällig auch verliebt war. Vordem war die Gegenwart das Schöne, und die Zukunft das Unbestimmte, Fragwürdige; und nun mit einem Schlage war die Zukunft das Schöne geworden, und die Gegenwart das Fragwürdige. Nun hieß es rechnen und überlegen und Kataloge ansehen und Annoncen lesen und sich streiten und statt der tausend Narreteien der Verliebtheit über Dinge reden, von denen man annimmt, daß sie vernünftiger seien.
Und erst als Pauline mit Emil Kubinke herunterging, – sie wollte noch schnell eine Karte an ihre neue Freundin in Heringsdorf in den Kasten stecken, – da fanden sie sich wieder in jener Sprache, die sie ja vordem schon ganz gut hatten parlieren lernen.
Und Abend für Abend war es nun das gleiche: erst Wirtschaftspläne und Poldi Nowotny, und dann auf fünf oder zehn Minuten drüben in den Straßen Hand in Hand ... und alles schien schön und gut.
Langsam marschierte so das Jahr in den Herbst hinein. Aber während der Frühling seinerzeit von draußen her immer näher an die Tore der Stadt herangerückt war, während er seine Armeen von Grün und Blumen gleichsam gegen die Stadt vorgeschoben hatte, etappenweise, so hatte der Herbst die Stadt zuerst unterworfen, hatte sie zum Mittelpunkt, zur Operationsbasis gemacht und er zog nun von ihr aus nach allen Seiten in das Land hinaus, eroberte und unterwarf von Tag zu Tag mehr Gebiet, heute die Parks, morgen die Wälder, übermorgen, trotz der bunten Fähnchen von den Erntefesten her, die Laubenkolonien; und überübermorgen – trotz der Harke, dem Besen und der Schere des Gärtners – die Villenstädte.
Wenn auch die milde Kraft der schon schrägen Sonnenstrahlen täuschen wollte, die blonde Durchsichtigkeit der Luft, die Ruhe der wenigen Wölkchen, ... so siegten doch mehr und mehr die Feuerfarben des Herbstes, diese gelben und roten, braunen und bronzenen Töne in Laub, an Früchten und Beeren.
Dann aber weinten bald die Bäume gelbe Blätter herab, und der Himmel sah nunmehr wieder durch viele Lücken und Fenster bis in die geheimsten und verstecktesten Liebeswinkel hinein. Nicht auf einmal jedoch gaben die Bäume ihren Schmuck her, nein, so ganz langsam und allmählich lichteten sie sich und ließen wieder die schwarzen Linien der Äste, die der Sommer so lange verhüllt hatte, hindurchblicken. Die ersten aber, die das Laub von sich warfen, waren die Ulmen und Linden der vier Baumreihen in Emil Kubinkes Straße; aber dann tat es doch manchen von ihnen wieder leid, daß sie in den schönen, milden Tagen so ganz schmucklos stehen sollten, und sie trieben noch ein zweites Mal an den Zweigspitzen ein paar grüne Blättchen.
Doch wenn auch die Sonnenblumen draußen in Reihen über den Laubendächern Abend für Abend in der blauen Dämmerung erglühten, wenn auch auf den Plätzen, in den Anlagen, in den Gärtnereien die zarten und sterbenden, die heißen und schrillen Farben von Astern und Georginen, von Dahlien und Chrysanthemen ... wenn sie auch die Beete von Rosen, Nelken und Geranien ganz vergessen machten – so lehnte sich doch nichts von all diesem hastig und geil aufgeschossenem Kraut, nichts von dieser kranken Blütenfülle, nichts von diesem starren, hartgrünen Buschwerk, das ganz überschüttet von kleinen bunten Sternen im milden Silberschimmer der Sonne stand, gegen die Macht des Herbstes, gegen das große Dahinsinken auf, sondern in lächelnder Wunschlosigkeit träumte nur noch alles seiner Stunde entgegen. Und auch draußen in der Kolonie Grunewald hatte der Herbst die Erbschaft des Frühlings angetreten, und er hatte erworben, um zu besitzen. Hier waren seltsame Klettergewächse, Spielarten des wilden Weins, die rot wie Rubinen waren; und eine Straße mit amerikanischen Eichen war nunmehr feurig rostbraun und metallschimmernd wie überhitzter Stahl geworden. Und wenn man von dieser rostbraunen Straße abbog, so trat man vielleicht in eine gelbe Straße; gelb wie Zitronen, gelb wie Messing. Und doch verlor sich in der Luft, die einen feinen Schleier der Feuchtigkeit hielt, alles Grelle und Schrille an diesen langen, herbstlichgelben Ulmen- und Ahornwegen, zu denen noch aus den Gärten die Büsche ihre Rostfarben steuerten, und die Beete der Chrysanthemen flackernde Buntheit klingen ließen ... und die dabei wieder so seltsam im Gegensatz standen zu den starren Kronen und den starren Stämmen der Kiefern, jener einstigen Herrscher, die nun jederzeit gleich ernst und melancholisch auf rote Dächer und weiße Villen herabsehen.
Dahinter aber am Eingang des Waldes selbst, wo ehedem die Feststraße des Frühlings so lustig von bunten Menschengruppen belebt war, da wehten von den Birken nunmehr seidene Tücher, dicht mit Goldfäden durchwirkt; und in ewigem Knistern und Funkensprühen schwebten taumelnde, abgerissene Flecken und Fetzen herab in die Wagenspuren. Im Wald jedoch begannen die Pilze drunten im Moos mitzusprechen, und die Flechten hingen grau und geschwellt vom letzten Regen an den Bäumen, unter denen des Abends die Pärchen nur noch bänglich und vereinzelt durch das frostige Herbstdunkel schlichen.
Auch Markowskis waren nun zurückgekehrt, und Herr Markowski hatte beim Renard-Rennen für zwanzig Mark von einem Professional einen todsicheren Tip bekommen, der ihn hundertfünfundsiebzig Mark gekostet hatte; und Frau Markowski hatte sogleich wieder ihren Feldzug gegen das großstädtische Elend aufgenommen, und sie hatte eine prachtvolle Familie von geradezu mustergültiger Verwahrlosung sämtlicher Mitglieder ausfindig gemacht, für die notwendig etwas getan werden sollte.
Und Hedwig – nun Hedwig hatte ihre Beschäftigung wieder begonnen, nur daß sie jetzt den alten Manne des Abends allein auf die Straße schickte. Und als Emil Kubinke das erste Mal wieder Herrn Markowski rasierte und Hedwigs dabei ansichtig wurde, da war ihm wieder recht schwül zumute geworden, denn er sagte sich, daß er sich leider doch nicht getäuscht hatte. Aber da die runde Hedwig kein Wort sprach, so hatte er sich eben auch nichts wissen gemacht; ganz im geheimen jedoch graute ihm vor dem Tag, da dieses Steinbild, diese Hedwig zu reden anfangen würde. Und, wenn er auch hoffte und flehte, daß der nie käme, so war diese Hoffnung doch nicht stark genug, um seine Furcht vor dieser Stunde bannen zu können.
Langsam aber kam es so im Haus auf, daß mit dieser Hedwig von Markowskis etwas los sei. Pieseckes sprachen darüber, und die Mädchen tuschelten es sich abends auf der Hintertreppe zu, und Herr Tesch kniff das eine Auge ein, schlenkerte die Finger, daß die Gelenke knackten, und sagte bei jeder Gelegenheit: »Au, Kubinke, wat is 'n mit Ihre Stiefliebste?!«
Das ging Wochen und Wochen so, und alle wußten es und hatten sich schon mit der Tatsache abgefunden, nur Markowskis waren völlig ahnungslos; so lange, bis eines schönen Tages die Vorstandsdame vom ›Jugendhort‹, die gerade bei Frau Markowski eine wichtige Frage anschnitt und dazu drei Tassen Kaffee trank – bis diese Dame, nachdem Hedwig das Zimmer verlassen hatte, den Mund auf tat.
»Meine Liebe«, sagte sie in jener schönen, rücksichtslosen Sicherheit, die sie von vielen Versammlungen und Sitzungen her auch für das tägliche Leben angenommen hatte, »meine Liebe, Sie können aber dieses Mädchen wirklich nicht länger mehr im Hause behalten.«
»Aber warum, Frau Geheimrat?« entgegnete Frau Markowski erstaunt.
»Herrgott, Frau Markowski«, sagte die Frau Geheimrat, »sehen Sie denn nicht, in welchem Zustand sich dieses bemitleidenswerte Geschöpf befindet?«
»Das ist unmöglich!« rief Frau Markowski und legte beteuernd die dicke Hand auf den hohen Busen. »Unsere Hedwig ist ein hochanständiges Mädchen.«
»Ich jedoch pflege mich in solchen Dingen nie zu täuschen«, sagte die Vorstandsdame vom Jugendhort mit noch größerer Bestimmtheit. Sie schrie einfach die Gegnerin nieder.
»Meinen Sie wirklich, Frau Geheimrat«, stotterte Frau Markowski.
»Ja, wenn Sie es wünschen, so werde ich es sofort vor Ihren Augen der Person auf den Kopf zusagen. – Rufen Sie sie herein!«
»Oh, da werde ich schon lieber selbst mit ihr reden«, sagte Frau Markowski sehr milde, – sie schwamm ordentlich in Güte, wie ein Pfannkuchen in siedendem Fett. Innerlich aber stieß Frau Markowski ein wahres Kriegsgeheul der Barmherzigkeit aus. Bisher war ihr ja diese runde Hedwig zwar herzlich unsympathisch gewesen, aber ›uneheliche Wöchnerinnen‹, ›uneheliche Mütter‹ und alle, die das werden wollten, das war ja überhaupt ihr Spezialgebiet (aus ehelichen Wöchnerinnen machte sie sich gar nichts). Und jetzt hatte sie einen äußerst interessanten Fall, sogar in allernächster Nähe, im eigenen Heim! Frau Markowski sagte stets ›Heim‹. Wie wollte sie ihre schützende Hand über dies arme, verführte Geschöpf halten! An ihrer Brust sollte sie sich ausweinen!
Frau Markowski rief also am Abend – ihr Mann war wie jeden Freitag kegeln gegangen – die dicke Hedwig herein, nötigte sie in einen Sessel und sagte ihr, daß sie sich nicht zu schämen brauchte, da es nun leider einmal das Schicksal der Frauen wäre, für die Schlechtigkeit der Männer zu büßen.
Und wirklich, die runde Hedwig schämte sich ganz und gar nicht.
»Nee«, sagte sie nur, »des is zu dumm. Ich begreife auch nich, wie das möglich sein konnte. Ich habe wirklich nichts dafür jekonnt.«
»Ja«, sagte Frau Markowski, »aber nun, liebe Hedwig«, sie betonte ›liebe Hedwig‹, »ist es nötig, daß Sie mir den Vater des zu erwartenden Kindes nennen, damit wir schon jetzt versuchen, die Kosten der Entbindung von ihm zu erlangen.«
Aber da ließ Hedwig nich mit sich reden – nee, so was tat sie nich; und je mehr Frau Markowski auf sie einsprach, desto schweigsamer wurde Hedwig, bis sie endlich zu weinen begann: »Nee, nee«, des könne sie um keinen Preis sagen!
Und in Frau Markowski stieg, als sie Hedwig – sie hatte eine ganz dicke Nase – so schluchzen hörte, ein furchtbarer Verdacht auf, und sie vergaß ganz, die runde Hedwig an ihre Brust zu nehmen und sich dort ausweinen zu lassen.
Ja, daß sie daran noch nicht gedacht hatte, also im eigenen ›Heim‹ – Frau Markowski sagte stets, auch im tiefsten Schmerz, ›Heim‹ – war ihr diese Schande bereitet worden.
Gewiß, es mag ja möglich sein, daß die gute Frau Markowski mit ihrer Vermutung auf dem Holzwege war, aber so schroff können wir es keineswegs behaupten, denn wir müssen uns doch immerhin vergegenwärtigen, daß Frau Markowski ihren Gemahl weit länger und besser kannte als wir hier, die wir Herrn Markowski doch nur von der hippologischen Seite kennengelernt haben.
Wenn aber Hedwig den Vater ihres Kindes nicht angeben wollte, so war das etwa nicht Zartgefühl von ihr, sondern die runde Hedwig war sich selbst durchaus noch nicht klar, wen sie mit der Vaterschaft über ihren Jungen – denn alle Kinder sind vor der Geburt kleine Jungen – wen sie damit betrauen sollte; und jedenfalls wollte sie nicht voreilig einen angeben, der sich später für die Ehre bedankte, so daß sie etwa gar nichts kriegte! Nein! – in dem Punkte wußte Hedwig verflucht gut Bescheid – und die Sache mußte sie auf alle Fälle selbst in die Hand nehmen.
Aber dieser schmähliche Verdacht, er hatte doch nur einen Augenblick Macht über die gute Frau Markowski gehabt, dann schob sie ihn weit von sich als ihres ›Heimes‹ unwürdig und widmete sich ganz wieder ihrem eigentlichen Liebeswerk, nur daß sie jetzt gar nicht weiter wegen des ersten Punktes in Hedwig drängte, und sogar merkwürdig schnell zum zweiten Teile ihres Programms überging.
›Ja, Hedwig müsse ja nun natürlich ihren Dienst verlassen ... nicht etwa, weil sie oder ihr Mann an ihrem Zustand Anstoß nähmen, so rückständig wären sie nicht ... aber sie müsse sich auf ihre ›Mutterpflichten‹ vorbereiten und ferner bedürfe sie zwei Monate vor und zwei Monate nach der Entbindung der äußersten Schonung. Sie, Frau Markowski, wisse zwar, daß das eine ideale Forderung wäre –‹
Bei dem Wort ideale Forderung nickte die runde Hedwig beistimmend, weil sie es absolut nicht verstand.
›Ja, eine ideale Forderung wäre, die wohl selten verwirklicht würde, aber gerade sie hätte wegen ihrer Bestrebungen die Pflicht, nicht einen Tag davon abzulassen. Daß sie nachher Hedwig gern wieder nehmen würden, – sofern ihr Mann nicht dagegen wäre, warf Frau Markowski nunmehr vorsichtig ein, – das hoffe sie ihr schon jetzt versichern zu können. Jedenfalls würden sie sich ruhig so lange mit einer Aushilfe begnügen.‹
Aber davon wollte wieder Hedwig nichts wissen:
›Nee–so bald wäre es ja nich, und sie könne ruhig noch arbeiten, ihrethalben bis zu'n letzten Tach.‹
Frau Markowski jedoch belehrte sie, daß sie jetzt nicht so sehr an sich, sondern vor allem an die Gesundheit des Kindes zu denken hätte; bis zum Ersten würden sie noch Kost und Lohn zahlen und für den nächsten Monat nur noch Lohn, – damit wäre ihr ja auch schon gedient.
»Ach ja«, sagte Hedwig, »denn lern ick plätten, – des wollt ick schon lange.«
Aber auch damit war Frau Markowski nicht einverstanden: Nein, Hedwig sollte in der Zeit zu ihren Eltern gehen, zu ihrer Mutter, denn es würden noch Tage kommen, da sie der mütterlichen Liebe bedürftig sein würde. Und gar wenn in ihrer schweren Stunde – Frau Markowski redete hier wie der Blinde von der Farbe – sie ihre Mutter um sich wüßte, so würde ihr das Trost und Linderung sein. Gewiß könne ihr Frau Markowski durch ihre Beziehungen auch einen Platz in einem Entbindungsheim verschaffen, – nicht einen, zehn Plätze, – ja, sie glaube sogar ihr eine Freistelle zusagen zu können; aber trotzdem: Eltern sind Eltern!
»Nee«, sagte Hedwig bestimmt, »nach Hause je ick nich, jnädige Frau!«
»Aber Hedwig«, warf Frau Markowski ein, »Ihre Eltern werden doch wenigstens so vernünftige Leute sein, daß, wenn Sie ihnen schreiben ...«
»Ick derf nich zu meine Eltern kommen!« rief Hedwig.
»Aber liebe Hedwig, wenn Sie sich etwa ängstigen sollten, es Ihrer Mutter mitzuteilen, dann will ich gewiß gerne für Sie an Ihre Angehörigen schreiben, und ich bin sicher ...«
»Nee, nee, liebe Frau Markowski«, unterbrach Hedwig, »es is ja sehr jut von Ihnen gemeint, aber ich sage Ihnen doch, es jeht wirklich nich.«
So leicht war jedoch eine Frau Markowski nicht von ihren Plänen abzubringen.
»Also hören Sie, Hedwig«, begann sie wieder, »dann werde ich eben selbst nach Prenzlau fahren und mit Ihren Eltern sprechen, und ich versichere Sie, sie werden Sie mit offenen Armen empfangen.« Die runde Hedwig jedoch blieb dabei. »Jnädige Frau, wenn ich doch sage.«
Über so viel Verstocktheit war Frau Markowski doch etwas ungehalten.
»Aber Hedwig, weshalb meinen Sie denn, daß es unmöglich wäre? Glauben Sie denn, daß Ihre Mutter die Erste ist, die ihr Kind in diesem Zustand ...
Weiter kam Frau Markowski nicht.
»Nee, nee«, rief Hedwig, »aber ick hab et Ihnen nu doch zehnmal jesagt: es jeht un jeht nich – – meine Schwester is ooch schon da!«
»Ja«, sagte Frau Markowski nach einer längeren Pause sehr langsam und nachdenklich, »dann haben Sie recht, Hedwig; dann wird es sich wohl schwer so einrichten lassen. – Aber Sie brauchen sich deswegen nicht zu grämen, ich werde noch heute an die Vorstandsdamen des Augusten-Entbindungsheimes schreiben.«
Und wirklich, Hedwig grämte sich durchaus nicht darüber, daß sie nicht zu ihren Eltern konnte, und sie setzte sich gleich denselben Abend noch hin und schrieb, bei der Küchenlampe, die Ellbogen auf dem Tisch, mit schwerer Hand einen Brief an den Schlächtergesellen Gustav Schmelow.
›Liber Gustaf‹, schrieb sie, ›setze Dich davon in Kenntniß, das ich Mutter werde, was Du nich wirst abstreiten können, indem der Junge von Dir is. Ich ferlange ja nun nich, das Du mich heiratst, da ein Schlächter nur Freier auf reiche Mädchen sein derf, aber ich möchte, das Du mir nich in meinem Unjlük verlahst, indem sonst das Jericht schon Feuer hinter machen wird.
Wenn Du mir auch ins Elent jebracht hast, – libe ich Dich immer noch in ale Ewigkeit Amen. Antworte gleich, denn meine Herrschaft setzt mir auf die Strahse! Deine Hedwig Lemchen bei Markowski – ‹
Und Gustav Schmelow ließ sich nicht lange bitten und antwortete allsogleich in einer freundlichen Epistel, indem er freimütig manches, soweit seine Orthographie reichte, voll, gut und ganz ausschrieb, das selbst ein Goethe in seinen gesammelten Werken nur zaghaft durch Gedankenstriche anzudeuten wagt. Und deshalb müssen wir auch leider hier verzichten, diesen Brief wortwörtlich mitzuteilen, sondern wir können uns nur auf eine nüchterne Umschreibung seines Inhaltes beschränken. Gustav Schmelow erklärte der runden Hedwig, daß er, sagen wir, ihr etwas husten würde, etwa für anderer Leute Kinder den Vater zu spielen. Sie solle nur ruhig den Schaumritter, den o-beinigen Postrat, den Zigarrenfritzen von der Ecke oder irgendeinen anderen ihrer Freunde sich heranholen, vielleicht wären die dümmer als er, und sie könnten dann zusammen das Kind ja als Aktiengesellschaft gründen. Für ihn jedoch müsse sie früher aufstehen. Wenn sie ihn aber trotzdem noch bei seinem Meister aufsuchen wollte, so würde er ihr alle Knochen im Leibe kaputt schlagen. Doch, sofern es ihr sonst Freude machte, könnte sie ihn ja ruhig auf Alimente verklagen, das könne er ihr nicht verbieten. Er würde schon seine Zeugen an der Hand haben; und selbst, wenn er verurteilt werden sollte, so wäre ihm das auch sehr gleichgültig; denn sie würde nie und nimmer auch nur einen Pfennig von ihm zu sehen bekommen; er käme jetzt in drei Wochen zu den Matrosen, und er würde auch dabei bleiben, und da er beim Militär nichts verdiente, so könnte sie ihm ja nachpfeifen, und außerdem möchte sie – – Aber Verzeihung ... pardon – hier also schließt für uns der Brief Gustav Schmelows.
Und ganz im Gegensatz zu Frau Markowski war Hedwig keineswegs für ideale Forderungen, war durchaus nicht für Forderungen, die nicht verwirklicht werden konnten, mit solchen Dingen gab sie sich gar nicht erst ab, sie war für das Positive, Greifbare und Erreichbare.
An dem Ton von Gustav Schmelows Epistel hatte sie durchaus nichts auszusetzen, das war sein gutes Recht; und, daß Gustav Schmelow geschrieben hatte, er würde ihr die Knochen kaputt schlagen, das hätte sie nie und nimmermehr gehindert, ihn zu einer persönlichen Rücksprache aufzusuchen; auch daß er ihr ferner mitteilte, daß er schon seine Zeugen hätte, ja sie sogar namhaft machte, – das war ihr völlig gleichgültig. Dann stände eben Eid gegen Eid, und sie würde schon recht bekommen. Aber, aber, daß er behauptete, er käme zum Militär, wäre zu den Matrosen angemustert worden, das war schwer zu bedenken. Vom Militär war nichts herauszubekommen, mit dem Kommiß war die Sache Essig. Hatte nicht ihre Freundin, die schwarze Marie, ein Kind von einem Unteroffizier? Nun ja, – verurteilt war er ja worden, aber ans Zahlen hat er bis zum heutigen Tag noch nicht gedacht. Und ihre Cousine Lina, die hatte weder für das Kind von dem Gefreiten noch für den Jungen von dem Sergeanten auch nur einen Groschen gesehen. Nein, mit dem Militär war nichts anzufangen. Mit dem Militär sollte man sich bei solchen Sachen erst lieber gar nicht einlassen.
Immerhin jedoch konnte ja Gustav Schmelow sie nur schlicht angelogen haben, um sie sich auf diese Weise vom Halse zu halten; und Hedwig steckte sich hinter die Köchin Auguste von drüben, die sich erst bei einem Kollegen von Gustav Schmelow und dann sogar bei der Polizei erkundigen mußte. Und als ihr beide die Angaben nun bestätigten, da gab die runde Hedwig es auf; denn Hedwig Lemchen war eine von den wenigen Frauen, die Vernunftgründen zugänglich sind. Und sie setzte sich nun noch einmal bei der Küchenlampe hin und schrieb dem Ungetreuen ein paar freundliche Zeilen, die die Antwort Gustav Schmelows insofern noch weit hinter sich ließen, als sie nicht einmal dem Inhalt nach wiederzugeben sind. Damit hatte Hedwig Lemchen ihre Genugtuung und war zufrieden.
Aber das eine hatte sie doch aus diesem Briefwechsel gelernt, daß es durchaus falsch war, bei solchen Sachen etwas anzufangen, ehe schreiende Tatsachen ihre Forderungen unterstützten. Natürlich nur durch diese dusliche Frau Markowski war sie auf solche Dummheiten gebracht worden! Nee, sie hatte ja Zeit.
Am nächsten Tag jedoch sagte Frau Markowski der runden Hedwig, daß man ihr einen Platz im Augusten-Entbindungsheim freihielte, und sie möchte demnächst einmal hingehen und sich melden. Herr Markowski hatte aber insgeheim auch eine Rücksprache mit Hedwig, und am Ende dieser Rücksprache klopfte er ihr aufatmend die Backen und drückte Hedwig ein Goldstück in die Hand. Denn der Herr Markowski war ein nobler Herr. Am gleichen Abend jedoch verließ Hedwig mit einem Handtäschchen das Haus, – ihre Sachen ließ sie von der Paketfahrt holen, – und nur von Pieseckes nahm sie Abschied.
»Adieu, Frau Piesecke«, sagte sie ganz kurz, »ick lern jetzt plätten! Denn erstens verdient man da besser und braucht sich nich immer so abzuschinden, und mehr freie Zeit hat man ooch.«
Damit ging Hedwig, – ehe Frau Piesecke ihrem Erstaunen die rechten Worte verleihen konnte, – denn sie mußte noch vor zehn in der Schwerinstraße, in ihrer neuen Schlafstelle sein.
Und als Emil Kubinke des Abends zu seiner rotblonden Pauline kam, da sagte die ihm nach dem Begrüßungskuß, gegen den das Polderl nichts mehr einzuwenden hatte, mit fröhlichem Augenzwinkern: »Na, die Hedwig von drüben, die is ja heute Jottseidank gezogen, und die Emma, – weißt du, die hier hinten bei der Sängerin war, – bei der soll ja auch was Kleines unterwegens sein.«
Und damit ging die rotblonde Pauline lachend in ihre Kammer und ließ Emil Kubinke stehen.
Man kann nun nicht behaupten, daß diese Nachricht Emil Kubinke gerade erfreute; und wenn ehedem, als er dahinter kam, daß mit der runden Hedwig nicht alles so war, wie es sein sollte, es ihm zumute wurde, als ob ihm der Zahnarzt beim Plombieren versehentlich auf einen Nerv traf, so ward ihm jetzt schon mehr als ob ihm ein Dorfbader – krrr krach – einen Backzahn riß und die Wurzel abbrach. Er mußte ordentlich nach Luft schnappen, wie ein Karpfen, den man aus dem Wasser nimmt.
Aber da kam schon Pauline aus ihrer Kammer wieder und brachte einen Brief, den sie heute noch wegschicken wollte und den sie Emil Kubinke vorlas. Er sollte auch ein paar Worte anschreiben, denn es war ein Brief von Seite dreiundsiebzig: ›Bitte einer heimlich Verlobten an ihre Eltern um Einwilligung‹. Nach diesem Briefe aber mußte man die Meinung bekommen, daß diese rotblonde Pauline ein ebenso überschwengliches wie verworfenes Geschöpf sei, das ganz und gar von einer sündhaften Liebe zu eben jenem Manne beherrscht wurde, ohne den ihr Leben nur noch jammervolles Dahinsiechen darstellen würde. Und die Eltern, die in so unendlicher Liebe von Kindesbeinen an ihr hunderttausendmal verziehen hätten, sollten nunmehr das Maß ihrer Güte zum Überfließen bringen und ihr durch ihre Erlaubnis höchste Seligkeit gewähren. Daß sie es einst nach ihren schwachen Kräften wieder gut machen würde, wenn jene, die geliebten Eltern, alt und krank, gebeugt von Not und von Jahren wären, das stand außerhalb alles Zweifelns.
Aber was konnte denn Pauline dafür, daß der Brief nicht ganz paßte, daß zum Beispiel Emil Kubinke durchaus keine treuen, blauen Augen hatte, daß auch nach menschlicher Voraussicht ihre Eltern niemals Not leiden würden, oder daß das Mutterherz von der ersten Stunde an keineswegs um sie von Schmerzen zerrissen worden war, da ja die Stiefmutter bei Paulines Geburt kaum acht Jahre zählte – daran war doch nicht sie schuld, sondern einzig der ›allgemeine Liebesbriefsteller‹.
Und nachdem Emil Kubinke seine devotesten Grüße dem Schreiben beigefügt hatte, gingen sie beide hinunter, hörten freudig, wie die Klappe des Briefkastens fiel, und beeilten sich, Arm in Arm da hinaus zu streben, allwo noch keine Bogenlampen auch die harmloseste Zärtlichkeit zur allgemeinen Kenntnis bringen und fast zu einem öffentlichen Ärgernis machen.
Und in zehn Minuten hatte Emil Kubinke am Arm Paulines alle Hedwige und Emmas, und was ihm etwa von ihnen drohen könnte, vergessen und ganz und gar aus dem Gedächtnis verloren über der drallen, lachenden, rotblonden Wirklichkeit.
Als aber Emil Kubinke am nächsten Tag zu Markowskis kam, da war wahrhaftig die runde Hedwig nicht mehr da, und der alte Manne knurrte verlassen und mißmutig ganz allein in der Küche herum, und im Eßzimmer stand Frau Lehmann auf der Leiter und putzte Scheiben, Frau Lehmann, die Aushilfe. Aber das eine hatte sie Frau Markowski jleich gesagt, sie könne höchstens bis in die zweite Woche November auf sie rechnen, det wäre ihre Ansicht, und sie hätte von sechs Kinder her Erfahrung und die Hebamme hätte das ooch jemeint, aber länger wie fünf Tage machte sie nie Pause, denn det Jeld müsse sie mitnehmen – und endlich könnte Frau Markowski sich die paar Tage auch so behelfen.
Frau Markowski fand das nun zwar sehr unrecht: aber die Lehmann war wirklich so vorzüglich, war eine Wohltat ... und dann tat man an der armen Frau nur ein Gutes ... und dann waren eheliche Wöchnerinnen überhaupt nicht ihr Gebiet ... und dann bringt das bei solcher Arbeiterfrau eben das Leben so mit sich! ... Also bei Frau Markowski war die brave Frau Lehmann mit ihren Kürassierknochen statt der runden Hedwig angetreten; – sie hatte, wie man sagt, den Teufel durch Beelzebub vertrieben ... die Frau Markowski.
Bald darauf jedoch kam ein freundliches Handschreiben von Paulines Vater aus Bärwalde in der Neumark, daß er über den schönen Brief sehr gerührt gewesen wäre, und er hätte ja durchaus nichts dagegen und er würde sich freuen, wenn seine Berta – denn Pauline hieß ja eigentlich Berta – ja, wenn sie ihren Emil mit den treuen blauen Augen ihm und seiner Frau einmal vorstellen würde, vielleicht zu Weihnachten oder, sofern sie dann ihre Herrschaft nicht fortließe, zu Neujahr. Die Schweine hätten sie dieses Mal auch sehr gut verkauft und die Ausstattung würde er geben, dazu brauchten sie nichts von ihrem Mutterteil zu nehmen. Und wenn es recht war, würde er ihrer Herrschaft auch zu Weihnachten eine Gans schicken.
Und Emil Kubinke und Pauline berieten nun jeden Abend, ob es nicht vielleicht doch richtiger wäre, sie blieben hier in Berlin und machten hier ein Geschäft auf; hier wäre zwar das Wagnis größer, aber sie könnten es hier weiter bringen, und hier könnte Pauline auch besser und schneller frisieren lernen, und damit und mit der Haararbeit würde ja das meiste Geld verdient, – von der Schaberei könne heute kein Mensch mehr reich werden! Und was er alles führen wollte – sogar mit Spazierstöcken würde er es einmal versuchen.
Über alledem aber vergaß Emil Kubinke ganz und gar die runde Hedwig und die lange Emma und was ihm etwa von dort drohen konnte, und er war so munter und fühlte sich so wohl in seiner Haut, wie noch nie in den zwei Dezennien seines bewußten Daseins. Und die Melodien kamen und gingen, und den ganzen Tag summte und sang das in ihm, – ja so viel Zeit würde er schon haben, wenn er erst selbständig wäre, daß er wieder Geige spielen könnte.
Auch daß es im Geschäft viel zu tun gab, das war ihm gerade recht; und wenn er so des Nachmittags hinaus in das blaue Dämmern sah, wie von den Ulmen die gelben Blätter stäubten und draußen die Menschen entlang glitten ... hin und wieder ›kling‹ die Türe ging und ein Herr seinen Hut an den Haken hing, Herr Tesch aber flötete »der Nächste, bitte« ... oder eine Dame hereinschwebte in einer Wolke von Jockeyklub und von Herrn Ziedorn selbst bedient zu werden wünschte ... dann malte sich Emil Kubinke aus, wie das bei ihm sein würde, wenn er Chef wäre und seinen Diener machte. Und des Morgens auf seiner Hetzjagd nahm sich Emil Kubinke doch so viel Zeit, ganz genau alle leeren Läden zu mustern und sie auf ihre Lage, ihre Sichtbarkeit, die Frequenz der Straße hin zu beaugenscheinigen. Wenn er aber frei hatte, dann machte er weite Entdeckungsfahrten nach neuen Stadtvierteln, sah nach den blanken Messingbecken, überlegte, ob vielleicht die Ecke günstig wäre oder jene da drüben; und er blieb vor allen Möbelgeschäften stehen, und in eine Kücheneinrichtung für hundertundzehn Mark, – weiß mit blau abgesetzten Doppelkaros in den Ecken, – in die war er ganz verliebt. So etwas hatten selbst Löwenbergs nicht! Und er schleppte Pauline einmal des Abends dorthin, die mußte sie auch bewundern.
Und so ganz still zog das Jahr weiter, eine Woche tröpfelte in die andere hinein, und ehe man es sich, versah, war es wieder Sonntag; und jeden Tag wurde so ein paar Minütlein früher Licht angezündet; und wenn einmal der Abend hell und leuchtend war, und es schien, als wollte der Sommer wiederkehren, so war der nächste dafür nur doppelt grau und trübe, und man mußte noch weit früher als vorgestern die Grätzinkugeln im Laden anzünden ... gleich am Nachmittag, wenn die Herren wieder ins Geschäft in die Stadt fuhren.
Eines schönen Montags aber, als Herr Tesch von seinem Ausgang nach Hause kam – Emil Kubinke war noch drüben bei Pauline, – da schrie Herr Tesch und hielt sich die Seiten vor Lachen, als er oben wieder in die Dachkammer zu seinen Heilemanns und Rezniceks trat.
»Mensch«, rief er, »det muß ick Ihnen erzählen! Neumann, det müssen Se heren! Passen Se uff, – die Sache jibt een Hauptverjnügen mit Kubinke! Nee – wissen Se, dadrüber könnt ick mir 'ne halbe Stunde amüsieren! Also heren Se, vorhin jeh ick übern Nollendorffplatz. Wer kommt an?! Die dicke Hedwig, die hier oben bei Markowskis war! So – gerade wie n Nilpferd.
›Tag, Herr Tesch‹, ruft se schon von weiten, ›wie jeht's Ihnen?! Ick lern jetzt plätten!‹
›So‹, sag ick, ›plätten lernen Se?!‹ und stell mir so recht dumm dabei an.
›Ja‹, meint se, ›da hat man mehr freie Zeit.‹
›Ach det is nett‹, sag ick, ›da könn'n wir uns ja ooch mal treffen.‹
›Na, vors erste nich‹, meint sie wieder.
›So‹, sag ick, ›warum denn, Fräulein Hedwig?! Jetzt hätt' ick jerade jut Zeit!‹
›Nee, nächsten Montag jeh ick ins Aujustenheim. Aber warten Se man ab, Ihrem Freund Kubinke, dem werden wir das Kind schon andrehen, der muß abladen,– und vor die Sache jetzt muß er ooch blechen.‹
›Ick denke, das zahlen allens Markowskis?‹ sage ich.
›Na ja‹, meint se, ›aber det Jeld is doch jefunden! Warum soll man denn det nich mitnehmen?!‹
›Da haben Sie wieder recht!‹ sag ick. ›Wenn Sie et man kriejen.‹
›Aber reden Se mit Ihren Kollegen noch nich.‹
›I, wo wer ick denn!‹
›Ick wer' ihm dann schon een Brief schreiben, – den soll er sich nich hintern Spiegel stechen!‹«
Herr Neumann lachte, daß das Bett wackelte.
»Au Mächen, haben Se dir gebufft.«
»Det gibt een Hauptknatsch mit Kubinke!« rief Tesch, »aber verstehen Se, Neumann, – det Sie nich een Wort vorher an Kubinke sagen! Mensch ... ick schlag Sie tot, wenn Sie't Maul uffmachen!«
Und nun muß man nicht denken, daß die runde Hedwig gegen Kubinke etwa voreingenommen war, oder daß sie ihn haßte, im Gegenteil, sie konnte ihn eigentlich sogar ganz gut leiden; aber als sie in den letzten Tagen so ihre ehemaligen Freunde Revue passieren ließ, – sie konnte nicht so recht mehr schlafen, – da schien ihr von allen, soweit sie sich ihrer erinnern konnte, und soweit sie etwa nach ihrem Wohnort noch feststellbar gewesen waren, dieser Emil Kubinke der, der das meiste Vertrauen erweckte. Von dem Schlächter bekam sie nichts heraus, von dem Hilfsbriefträger Herrn Schnitze war auch kaum etwas zu erwarten; denn erstens hatte der selbst nicht genug für seine Frau und seine Kinder und dann: wer konnte das wissen, nachher nimmt solch Mensch das auf seinen Diensteid ... gerissen genug dazu war er ... und sie konnte mit langem Gesicht abziehen! Blieb als nur Emil Kubinke. Und der Friseur hatte Geld; den hatten doch sogar seine Eltern in die hohe Schule geschickt, ... der Friseur mußte Geld haben, ne Menge, ... das war sicher ein ganz reiches Aas, ... der markierte nur immer den Armen, und so raffiniert wie die anderen beiden war er nicht. Nee, mit dem würde sie schon fertig werden, ... so klug wie der Kubinke, – so schlau war sie schon lange.
Und nach fünf Minuten war Hedwig schon ganz fest überzeugt, daß dieser Emil Kubinke der Vater ihres Jungen wäre; und wenn man sie jetzt gefoltert hätte, sie hätte nichts anderes mehr sagen können, und von Stunde zu Stunde redete sie sich da mehr hinein, vergrub sich ordentlich in diese Vorstellung. Und als sie dann am nächsten Morgen aufstand, da hatte der Junge, der doch gestern Abend noch ganz verwaist gewesen war, mit einem Male einen Vater bekommen. Und was für einen! Sogar einen, der eine hohe Schule besucht hat. Und Jeld hatte das Aas auch.
So langsam aber rückte die Zeit heran, da auch die allerletzten Störche ihren Winterurlaub antreten, und man braucht gar kein besonders fester Zoologe zu sein, um zu wissen, daß die Störche unerhört gewissenhafte Tiere sind, die nie ihre große Ägyptenfahrt antreten, ehe sie nicht alles erledigt haben, was es etwa hier im Norden noch für sie zu tun gibt. Schon der Bischof Albertus Magnus berichtet davon wahre Wunderdinge, und Vater Brehm schreibt sogar acht volle Seiten darüber in seinen schönen, breitgefügten Satzgebilden. Und ganz oben in der Liste der Störche stand ›Hedwig Lemchen, Plätterin, zurzeit Augusten-Entbindungsheim‹; und dann ›Emma Zieskow, Choristin, zurzeit Schmachtenhagen bei Oranienburg‹; sogar zweimal war es unterstrichen und außerdem war noch ›sehr wichtig‹ mit drei Ausrufungszeichen am Rand vermerkt. Und da machten sich die Störche heran und holten zwei besonders stramme Jungen – wirklich für Siebenmonatskinder sogar wunderbar üppige Knäblein, – rosig und rund wie Ferkelchen, aus dem Sumpf, und den einen brachten sie pünktlich ins Augustenheim und den anderen am Mittwoch danach zu Zieskows nach Schmachtenhagen bei Oranienburg. Und dann hoben sie die Flügel, sahen sich noch einmal um, streckten die Hälse – und fort ging es, schneller als Zeppelin, aus dem rauhen Herbstland nach den warmen, dampfenden Sümpfen Ägyptens.
Und als die letzten gewissenhaften Störche nach Süden abgeschwenkt waren, da schneite auch hinter ihnen das Laub von den Bäumen herab in dichten braunen Schauern, und es kamen die ersten Frostnächte, die am Morgen ein wenig Reif auf Eisengitter malten und auf dem Boden mit weißen Linien die Ränder der Ahornblätter nachzogen. Und die Krähen, die im Sommer wer weiß wo gewesen waren, sammelten sich wieder über den aufgebrochenen Äckern; und die, so dort nichts Rechtes mehr fanden, zogen mit schweren Schwingen in die Stadt hinein und hielten Umschau; und sie waren jetzt die Könige oben auf Emil Kubinkes Dach geworden. Sie riefen sich allerlei hämische Bemerkungen von Telefonstange zu Telefonstange zu und hüpften krächzend zur Dachröhre, um zu trinken, während die schwarzen Drosseln ganz scheu und verkümmert durch das welke Kraut zu ihren Winkeln am Schornstein zurücksprangen.
Die vier langen Baumreihen gaben nun auch die Blätter hin, die sie sich ein zweites Mal mühselig angeschafft hatten; aber die wurden gar nicht erst welk, sie wurden über Nacht einfach müde und fielen auf den Asphalt; die Kehrmaschinen fegten sie zusammen, – und als am nächsten Morgen die Straße erwachte, da waren sie fort – ganz fort, und die Bäume lagen mit einemmal glatt und sauber bis in das letzte Zweiglein. Und nun breiteten sie des Abends keine schweren Schatten mehr vor den Haustüren aus, gepriesen von den Dienstmädchen mit den weißen Schürzen und ihren Freunden, des Abends, wenn oben die lange Perlenkette wie mit einem Schlag aufflammte, ... sondern die feinen Schattenmuster von Ästen und Zweigen zeichneten sich wieder auf dem Bürgersteig und an den Wänden ab. Und die ganzen Tage ging so ein dünner Fadenregen hernieder, aus grauen Wolken, die sich über die Dächer schleppten; und alle Herren, die in die Barbierstube, in das ›Institut des Herrn Ziedorn‹ traten, tropften von Schirmen und Hüten, rochen ordentlich nach Regen, und jedesmal wenn die Tür aufging, kam ein ganzer Schwall von Feuchtigkeit und Schaudern mit hinein.
Aber Emil Kubinke war munter und guter Dinge, denn das Möbelgeschäft hatte die weiße Küche im Schaufenster – die mit den blauen Doppelkaros in den Ecken, – von hundertzehn auf hundertfünf Mark heruntergesetzt, und bis Emil Kubinke sie kaufte, würde sie sicher schon auf fünfundneunzig Mark ermäßigt sein. Und Emil Kubinke sah alle paar Tage nach, ob sie ihm nicht etwa jemand vor der Nase weggekauft hätte. Aber immer wieder, wenn er hinkam, stand sie noch, gleich blank und blitzend, hinter der Spiegelscheibe.
Und einen Laden hatte Emil Kubinke auch schon in Aussicht genommen, nicht fünf Minuten von Ziedorns Etablissement. Und wenn er auch nicht an der Ecke lag, der Laden, so lag er doch beinahe an der Ecke, und einige seiner jetzigen Kunden würden dann doch sicher zu ihm übergehen, weil es für sie näher wäre. Nun ja, ein bißchen teuer war ja der Laden, und ein bißchen feucht war er auch noch – denn das Haus war eben fertig geworden, auf dem Flur lagen noch die Hobelspäne und auf dem Hof noch die Schutthaufen; – aber es war ein hochherrschaftliches Haus, und die Küche, die zu dem Lädchen gehörte, war nicht größer als eine altmodische Speisekammer, und das Zimmer, das hinter dem Laden war, hätte man kristallographisch als ein unregelmäßiges Sechzehneck bezeichnen können. Aber Zentralheizung war da und Warmwasserversorgung auch – denn ohne das, hatte seine Pauline erklärt, würde sie nie heiraten, ... daran wäre sie jetzt zu sehr gewöhnt. Doch außerdem waren sogar noch ganz blanke und geheimnisvolle Bierhähne in den Ecken – das war der Vakuumreiniger; – und den gab es selbst bei Löwenbergs nicht.
Nun ja – ein bißchen teuer war der Laden, das gab zu bedenken – aber der Vizewirt hatte gesagt, Emil Kubinke könnte, wenn er im Februar einzöge, bis April mietsfrei wohnen, und dann würde man ihm noch hundert Mark im ersten Vierteljahr ablassen. Aber der Mietsvertrag könne nicht niedriger ausgestellt werden, weil das Haus verkauft werden müsse. Emil Kubinke jedoch möchte sich schnell entscheiden, denn es wären schon eine Menge Reflektanten auf den Laden.
Und des Abends gingen oft Emil Kubinke und Pauline nach ihrem Laden und standen nun zehn Minuten vor dem Haus, – das ganz tot, dunkel und unheimlich im grauen Regen lag, – wohl zehn Minuten, ehe sie weitergingen; und sie stritten draußen vor der Tür, wo sie drinnen das Nußbaumvertiko hinstellen sollten, – denn ein Nußbaumvertiko mußten sie haben.
Und einmal zeigte auch Pauline Emil Kubinke eine Schreibgarnitur, die im Schaufenster von Herrn Occasion, Gelegenheitskäufe für modernes Kunstgewerbe, stand ... eine Schreibtischgarnitur aus echtem Onyx, mit echter Bronze, die köstlich war, und die, wie der blaue Zettel besagte, nur noch diese Woche elf Mark fünfunddreißig kostete – zeigte sie ihm so ganz nebenher, ob sie ihm gefiele; denn die wollte Pauline Emil Kubinke zu Weihnachten schenken.
Aber gerade zur gleichen Zeit, genau im gleichen Augenblick trat in die Portierloge von Pieseckes eine Dame, lang und schlank und noch ein wenig füllig, duftend nach Maiglöckchen, rosig, mit schwarzen Augenbrauen, wie die Wachsköpfe in Ziedorns Schaufenster, und blond dabei wie ein Kanarienvogel. Und die Dame hatte ein violettes Tuchkleid an, und ein Jackett bis zu den Knien, mit gelben Knöpfen wie Sonnenblumen. Spitze Wiener Schuhe aus braunem Lack hatte sie, und auf dem Kopf trug sie eine Straußenfarm. Und was etwa von der Straußenfarm noch übrig geblieben war, das hatte man zu einer Boa verarbeitet, die lang und grau, rechts und links bis zu den Fußspitzen herunterflatterte. Und in der Hand führte die Dame einen violetten Schirm mit einem Vogelkopf und schwenkte ein Täschchen aus Krokodilleder. Frau Piesecke bekam einen ordentlichen Schreck und wischte sich verlegen den Handrücken an der Schürze ab. »Sie wünschen?« sagte sie, denn sie dachte, es wäre jemand, der jetzt noch nach der Sechszimmerwohnung im dritten Stock käme.
»Aber Frau Piesecke«, sagte Emma, »kennen Sie mich denn jarnich mehr?«
»Ach, Sie sind es, Frollein!« rief Frau Piesecke und nibbelte mit dem Handtuch über einen Küchenstuhl, »setzen Sie sich doch. Ich habe Ihnen bei's Licht erst jar nich erkannt! Jott, sind Sie vornehm jeworden! Aber des is ja nett, daß Se ooch ma' an uns denken!«
»Ich bin bei's Theater«, sagte Emma und stocherte mit der Schirmspitze in eine Dielenfuge.
»Ja, mein Bräutjam will mir sojar jetzt für die ›hohe‹ Bühne ausbilden lassen.«
Und dann begann Emma zu plaudern, wie es denn hier im Hause ginge, was er – Piesecke – mache, und wo er denn heute wäre, und ob Frau Piesecke denn noch wüßte, wie sie ihr immer Kartoffelpuffer gebacken hätte, und wie sie ihr die Karten gelegt hätte. Und was denn ihre alte Herrin triebe – ob die noch immer ›so‹ wäre, und sie war sehr erstaunt, als sie hörte, daß die vom dritten Stock Knall und Fall gekündigt hätten.
»Na – und haben Se denn den Schlächter mal wieder jesehen? Wissen Se, den hibschen blonden, der immer des Abends fragen kam?«
»Der is beim Milletär!«
»Ach beim Milletär? – Sehn se an.«
»Ja, sogar bei de Marine in Kiel. – Und der neue, der andere, der schlanke hat jesagt, wenn's ihm jefällt, bleibt er janz bei.«
»So so – bei de Marine! – Und was macht denn der kleene Briefträjer?«
»Ach Jott, die haben doch nu wieder een Kind jekricht.«
»Verheirat is er ooch? Det wüßt ick doch jarnich.«
»Und der Kaufmann Müller hier in' Haus, bei den hat er dreiundzwanzig Mark Schulden, und wenn er nächsten Ersten nich zahlt, hat mir Müller jesagt, denn wart er nich länger, denn jeht er direkt an de Behörde.«
»Na, und is denn meine Freundin, die dicke Hedwig, is die noch drieben bei Markowskis?«
»Die? Die? – Nee – die hat doch 'n Jungen bekommen!«
»Herrjott, det is aber wirklich des Neuste, wat ick höre«, rief Emma. »Also een' Jungen?!«
»Ja, und nu wird se sich wohl mit den schwarzen Friseurjehilfen, mit den Kubinke, hier rumklagen, – der soll des ja, wie sie sagt, jewesen sin. Und wissen Se, den schadt' des ooch jarnischt, der hat Jeld!«
»Ja, ja«, meinte Emma, »Geld hat er.«
»Aber so is nu so'n Mann, nich wahr? Wie er die Hedwig jlücklich so weit hat, da verlobt er sich mit die Pauline, wissen Se, die hier oben bei Löwenbergs ist. – Und des will nu een jebildeter Mensch sein! Ick sage immer: die sind noch viel schlimmer wie de andern!«
»Also mit der roten. Pauline is er verlobt?«
»Na ja – un meinen Se, det is dumm von ihm? – Die hat Pinke, 'ne janze Menge. Der macht hier 'n Laden uff, solln Se ma' sehn, Emma!«
»Herrgott«, sagte Emma und streifte den Ärmel ihres Jacketts zurück und blickte auf ihr Armband, – »Herrgott, meine Uhr is schon jleich zehn, und um zehn muß ick mich schon mit meinem Br'äutjam treffen.«
»Na bleiben Se doch, Emma«, meinte Frau Piesecke und rückte ihr Zahntuch, »bleiben Se doch wenigstens, bis mein Oller kommt.«
»Nee, nee, Frau Piesecke, es jeht nich. Aber een andermal, da schreib ick vorher, und denn machen Se mir Kartoffelpuffer; wissen Se, Kartoffelpuffer muß ich mal wieder essen, die hab ick seit über 'n halben Jahr nich mehr jekricht, und vor Kartoffelpuffer häng ick mir uff!«
Das war nun nicht ganz richtig und entsprach nicht völlig der Wahrheit, daß die blonde Emma so lange keine Kartoffelpuffer gegessen hatte, denn es war kaum zehn Tage her, da hatte ihr ihre Mutter in Schmachtenhagen bei Oranienburg Kartoffelpuffer gebacken – der Junge war da noch keine acht Stunden alt gewesen. Und ihre Mutter gab, was Kartoffelpuffer anbetraf, Frau Piesecke durchaus nichts nach. Aber die blonde Emma wollte doch der lieben Frau Piesecke etwas Angenehmes sagen.
Und sie trat auf die Straße mit ihrer Straußenfarm und blieb einen Augenblick mit Frau Piesecke an der Tür stehen, weil es so leise herunterfisselte.
Als aber drüben auf der anderen Seite eine Kraftdroschke vorbeiratterte, rief Emma: »Auto! Auto!« sehr hell, laut und selbständig. Und der Kutscher lenkte in weitem Bogen um und fuhr schnarrend neben dem Bürgersteig an. Und dann sagte Emma: »Adieu, Frau Piesecke«, und trat an den weißlackierten Wagen. – Aber Frau Piesecke schüttelte nur den Kopf. Was aus so 'n einfachen Mächen alles werden kann!
»Schaffehr«, sagte Emma, »fahren Se mich nach Jäjerstraße – Jäjerstraße – Nummer? –«
»Ick weeß schon!« sagte der Chauffeur, sonst nichts.
»Sieh mal – schnell – is das nich die Emma?« rief die rotblonde Pauline Emil Kubinke zu, »die Emma, die da ins Auto steigt? Weißt du, die früher hier im Hinterhaus bei der Nansen-Gersdorff war? Die hat sich aber rausjemacht!«
»Ja wirklich«, sagte Emil Kubinke, und dann atmete er auf. »Da hast du es mal wieder, was die Leute alles reden. – Also es ist nicht wahr!«
»Was kann ich denn dafür?« verteidigte sich Pauline. »Ich hab's nur so jehört. – Aber weißt du, jeglaubt hab ich's ja auch nicht, denn sie war doch immer 'n ganz anständiges Mädchen.«
Damit gingen Pauline und Emil Kubinke in das Haus, weil es eigentlich wirklich kein Wetter zum Promenieren war, und weil Frau Piesecke mit ihrem Zahntuch schon mit den Schlüsseln an der kleinen Seitentür klapperte. Und bald war die Straße leer, und nur die Dame mit dem Merkurstab saß noch allein über der Tür, grau und mürrisch, und sie sah heute kaum zu ihrem Nachbar hinüber, – sie tat, als kenne sie den Jüngling mit dem Schurzfell und dem Amboß da drüben gar nicht. Denn immer schlechtes Wetter und immer schlechtes Wetter, das kann auf die Dauer selbst Romeo und Julien verstimmen ...
In der gleichen Nacht aber schrieb Emma Zieskow in der Grand Bar eine Karte an ihre lieben Eltern in Schmachtenhagen bei Oranienburg, sie wollte nun doch nicht länger damit hinterm Berg halten, daß der Friseurgehilfe Emil Kubinke der Vater von dem Kind sei, und sie möchten das nur ruhig dem Vormundschaftsgericht angeben.
Und trotzdem die lange Emma ziemlich betrunken war, als sie die Bar verließ – denn sie war das nicht mehr gewöhnt – so war sie doch gerade noch nüchtern genug, die Postkarte mühselig in den nächsten Kasten zu praktizieren, ehe ihr Begleiter sie in die Droschke stupste.
Und der November regnete und nieselte und graupelte sich so langsam in den Weihnachtsmond hinein, und wenn einmal ein klarer Morgen war, dann sagten die Nebel, das dürfe nicht sein, das wäre ihre Zeit, diese kurzen, schwindenden Tage gehörten ihnen, und ehe man es sich versah, machten sie wieder ihre Rechte geltend.
In einer grauen Frühe aber – man wußte nicht mehr recht, war es November oder schon Dezember – kam ein Herr mit einer Aktenmappe und einem Schlapphut, lang, schlank und sehr freundlich, in den Laden des Herrn Ziedorn. Und da Emil Kubinke beschäftigt war, so rief er:
»Bitte, wollen Sie vielleicht einen Augenblick Platz nehmen.«
»Nein«, sagte der Mann lächelnd, »rasiert bin ich schon. Aber – ist vielleicht hier –« und dabei blätterte er in seiner Mappe – »ein Friseurgehilfe Emil – Emil – – Ku ... binke?«
»Ja«, sagte Emil Kubinke sehr erstaunt, fragend und kleinlaut, und Herr Tesch pfiff plötzlich so ganz kurz und scharf – huit – durch die Zähne.
»Sind Sie es selbst?« meinte der hübsche Herr und lächelte herzgewinnend.
»Jawohl, das bin ich«, stotterte Emil Kubinke.
»Ich hätte hier eine Vorladung für Sie«, sagte der freundliche Herr und überreichte, während er mit der Rechten in seiner aufgeklappten Aktenmappe kritzelte, so liebenswürdig, als ob er ein Praliné anböte, dem zitternden Emil Kubinke ein gelbliches Papier. »Ich danke Ihnen«, sagte der freundliche Herr und lüftete seinen Schlapphut.
Emil Kubinke fühlte, wie ihn Herr Tesch und Herr Neumann anstarrten, und er schob das Papier in die Seitentasche.
»Was war denn da eben?« fragte Herr Ziedorn und zeigte seinen markanten Männerkopf in der Tür.
»Es hat jemand etwas für Herrn Kubinke gebracht«, antwortete Herr Neumann.
Herr Ziedorn schüttelte seinen markanten Männerkopf, ehe er verschwand.
Das war ja noch besser! Seine jungen Leute hatten kein Privatleben.
Aber als Herr Ziedorn verschwunden war, da begann Herr Tesch: »Na zeijen Se doch ma' her, Kolleje, wat haben Se'n da jekricht?«
»Nichts von Bedeutung«, sagte Emil Kubinke – aber das Papier brannte ihm ordentlich in seiner Tasche.
»Lachen Se nich, Neumann«, sagte Tesch nach einer Pause beredten Schweigens ganz tief und todernst, – »Mensch, wat jrienen Sie denn immer? Sowat is bitter!«
»Jaja«, meinte Neumann und schüttelte seinen großen Kopf, »det durfte nich kommen.«
»Sowat looft ins Jeld«, sagte Tesch sehr bedächtig.
»Een paar Blaue kann det jut kosten«, meinte Neumann zustimmend.
»Da kommt man zu, man weeß nicht wie«, begann wieder Tesch nach einer Weile.
»Det kann aber jeden passieren«, meinte Neumann und nickte. »Da is keener vor sicher.«
»Un nachher sitzt man da mit 'n dicken Kopp, sagte Tesch und spritzte einem Herrn Bayrum auf den gelichteten Scheitel.
Als aber Emil Kubinke einen Augenblick hinten im Verschlag allein war, da faltete er ganz vorsichtig und mißtrauisch das gelbliche Kuvert auseinander, ungefähr so wie ein Affe, dem man eine zerknitterte Tüte durch das Gitter zugesteckt hat, und der nun nicht weiß, ob da wirklich ein Stück Zucker eingewickelt ist, oder ob man etwa eine hinterlistige, surrende Wespe darin verborgen hat. Und sst! – da flog die Wespe auch schon heraus und stach ihn niederträchtig ...
›In Sachen betreffend – – Vormundschaft über den am 8. November 1908 geborenen Gustav Lemchen – – Sohn der unverehelichten Plätterin Hedwig Lemchen – hiermit für den 23. November zwölfeinhalb Uhr – – Königliche Amtsgericht, Zimmer – – geladen.!'
Emil Kubinke schwamm es vor den Augen. Und er las noch einmal – aber es blieb stehen: ›Gustav Lemchen, Sohn der unverehelichten Plätterin Hedwig Lemchen' – blieb stehen schwarz auf weiß, mit ganz langen Schnörkeln. Die Sache war natürlich ein Irrtum; er hatte in seinem Leben keine Plätterin gekannt. Was hatte er denn mit der Plätterin Hedwig Lemchen zu tun? Ein Versehen war es, das sich sicherlich sofort aufklären mußte. Und ganz vorsichtig schob Emil Kubinke das Papier wieder in die Seitentasche und ging vor. Und er gab sich alle Mühe, keinerlei Verwirrung zur Schau zu tragen.
Aber auch Herr Tesch und Herr Neumann arbeiteten wieder ruhig wie immer an ihren Plätzen hinter den Stühlen vor den breiten Spiegeln mit den vielen blanken Dosen und Gefäßen. Nur, daß Herr Tesch dem Kunden erklärte, daß das Wetter sehr wenig freundlich wäre, was der andere ja ohnehin schon bemerkt haben mußte; und daß Herr Neumann seinen Kunden belehrte, daß das doch ein dolles Ding mit dem Franzosen ›Wricht‹ wäre, und wenn das auch zehnmal in die Zeitung stände, deswejen jlaube er's noch lange nich. Er würde schwindlich wer'n, wenn er immer so in'n Kreis in de Luft rumfliejen müßte.
Kaum jedoch hatte Emil Kubinke das Messer in die Hand genommen, als Herr Neumann so ganz unvermittelt, über den Kopf seines Kunden fort fragte: »Sagen Se mal, Herr Tesch, was is'n eijendich aus der Hedwich geworden, die hier bei Markowskis war?«
»Wat jeht'n Sie det an?« versetzte Herr Tesch im Ton des tiefsten Erstaunens. »Die lernt plätten!«
Emil Kubinke griff nach dem Alaun, denn er hatte den Herrn geschnitten, gerade unten am Kinn, nicht tief, aber es blutete doch. Und das war ihm seit Jahren nicht mehr passiert.
Aber der Herr war standhaft. »Das tut nichts«, sagte er liebenswürdig und verzog schmerzlich das Gesicht. Innerlich jedoch brüllte er: ›Esel!‹
O dieser graue, regenfeuchte Tag, wie er langsam hinging! Und immer brannte Emil Kubinke die Vorladung in der Tasche. Er fühlte das Papier jeden Augenblick – es war ordentlich wie ein heißer viereckiger Stempel, den man ihm auf die Brust drückte. Und sowie er sich unbeobachtet glaubte, nahm er die Vorladung wieder heraus und tat einen Blick hinein. Aber jedesmal stand genau das gleiche da auf dem Papier, nicht ein Schnörkel weniger, nicht ein i-Tüpfelchen anders. Emil Kubinke sah den Schreiber vor sich, wie er das so seelenlos dahinkritzelte, wie er von seinem Butterbrot dabei abbiß und unbändig stolz auf seine langen F-Bogen war. Aber um ihn hatte er sich gar nicht gekümmert!
Und als er des Abends über den Hof schlich, der grau und lärmerfüllt lag und von den Lichtbalken aus den Küchenfenstern und von der Nernstlampe am ›Herrschaftsportal‹ vielfach überbrückt und durchquert wurde, ohne daß das feuchte Dämmern ganz gehoben wurde – als er da über den Hof ging – da standen Luther und Dante und der Apoll von Belvedere ganz traurig im Regen zwischen den Tannen und Thujabüschen, und nickten wehmütig mit den Köpfen, als hätte das Amtsgericht Charlottenburg auch sie mit einer Vorladung bedacht ... Aber heute lief Emil Kubinke nicht sofort pleine carrière zu seiner Pauline die Treppen hinauf, sondern erst ging er einmal oben nach seiner Bodenkammer, und da legte er dieses gelbe Kuvert, das so klein und so unbedeutend war, und das er doch bei jedem Schritt fühlte, ganz auf den Boden seines grauen Koffers und schichtete Hemden und Bücher darüber. So – da war es sicher! Da könnte es sich ja ausruhen – seinetwegen bis Pflaumenpfingsten – er würde einfach nicht hingehen – die könnten ihm ja nachpfeifen. Darüber war er jetzt mit sich im klaren.
Am achtzehnten April war seine Pauline als Ritterin auf den Maskenball im Hohenzollerngarten gegangen – am achtzehnten April hatte er sie frisiert – jawohl am achtzehnten April – sicher – am achtzehnten April, Sonnabend, den achtzehnten – das konnte er beschwören. Seine Braut mußte sich ja auch noch an das Datum erinnern. Und das ließe sich feststellen. Und am. achten November war dieser Gustav Lemchen geboren worden, der ihn durchaus für seine Existenz verantwortlich machen wollte. Na, das wäre ja noch schöner! Wenn er, Emil Kubinke, auch noch nicht in der Oberquarta sexuelle Aufklärung gehabt hatte – das war nach seiner Zeit – so wußte er doch ganz genau aus einem schönen Lied, daß vierzig Wochen dazu gehören, um alle Heimlichkeiten der Menschwerdung zu offenbaren. Und das könnten die am Gericht sich ja selbst ausrechnen. Er würde nichts sagen, wenn eine Woche an der ominösen Ziffer fehlen würde – seinethalben auch zwei, vier Wochen – aber zwei und ein halber Monat – das war doch ein wenig happig! Nein, da sollte dieser kleine Gustav Lemchen, dieser höchst unerwünschte Erdengast, nur ruhig an eine andere Tür klopfen – – jedenfalls: hingehen würde er nicht!
Und als Emil Kubinke das Papier glücklich unten im Koffer versenkt hatte, da war ihm wieder ganz wohl und behaglich zumute. Er hatte das Gefühl, als wäre diese Angelegenheit nun endgültig begraben und zu den Toten geworfen. Er empfand plötzlich so eine angenehme und vergnügliche innere Wärme, und er begann sogar zu singen, ganz laut mit seinem Bariton, während er die Treppen herunterstürmte: »Wer uns getraut? – Sag du's – sag du's – der Dompfaff, der hat uns getraut!« Diesmal war er noch gerade so mit einem blauen Auge davongekommen.
»Du, Pauline«, rief Emil Kubinke lachend, während er bei Löwenbergs in die Türe trat – und er wartete gar nicht den Begrüßungskuß ab – »du, Pauline, wann war der Maskenball im Hohenzollerngarten?«
»Im Hohenzollerngarten?–Das muß so am achtzehnten April gewesen sein.«
»Siehst du, am achtzehnten April.«
»Aber warum mußt du denn das wissen, Emil?«
Ja, warum denn nur schnell?!
»Ach«, stotterte Emil Kubinke verlegen, »ich habe es mir schon den ganzen Nachmittag überlegt.«
Aber Pauline sah nur mit ihren großen braunen, feuchtschimmernden Augen Emil Kubinke lächelnd und dankbar an, denn sie dachte, er hätte wieder einmal, wie sie das ja oft taten, Liebeschronologie getrieben. – ›Erinnerst du dich noch? – es war am zweiten Sonntag im Juli‹ – ›Nein, Kind, es war am ersten!‹
Und als Emil Kubinke am nächsten Morgen aufwachte, in der grauen Dachkammer, da hatte er die Vorladung zuerst einmal ganz vergessen. Und als sie ihm dann einfiel, sah er befriedigt auf seinen Koffer hinunter, der sie umschloß. Da lag sie ganz gut.
Nach wie vor aber unterhielten sich Herr Tesch und Herr Neumann Tag für Tag über Emil Kubinkes Kopf weg und besprachen freimütig sehr heikle Dinge.
»Die hat doch 'n Jungen gekriecht, die dicke Hedwig«, begann Herr Neumann.
»Was Sie sagen!« meinte Herr Tesch.
»Wer markiert nu da eijentlich den Vater?« fragte Herr Neumann.
»Des is noch nich raus«, sagte Herr Tesch.
»Soll 'n hübsches Kind sein«, sagte Herr Neumann, »ganz schwarz!«
»Jaja, hab ick jehört«, entgegnete Herr Tesch.
»Ob der ooch mal Frisör wird?« meinte Herr Neumann.
»Wat jeht Ihnen det an?« sagte Herr Tesch ernstlich verweisend. »Ick weiß nich, Neumann, wat Sie sich immer um unjelegte Eier zu kümmern haben. Warten Sie doch ab!«
Aber Emil Kubinke blieb ganz ruhig. Ihn traf das nicht. Er stand über den Dingen. Er wartete nur, wie die sich zum Schluß ärgern würden, weil man ihm nichts anhaben könne. Aber die zwei Monate, die er im besten Falle noch bei Ziedorn bliebe, wollte er hier keinen Streit anfangen. Nein, die beiden mochten reden, – was sie wollten – er ließ sich auf nichts ein. Wer war überhaupt dieser Herr Tesch? Oder gar dieser Neufundländer aus Stolp in Pommern!?
Als aber der Tag herankam, da Emil Kubinke vor dem Herrn Vormundschaftsrichter sich zu der ihm unterstellten Vaterschaft über Gustav Lemchen äußern sollte, da war ihm doch ein wenig unheimlich zumute, denn er glaubte jede Minute, daß jetzt die Tür aufginge und ihn die Häscher in Banden schlagen würden. Emil Kubinke kannte das, er hatte darüber sogar einen Aufsatz gemacht. – Aber als nichts von dem geschah, und kein Schutzmannshelm im Laden aufblinkte, und der Tag so ganz still und regnerisch – nur am Mittag war er für ein paar Stunden mattblau und trocken – vorüberzog, da war doch Emil Kubinke recht froh, und er sagte sich, daß die Sache vielleicht damit schon beendigt sei – oder daß man ihn schlimmstenfalls noch ein zweites Mal laden würde; und dann würde er eben hingehen und erklären, warum er die ihm zugedachte Ehre ablehne und sie um keinen Preis annehmen könne. Und mit jedem neuen Tag wurde Emil Kubinke vergnügter und stolzer – die Küche war inzwischen auch auf hundert Mark heruntergesetzt worden – und jetzt ging ihn die lästige Geschichte schon gar nichts mehr an. Und Emil Kubinke belustigte sich sogar nunmehr über die Zwiegespräche zwischen Herrn Tesch und Herrn Neumann, die immer wieder neue Abwandlungen fanden.
Doch ach! Emil Kubinke – er befand sich schwer im Irrtum: Die Mühlen der preußischen Justiz arbeiten zwar langsam, oft sogar sehr langsam, aber sofern es sich um einen einfachen Emil Kubinke handelt, durchaus sicher und zuverlässig. Und während Emil Kubinke noch ganz vergnügt der rotblonden Pauline Abend für Abend ›Wir tanzen Ringelreihen‹ mit Variationen vorpfiff, das er neben dem Vilja-Lied in sein Repertoir aufgenommen hatte ... den Autoschal hatte Pauline ihm auch gewaschen–während dessen waren schon die Akten Gustav Lemchen kontra Emil Kubinke zu einem ganzen Faszikel angeschwollen. Ja, das Gericht hatte dem Gustav Lemchen, dessen Forderungen von seinem Großvater als Vormund verfochten wurden, sogar einen richtigen Rechtsanwalt beigesellt; und da es eine Armensache war, so legte der auch durchaus kein besonderes Gewicht auf langsame Erledigung.
Ferner aber muß es doch zu Emil Kubinkes Ehre gesagt werden, daß der Rechtsanwalt Schlesinger III der Meinung war, daß für seinen Klienten die Sache sehr schlecht und oberfaul stände. Denn: erstens war die Glaubhaftigkeit der Mündelmutter dem Rechtsanwalt Schlesinger III überaus zweifelhaft erschienen, und außerdem sagte er sich kopfschüttelnd, daß doch gemeiniglich die Rechnungen von Mitte April noch nicht Anfang November einkassiert werden. Immerhin hatte Rechtsanwalt Schlesinger III, trotzdem er noch gar nicht lange seinen Beruf ausübte, bei der preußischen Justizpflege schon soviel Überraschungen erlebt, und die Sache war oft ganz anders gekommen, als man nach menschlichem Ermessen, ja selbst nach juristischem Denken, auch nur vermuten konnte, – so ganz und gar anders gekommen, daß ihm die volle Zweifelhaftigkeit der Lage vielleicht für seinen Klienten Gustav Lemchen, vertreten durch dessen Vormund August Schneider aus Prenzlau, eher ein Vorteil als ein Nachteil dünkte.
Im Geiste aber sah Rechtsanwalt Schlesinger III doch schon eine lange Reihe von Exzeptionisten, geführt von dem Friseurgehilfen Emil Kubinke, vor dem Richtertisch aufmarschieren und die Schwurhand erheben, wie der Chor in der attischen Tragödie: brave Schriftsetzer, Unteroffiziere, Grünkramhändler, Schlächter, Postgehilfen, Straßenbahnschaffner, Asphaltarbeiter, Chauffeure, Hausdiener und Tischlergesellen, Schlosser, Kellner, Bereiter und Tennistrainer. Und dann Gute Nacht, Gustav Lemchen, vertreten durch Herrn Schuhmachermeister August Schneider aus Prenzlau!
Vorerst aber war einmal Klage erhoben worden.
Damit war jedoch der November so gemächlich in den Weihnachtsmond hinübergeregnet. Und wenn auch noch keine Tannenbäumchen auf der Straße standen, wenn die jungen Wälder erst gerade in ganzen Güterzügen auf Berlin anrückten, so roch man doch schon, wenn die Luft scharf ging, so etwas wie Nadelduft; denn in den Schaufenstern waren schon die Zervelatwürste mit rosa Seidenbändchen gebunden, die Zigarrenhändler priesen Präsentzigarren an, Karpfen planschten in Waschfässern neben den Ladentüren, und Gänse lagen friedlich in Reihen mit sanft gekreuzten gelben Watschelbeinen; Pieseckes Mieter vom vierten Stock beschwerten sich, daß die Wohnung kalt wie ein Hundestall wäre, und die vom Hochparterre schickten stündlich das Mädchen, daß sie vor Hitze umkämen; Herren in Pelzen sahen wohlgenährt und zufrieden aus wie Herbstdachse, und die Arbeitslosen zogen zu zweien und dreien die Straßen entlang, in abgeschabten Jacketts, die Kragen hoch und Fransen an den Hosen, frostig und mutlos, und warteten auf den ersten ordentlichen Schneefall. Und die Schnapsflasche half ihnen auch nicht viel. Man merkte, es ging wieder einmal auf Weihnachten in Berlin – und den Menschen ein Wohlgefallen.
Da, an einem so schönen, vergnügten Morgen – an der Ecke war gerade der allererste Händler mit zehn Tannenbäumchen anmarschiert, und er tischlerte schon Hutschen – da erschien wieder im Laden des Herrn Ziedorn der lange schlanke Herr mit dem Schlapphut. Aber jetzt hatte er einen grauen Hohenzollernmantel um und einen stolzen Biberkragen darauf. Und er sah sehr verbindlich und sehr elegant aus, hatte etwas vom Diplomaten an sich, der eine eiserne Tatkraft hinter den leichten Umgangsformen des Weltmannes verbirgt.
»Sie sind doch Herr Kubinke?« sagte er und nickte Emil Kubinke mit einem Lächeln zu, das entwaffnete. »Nicht wahr?«
»Ja«, entgegnete Emil Kubinke sehr leise, denn er war tief erschrocken, war ein hypnotisiertes Kaninchen vor diesem Mann mit der lächelnden Verbindlichkeit; aber er hörte doch deutlich, wie Herr Tesch durch die Zähne – das war eine Spezialität von ihm – ›Ach du lieber Augustin‹ pfiff, und Herr Neumann tief sagte: »Die Woche fängt jut an.« Und da hatte Emil Kubinke auch schon ein Kuvert in der Hand, und der Mann kritzelte wieder in seiner Aktenmappe, ehe er den zitternden Emil Kubinke mit dem Geschenk allein ließ.
Hinten in der Tür aber erschien Herr Ziedorn und wechselte mit Herrn Tesch einen verständnisinnigen Blick.
»Auf die Dauer aber jeht des wirklich nich mit Ihnen, Kubinke.«
,Das wird eben noch einmal die Vorladung sein‹, sagte sich Emil Kubinke und schob das Papier in die Tasche. Aber eigentlich sagte er sich das nicht, wollte sich das nur einreden, nur weismachen, nur vorlügen; denn das Gewicht des Papiers sprach zu deutlich davon, daß das mehr als eine schlichte Vorladung, als solch simpler Wisch wäre. Aber vor diesen da wollte er sich keine Blöße geben, dem Pöbel enthüllte Emil Kubinke sein Innerstes nicht.
»Da hatten wir einen in de Burgstraße«, sagte Herr Tesch.
»In de Burgstraße?« meinte Neumann.
»Lassen Se ein' doch ausreden, Mensch!« rief Herr Tesch. »Also – der mußte for dreie zahlen!«
»Des is noch jarnischt«, sagte Herr Neumann, – »bei uns in Stolp, da lebte 'n alter Kaptän –«
»Erzählen Se doch das Ihrer Waschfrau«, unterbrach Herr Tesch.
»Nee, nee, – der hatte for sieben zu zahlen«, fuhr Herr Neumann fort.
»For sieben?!« Herr Tesch nickte. »Sehr tüchtig!«
»Und dabei is er nur immer ein'n Monat an Land jewesen und elf Monat auf See! – Nu denken Se, Kolleje, wenn der nun des janze Jahr an Land jewesen wäre ...«
»Det würden vierundachtzig sind«, sagte Herr Tesch todesernst. »Des is zu ville. Des is sozusagen übermenschlich. Dajejen wäre ja selbst Kubinke 'n janz kleiner Waisenknabe!«
Aber Emil Kubinke hörte das nur halb, denn er war schon in den Verschlag getreten und hatte klopfenden Herzens das Papier geöffnet. Und wenn ehedem nur eine niederträchtige Wespe daraus hervorgeschwirrt war, so umsurrte und umsummte ihn jetzt ein ganzer Schwarm. Und wenn er nach der einen schlug, da war schon die andere da und stach, und eine dritte brummte ihm in die Ohren.
Emil Kubinke ließ seine Blicke nur so über das Papier tanzen – er konnte es gar nicht erwarten, umzublättern.
›In Sachen des Minderjährigen Gustav Lemchen – – Kläger, gegen den Friseurgehilfen Emil Kubinke – wegen Alimente – – lade ich – beantragt werden, zu verurteilen, an den Kläger zu Händen seines gesetzlichen Vertreters – jährliche Rente – 180 Mark (in Worten: einhundertachtzig Mark) ...‹ einhundertachtzig!
Emil Kubinke schnappte nach Luft, ›In vierteljährlichen Raten – auf die Dauer von 16 Jahren‹ – sechzehn Jahren! ...
Emil Kubinke drückte mit der Schulter beinahe die Glasscheibe ein.
›Kosten des Rechtsstreits – Urteil vorläufig vollstreckbar.‹
Emil Kubinke wollte nicht mehr lesen – nicht ein Wort. Aber dann bezwang er sich: nur keine Halbheit; er mußte alles wissen.
›Sachverhalt: Der Kläger ist als Sohn der Zeugin Hedwig Lemchen am 8. November 1908 geboren. Der Beklagte ist Vater des Klägers.‹ Sprich und schreibe ›Vater‹! ... Hier steht wirklich und wahrhaftig ›Vater des Klägers‹!
›Beweis: Zeugnis der Mündelmutter ...‹
»Mensch«, sagte Herr Tesch, als Emil Kubinke wieder in den Laden trat, »Mensch, was is Ihnen denn? Sie sehn ja aus wie Braunbier mit Spucke!«
Aber Emil Kubinke antwortete nicht und sagte nur: »Der nächste Herr, bitte.«
Ach, Emil Kubinke, er handelte sehr unklug, daß er Herrn Tesch keinen Bescheid gab, und daß er glaubte, er wäre besser und feiner als sein Kollege. Denn, wenn er, Emil Kubinke, auch bis Oberquarta gekommen war und Herr Tesch nur mit Mühe und Not bis zur zweiten Klasse der siebenundneunzigsten Gemeindeschule, deswegen gab es doch sehr, sehr viele Dinge, bei denen Emil Kubinke von Herrn Tesch lernen konnte, und vor allem in Alimentensachen wußte Herr Tesch ganz ausgezeichnet Bescheid, und er hätte ihm gleich gesagt:
›Kubinke‹, hätte er gesagt, ›die Hauptsache bei die Alimente sind die Pluriums; – wenn Se keene Pluriums haben, fallen Se rinn. Da hilft Ihn' keen Jott! Denn ohne Pluriums können Se des Aas jarnischt nachweisen. Da nennen Se also zuerst hier den Zijarrenfritzen, den hier aus de Filjale, un denn den Schlächter, der jetzt bei de Matrosen is, und denn den kleenen verheirateten Briefträger, – mit die is se jejangen, des weiß ich, – die müssen nachher schwör'n. – Und vor allem, Kubinke, lassen Se sich eens raten: jehn Se zu Veilchenfeld, zu keen' andern, als wie Rechtsanwalt Veilchenfeld! Veilchenfeld is scharf uff Alimente! Mir hat Veilchenfeld ooch schon mal so 'ne Sache verteidigt.‹
Aber Emil Kubinke antwortete eben nicht, und Herr Tesch hatte auch keinen Grund, sich mit seinem Rat irgend jemand aufzudrängen – nein, das tat er nicht: er wußte, was er sich als Mensch schuldig war. Und wenn es Emil Kubinke auch schlimm zumute war, und wenn er bei der Arbeit auch manchmal hilfesuchend zu Herrn Tesch hinüberschaute – denn er hätte nur zu gern irgend jemand sein Herz ausgeschüttet – so schwieg er doch immer, weil er Spott fürchtete. Dabei jedoch konnte man deutlich sehen, wie es an ihm fraß, wie der Gedanke ihn nicht losließ, keine Stunde, weder Tag noch Nacht; Emil Kubinke war wie einer, der eine böse Wunde am Körper hat: sie mag ihm keinen Schmerz bereiten, mag irgendwo ganz geheim unter Hemden und Kleidern verborgen sein – und doch wird er stets glauben, daß man sie sieht, daß er sich verrät, daß alle Welt auf seine Schwäre weist.
Ja, daß Emil Kubinke nicht verurteilt wurde, das war ihm mit der Zeit klar geworden. Darüber beunruhigte er sich nicht mehr – o nein – keineswegs, – nicht im geringsten. Denn – erstens durfte man ihn ja nicht verurteilen, und zweitens würde er eine Rede halten. Und Emil Kubinke malte es sich aus, wie er sprechen würde, – voll selbstsicherer Verbindlichkeit dem Richter gegenüber, nachdrücklich und ernst für die Gegenpartei. Beweise würde er bringen, Zeugnisse würde er vorlegen, schwarz auf weiß zeigen, daß er bis zum dreißigsten März überhaupt in einem anderen. Stadtviertel gewohnt hätte. Nein – verurteilt würde er nicht, dessen war er sicher. Aber, wenn seine Pauline es erführe! Emil Kubinke wagte gar nicht, sich das auszumalen ... Ob er es ihr nicht doch lieber sagen sollte, was ihre Zukunft bedrohte?! Zehnmal war Emil Kubinke drauf und dran, es zu tun; aber dann überlegte er es sich immer wieder, daß man bei üblen Dingen nie vorher reden soll, sondern immer erst sprechen darf, wenn sie vorbei sind.
Ja, am zwanzigsten, wenn die Sache glücklich beendet war, dann würde er es Pauline mitteilen, würde ihr alles haarklein erzählen. Nun ja – nun ja – – so ganz genau ... mit den Einzelheiten ... würde er es ihr ja nicht berichten,–es genügte, wenn er sagte, daß die Person ihn falsch bezichtigt hätte, daß sie die Anklage aus der Luft gegriffen, sie sich einfach aus den Fingern gesogen hätte ... Aber er – Donnerwetter! er hätte ihr auch die Zähne gezeigt! Und der Rat auf dem Gericht, der hätte ihm sogar nachher die Hand gegeben. Und die Person hätte er heruntergeputzt, daß kein Hund von ihr mehr einen Brocken genommen hätte. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sie auf der Stelle einsperren lassen ...
Ja, aber vielleicht wäre es doch am allerklügsten, wenn er auch da noch nichts sagte. Und später – sobald sie verheiratet wären – eines schönen Tages, so ganz nebenher, da würde er dann mit der Sprache herausrücken! Denn Geheimnisse, die dürfe es zwischen ihm und seiner Pauline nicht geben; er sollte keine vor ihr haben und sie keine vor ihm. Das wäre das erste Erfordernis ... Ach Gott, Emil Kubinke war eben noch sehr jung und er ahnte noch nicht – oder ahnte er es doch? – daß eigentlich nur die Menschen miteinander leben können, die voreinander Geheimnisse haben und daß sie unser letztes und höchstes Gut sind, das wir nie und nimmer aufgeben können, ohne bettelarm darüber zu werden ... Ja, aber – merkwürdig! – in der ganzen Welt kümmerte sich eigentlich kein Mensch um den Prozeß Lemchen kontra Kubinke. Das Amtsgericht legte gar keinen besonderen Wert darauf, denn es schwebten gerade dreihundertsiebenundneunzig der gleichen Klagen, und der Richter auf Zimmer achtundzwanzig hatte deren allein fünfunddreißig. Und Tesch und Neumann trieben auch die Beschäftigung mit der Sache nur noch als solche Art von geistigem Sport – solch Blindspielen: erst zog Weiß und dann Schwarz; und wenn sie auch die Partie nicht zu Ende brachten, so hatten sie sich doch unterhalten und einander und den Zuschauer durch ein paar lustige Züge überrascht. Und auch Pieseckes schenkten dem Fall keine besondere Beachtung; denn die runde Hedwig hatte in der letzten Zeit sich keineswegs danach benommen. Dreimal hatte es bei Markowskis Roastbeef gegeben – und trotzdem Hedwig genau wußte, wie gern Herr Piesecke Roastbeef aß, hatte sie sich nicht gerührt. Und die Lehmann, die schleppte alles nur für sich und ihre sieben Kinder weg, wie ein Hamster in seinen Bau. Nee, nee, aus solchen Leuten machten sich Pieseckes durchaus nichts.
Ja, – und auch Pauline schien nichts von dem Prozeß Lemchen kontra Kubinke zu ahnen. Und wenn Emil Kubinke manchmal mißgestimmt war und nicht mehr wie ein Zeisig die ›lustige Witwe‹ und die ›Dollarprinzessin‹ pfiff, dann dachte die rotblonde Pauline, daß er nur müde von der vielen Arbeit wäre, und steckte ihm noch beim Abschied eine Spickgansstulle in die Tasche; die sollte er vor dem Schlafengehen essen. Und sie ließ Emil Kubinke mit anschreiben, wenn sie an ihre Eltern schrieb; denn das Umgehen mit der Feder machte Pauline sichtliches Vergnügen, – und wozu hatte sie sich denn eigentlich den teuren ›Allgemeinen Liebesbriefsteller‹ gekauft?! Wenn sie aber an ihre Freundin schrieb, die sie in Heringsdorf kennengelernt hatte, da ließ sie Emil Kubinke nicht mit anschreiben. Ja, er durfte die Karte nicht einmal in den Briefkasten stecken, – das war der rotblonden Pauline nicht sicher genug, da ging sie lieber selbst.
Und über Weihnachten konnten sie natürlich nicht nach Bärwalde zu Paulines Eltern fahren, denn für Weihnachten erwarteten Löwenbergs Besuch aus England, und da durfte also Pauline um keinen Preis fort. Aber nach Neujahr, da hätte Frau Betty Löwenberg nichts dagegen.
Auf der Straße aber, da merkte man nun schon gar nichts von dem Prozeß Lemchen kontra Kubinke. Die ganzen Ulmenreihen entlang standen die Weihnachtsbäume, und dazwischen gingen die Mütter mit den Kindern immer zu dreien und dreien, ordentlich wie durch einen Waldweg dahin; denn Liebespaare wie im Mai gab es jetzt gar nicht mehr, die waren ausgestorben, und unumschränkt herrschte nunmehr das Urbild der deutschen Volkskraft – die staatserhaltende Familie.
Einmal fiel auch solch ein bißchen Schnee, und er blieb ein paar Stunden auf den Fichten und Weißtannen liegen, als ob sie schon alle mit Lametta und Watte ausgeputzt wären. Aber nicht ein Baum wurde wegen Lemchen kontra Kubinke weniger verkauft, und wem sie vor Ziedorns Laden zu teuer waren – denn das war hochherrschaftliche Gegend – der zog sich einfacher an und ging zwei Straßen weiter ... da bekam er die Weihnachtsbäume halb geschenkt. Und wer Geld hatte, kaufte allerhand unnütze Dinge, die aus den Schaufenstern lockten; und wer keins besaß, betrachtete sie sich wenigstens. Und Goldhänschen feierte schon seit acht Tagen Weihnachten, denn Herr Max Löwenberg brachte täglich ein neues mechanisches Spielzeug vom Leipziger Platz mit: heute den störrischen Esel und morgen die wackelnde Gans, übermorgen die Dame, die walzte, und den Tag darauf den Clown, der auf den Händen lief oder den gelehrigen Pudel, den krabbelnden Käfer, Lehmann im Automobil und den Müller, der in seine Mühle klettert! Alle hatten aber, so verschieden sie auch sein mochten, eine Ähnlichkeit: das erste Mal überraschten sie in ihrer schnurrenden und geschäftigen Lebendigkeit; das zweite Mal belustigten sie, das dritte Mal langweilten sie, und das vierte Mal gingen sie kaputt; – knack! platzte die Feder, und sie fielen um und regten kein Bein mehr. Aber dann interessierten sie Goldhänschen am meisten, denn nun konnte er sehen, wie sie innen aussahen.
Der kupferne Sonntag ging so vorbei und der silberne Sonntag, und die Menschen schoben sich in schwarzen Mengen die feuchten Straßen hinab, nicht um zu kaufen, sondern nur um den Kindern das Leben und die vielen bunten Schaufenster zu zeigen; und die Zeitungen schrieben, daß sie gut oder schlecht gewesen, hinter den Erwartungen zurückgeblieben wären oder sie erfüllt hätten – die Sonntage. Aber von dem deprimierenden Einfluß, den der beginnende Prozeß Lemchen kontra Kubinke auf die allgemeine Geschäftslage hatte, wußte keine auch nur ein Wort zu berichten.
Ach, Emil Kubinke verstand das gar nicht, wie das alles so weitergehen konnte, da er doch schon kaum eine Nacht schlief und immer wieder seine Rede memorierte. Nun ja, verurteilt würde er ja nicht werden – unmöglich! aber es war doch sehr aufregend und sehr unangenehm. Und Emil Kubinke fürchtete noch immer, Pauline hätte Wind bekommen und würde ihm eine Szene machen; aber je grämlicher Emil Kubinke war, desto schmeichlerischer und zärtlicher wurde nur die rotblonde Pauline. Denn Emil Kubinke und Pauline waren ja nur erst verlobt und noch nicht verheiratet.
Und als am Abend vor der Verhandlung Emil Kubinke ganz besonders scheu und gedankenvoll gewesen war, da hatte sogar Pauline die Schuld auf die Bücher geschoben und gesagt, daß sie die Bücher ins Feuer werfen würde, wenn sie erst verheiratet wären. Und sie hatte sich nur baß gewundert, als Emil Kubinke höflich aber bestimmt geantwortet hatte:
»Das ist ein Irrtum von Ihnen, Herr Rat.«
Ja, und als Emil Kubinke erwachte – denn er war endlich doch eingeschlafen, Herr Tesch und Herr Neumann hatten ihn mit ihren Melodien sänftiglich eingewiegt – da lag drüben auf den Dächern, auf allen Kanten und Rinnen, auf den Mauervorsprüngen und Figuren, zwischen dem welken Kraut und an den Winkeln bei den Schornsteinen... Schnee – Schnee ... nicht gerade viel, aber in schönen weißen Flächen und Strichen, und der aufdämmernde Morgen leuchtete ganz mattblau darüber hin. Hinten standen schon die beiden Figuren mit den goldenen Reifen hoch gegen den Himmel, und auf dem Schellenbaum des Telephons saß eine alte Krähe und philosophierte über das Wetter. Kälte machte ihr nichts; aber wenn noch mehr von dem weißen Zeug käme, das wäre immerhin unangenehm; denn wenn man auch nur eine alte Krähe ist, – man will doch auch leben.
Emil Kubinke zog seinen guten Anzug an und band sehr sorgfältig, trotz der klammen und zitternden Finger, seine Krawatte und steckte eigens noch eine kleine Hufeisennadel, die er sonst selten trug, in den Knoten; den Autoschal glättete er auch, ehe er ihn um den Hals legte; auf sein Haar verwandte er all seine Kunst; und das Jackett bürstete er und bürstete er, bis es glänzte wie Speck. Denn Emil Kubinke sagte sich, es läge sehr viel daran, daß er einen vornehmen und günstigen Eindruck auf den Gerichtshof machte. Und er bat Herrn Tesch höflich, ob er ihn heute bei der Kundschaft außer dem Hause vertreten wolle, weil er einen Termin wahrnehmen müsse. Doch Herr Tesch sagte nur: »Machen wir, Kubinke. Aber eens rat ick Ihnen: nehmen Se sich in acht, lassen Se sich nich jejen'n Wagen fahren!«
Denn, wenn Herr Tesch sich auch im stillen über diesen Kollegen Kubinke äußerst belustigte, so wünschte er ihm keineswegs etwas Schlimmes. Nein, so war Herr Tesch nicht.
Doch als Emil Kubinke sich bei Herrn Ziedorn entschuldigte: er wäre spätestens um zwölf wieder zurück, aber er müsse als Zeuge vor Gericht erscheinen, da fragte Herr Ziedorn plötzlich:
»Haben Sie denn wenigstens einen Rechtsanwalt, Herr Kubinke?!«
»Nein«, entgegnete Emil Kubinke ganz erschrocken, »aber mir kann ja nichts passieren.«
»Wenn Ihnen nichts passieren kann, Herr Kubinke«, sagte Herr Ziedorn, »haben Sie recht. – Aber passen Sie mal auf, Kubinke, ich kenne die Jeschichte. – Bei's Jericht bin ich 'n alter Praktikus. Wenn die andern einen Rechtsanwalt haben, da ziehen sie Ihnen das Fell über die Ohren, ehe Sie überhaupt ›piep‹ sagen. Aber ich will Ihnen durchaus keine Angst machen – die Sache wird schon schief gehen.«
Emil Kubinke war es recht peinlich, daß seine Angelegenheiten von Herrn Ziedorn vor versammeltem Kriegsvolk diskutiert wurden; aber er sagte sich, daß es doch wirklich ungebildete Leute wären, von denen man kein Zartgefühl in der Behandlung von Privatdingen erwarten könnte. Und so ging er hinaus in den Wintermorgen. Der Schnee lag noch so ganz dünn und weich auf den Straßen und Dämmen, hatte mit weißer Kreide die dunklen Linien der Baumstämme und Äste nachgezogen, und von vielen Wagenspuren war er schon zerfurcht, und von vielen Fußtritten war er schon zertappt; in den Vorgärten und in den stillen Häuserwinkeln aber da dehnte er sich noch wie reines, glattes Leinen. Und so beklommen es Emil Kubinke zumute war, so machte es ihm doch ganz im geheimen Vergnügen, gerade an diesen Stellen, nahe an den Häusern entlang, – wo noch niemand vor ihm gegangen war, – seine Fußspuren in die dünne Schneeschicht zu drücken. Denn die Portierleute ließen es heute einmal auf ein Strafmandat ankommen, und sie hatten den Schnee noch nicht zu kleinen Hügeln neben dem Damm aufgeschichtet, sie trugen gerade erst eben Besen, Kratzer und Schaufeln heraus, und sie stellten sich noch einmal hin und walkten kräftig mit den Armen, um warm zu werden, ehe sie an die Arbeit gingen. Und seltsam – sogar die Jungen, die zur Schule marschierten, die jubelten heute keineswegs über den Schneefall; denn heute war, das muß gesagt werden, für die Jugend durchaus kein Glückstag. Und wenn auch die Ferien begannen, so zog doch mancher, der sonst lustig und heiter des Morgens mit seinen Büchern dahintrabte, heute recht still und trübselig mit der Zensurenmappe durch die Straßen. Denn wer garantierte ihm, daß er nicht zu Hause Katzenköpfe ernten würde?
Ach, und auch Emil Kubinke zog klein, bescheiden und bänglich dahin, denn auch er sollte heute eine Zensur bekommen, und der Begriff der Zensur war in seinem Leben von je so eng mit Katzenköpfen verbunden, daß sie für Emil Kubinke auch heute noch untrennbar voneinander waren ...
Aber die Zensurenstimmung, die über der Schuljugend schwebte, so daß sie weniger lärmend denn sonst zu den großen Richtplätzen zog, die war auch das einzige, das mit den Empfindungen Emil Kubinkes mitklang; sonst merkte man nirgend etwas von dem Prozeß Lemchen kontra Kubinke: Die Verkäuferinnen stiefelten nach den Geschäften; die Läden wurden aufgezogen; die Schaufenster wurden enthüllt und sahen mit neuen blanken Augen in das Licht hinein; auf den Neubauten begannen die Putzer und Maler zu schaffen, schippten den Schnee von den Gerüsten, und die Straßenbahnen rauschten darunter entlang, dicht besetzt mit Geschäftsleuten, eilten, daß sie von den stillen Straßen fortkamen, und liefen und jagten, so schnell sie konnten, nach dem lärmerfüllten Stadtinnern.
Über allem aber lag heute, – gerade heute! – so ein feiner mattblauer Himmel, nicht sommerblau, nicht wintergrau sondern ganz licht, dunstig und von weißlichen Streifen durchquert. Die Sonne schien nicht, aber so ein leichtes rötliches Flimmern füllte die Straßen und breitete sich über die Firste und Dächer der Häuser; man fühlte, daß sie selbst, die alte Sonne, noch draußen irgendwo ganz rot und tief im Dunst über den bereiften Wäldern und beschneiten Feldern, über rauhen, aufgebrochenen Äckern hängen mußte. Auch die also, auch die nahm gar keinen Anteil an dem Prozeß Lemchen kontra Kubinke ...
Und dann trat Emil Kubinke aus den Straßen heraus, und vor sich hatte er nun die weiten Flächen ... mit ihren weißen Tüchern, aus denen welkes und morsches Kraut mit dunklen Spitzen sah ... mit den einsamen kahlen Pappeln, die mit tausend feinen Zweigen all das flimmernde blaue Schneelicht fingen ... und mit den Laubenkolonien dazwischen, die jetzt ganz still und tot mit ihren paar halb erfrorenen Kohlköpfen und mit ihren welken Sonnenblumenstengeln lagen. Über ihre weißen Dächer fort flatterten noch die bunten Fähnchen von den Erntefesten her, und die letzten Girlanden aus weißem, rotem und blauem Papier schwankten in der Luft. Ganz still aber und erstorben war alles, und allein eine einsame Haubenlerche grub zwitschernd vor Emil Kubinke ihre kleinen dreizackigen Spuren in den jungen Schnee, nur um aufzufliegen, wieder vor ihm herzutrippeln und von neuem für einen kurzen Flug davonzuflattern ...
Emil Kubinke dachte daran, wie er im Frühjahr hier mit seiner Pauline die lange, schöne Feststraße hinabgeschritten war, auf diesen blauen Strich des Waldes zu, der dort hinten zitterte. Und er kam sich plötzlich hoffnungslos, bemitleidenswert, ganz und gar verlassen und unglücklich vor. Aber ganz heimlich gefiel sich Emil Kubinke doch sehr gut dabei; denn nichts hebt uns ja mehr in unseren eigenen Augen als wahre oder eingebildete Leiden, und außerdem – das dürfen wir nicht vergessen – war Emil Kubinke in der Schule ja nur bis Oberquarta gekommen, gerade bis Oberquarta. Und ach, wir alle bleiben ja irgend einmal stecken, irgendwo sitzen und kleben für Lebenszeiten. Ich habe Menschen gekannt, die mit vierzig Jahren Tertianer waren, Frauen von fünfunddreißig, die immer noch in der zweiten Klasse saßen, und Professoren, die nie über das dritte Semester hinausgekommen waren. Und Emil Kubinke war und blieb also eben sein Lebtag Oberquartaner ...
Aber dann sagte sich Emil Kubinke, daß er sich doch gerade jetzt nicht seinem Schmerz hingeben dürfe, und im Weiterschreiten begann er ganz laut vor den beschneiten Zaunpfählen und Laternen seine Rede zu memorieren:
»Sehr geehrter Herr Rat! Die von dieser Person gegen mich erhobene Beschuldigung entbehrt, wie ich. zu beweisen in der Lage bin, jeder Begründung; denn ...«
Und da war Emil Kubinke schon wieder in den Häusern. Drüben zog sich die Stadtbahn hin mit gelben Bogen. Züge rollten heran, von rechts und links, unter dem mattblauen Himmel. Rauchfahnen wurden nachgeschleift, standen lange klar gegen die kalte Luft, waren ganz und gar silbrig von der Sonne durchleuchtet und mit rosigen Rändern, wie Wolken am Abendhimmel. Und dann sah Emil Kubinke hinten am Ende einer Straße mit seinem roten Dach das große, massige Gebäude, in dem er heute die Zensur empfangen sollte, in dem er heute das Examen bestehen sollte, – und wenn er auch hoffte, daß er durchkommen würde, so schnürte ihm doch die Angst die Brust zusammen, was dann werden sollte, wenn er etwa nicht bestände. Ach, mit Zensuren und Prüfungen, das war Emil Kubinke plötzlich klar, hatte er bisher noch nie in seinem Leben Glück gehabt. Und während er vordem eine Weile wenigstens ganz lustig und taktmäßig ausgeschritten war, setzte er jetzt gar langsam einen Fuß vor den andern; am liebsten hätte er die Strecke wie in der Springprozession zu Echternach zurückgelegt: immer fünf Schritte vor und drei zurück... Aber die Minuten mögen scheinbar noch so langsam dahinschleichen – nichts kann ihren Gang verzögern, und man mag noch so langsam weiterschlendern, – an das Ziel kommt man endlich doch.
So stand auch Emil Kubinke, wie oben gerade knarrend und klingend eine Uhr mit neun Schlägen begann, ganz klein und kümmerlich in dem großen Portal und fragte den schnauzbärtigen Pförtner, wo denn Zimmer achtundzwanzig wäre. Ja – von außen da hatte das Gebäude so gefällig und wohnlich ausgesehen, aber innen schien es nur Treppen und Gänge zu haben und nur Lärm und Zug zu bergen, und das Getrampel von Menschen, von hunderterlei verschiedenen Menschen: von kleinen schwarzen Herren, die mit dicken Aktenmappen von Zimmer zu Zimmer schössen; von jungen Leuten mit schwarzen Talaren, die hastig die Gänge herunterliefen; von würdigen Herren, die Gesichter wie Beefsteaks zerhackt, die in schwarzen Roben aus irgendeiner Tür kamen und in eine andere hinein verschwanden. Und immer hörte man Tritte, – Tritte, – hallende Tritte die Korridore entlang. Mädchen kamen und Frauen, bleich und abgehärmt, rot und erregt, redend, keifend und gestikulierend. Männer in dicken Pelzen zogen an Emil Kubinke vorbei, und Männer in schäbigen Anzügen, ohne Kragen, aber mit Vorhemden, in denen doch, als hätten sie nur vergessen den Kragen umzubinden, ein spitziges Kragenknöpfchen steckte.
Zur gleichen Zeit aber, da Emil Kubinke sehr schüchtern und keineswegs jetzt mehr mit der siegessicheren Geste des großen Redners die Tür des Zimmers Nummer achtundzwanzig öffnete, allwo sich sein Schicksal entscheiden sollte – zur gleichen Zeit klingelte Herr Tesch bei Löwenbergs, und da es der rotblonden Pauline verbrieftes Recht war, dem Barbier des Morgens zu öffnen, so lief auch Pauline heute wieder von ihrer Ritterburg weg, hast du was kannst du, den langen Korridor hinunter, daß die Pantoffeln nur so flogen – und riß die Tür auf. Und um ein Haar wäre sie dem langen, blonden Herrn Tesch um den Hals gefallen.
Aber im, letzten Augenblick gewahrte sie doch, daß das keineswegs Emil Kubinke, sondern durchaus jemand anders war, und sie rief: »Ach, Sie sind es, Herr Tesch?! – Warum kommen Sie denn mit einmal? Wo ist denn mein Bräutjam?« Denn das Wort ›Bräutigam‹ hatte Pauline in Erbpacht genommen.
»Der –« sagte Herr Tesch ganz erstaunt, – »der is doch heute aufm Jericht!«
»Aufm Jericht?« fragte Pauline. »Was macht denn Emil aufm Jericht?«
»Na, wissen Se denn nich, Fräulein? – Hat denn Ihr Bräutjam Ihnen das nich erzählt, – daß ihn die dicke Hedwig hier drüben, die bei Markowskis war, – daß die ihn uff Alimente verklagt hat? – Die redt' sich doch ein, daß Kubinke der Vater von ihren Jungen is.«
Pauline schlug plötzlich die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Sie schluchzte, daß man es durch drei Stockwerke hörte – sie trompetete ordentlich. Herr Tesch war ganz bestürzt, erstaunt, weil Pauline von all dem noch nichts gewußt hatte, und doppelt erstaunt, daß sie die Sache gleich so schwer nahm. So was kam doch alle Tage vor! Böse, nein böse hatte es Herr Tesch gewiß nicht gemeint!
»Na, nu weenen Se man nich jleich, Frollein«, sagte er beschwichtigend, »es ist ja noch lange kein Beinbruch.«
Pauline jedoch ließ sich nicht so leicht beruhigen, und wenn sie auch nicht recht wußte, warum sie weinte – ob über diesen treulosen Emil Kubinke, oder über die Frechheit jener gemeinen Person, ihren Bräutigam in so schmutziger Weise zu verdächtigen – wenn sie sich auch darüber noch nicht klar war, so weinte und schrie sie eben ganz elementar, als Reaktion auf die Mitteilung.
Auf das Schluchzen von Pauline kam Poldi Nowotny angelaufen und fragte:
»Gehn S', Fräulein Pauline, was tun S' denn so woanen? Wos hoaben S' denn?«
Und Frau Betty Löwenberg kam in die Küche, im weißen Frisiermantel – denn Frau Löwenberg war heute schon auf, weil sie um zehn Uhr bei der Bergholzer zu einer letzten Anprobe sein mußte. Und Herr Löwenberg kam auch aus der Badestube hervorgestürzt, als Araber im fliegenden Burnus. Denn es war Sonnabend, und am Sonnabend badete Herr Löwenberg.
Frau Löwenberg bekam aber einen großen Schreck, denn sie dachte, gerade jetzt, da morgen der Besuch aus London kam, wäre Paulines Mutter krank geworden. Sie kannte das. Die alte Anna hatte immer in der gleichen Weise in der Küche trompetet, wenn ihre selige Mutter wieder einmal von einem todbringenden Leibesübel befallen worden war. Als Frau Betty Löwenberg jedoch erfuhr, um was es sich drehte, da war sie ja zuerst beruhigt. Aber dann regte sich doch das weibliche Zartgefühl in ihr, und sie rief ganz laut und hell:
»Aber Pauline, Sie werden doch diesen Mann nicht heiraten!?«
Ja – Frau Löwenberg gehörte eben von Geburt einer Gesellschaftsschicht an, in der eine Alimentenklage, wenn sie nicht gerade von der Braut angestrengt wird, durchaus als Ehehindernis betrachtet wird. Und sie konnte gar nicht begreifen – aber was konnte Frau Betty Löwenberg überhaupt begreifen? – daß Pauline eben einer anderen Gesellschaftsschicht angehörte, die in allen geschlechtlichen Dingen weit vernünftiger denkt, und von der eine simple Alimentenklage noch keineswegs etwa als ehehindernd betrachtet wird.
Herr Löwenberg jedoch, der, gestützt auf reiche folkloristische Studien sich besser in die Seele der rotblonden Pauline einzufühlen wußte, sagte:
»Aber liebste Betty, was geht dich denn das an?!«
Und dann wandte er sich an die schluchzende Pauline: »Lassen Sie nur, mein Kind«, meinte er begütigend, »Ihr Bräutigam ist ein ganz ordentlicher Mensch. Weinen Sie nur nicht; seien Sie ohne Sorge – ich werde mir bei nächster Gelegenheit den jungen Mann mal vornehmen.«
Und damit zog Herr Löwenberg als flatternder Araber nach vorn in sein romanisches Herrenzimmer, und Herr Tesch folgte ihm.
Frau Betty Löwenberg aber drehte sich noch einmal um, ehe sie die Küche verließ:
»Nehmen Sie doch den Kutscher aus Heringsdorf«, sagte sie.
Und wenn auch Pauline und Frau Betty Löwenberg über die Bedeutung einer Alimentenklage durchaus uneins waren, – darüber, daß man statt des einen Mannes im Notfall den anderen nehmen könnte – so ungefähr wie man statt einer rosa Bluse ja auch eine hellblaue anziehen könnte – darüber bestanden zwischen ihnen keinerlei Meinungsverschiedenheiten, ... denn endlich waren sie doch beide Frauen ...
Pauline aber schluchzte und trompetete so lange, bis sie in ihre Kammer ging und sich den ›Allgemeinen Liebesbriefsteller‹ hervorlangte. Und als sie da den Brief von Seite sechsundneunzig fand: ›Vorwürfe an eine liebende Braut wegen mehrfacher Untreue‹, da schrieb sie ihn halb ab und flickte noch einige Sentenzen aus der ›Zurückweisung eines Verehrers aus Vernunftsgründen‹ und aus dem ›Versuch um Wiederanknüpfung eines abgebrochenen Liebesverhältnisses‹ ein. Denn wie schon mehrfach bemerkt, Pauline arbeitete gern mit der Feder.
Und danach hatte Pauline ihrem Emil Kubinke schon so gut wie verziehen und war wieder ganz vergnügt und munter, so daß Frau Betty Löwenberg mit Recht zu der Ansicht kam, daß die rotblonde Pauline ihr gegenüber doch nur ein sehr gering differenziertes Empfindungsleben hätte.
Ach, – und zur gleichen Stunde ging es sicherlich Emil Kubinke weit weniger gut als der rotblonden Pauline, und er konnte keineswegs so schnell wie sie sein seelisches Gleichgewicht wiederfinden.
Emil Kubinke war in das Zimmer 28 gegangen, und er hatte geglaubt, er träte in einen stolzen Raum, der überragt von dem Bild der Justitia wäre: hinter erhöhten Tischen säßen die Herren Richter, säßen die Gerichtsschreiber, die Schöffen und Beisitzer, und in der Mitte stände, alle um Haupteslänge überragend, der Herr Staatsanwalt selbst. Und es ginge sehr ernst, gemessen und würdevoll zu, so daß man kaum zu atmen wagte.
Statt dessen aber kam Emil Kubinke in ein richtiges bürgerliches Zimmer, ganz ähnlich wie eine Polizeiwache sah es aus, und an einem langen Tisch saßen rechts ein junger Herr und links ein junger Herr, und die kritzelten, auf große Bogen. Und in der Mitte saß ein Mann in schwarzer Robe und mit einer weißen Krawatte, stützte die Ellbogen auf den Tisch und hielt bedächtig sein Haupt. Sehr blond war er, sehr blauäugig, und die Säbelnarben über Backen und Stirn zogen als weiße Straßen durch die trinkfreudige Röte seines gelangweilten Gesichts. Und ringsum standen zwanzig, dreißig Menschen, und hüben und drüben maßen sich Gruppen mit feindlichen Blicken, und der Richter selbst hörte müde und stumm ein paar Leuten zu, die durch Einwendungen und Gegeneinwendungen einander mundtot zu machen strebten.
Und richtig – drüben in einer Ecke stand schon die dicke Hedwig, in ihrem braunen Jackett und in dem Hut mit den Moosrosen. Und sie sah rot und munter aus, und sie lachte über das ganze Gesicht. Aber man muß nicht etwa denken, daß sie Emil Kubinke gegenüber verlegen war, – nein, sie nickte ihm sogar ganz vertraulich zu, wie einem alten Bekannten, den sie gern wiedersah. Emil Kubinke jedoch strafte sie mit stummer Verachtung und sah stolz an ihr vorbei.
Und bei der dicken Hedwig stand ihr Stiefvater, der würdige Schuhmachermeister August Schneider aus Prenzlau, mit einem grünlichen Friesmantel, mit Kriegsmedaillen auf der Brust und einem Zylinder, den schon zweimal das Märkische Museum zu erwerben versucht hatte. Aber Herr Schneider gab ihn nicht fort: sein Großvater hätte ihn getragen, sein Vater hätte ihn getragen und sein Sohn solle ihn wieder tragen. So war Herr August Schneider aus Prenzlau.
Ja, wenn aber Emil Kubinke glaubte, daß der Prozeß Lemchen kontra Kubinke als erstes und einziges auf der Tagesordnung stände, dann war er schwer im Irrtum. Da kam erst ein Mann, der sich mit seiner geschiedenen Frau herumstritt; sie solle ihm wenigstens die Betten herausgeben. Aber da die Frau die Betten versetzt und die Pfandscheine verschärft hatte, so war für den Ehegatten nichts mehr zu holen. Und leid tat das niemandem; denn der beste Bruder war er keineswegs.
Und dann klagte ein Mieter gegen seinen Hauswirt, daß er in der feuchten Wohnung Rheumatismus bekommen hätte. Und dann kam dieses und jenes, und Emil Kubinke stand ganz ruhig und sah auf das Thermometer und die Heizung, memorierte seine Rede und sagte sich gerade noch, daß der Richter sicherlich eine Excelsiorbartbinde benutzen müsse – er, Emil Kubinke, war mehr für die amerikanische Mode ... als es mit einem Male ganz unerwartet hieß: ›Lemchen kontra Kubinke.'
Und in diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein kleiner Herr mit einem braunen Spitzbart stürzte mit einer Aktenmappe zum Tisch vor, postierte sich grüßend dem Richter gegenüber, stellte sich neben August Schneider aus Prenzlau, trat vor die dicke Hedwig mit ihrem braunen Jackett hin – gerade wie ein Sekundant auf der Mensur, der bereit ist, jeden Hieb herauszufangen.
Aber ich will hier nicht die Phasen des Prozesses Lemchen kontra Kubinke aufrollen. Nein, ich will das wirklich nicht tun. Denn wenn schon Hedwig, da es sich ja bei Gustav Lemchen um ihren Sohn drehte, von ihrem Recht der Zeugnisverweigerung hätte Gebrauch machen können – aber es kam gar nicht dazu, daß sie gefragt wurde – so sehe ich nicht ein, warum ich nicht hier an dieser Stelle für den Beklagten von meinem Recht der Zeugnisverweigerung Gebrauch machen soll. Denn niemand wird bezweifeln, daß mir Emil Kubinke mindestens ebenso nahe steht, und daß ich mit dem Beklagten ebenso verwandt und verschwägert bin wie die Mündelmutter Hedwig mit Gustav Lemchen.
Nur soviel möchte ich sagen, daß Emil Kubinke gar nicht, ja durchaus nicht, keineswegs dazu kam, seine wundervolle Rede zu halten, daß dafür aber August Schneider aus Prenzlau sich auf die Brust schlug, daß die Kriegsmedaillen klirrten: ›Er möchte den Friseurgehilfen bitten, hier etwa nicht ausfallend zu werden, – seine Stieftochter wäre ein hochanständiges Mädchen, und der Mensch hätte sie für ihr ganzes Leben ins Unglück gestürzt.'
»Ja«, sagte Hedwig.
»Und so eine, die sich mit jedem jemein macht, wäre seine Stieftochter nicht; davon könne der hohe Herr Jerichtshoff überzeugt sein. Und so was hätte sie auch zu Hause bei ihm nicht vor sich jesehen!«
Nun muß man ja sagen, daß der Richter keineswegs parteiisch war. Er gähnte bei den Worten des Kriegsveteranen, Schuhmachermeisters August Schneider aus Prenzlau und er gähnte bei den Worten Emil Kubinkes. Und als Emil Kubinke mit seinem Haupteinwand kam, da fuhr sofort der Rechtsanwalt Schlesinger III dazwischen. Er sagte, daß er mit dieser Einwendung vor dem Richter wohl nicht durchdringen würde, da das Gesetz den als Vater anspricht, der sich der Gunst der Mündelmutter zwischen dem dreihundertundzweiten und dem hundertachtzigsten Tage vor der Geburt erfreut hat. Und selbst wenn der von dem Beklagten hier angegebene Termin der richtige wäre – und der Beklagte ist ja nicht verpflichtet, die Wahrheit zu sagen – so würde auch diese Tatsache, wie jeder Kalender zeigt, keineswegs gegen die unterstellte Vaterschaft des Beklagten sprechen. Und dann sagte Schlesinger III – und er machte eine leichte Verbeugung vor dem Richter: »Ich stelle anheim!«
Emil Kubinke war jetzt ganz verdattert, denn er fühlte plötzlich, daß die Sache für ihn schlimm stand.
»Ja«, meinte der Richter und kniff das eine Auge ein, »wollen Sie nun die Behauptung aufstellen, daß während der Konzeptionszeit eine andere Person mit der Mündelmutter verkehrt hat?!«
»Es muß doch ...«, stotterte Emil Kubinke. Weiter kam er nicht.
»Wollen Sie hier die Behauptung aufstellen –«, unterbrach der Richter – und jetzt war er ganz Hauptmann der Reserve –
»Ich weiß nicht –« brachte Emil Kubinke hervor.
»Wollen Sie sich auf die Mündelmutter selbst beziehen?« Der Richter hob die Stimme, daß alle im Saale aufschauten.
Und wenn man Emil Kubinke jetzt auf der Stelle erschlagen hätte, – er hätte keine Ahnung gehabt, was eine Mündelmutter überhaupt ist. Ach, mit den Examen hatte Emil Kubinke nie Glück!
»Haben Sie noch etwas anzuführen?« schmetterte der Richter, und er hatte keineswegs so freundliche blaue Augen wie eingangs, da er noch gähnte.
»Es ist aber doch unmöglich ...« zeterte Emil Kubinke, und da fiel ihm ein Wort seiner Rede ein – »vom medizinischen Standpunkt aus unmöglich ...«
Aber der Richter, der von Amtes wegen von der Medizin nicht sehr viel hielt, stülpte auch schon mit einer Handbewegung das schwarze Barett auf.
»Erkannt und verkündet –« sagte er mit soviel Ernst und Würde, daß alle ringsum erzitterten, und sogar der Gerichtsdiener, der im Stehen schlief, auffuhr – »Erkannt und verkündet – – der Beklagte wird verurteilt! – – – –«
Weiter hörte Emil Kubinke gar nichts. Er stand nur noch immer und starrte den Richter an.
»Es ist unmöglich – – medizinisch unmöglich ...« zeterte er.
»Sie können nach Hause gehen!« brüllte der Richter mit einer Stimme, als ob er einen Schlafwandler wecken wollte – »hier ist die Sache zu Ende! – Ich stelle Ihnen anheim, Berufung einzulegen.«
Und schon hatte der Gerichtsdiener Emil Kubinke bei der Schulter ergriffen und führte ihn zärtlich mit gelinder Gewalt zur Tür hinaus.
Man kann es auch dem Richter durchaus nicht übelnehmen, daß er die Sache beendete, denn er hatte noch sieben andere Sachen für neuneinhalb angesetzt.
Draußen auf dem Korridor aber sah Emil noch einmal die dicke Hedwig – und sie hatte Herrn Schneider aus Prenzlau untergefaßt, und ihr Gesicht glänzte vor Freude, weil nun jemand für ihren Gustav zahlen mußte, und weil sie den Prozeß gewonnen hatte, gewonnen sogar, ohne daß es zum Schwur gekommen war. Denn Hedwig hätte Stein und Bein geschworen, geschworen hätte die dicke Hedwig, daß sich die Balken bogen, sie hätte, ohne mit der Wimper zu zucken, einen glatten Meineid hingelegt, und es gab überhaupt keinen Eid, den sie nicht geschworen hätte ohne das geringste Bedenken. Denn sie hatte das Gefühl, daß sie hier kämpfen müsse – und für einen Kampf waren alle Mittel erlaubt. Und den hätte ich kennenlernen mögen, dem es gelungen wäre, eine dicke Hedwig von der Heiligkeit eines Eides zu überzeugen.
Nein, sie hatte sich ganz fest und sicher darauf vorbereitet, zu schwören und sie hatte die linke Hand schon krampfhaft nach unten gehalten, um den Eid abzulenken, – aber da – zu ihrem größten Erstaunen – war sie ohne ein Wort, ohne eine Frage davongekommen. Wirklich, – so einfach hatte sie sich das nicht vorgestellt.
Der Rechtsanwalt Schlesinger III jedoch hatte im Gegensatz zu dem Richter den Eindruck gewonnen, daß der brave Emil Kubinke keineswegs mit Fug und Recht verurteilt worden war, und deshalb klopfte er ihm heimlich auf die Schulter und sagte im Vorbeigehen so ganz leise zu ihm:
»Hören Sie, junger Mann, legen Sie Berufung ein – aber ganz schnell.«
Denn, wie schon einmal erwähnt, Rechtsanwalt Schlesinger III war eben noch ein junger Rechtsanwalt, der noch nicht gar lange in der juristischen Tretmühle steckte und der noch nicht völlig abgestumpft gegen die Empfindung war, daß es neben dem Gerichtsrecht doch ein lebendiges Recht geben müsse, in dem nicht der Buchstabe, sondern das Gefühl entscheide.
Aber als Emil Kubinke sich aus seiner Lethargie aufraffte und den Rechtsanwalt Schlesinger III noch etwas fragen wollte, da war der schon längst auf und davon, war im Gewühl des Korridors verschwunden. Denn Schlesinger III hatte heute noch acht Termine wahrzunehmen, und die anderen Gegenparteien dachten gar nicht daran, ihm die Sache so leicht zu machen, wie es ihm der ahnungslose Oberquartaner, der Friseurgehilfe Emil Kubinke gemacht hatte.
* * *
Aber im Laden des Herrn Ziedorn war heute große Aufregung; denn Herr Tesch war noch einmal schnell heruntergekommen, bevor er weiterging, und hatte sofort Herrn Ziedorn und Herrn Neumann alles erzählt, was sich oben bei Löwenbergs begeben hatte.
»Denken Se an – die hat doch jarnischt jewußt, die rote Pauline! – Sagt der Kubinke seiner Braut kein Wort von sowas! – Na, die hat nett jeheult, wie se's jehört hat! – Wien Schloßhund hat se jeheult ... Passen Se uff, meine Herren, die jibt ihm 'n Laufpaß ... Un wie ick den Kollejen Kubinke kenne, fällt der heute auch rein. Den knicken se da de Hammelbeene – eins, zwei, drei – denn for's Jericht, wissen Se, for's Jericht da is der nich helle jenuch – da muß einer janz anders sein wie Kubinke ... Aber ick mache jetzt nur, daß ick fertig wer'. Den Kubinke muß ick kommen sehen – den Spaß jönn ick keenen andern!«
Und damit war Herr Tesch aus der Tür und stürmte hinauf zu Markowskis.
»Herr Markowski«, sagte er lachend, »des jibt einen Hauptknaatsch ... Mit den Kubinke fahren se heute ab! Der muß Alimente for Ihre alte Hedwig zahl'n. – Sehn Se mal nachher zu uns runter – aber sagen Se nich, daß Se deswejen kommen – so janz nebenher, – des müssen Se sich mit anhören.«
Und Herr Tesch rasierte sogar Herrn Markowski nicht einmal nach – so eilig hatte er es.
Herr Neumann aber sah immer von der Arbeit aus durch die Glastür, ob Kubinke noch nicht wiederkäme. Und wenn er nichts zu tun hatte, dann stand er an der Seitenscheibe Wache und blickte die Straße hinab, ob nicht Emil Kubinke da hinten auftauchte. Aber da kam Herr Tesch ganz außer Atem in den Laden:
»An de Ecke kommt er!« schrie Herr Tesch. »Jetz Ohren steif halten, Neumann, – nich lachen, Neumann – janz ernst bleiben, Mensch!«
Wirklich – an der Ecke da kam Emil Kubinke. Er konnte gar nicht sagen, wo er entlanggegangen war, wie er bis hierher gelangt war, – er sah nur wieder seine alte Straße mit den vier Baumreihen und der langen Kette von Bogenlampen und sagte sich, daß er jetzt gleich zu Hause wäre, ohne daß ihm klar war, was er dort zu tun hätte.
Ja, Emil Kubinke hatte noch nicht recht begriffen, was eigentlich geschehen war. Denn es ist merkwürdig, daß uns alle üblen Dinge im Leben viel weniger in den Kopf wollen, als die angenehmen. Und Emil Kubinke kam herangewandelt, wie Paris mit einem goldenen Apfel in der Hand, mit einer goldfarbigen Apfelsine in der Hand. Und Emil Kubinkes Gesicht war sehr nachdenklich, als überlege er, wem er den goldenen Apfel als Preis geben sollte, – der Venus Pauline, der junonischen Emma oder der streitbaren Athene Hedwig Lemchen ...
Diese Apfelsine aber hatte Emil Kubinke auf seltsame Art gekauft: Vor dem Amtsgericht war er stehengeblieben, tief in Gedanken, und da war so etwas Gelbes, Flimmerndes, auf das er hinuntersah – und es ging nicht fort–und es ging nicht fort, – und plötzlich fragte ihn ein Mann, wieviel Apfelsinen er ihm geben könne, – denn die ganze Zeit hatte Emil Kubinke auf einen Straßenkarren voll von Apfelsinen gestarrt. Und da stotterte Emil Kubinke »eine«, gab dem Mann einen Groschen und ging fort, seine Apfelsine in der Hand balancierend ... Und er trug sie noch ganz vorsichtig, ernst und nachdenksam, als er in Ziedorns Laden trat und vor sich hinmurmelte:
»Ich lege Berufung ein ... Berufung lege ich ein ... ich lege Berufung ein ...«
»Na, wie war's denn, Kubinkechen?« sagte Tesch und patschte ihn mit der Hand auf die Schulter, – »glücklich frei?«
»Ich lege Berufung ein ...«
»Mensch – Sie haben se verdonnert?« schrie Tesch.
»Na bleiben Se man so bei«, sagte Neumann und griente übers ganze Gesicht; er konnte nicht ernst bleiben. »Wat wird 'n da Ihre Braut zu sagen?«
Herr Ziedorn kam auch herein: »So war's richtig, Kubinke –« meinte er, »ich hab's kommen sehen, – das haben Se nu davon ...«
»Na, warum haben Se denn eigentlich nich die andern anjejeben, Kubinkechen?« fragte Tesch sehr vertraulich und zwinkerte Neumann zu.
»Wer kann denn der Person das beweisen?« sagte Emil Kubinke.
»Wat? – Beweisen?« schrie Tesch. »Die is doch mit den Schlächter jejangen – und mit den Zijarrenfritzen un mit den Briefträger – die müssen ran – die müssen schwör'n – da jehn wer zu Veilchenfeld, – Veilchenfeld, sage ich Ihn', is scharf uff Alimente ... des Aas machen wer noch meineidich!«
»Aber warum haben Sie mir denn das nicht gesagt, Herr Tesch?« meinte Emil Kubinke und atmete ganz tief.
»Na warum haben Se mich denn nich jefracht? Sie haben immer wunder wie stolz jetan – ick habe jedacht, Sie wissen des allens!«
Herr Markowski trat in den Laden.
»Wie ist denn das mit ›Aurora‹?« fragte er gleichgültig, »hat sie's gemacht?«
»Aurora? – die hat doch gestern gar nicht gestartet«, meinte Herr Ziedorn.
»Herr Gott, Kubinke«, rief Markowski erstaunt, und er spielte seine Rolle sehr gut, – »was ist Ihnen denn, wie sehen Sie denn aus?!«
»Den haben se nett ausjezogen«, lachte Neumann, »der muß blechen! Un so dicke hat er's doch ooch nich – wo soll er's denn hernehmen? – Er kann sich's doch nich aus de Rippen schneiden!«
»Ach, Quatsch!« unterbrach Herr Tesch – »haben Se man keene Bange, Kubinkechen, lassen Sie se ruhig auf Sie zukommen – da zahlen Se einfach nich – nich 'n Jroschen for die Jesellschaft! Wat Se nachher haben, jehört alles Ihre Frau ...«
»Was ist denn mit Herrn Kubinke?« fragte Markowski wieder.
»Na wissen Se denn nich, Herr Markowski«, rief Tesch lachend, – »Kolleje Kubinke, der muß doch for den Jungen, von Ihre alte Hedwich den Vater markieren! – Eben haben se 'n verknackt!«
Aber Herrn Markowski tat doch der kleine Emil Kubinke leid, der so ganz verkümmert und verschüchtert immer noch mit seinem Autoschal und seiner Apfelsine im Laden stand, und Herr Markowski legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter:
»Machen Sie sich nischt draus«, sagte er, »sowat kann jeden passier'n, – des kann sojar een' passiern, der Frau und Kinder hat. Die Hauptsache is«, setzte er philosophisch hinzu, »die Hauptsache is, daß det Kind Luft hat ...«
»Wir legen Berufung ein«, rief Tesch wieder, der jetzt die Sache zu seiner eigenen gemacht hatte, »heute nachmittag jeh ick mit Kubinke zu Veilchenfeld – des Aas machen wer meineidig!«
»Seien Sie doch ruhig, Tesch!« rief Herr Ziedorn; denn Herr Ziedorn liebte es nicht, daß es in seinem Institut lärmend zuging. »Da kommt ein Kunde.«
»Au verflucht!« rief Neumann. Weiter nichts.
»Sie sind doch Herr Kubinke – nicht wahr, Herr Kubinke«, sagte der lange, schlanke Herr mit dem Hohenzollernmantel und dem Biberkragen, und um seine Mundwinkel zuckte ein Lächeln, ein ganz geheimes und heute durchaus nicht nur bürokratisch-verbindliches Lächeln.
Ja, er war Emil Kubinke, das konnte er nicht leugnen.
Und wieder kritzelte der Mann, und wieder hatte Emil Kubinke so ein kleines, gelbes Kuvert in der Hand.
»Kolleje«, schrie Tesch, »das is des Urteil! Lassen Se ein' doch mal sehn–damit jehn wer jleich zu Veilchenfeld! –« Und schon riß Herr Tesch Emil Kubinke das Papier aus der Hand und öffnete.
Aber kaum hatte er hineingesehen, mit Augen, die ganz klein waren wie Glühkäfer, als er sich auf einen Stuhl warf, lachte und schrie und sich auf die Schenkel klopfte, – er war ganz von sich, der Kollege Tesch:
»Menschenskind! – Kubinkechen!!« schrie er – »des is ja von de andere – – des is ja von Emma Zieskow, des is ja von de lange Emma – noch 'n Junge! Gerhard heißt der Bengel! Günther Gerhard heißt er! Die hat Sie ooch als Vater anjejeben – – Sehn Se's – hier steht's – hier haben Se's schwarz uff weiß: ›unverehelichte Choristin Emma Zieskow‹ ... am vierzehnten November Gerhard Günther Zieskow ... feine Namen! Jeschmack hat det Mächen! – – – Hier steht's, Kubinke, – lesen Se's selbst, wenn Se's etwa nich jlauben ... Hier steht's, Herr Neumann ... da sehn. Se her, Herr Markowski... Gerhard Günther Zieskow, – hier haben Se 't!«
»Jott, der Kubinke meint ooch, doppelt hält besser«, rief Neumann, – er saß auf dem letzten Sessel, hielt sich den Kopf und trampelte mit den Füßen: »Der hat 'ne janze Hetze Kinder, aber er zahlt nich – det kricht er fertig!« Neumann lachte, daß die Scheiben zitterten. »Ick kann nich mehr, ick kann nich mehr!«
Und auch Herr Ziedorn und Herr Markowski vergaßen ganz ihre Würde und schrien vor Lachen.
Und nur der kleine Oberquartaner, der Friseurgehilfe Emil Kubinke stand da, mit seinem Autoschal um den Hals und seiner Apfelsine in der einen Hand und mit dem gelben Wisch in der anderen – ganz ruhig, wie versteinert. Er war nicht stark genug, er war nicht roh genug. Wie die Wölfe würden sie hinter ihm her sein. Wie sein Schatten würden sie ihm folgen, wohin er sich auch verkriechen mochte.
Und ganz ruhig ging Emil Kubinke hinaus, um sich umzuziehen. – Was hatte er, er, Emil Kubinke, denn mit all dem zu tun.
* * *
Und nun – la farce est jouée, tirez le rideau.
Am Nachmittag – die Sonne war draußen irgendwo ganz rot hinter Wäldern untergegangen, sie war in weiten Fernen in das eisige Meer hinabgesunken, war hinter Mauern und Städten verschwunden, und es lag ein blaues Licht über den Schneetüchern, die das Feld deckten, und über den Dächern und Höfen; ja es drang selbst bis in die Zisterne, bis zu Luther, Dante und dem Apoll von Belvedere, die da unten mit ihren Schneehauben zwischen Taxus- und Thujabüschen standen.
Und die dicke Hedwig führte vorsichtig Herrn August Schneider aus Prenzlau über den Potsdamer Platz, denn sie wollten heute den gewonnenen Prozeß in der ›Bauernschänke‹ feiern; und die lange Emma zankte sich gerade in ihrer Bude in der Mauerstraße mit ihrer Wirtin eines seidenen Unterrocks wegen, der ihr doch gehörte und den die Wirtin für sich beansprucht hatte; und Pauline ging seelenvergnügt und trällernd mit Goldhänschen auf dem Arm vor der Ritterburg auf und nieder – heute abend wollte sie ihrem Bräutigam mal ordentlich den Kopf waschen, denn so etwas dürfe sie auf keinen Fall einreißen lassen – und den Brief mußte er ja auch schon bekommen haben, und der Matrose Gustav Schmelow putzte gerade mit roten Fingern auf Seiner Majestät Panzerkreuzer ›Horridoh‹ an einem Maschinengewehr und sang dazu: ›Als ich jüngst nach Hamburg kam, waren schöne Mädchen da‹; und der Hilfsbriefträger Schultze begann eben seine fünfte Bestellung! – aber Emil Kubinke wußte von all dem nichts. Schade, daß er nicht hören konnte, wie Herr Piesecke sagte:
»Der junge Mann hat mir nie jefallen – er war immer zu leicht –«
Schade, daß er von alldem nichts mehr sah und hörte, daß Emil Kubinke seinen ihm gerichtlich zuerkannten Sohn nicht mehr sehen sollte – der war ganz der Vater, es fehlte nur der Anker auf dem Unterarm und die Krawatte mit dem Totenkopfring, – und Gustav Schmelow war fertig ...
Schade, daß Emil Kubinke von alldem nichts mehr sah und hörte. Denn als Herr Tesch Emil Kubinke aus seiner Bodenkammer abholen wollte, um mit ihm zu Veilchenfeld zu stiefeln, – da hing Emil Kubinke schon lange, viel zu lange am Dachsparren ... In Wut und Scham, in Ekel und Angst hatte er ohne Besinnen das Leben fortgeworfen wie ein Kleid, das beschmutzt worden ist, und das man sich nun vom Leibe reißt und in die Ecke schleudert.
Aber die wundervolle Quadrille des Lebens mit ihrem Chassez-croisez, ihrem Hinüber und Herüber, mit dem ewigen Changez-les-dames, – sie raste, wogte, wirbelte weiter, mit den Hunderttausenden von Paaren, die nach sanften Rhythmen sich drehen und mit wilden, heißen Wangen dahinstürmen, mit ihren Tänzerinnen, die von Arm zu Arm fliegen, und ihren Tänzern, die die Gefährtinnen umschließen, um schon zur nächsten Tour eine andere zu erkiesen.
Und keiner dachte daran, denen nachzublicken, die den großen Festsaal des Lebens scheu und müde verließen ...