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Gegen Mittag saß Jettchen am Fenster, und vor ihr unten im Vorgarten um den blauen Eisenhut, dessen Büsche ganz steif und starr ihre steilen, blauen, blütenbesetzten Stiele in die Sonne reckten, trieben zwei weiße Falter ihr Spiel. Aber plötzlich flog der eine ab, taumelte zu der gelbgrünen Linde hinüber, stieg an ihr empor von Zweig zu Zweig, langsam und unbestimmt, gelockt durch den süßen Duft, und wirbelte endlich oben in den Himmel hinein, der blank und blendend wie ein Metallschild über den Baumkronen hing. Der andere unten aber flatterte noch ein paarmal suchend über den blauen Busch, um sich endlich an irgendeiner Blüte einzuhängen und sich festzusaugen.

Jettchen betrachtete das mit einer seltsamen Empfindung, über die sie sich selbst nicht klar wurde, und als sie dann ganz zufällig aufblickte, klinkte gerade Onkel Salomon das Holztürchen hinter sich zu, und der Wagen, der ihn gebracht hatte, kehrte schon wieder um.

Onkel Salomon trug einen dünnen, englischen Reisemantel, eine graue Schirmmütze, war sehr eingebrannt, sah sehr frisch und jugendlich aus und lachte Jettchen mit dem ganzen Gesicht entgegen. Und Jettchen rief vor Freude so laut seinen Namen, daß Tante Rikchen, die im roten Zimmer ihr Mittagsschläfchen abschnarchte, ganz erschrocken emporflog und ein verquollenes und unklares Gesicht, eine weiße Schlafhaube und eine kantenbesetzte Nachtjacke zum Fenster hinaus in die helle Sonne steckte. Und wie sie Salomon da dicht neben sich draußen auf dem hölzernen Vorbau stehen sah, wußte sie im Augenblick gar nicht, ob sie wache oder noch träume.

Und dann gab es ein Durcheinander und ein Geküsse und Gefrage drinnen im Flur zwischen der hellen und leichtgekleideten Tante Rikchen, Jettchen und dem Herrn, der wie ein englischer Lord aussah, unter dem Auge der Frau Könnecke, die durch das Guckloch ihrer Tür diese Szene observierte. Und Salomon mußte sich beinahe den Eintritt in die Tür erzwingen, so trendelte Tante Rikchens schwabbelnde und ungebändigte Fülle um ihn herum. Jettchen alarmierte das Mädchen und ging auch selbst in die Küche, um Kaffee aufzubrühen und ihm einen kleinen Schuß Hirschhornsalz beizusetzen. Denn, da der Onkel aus Karlsbad kam, war er naturgemäß, was den Kaffee anbelangte, etwas verwöhnt, und wenn er nicht vorher in Leipzig gewesen wäre, wäre es überhaupt unmöglich gewesen, ihn zufriedenzustellen. So war es also Überlieferung, daß Jettchen jedes Jahr einsprang, um den Onkel langsam und stufenweise zum heimischen Gebräu zurückzuleiten.

Und wie jetzt Jettchen, dessen eingedenk, sofort in die Küche verschwinden wollte, rief ihr der Onkel noch nach, sie möchte nicht zu lange auf den Kaffee warten lassen, denn er müsse ›aber gleich‹ wieder ins Geschäft zurück.

Tante Rikchen erhob dagegen wortreichen Einspruch, doch Salomon meinte, es wäre so viel liegengeblieben, daß er fürchte, seine besten Kunden zu verlieren, wenn das nicht noch heute oder Montag herausginge. Und dem fügte sich Tante Rikchen.

Als Jettchen wieder hereinkam, hatte die Tante ein neues Kantentuch um die Schultern. Auf ihrem Platz aber lag eine Papeterie aus rosa Glanzpapier mit zierlich gepreßten Schmetterlingen, Ranken, Amoretten und Vögeln verziert; und wie Jettchen sie öffnete, fand sie darin ein paar Dutzend Briefbogen, von denen jeder in einem runden Blumenrähmchen einen feinen und kleinen Stahlstich trug: einen Korb mit Früchten; einen Bräutigam, welcher mit einem Kniefall seiner Schönen einen Strauß überreicht; ein Mädchen, das mit süßer Miene vor dem Brief ihres Liebsten träumt oder ebenso zuckersüß mit der Feder an ihn denkt; zwei Kinder mit Blumen in den Händen und ein Hund mit einem Körbchen in der Schnauze, so vor ihnen herläuft – – alles gar saubere und zierliche Stahlstiche in den weißen gepreßten Blumenkränzen.

Jettchen bedankte sich und meinte, sie würde sich das aufheben, – es wäre ja viel zu schade, um es so zu verschreiben. Aber Salomon sagte, sie sollte es nicht verschwören; vielleicht könne sie es brauchen; er würde sich freuen, wenn sich für sie die Gelegenheit, solche feinen und zärtlichen Bogen zu versenden, recht bald böte.

Und Tante Rikchen saß stumm dabei, – aber mit ein paar Augen, die sagten: das gebe Gott!

Jettchen verwirrte das, und sie schöpfte Hoffnung. Ja, wenn nicht der Onkel so sehr viel zu erzählen gehabt hätte von neuen und alten Bekanntschaften, von Reunions und vom Sommertheater – das beinahe ebenso gut wäre wie das Königstädter –, sie hätte alles gesagt, was sie auf dem Herzen hatte, ganz gleich, ob die Tante dabei war oder nicht. Aber die Gelegenheit anzuknüpfen, die sich hier einmal geboten hatte, fand sie nicht wieder. Und ehe man noch recht warm geworden und ehe noch die große Meißener Kanne ihren letzten Tropfen hergegeben hatte, zog Onkel Salomon die Uhr und meinte, Jettchen möchte doch mal zusehen, ob sein Wagen nicht schon draußen hielte.

Und als Jettchen zurückkam und sagte, daß der Wagen schon da wäre, stand Onkel Salomon sofort auf – trotz Tante Rikchen, die das höchst ungemütlich fand. Und Jettchen brachte den Onkel noch bis an den Kutschenschlag, denn Tante Rikchen, die in allen Toilettendingen etwas langsam war, hatte noch keine Zeit gefunden, sich inzwischen straßenfähig zu machen. Sie überwachte deshalb nur von ihrem Fenster aus Salomons Abfahrt.

Und wie der Onkel in den Wagen stieg, klopfte er noch einmal Jettchen väterlich auf die Backen und sagte, er würde versuchen, nicht so spät wiederzukommen, sie solle nur inzwischen ordentlich Spazierengehen; denn sie sähe gar nicht aus, als ob sie in Charlottenburg seit gut sieben Wochen auf Sommerwohnung sei, sondern eher, als ob sie überhaupt nicht aus ihrem Keller in der Münzstraße herauskäme.

Jettchen lachte und sagte, daß es wohl nicht so schlimm sein würde, – aber sie schliefe jetzt so wenig, vielleicht weil die Nächte so heiß wären.

Den ganzen Spätnachmittag bis in den Abend hinein saß Jettchen am Fenster und sah wie ein Hündchen – das seinen Herrn erwartet – aufmerksam nach der Berliner Richtung. Von jedem Wagen, der zwischen den Bäumen auf der Chaussee auftauchte, meinte Jettchen, daß es dieses Mal bestimmt derselbe wäre wie der von heute mittag. Aber immer wieder fuhr er vorüber. Bis endlich Onkel Salomon, der einen Torwagen benutzt hatte, wieder in dem Garten stand und sie ihn also doch nicht hatte kommen sehen.

Beim Abendessen war der Onkel am Erzählen von Karlsbad; und in die kargen Pausen sprang Tante Rikchen mit Berliner Neuigkeiten. Jettchen hätte nie geglaubt, was für eine Menge gleichgültiger Leute innerhalb sieben Wochen sich verloben, verheiraten, erben und sterben können und dazu noch die Zeit finden, Schandtaten auf jedem Feld zu begehen, – von der Wechselfälschung der Eltern, dem Ehebruch und dem fraglichen Landaufenthalt der Töchter bis hinab zu den ganz einfachen und alltäglichen Todsünden.

In diesem Gespräch war also für Jettchen auch nicht der kleinste Griff oder Tritt, wo sie sich anhalten oder anklammern konnte, kein Stellchen, wo sie nur einen Fußbreit Boden gewinnen konnte, um von ihm aus weiter zu kommen. Und ehe sie sich recht versah, standen Onkel und Tante auf und wünschten gute Nacht; denn der Onkel sagte, er hätte einen schlimmen Tag hinter sich, und er merke so etwas doch schon mehr wie früher.

Aber so weit mußte das doch mit der Müdigkeit von Onkel Salomon nicht her sein, – denn als Jettchen in ihrem Zimmer, in dem noch ein letzter Lichtschein des Tages hing, am Fenster saß und in das silbrige Gesträuch sah, als sie in die dunklen Laubkronen und in den lichtgrünen Himmel dieses mondhellen Sommerabends hineinblickte, ganz verträumt und sorgenvoll, da hörte sie die beiden nebenan noch stundenlang reden. Und es schienen ihr das keine einfachen Gespräche zu sein, keine bloßen Mitteilungen, sondern Beratungen und ein erregtes Hin und Her. Denn keiner sprach lange, und immer unterbrach einer den anderen. Jettchen hätte vielleicht hören können, um was es sich drehte, wenn sie hätte horchen wollen; aber das widerstrebte ihr. Und so griff sie nur manchmal ein Wort auf oder einen Brocken; sie hörte Jason nennen und Julius und sich selbst und Kößling – sie hatte sich nicht getäuscht: Kößling; – dann aber wurde drinnen leise und flüsternd gesprochen; der Onkel gähnte langgezogen und hoch; die Pausen in dem Gespräch wuchsen, und endlich schmolz es zu einzelnen müden Worten zusammen, – bis nur noch die Stille um Jettchen war und die mondhelle Sommernacht. –

Da stand Jettchen auf von ihrem Fensterplatz und, während sie sich auskleidete, war ihr Entschluß fest, morgen mit dem Onkel zu reden, und sie war ganz erfreut über die Kriegslist, die sie ersonnen. Sie würde mit ihm früh in den Park oder nur in den Garten gehen und dann, wenn sie neben ihm herschritte, sie brauchte ihn dabei doch gar nicht anzusehen, würde sie ihm alles sagen, ganz ruhig – und der Onkel müsse ja für sie sein. Morgen am Sonntag aber würde er sicher früh mit ihr Spazierengehen, – das hätte er sonst immer getan! –

Und das erstemal seit langen Tagen schlief Jettchen ganz ruhig und fest.

Zum Frühstückstisch kamen Onkel Salomon und Tante Rikchen später als sonst, und Jettchen saß schon wie auf Kohlen, um den Onkel zum Spaziergang aufzufordern. Da begann Tante Rikchen, Jettchen müsse ja alles gut richten, denn sie würden Mittag Gäste haben und Nachmittag und Abend vielleicht auch. Ferdinand würde kommen, – sicher, – und vielleicht auch Jason und Onkel Eli, und es wäre immerhin nicht unmöglich, daß Julius auch käme. Was sie geben solle? Tauben? – da würde keiner satt von, und mit Gänsen wäre es noch nichts Besonderes, – sie wäre für Hammelrücken und Enten, das äße man nicht alle Tage. Vielleicht würde Frau Könnecke ihren Herd mit zur Verfügung stellen, und Jettchen sollte noch sehen, ob sie recht gutes Obst bekäme, und dann sollte sie einen Kirschkuchen und geschlagene Sahne bei Weiße bestellen und außerdem noch Tortelettes für die eingemachten Früchte; – Weißbier wäre auch nicht genug im Hause.

Jettchen meinte, daß sie das alles tun wollte, aber sie möchte erst gern ein bißchen in den Park gehen, und sie würde sich freuen, wenn Onkel mitkäme, er hätte das früher immer getan, sie hätte gar nichts mehr von ihm.

Aber Tante Rikchen fragte ganz spitz, ob sie oder Jettchen mit ihrem Mann verheiratet sei.

»Nein, Tante«, sagte Jettchen, »ich will dir Onkel keineswegs streitig machen ... aber ich habe mir das so nett gedacht.«

»Ein andermal, Jettchen«, mischte sich der Onkel ein, »sieh mal, ich bin ja noch länger hier.«

»Ach, Onkel!« bat Jettchen.

»Aber Jettchen!« rief die Tante in ihrer höchsten Tonlage, »wie denkst du dir denn das? Wann meinst du, daß sie kommen? Um zwölf ist Ferdinand spätestens hier. Und du weißt ja selbst, Jettchen, daß er den ganzen Tag nicht zu brauchen ist, wenn er nicht um halb eins sein Essen hat.«

»Ich wäre aber so gern – –«, wagte Jettchen schüchtern noch einmal.

»Ist dir so etwas vorgekommen?« fragte Rikchen mehr rhetorisch, denn daß sie eine Antwort erwartete, und schüttelte unwillig ihre Tüllhaube dazu. »Ist dir so etwas vorgekommen?«

»Aber mein Kind«, begleitete der Onkel seine Frau, »soll sich die Tante vielleicht allein hinstellen?«

»Nun schön, – nun schön, ja – ich bleibe ja – schon«, versetzte Jettchen und stand auf. Das Weinen war ihr näher als das Lachen.

»Aber willst du denn nicht Kaffee trinken, liebes Jettchen?«

Jettchen gab der Tante keine Antwort und ging aus dem Zimmer.

Salomon und Rikchen sahen sich an. Salomon nickte nur, und Rikchens Blick sagte: – »Nun, Salomon, habe ich vielleicht so unrecht gehabt?«

 


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