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Wir befinden uns in dem überheizten Salon eines Hauses in einer kleinen Provinzstadt … Die Wände sind mit einer Tapete in schreienden Farben bekleidet, auf welcher ein Blumenstrauß in zahllosen Variationen wiederholt ist. Auf dem Schrank oben – denn ein Schrank ist in dem Salon auch vorhanden – stehen Gläser mit eingekochten Früchten in Reih und Glied; die Polstermöbel sind mit einem grauen Leinwandüberzug versehen, offenbar um den darunter befindlichen Stoff zu schonen.
In diesem Zimmer, vor dessen großem Stehspiegel zwei Armleuchter auf der Erde stehen, kleidet sich Fräulein Marie an. Das heißt, sie kleidet sich nicht an, sondern sollte sich nur ankleiden. Schon seit zehn Minuten sitzt sie vor dem großen Spiegel, die beiden Hände über das rechte Knie geschlungen. Sie betrachtet nicht das eigene Konterfei, denn während eines Zeitraumes von dreiundzwanzig Jahren hatte sie reichlich Gelegenheit, sich daran zu ergötzen, und seit den letzten drei oder vier Jahren ging keinerlei größere Veränderung in ihrem Äußeren vor, sondern sie folgt mit den Blicken dem blauen Rauch, welcher der Zigarette entsteigt, die sie zwischen den Lippen hält.
Die einzelnen Bestandteile ihrer Balltoilette lagen teils auf den Stühlen herum, teils hingen sie an den Säulen des Spiegelrahmens. Die junge Dame hatte ein Wolltuch über die entblößten Schultern geworfen; im übrigen war ihr Haar noch nicht geordnet, und auch sonst war ihre Bekleidung im ganzen eine recht lückenhafte. Wie sie mit der Zigarette zwischen den Lippen dasaß und die gleichgültige Lässigkeit zu verkörpern schien, erinnerte sie durchaus nicht an jene süßlichen Genrebilder, die die liebliche Aufregung eines jungen Mädchens darstellen, das sich anschickt, einen ersten Ball zu besuchen. Nein, es handelte sich vor allen Dingen nicht um ihren ersten Ball. Sie hatte Bälle sowohl in Budapest, als auch in Wien mitgemacht, hatte ebenso auf dem spiegelglatten Parkett goldschimmernder Ballsäle, wie auf dem braun gestrichenen Fußboden der Gasthöfe unterschiedlicher Provinzstädte getanzt, eine süße Aufregung aber nicht einmal vor ihrem ersten Ball empfunden, dessen Erinnerungen auch keine derartigen waren, daß sie irgend welchen Nachhall in ihr zurückgelassen hätten.
Nach dieser, wie ich zugeben will, nicht im geringsten »stimmungsvollen« Einleitung wird es vielleicht ein wenig überraschend erscheinen, wenn ich erkläre, daß Fräulein Marie durchaus nicht häßlich war, ganz im Gegenteil sogar …
Sie war eine tadellos gebaute junge Dame von aristokratischer Schlankheit und hatte – um meine Beschreibung zu vervollständigen – sehr schönes, dichtes blondes Haar; der Schnitt ihres Gesichtes, Mundes und Kinns war ganz entschieden reizend zu nennen. Doch zeigte ihr Gesicht ständig den Ausdruck einer nachlässigen Ruhe, häufig auch den der ungeduldigen Geringschätzung, während das reine, graue Auge kühl und nüchtern blickte. Dies mochte der Grund sein, weshalb das Mädchen schon seit Jahren von fremden Leuten, namentlich aber von Kaufleuten, »gnädige Frau« genannt wurde.
Nun will ich aber auch sagen, wer dieses Fräulein Marie eigentlich ist.
Ihre Mutter, eine polnische Gräfin, hatte Marie niemals gekannt; ihr Vater aber war der berühmte General von Atalay, derselbe Atalay, der es zustande brachte, daß man fortwährend von ihm sprach, von seiner Leutnantszeit bis zu dem Zeitpunkt, da er Oberst wurde. Zuerst boten seine Kriegsabenteuer, in friedlicheren Zeitläuften aber seine Duelle, die tollkühnen Reiterstückchen und seine sinnlose Verschwendungssucht reichlichen Gesprächsstoff. Der Alte, der zur Zeit unserer Geschichte aber noch sehr energisch gegen das Prädikat »alt« protestierte, war ein Mann von bezwingendem Äußeren und dabei ein wenig phantastisch veranlagt; Männern gegenüber von entzückender Liebenswürdigkeit, war er Frauen gegenüber von hinreißender Unverschämtheit, aber als General genau so bodenlos leichtsinnig, wie er es als Kadett gewesen.
Nachdem Herr von Atalay sehr früh zum Witwer geworden, ließ er seine Tochter bei Verwandten erziehen und heranwachsen. Es war ein Glück für ihn, daß er eine sehr ausgebreitete Verwandtschaft hatte, denn länger als zwei oder drei Jahre verblieb Marie niemals in dem Kreise einer Familie. Zwar wurde sie überall gut behandelt, auch wäre es recht schwierig gewesen, sie anders zu behandeln, denn einerseits war sie so anspruchslos und gutherzig, daß jedermann sie lieb gewinnen mußte, anderseits bekundete sie soviel Selbstbewußtsein und Entschiedenheit, daß niemand mit ihr Streit zu suchen wagte. Aus welchem Grunde sie trotzdem all den Familien, in deren Schoße sie sich jahrelang wohlgefühlt, mit einem Male den Rücken wandte, werde ich durch Auszüge aus einigen Briefen motivieren, die Marie an ihren Vater richtete.
»Bei Mádays kann ich nicht länger bleiben,« schrieb sie vor sechs Jahren an ihren Vater, als sie noch bei den im Komitat Bihar wohnenden Verwandten war. »Zwar hat mich im Hause jedermann lieb; allein der Onkel, namentlich wenn er etwas zu tief ins Glas geguckt hat, behandelt die Tante in einer Weise, als wäre sie seine Dienstmagd … Nein, Máday ist kein Edelmann; er ist ein ganz niedriger Mensch! Ich will nicht länger in seinem Hause bleiben, und es tut mir nur leid, daß ich die Tante nicht mit mir nehmen kann …«
Atalay, der selbst der höflichste Mensch von der Welt war, teilte vollkommen die Auffassung seiner Tochter und brachte Marie zu seinen in Semlin lebenden Verwandten, der Familie Sarvary. Sie blieb zwei Jahre dort und dann mußte sie – um mich eines Ausdrucks des damaligen Obersten zu bedienen – abermals einen Garnisonwechsel vornehmen.
»Onkel Georg,« hatte Marie damals geschrieben, »bekam bei der Abgeordnetenwahl Streit mit einem wilden Naizen oder Kroaten. Der Betreffende forderte ihn zum Duell und Georg – bedenke nur, Papa! – Georg bat den Naizen um Verzeihung. Und solch ein Mensch nennt sich einen Edelmann! Ich will nicht länger an seinem Tische sitzen und bitte dich, Papa, mich zu Dobós zu bringen; aber nur schnell, sonst kommt es noch zu einem Skandal … Ich habe bereits an Tante Dobó geschrieben, die mich sehr gern in ihrem Hause aufnehmen will …«
So kam denn Marie zu der Familie Dobó. Vor drei Monaten hatte man sie aber auch von dort fortbringen müssen.
»Es ist schrecklich, lieber Papa,« lautete die diesbezügliche Stelle ihres Briefes, »Dobó ist ein seelensguter Mensch, aber auch blind und taub, ein Esel mit einem Wort. Und Tante Olga – nein, es ist zu schrecklich! Ich weinte vor Wut die ganze Nacht hindurch. Die Sache geht mich ja eigentlich nichts an, aber gegen seinen innersten Menschen kann man nicht ankämpfen. Ich bitte dich, nimm mich nur schnell fort von hier. Wenn es nicht anders geht, so will ich in Gottes Namen sogar zu Tante Susi gehen …«
General Atalay entsprach wieder dem Verlangen seiner Tochter, ohne bei diesem Anlaß den Gründen der Katastrophe nachzuspüren. Und Marie fand sich an einem schönen Wintertag mit sehr vielem Gepäck auf dem Wagen und einem unerschütterlichen Entschlusse im Herzen bei ihrer Tante Susi ein, die ein kleines Städtchen im Pester Komitat bewohnte.
Weshalb Marie ihr Herz mit einem festen Entschluß wappnen mußte, als sie über die Schwelle der Tante Susi trat, werden wir sofort erfahren, wenn wir in den zum Ankleidezimmer umgestalteten Salon zurückkehren, in welchem Marie soeben den letzten Zug aus ihrer Zigarette tat. In demselben Augenblick öffnete sich unter zornigem Kreischen die Tür des Speisezimmers und herein trat Tante Susi. Verwundert, fast beklommen blickte Marie auf die Tante, die sich bereits in vollem Ballschmuck befand. Sie trug eine sehr teure Seidenrobe von unmöglichem Zuschnitt. An der Brust hatte das Kleid einen viereckigen Ausschnitt, als wäre es ein Fenster gewesen. Sehr viele Schmucksachen und Blumen vervollständigten die Toilette, die nur dazu bestimmt schien, ein boshaftes, kleines Furiengesicht von unglaublichem Faltenreichtum voll zur Geltung zu bringen.
Tante Susi – ich brauche wohl nicht besonders zu erwähnen, daß sie eine alte Jungfer war – erfreute sich in der großen, ausgebreiteten Verwandtschaft eines geradezu unvergleichlichen Ansehens. Sie hatte dieses Ansehen weniger ihrer persönlichen Liebenswürdigkeit, als dem Umstande zu verdanken, daß sie das fünfzigste Lebensjahr bereits überschritten hatte und sich des Besitzes eines bedeutenden Vermögens rühmen konnte, welches sie in Ermanglung natürlicher Leibeserben jenem Mitglied der Familie zu vermachen gedachte, das sich dazu am würdigsten erweisen würde. Und selbst der Neid mußte zugestehen, daß sie den Nimbus der Erbtante mit bewunderungswürdigem Erfindungsgeist für sich zu fruktifizieren verstand. Sie forderte von den Verwandten eine bedingungslose, fast sklavische Unterwerfung, die ihr auch nicht vorenthalten wurde.
Sie selbst war über jegliches Urteil erhaben, überwachte aber scharfen Auges das Tun und Lassen sämtlicher Familienmitglieder. Wer ihrer werten Persönlichkeit nicht die erforderliche Hochachtung entgegenbrachte – und das war gar häufig der Fall, da Tante Susi überaus empfindlich und argwöhnisch veranlagt war – wurde kurzerhand der Erbschaft für verlustig erklärt. Bei solchen Anlässen söhnte sie sich gewöhnlich mit einem älteren Feinde aus und stellte diesem ihr Vermögen in Aussicht. Es gab Jahre, in denen das eine oder andere Familienmitglied die theoretische Enterbung und neuerliche Zusicherung der Universalerbschaft zwei- und auch dreimal über sich ergehen lassen mußte. Übrigens war die Lage des provisorischen Erben nichts weniger denn beneidenswert. Es war seine Pflicht, Tante Susi mit zärtlicher Fürsorge zu umgeben, ihr alle erdenklichen Gänge zu besorgen, sie mit Geschenken zu überhäufen und sie für ständig an seinem Tische zu sehen. Als Entschädigung durfte er in der Hoffnung auf die Erbschaft schwelgen; weiter nichts. Insgeheim lachte und wütete die ganze Verwandtschaft über das Betragen der Tante Susi, was aber nicht hinderte, daß sich alle – vielleicht nur mit Ausnahme des Generals von Atalay – vor ihren Launen beugten. Dabei nagte an den Herzen aller der finstere Verdacht, daß ihnen Tante Susi nach ihrem Tode den unerhörten Streich spielen werde, ihr Vermögen einem wohltätigen Zwecke zu vermachen. Nicht als ob sie sonderliche wohltätige Anwandlungen gehabt hätte; aber aus reiner Bosheit schien sie selbst zu derartigem fähig zu sein.
Tante Susi war also zu Marie ins Zimmer getreten.
Einen Augenblick blieb sie wie erstarrt auf der Schwelle stehen.
»Was? Du rauchst?« fragte sie dann im Tone gerechter Entrüstung.
»Ja, aber nur Zigaretten,« gab Marie sehr gelassen zur Antwort.
»Aber, Marie, das ist ja eine scheußliche Gewohnheit!«
»Ja, geradezu abscheulich,« bestätigte Marie, indem sie den Rest ihrer Zigarette in den Ofen warf. »Abscheulich, namentlich bei den Frauen; doch wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, kann man es nicht mehr lassen.«
Diese absonderliche, kühne Antwort, noch mehr aber das heitere Phlegma des jungen Mädchens betäubte die Tante fast; doch nur für einen Augenblick.
»Und dabei bist du mit dem Ankleiden noch nicht fertig,« hub sie von neuem an. »Ich hätte wahrlich mehr Rücksicht von dir vorausgesetzt … Du hast gewiß gar keine Ahnung davon, welch ein großes Opfer ich bringe, indem ich dich auf den Ball begleite …«
»Opfer?« fragte Marie und blickte ihre Tante mit aufrichtigem Staunen an. »Du gehst also nicht gern auf den Ball, Tante?«
»Was fällt dir ein? Glaubst du etwa, ich wolle oder werde mit den jungen Herren herumspringen?«
Marie legte das Kleid, das sie bereits zur Hand genommen, ruhig auf den Fauteuil zurück und sagte: »Dann verstehe ich wirklich nicht, aus welchem Grunde wir dahin gehen … Du weißt doch, Tante, wie verhaßt mir diese Unterhaltungen sind. Mit halb fremden Leuten sich umschlungen halten und so mit ihnen herumtanzen – was soll das? Ich war niemals eine Freundin von dergleichen, und nun langweilt mich die Sache sogar, seitdem ich eine alte Jungfer bin …«
Tante Susi erschrak ein wenig. Wenn sie auf einen Ball ging, so opferte sie sich immer für irgend ein weibliches Mitglied der Verwandtschaft; doch hätte sie darum beileibe niemals eine solche Gelegenheit der Selbstaufopferung verabsäumt … Nein, niemals!
»Es handelt sich jetzt um keine Unterhaltung,« erwiderte sie gallig. »Mädchen wie du gehen nicht des Tanzens wegen auf den Ball …«
»Sondern um einen Gatten zu fangen. Ich weiß das sehr gut! Habe es selbst auch schon versucht, scheine aber kein Talent dazu zu besitzen … Aber schließlich muß ich ja nicht um jeden Preis heiraten; nicht alle Mädchen bekommen Männer …«
Dies sollte keine Anspielung sein; allein Tante Susi erblickte eine solche darin und errötete bis über die Ohren. Der Hinweis hatte sie verletzt. – Wohl war sie unvermählt geblieben; doch hatte sie eine ernste und heilige Ursache dazu. – In der Familie kannte man diese ernste, heilige Ursache in zwei Versionen. Nach der einen Lesart, die sich im Kreise der präsumtiven Erben erhielt, war diese Ursache in einem stattlichen Ulanenoffizier zu suchen, der mit dem Namen der Susi auf den Lippen bei Solferino den Heldentod starb: die andere Partei – die der Enterbten nämlich – ließ den Ulanen zwar gelten, behauptete aber, daß er auch heute noch als Magazinskommandant in Olmütz lebe.
»Mein liebes Kind,« sprach die Tante jetzt mit sehr verdächtiger Sanftheit, »vergiß nicht, daß zwischen uns beiden ein gewisser Unterschied besteht. Meine Zukunft ist eine durchaus gesicherte, während du das von dir leider nicht sagen kannst.«
»Daran habe ich selbst auch gedacht, als ich da vorhin meine Zigarette rauchte,« erwiderte Marie. »Ich glaube, daß ich irgend etwas beginnen müßte, denn auf Papa kann ich nicht lange mehr zählen.«
»Die Leute sagen, er habe selbst dein bißchen Geld auch schon durchgebracht?« fragte Tante Susi im Tone gespannter Neugierde.
Marie war indessen nicht bemüht, die Neugierde ihrer Tante zu befriedigen, sondern spann ihre Gedanken weiter.
»Ich bin auf eine absonderliche Idee verfallen,« sprach sie. »Was würde wohl die Familie sagen, wenn ich Schauspielerin werden wollte?«
»Schauspielerin?«
Marie nickte ruhig mit dem Kopfe und fuhr zu sprechen fort: »Ich glaube, in mir Talent für diesen Beruf zu haben, obschon man sich zuweilen auch in sich selbst täuscht.«
»Schauspielerin? Was für dummes Geschwätz ist das!«
»Soll ich vielleicht Schneiderin oder Näherin werden?«
»Lieber das, hundertmal lieber das!«
»Das scheint Geschmacksache zu sein,« sagte Marie und zuckte die Achseln. »Und dem Nähen kann ich keinen Geschmack abgewinnen.«
Tante Susi konnte sich den Genuß nicht versagen, das Argument, dessen sie sich schon so häufig im Leben bedient hatte, von neuem ins Treffen zu führen. Und so sagte sie denn: »Wenn du dazu imstande wärst, Marie, so würde ich dich enterben. Ja, allen Ernstes enterben!«
Das junge Mädchen lächelte.
»Und würdest du mich zu deiner Universalerbin einsetzen, Tante, wenn ich dir verspräche, nicht Schauspielerin zu werden?« fragte sie.
Tante Susi war von der Verwegenheit dieses offenen Angriffes ganz überwältigt. Sie hatte aber allen Grund, rasch das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, und so sagte sie denn: »Du lieber Gott, neun Uhr ist es schon! Und dein Vater wird auch auf dem Balle sein … Wie man mir sagte, ist er mit Blasius Hajdu aus Budapest angelangt …«
Das Mädchen hob wortlos den Kopf und begann sich anzukleiden.
»Ich hab' meinen Alten schon lange nicht gesehen,« sagte es nach einer Weile und fügte dann, als hätte es sich seiner stillen Lüge geschämt, langsam hinzu: »Und Blasius möchte ich auch sehen …«
Die Tante spitzte die Ohren und betrachtete Marie spähenden Blickes … Ja, es wollte ihr bedünken, als hätte sich Blasius vor Jahren mit Marie eingehender befaßt …
Bis der Wagen vorfuhr, unterhielt Tante Susi ihre Nichte damit, daß sie die jüngsten Erlebnisse Blasius Hajdus ventilierte.
»Man sagt, er heirate nicht, weil er in Olga Dobó verliebt sei. Vielleicht ist das Ganze nur Klatsch, denn die Menschen erfinden ja sehr vieles. Man erzählt auch, Blasius hinke auf dem rechten Fuß, weil ihn Dobós Kugel getroffen … Ich glaube es zwar nicht, trotzdem ich mit eigenen Augen gesehen habe, daß er den Fuß ein wenig nachschleift … Vielleicht hat das einen anderen Grund … Wäre er in Olga verliebt, so befände er sich nicht immer in Gesellschaft von Schauspielerinnen. Denn ein jeder, der aus Pest hierherkommt, erzählt, daß er …«
Marie zog bereits die Handschuhe an und sagte ruhig: »Ich bin fertig!«
Den Ball, zu welchem Tante Susi und Marie eingeladen waren, veranstaltete der neue Obergespan, Gedeon von Tatáry. Vor zwei oder drei Wochen war er noch ein junger Abgeordneter gewesen, den man mit einem Male zum Obergespan einer nördlichen Stadt ernannt hatte. Bevor er sich mit seiner Familie an seinen neuen Residenzort begab, wollte er sich mit diesem Balle von seiner Verwandtschaft, den Familien Atalay, Dobó und Hajdu, sowie von den in der Umgebung lebenden Herrschaften verabschieden.
Der Ball fand in einem großen, am Ende des Ortes gelegenen Hause statt, das nur aus einem Erdgeschoß bestand. Das Haus machte einen entschieden vornehmen, schloßartigen Eindruck, den es einzig und allein nur seinen unverhältnismäßig großen Spitzbogenfenstern zu verdanken hatte. Tatáry, der sich auch sonst vortrefflich auf die liebliche Kunst des Repräsentierens verstand, hatte dafür gesorgt, daß sein Ball einen sehr vornehmen Anstrich erhielt. Vor dem Tor und längs der Korridore standen Heiducken in Gala, und der zum Tanzsaal umgewandelte große Speiseraum füllte sich immer mehr mit Damen in Balltoilette und Herren im Frack.
Zwar hatte der Tanz bereits begonnen, als Tante Susi und Marie in den Saal traten; trotzdem wurden sie an der Tür vom Obergespan empfangen, der der Tante zuvorkommend den Arm reichte, womit er – wenigstens in den Augen der anwesenden Familienmitglieder – seine Erbansprüche öffentlich zum Ausdruck brachte. Mit einem freundlichen Lächeln um die Lippen geleitete er das alte Fräulein mit glatter Liebenswürdigkeit durch den Saal. Diesem Lächeln und dieser Liebenswürdigkeit hatte er eigentlich seine ganze Karriere bisher zu verdanken. Völlig unbemittelt, hatte er das Abgeordnetenmandat durch seine gewinnende Freundlichkeit erlangt, durch dieselbe auch das Herz und die reiche Mitgift der Tochter des steinreichen Dobó gewonnen und dieser seiner Fähigkeit – vielleicht im Vereine mit seiner Kenntnis der slowakischen Sprache – hatte er offenbar auch die Obergespanswürde zu verdanken. Im übrigen war er ein junger, blühender und überraschend schöner Mann. Zu schön vielleicht sogar. Er hatte eine herrliche, wenngleich etwas weiche und zum Embonpoint neigende Gestalt, ein regelmäßiges Gesicht, feurig blickende, träumerische Augen und unter dem seidenweichen Schnurrbart blitzten zwischen den rosenroten Lippen blendend weiße Zähne hervor. Trotz alledem hatte er bei Männern mehr Glück als bei Frauen. Diese erklärten ihn auf den Blick, namentlich die jungen Mädchen, einfach für abscheulich. So hatte beispielsweise einmal Marie von Atalay mit drastischer Aufrichtigkeit erklärt, daß wenn ihr die Wahl gestellt würde, sie lieber eine Kröte küssen würde. Und mußte sie die Hand des Obergespans einmal mit nackter Hand erfassen, so erschauerte sie vor Widerwillen bei dieser Berührung. Und dabei vermochte sie für ihre Abneigung keinen anderen Grund anzuführen, als daß Tatáry in seinem gekräuselten Ballhemde Diamantknöpfe trug und ein goldenes Armband an seinem rechten Handgelenk baumeln hatte.
Dessenungeachtet gab es eine Frau, die mit schwärmerischer Leidenschaft an dem schönen Obergespan hing; dieselbe Frau, die auch jetzt eifersüchtige und bewundernde Blicke aus der entgegensetzten Ecke des Saales auf ihn richtete: seine eigene Gattin. Und dabei war diese Frau, die eine Mitgift von drei-, wie manche wissen wollten, sogar von vierhunderttausend Gulden bekommen hatte, nicht einmal häßlich. Sie war eine schmächtige, aber sehr anmutige und sanfte junge Person.
Inzwischen hatte Marie von Atalay inmitten der wimmelnden Menge die von ihr gesuchte Person gefunden: ihren Vater. Der Alte trug seine goldstrotzende Uniform und tanzte wie von Sinnen; er tanzte den Walzer mit soviel Schwung, Leichtigkeit und Feuer, wie das nur von dem einstigen König der Wiener Kolosseum-Bälle zu erwarten stand. Er drehte sich mit einer schönen, rundlichen Frau im Kreise, der er während des Tanzens, vielleicht eher aus Gewohnheit, als aus Überzeugung, ausgiebige Witzeleien zuflüstern mochte, denn seine Tänzerin war vor entrüstetem Lachen fast dem Ersticken nahe. Nein, den General von Atalay fand noch niemand »abscheulich.« Noch heute war er der Hahn im Korb, der alle anderen Männer in den Schatten stellte.
Darauf eilte der Alte zu seiner Tochter. Der gaminhafte Zug war bereits von seinem Gesicht verschwunden.
»Servus, Marie!« begrüßte er seine Tochter.
»Küß die Hand, Papa.«
Und damit schüttelten sie einander kräftig die Hände.
»Na, wie geht es denn?« fragte der Alte.
»Danke, man lebt …«
»Verträgst du dich mit Tante Susi?«
»Zur Not geht es an …«
»Brauchst du Geld?« fragte der General vertraulich.
Marie war im höchsten Grade erstaunt.
»Geld?« fragte sie.
Der General maß seine Tochter selbstbewußten Blickes.
»Sprich nur, wenn du welches brauchst … Für Kleider oder Naschwerk geb' ich dir gerne dreihundert Gulden … Oder werden zweihundert auch genügen?«
»Ja,« erwiderte Marie und streckte ihm die [feinbehandschuhte] Rechte gelassen hin.
Und in der Mitte des Ballsaales stehend, nahm der General seine Brieftasche hervor und gab seiner Tochter zwei Hundertguldenscheine.
»Das Geld hat er sicher im Kartenspiel gewonnen,« sagte sich Marie, indem sie die Banknoten im Busen verwahrte.
»Du bist heute sehr hübsch,« bemerkte der General dann noch, indem er seine Tochter sachverständigen Blickes musterte.
Darauf sah sich der Alte wieder nach seiner schönen, rundlichen Tänzerin um, während Marie den anwesenden älteren Damen, mit denen sie bekannt war, ihre Aufwartung machte. Diese Aufwartung fiel zum überwiegend größten Teil sehr kühl, an manchen Stellen sogar impertinent hochmütig aus und nahm nur an sehr wenigen Punkten eine freundlichere Färbung an. Ließ Marie den Blick durch den Saal schweifen, so sah sie dort eigentlich nur eine Vereinigung von ihr feindlich gesinnten Personen vor sich. Diese vielen Tanten, Schwäger und Basen taten schon seit Monaten nichts anderes, als sich an der Tochter des Generals die Zunge zu wetzen. Man fand alles anstößig an ihr, ihre Kleidung, ihren Gang, ja sogar ihren Blick. Sie aber – und darin bekundete sie sich als die echte Tochter ihres Vaters – erwiderte die Sticheleien mit kaltem Hohn und die Verdächtigungen mit verächtlichem Schweigen. Die natürliche Folge davon war, daß die Zahl der ihr wohlgesinnten Personen immer mehr schmolz, die ihrer Feinde in der Familie aber immer mehr zunahm …
Während Marie die anwesenden Gäste musterte, blitzte ihr Auge mit einem Male auf und heftete sich dann, wie von einer magnetischen Kraft angezogen, auf das obere Ende des Saales, wo zwischen weißen Frauenschultern ein brauner Männerkopf hervorragte. Das war er, Blasius Hajdu; er, um dessenwillen sie eigentlich hierhergekommen. Es währte recht lange, bis Hajdu sie erblickte, worauf er ihr lächelnd aber ohne jedes Zeichen der Überraschung zunickte.
»Guten Abend!«
Marie aber machte auf den Hacken kehrt und ließ sich am entgegengesetzten Ende des Saales nieder, wo einige minder boshafte Tanten ihr Lager aufgeschlagen hatten. Wohl bemerkte sie, daß ihre legitime Leibwächterin, nämlich Tante Susi, ihr mit dem Fächer erregt telegraphische Zeichen übermittelte, allein Susi saß inmitten eines Schwarms giftiger Tanten, und Marie hatte nicht den Mut, sich in die Löwengrube zu wagen. Seit zehn Minuten saß sie wohl schon da und noch immer blieb Hajdu unsichtbar. Einige junge Herren hatten sie bereits zum Tanz führen wollen, sich aber ausnahmslos einen Korb geholt.
Jetzt verneigte sich ein bleicher, sehr blonder junger Mann vor ihr.
»Sie sind es, Horvàth? Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie.
»Wenn ich das wüßte!«
Dieser Herr Horvàth war ein junger Mann, dessen Gesicht einen namenlos verbitterten Ausdruck zeigte, während seine Augen merkwürdig sanft blickten. Seines Zeichens war er Journalist in der Hauptstadt und vor ein paar Jahren mit Marie in irgend einem Badeort bekannt geworden. Man sagte von ihm, daß er einer angesehenen Familie angehöre, aber ein recht lockeres Leben zu führen gewohnt sei.
»Der Obergespan erblickte mich heute zufällig auf der Bahn und schleppte mich mit sich,« erklärte er. »Ich glaube, er sähe es gern, wenn in den hauptstädtischen Blättern von seinem Ball die Rede wäre …«
»Da kennen Sie ihn ganz genau,« meinte Marie. »Sie sind ja übrigens in alle Dinge eingeweiht; könnten Sie mir nicht sagen, aus welchem Grunde Tatáry Obergespan geworden ist?«
Horvàth zuckte die Achseln.
»Weshalb sollte Tatáry nicht Obergespan sein?« fragte er.
»Halten Sie ihn für einen gescheiten Menschen?«
»Wer sich mit einer so geringen Dosis von Verstand zur Geltung zu bringen versteht, ist jedenfalls ein außergewöhnlicher Mann …«
Herr Horvàth schwieg und trat taktvoll zur Seite, als er Blasius Hajdu vor Marie stehen bleiben sah.
»Guten Abend, Marie. Wie geht es dir?«
Sie waren zwar sehr weit entfernt verwandt miteinander, duzten sich aber trotzdem, wie das in der Familie Sitte war.
Das Mädchen reichte ihm die Hand und schnitt eine kleine Grimasse, statt zu antworten. »So, so …«
»Wer ist der Herr, mit dem du soeben gesprochen hast?« fragte Hajdu weiter.
Marie sagte es ihm.
»Du besitzest ein besonderes Talent, überall die Gesellschaft aufzusuchen, die am wenigsten für dich paßt,« bemerkte Hajdu unmutig.
Das Mädchen blickte ihn voll heiterer Überraschung an. »Am Ende wirst du mich jetzt auszanken?«
»Fällt mir nicht ein. Aber weshalb tanzest du nicht?«
»Quadrille werde ich vielleicht tanzen.«
»Ich tanze auch nur Quadrille. Die erste mit Frau Oskar, die zweite mit der Schwester des Obergespans. Sieh, die Paare stellen sich schon auf.«
Hajdu nickte und ging. Das war alles gewesen! Marie aber blickte ihm mit schwindelndem Kopf, feuchten Augen und schwerem Herzen nach. Ihr Gesicht war feuerrot und dann sofort wieder leichenblaß geworden. Was war eigentlich geschehen? Seit anderthalb Jahren schon hatte sie auf diese Begegnung gewartet, voll abergläubischer Zuversicht und wachsender Ungeduld. Sie hatte sich eingebildet, daß diese Begegnung eine Veränderung ihres ganzen Lebens nach sich ziehen und das traurige, peinigende Rätsel lösen werde, das, einem dunkeln Vorhang gleich, ihr den Ausblick in die Zukunft verwehrte. Dabei hätte sie sich sagen müssen, daß Hajdu absolut nichts getan habe, um diese merkwürdigen, sanguinischen Hoffnungen zu nähren. Er war freundlich zu ihr, verweilte gern in ihrer Gesellschaft und amüsierte sich mit ihr, aber eher als guter Kamerad, denn als Bewerber um ihre Gunst. Er hatte keine Ahnung davon, daß er einen nennenswerten Einfluß auf dieses für launenhaft und eigensinnig verschrieene Mädchen ausüben könnte und dachte nicht im Traume daran, daß sein Bild das eines jeden anderen Mannes in dem Herzen des Mädchens allmählich verdrängt habe.
Vielleicht schmerzte nicht einmal das Gefühl der Enttäuschung das junge Mädchen so sehr, als das der Beschämung. Der Beschämung, die ein rechtschaffener, nüchtern denkender Charakter empfindet, wenn er seine Phantasie auf verbotenen Wegen ertappt. Wie? Sie, die allenthalben verkündete, daß im Leben alles grau, gewöhnlich und alltäglich sei – sie hatte trotzdem an eine geheimnisvolle, unwiderstehliche Kraft geglaubt, die zwei Menschen selbst gegen den eigenen Willen einander in die Arme zu führen vermag? Sie hatte geglaubt, daß sie einander selbst aus der Ferne im Auge behalten und sich gegenseitig in die Seele zu schauen vermögen? Welch eine Torheit! Nun hatte sich der goldene Nebel vor ihren Augen zerteilt und sie sah wieder die Wirklichkeit, die graue, kalte, alltägliche Wirklichkeit vor sich. Wer war dieser Hajdu? Ein junger Mensch von sympathischem Äußern, ein wenig lässig und leichtsinnig, aber sonst von untadelhaftem Charakter. Er besitzt eine besondere Vorliebe für die Frauen, für die so listig und warm blickenden Frauen, die tief ausgeschnittene Kleider tragen, deren Haar so zerzaust ist und die hinter dem Fächer miteinander flüstern; dagegen erscheint ihm die Gesellschaft der alternden Mädchen, die Marien gleichen und eine gewisse Herbheit nicht verbergen können, sehr ermüdend und unangenehm.
»Und recht hat er!« sagte sich Marie voll bitteren Hohnes. »Wäre ich ein Mann, so täte ich dasselbe. Ich würde das leichtere, angenehmere wählen und würde einen Abscheu vor so herben Närrinnen haben, wie ich eine bin …«
Doch vermochte sie den Tanz nicht länger mit anzusehen und begab sich in ein anstoßendes Gemach. Den Herren, die ihr hierher folgten, sagte sie, daß sie Kopfschmerzen habe und ein wenig ausruhen wolle. Sie log nicht; der Kopf schmerzte sie wirklich. Sie blieb nur fünf Minuten allein; dann erhielt sie wieder Gesellschaft – in der Person des schönen Obergespans.
»Ich habe das ganze Haus nach Ihnen durchsucht,« sagte er. »Wo hält sich denn die Königin des Abends verborgen?«
»Wie Sie sehen, im Kreise meines Hofes,« erwiderte Marie.
»Und während Sie sich verborgen halten, spricht man im ganzen Saal nur von Ihnen.«
»Schönes und Gutes gewiß nicht …«
»Wissen Sie, was die Leute sagen? Sie sagen, daß Sie Schauspielerin werden wollen.«
Überrascht maß Marie den Obergespan mit den Blicken; dann lächelte sie bitter.
»Tante Susi ist sehr liebenswürdig,« sagte sie. »Doch schließlich, was schert es mich?«
Dann betrachtete sie aufmerksam das Gesicht des Obergespans. Auch sonst erschien ihr dieser schöne Mann geradezu abstoßend; aber heute fand sie ihn ganz besonders widerwärtig, so daß sie ihm kalten Blutes den Garaus zu machen vermocht hätte …
»Ich brauche wohl nicht zu sagen,« fuhr Tatáry fort, »daß die gesamte Verwandtschaft vom Lande diese Kunde mit der größten Entrüstung beurteilt. Die Leute wären ja nicht so beschränkt und nicht aus der Provinz, wenn sie das nicht täten!«
»Der Mann will etwas,« sagte sich Marie im stillen. »Wir wollen einmal sehen, was er im Schilde führt.« Und dann fragte sie laut: »Sie sind aber über meinen Entschluß nicht entrüstet, Tatáry?«
Der Obergespan schüttelte den Kopf und sagte: »Ich gewiß nicht, denn ich weiß, daß bei Ausnahmewesen auch die Lebensbedingungen andere sind, als bei gewöhnlichen. Solche Ausnahmemenschen haben andere Rechte und Pflichten, werden von anderen gesellschaftlichen und moralischen Gesetzen bestimmt. Ich glaube allen Ernstes, daß Sie ein bedeutendes Bühnentalent besitzen.«
»Tatáry, Sie machen sich nur lustig über mich,« entgegnete Marie mit erheuchelter Bescheidenheit.
»Ich mache mich so wenig lustig über Sie, daß ich mich glücklich schätzen würde, wenn ich Ihnen bei der Ausführung Ihres Planes behilflich sein könnte … Ich würde Ihnen meine Hilfe aus rein verwandtschaftlicher Liebe zur Verfügung stellen, da ich sehr wohl weiß, daß Sie auf niemanden zählen können, nicht einmal auf Ihren Vater …«
Das Mädchen erschauerte … Was war das? Es erinnerte sich mit einem Male an die abscheulichen kleinen Anzeigen in den Tagesblättern: »Eine junge, hübsche Künstlerin sucht die Bekanntschaft eines großmütigen Beschützers …« Großer Gott! So weit war es bereits gekommen?
Marie neigte sich näher zu Tatáry und ihm fest ins Auge blickend fragte sie: »Geld würden Sie mir auch geben?«
Der Obergespan geriet in Verwirrung und vermochte nicht sofort zu antworten, so daß das junge Mädchen hinzufügen konnte: »Von dem Gelde Ihrer Frau?«
»Aber, Marie,« flüsterte Tatáry blutrot im Gesicht; »wer hat denn von Geld gesprochen? Ich habe von einer rein moralischen Unterstützung gesprochen und nichts weiter …«
In diesem Augenblick kam der General vorüber, der den Fächer seiner Tänzerin suchte. Marie rief ihn zu sich.
»Papa, auf ein Wort nur! Bitte, sage Tatáry, daß er ein Esel ist!«
»Das kannst du ihm ja selbst sagen!« meinte der Alte eilfertig.
»Ich möchte aber, daß er es von einem Manne hört!«
Der General wurde mit einem Male ernst; erhobenen Hauptes und mit gerunzelter Stirne trat er näher.
»Was gibt es?« fragte er scharfen Tones.
In seiner Verlegenheit begann Tatáry laut zu lachen.
»Fräulein Marie ist ein kostbares Mädchen!« erwiderte er mit erzwungener Heiterkeit. »Sie hat sehr originelle Einfälle!«
Er legte mit erheuchelter Gemütlichkeit den Arm um den stramm dastehenden Atalay und ging dann lachend aus dem Zimmer.
»Was war das?« forschte der General. »Er war doch nicht unverschämt?«
»Nein; nur ein Esel ist er,« erwiderte Marie.
Damit war die Sache erledigt.
Draußen hatte man inzwischen zu tanzen aufgehört. Der Zigeunerprimas erschien mit seiner Geige unter dem Arm in der Tür des kleinen Zimmers und verbeugte sich vertraulich vor Marie. Sie beide waren seit langer Zeit gute Freunde.
»Haben Sie schon mein neues Lied gehört, gnädiges Fräulein?« fragte er.
Es unterlag keinem Zweifel, daß ihm das Lied nur als Vorwand diente, sich dem jungen Mädchen nähern zu können. Der Zigeuner fühlte sich nicht behaglich, so lange er so vielen fremden und gleichgültigen Menschen zum Tanze aufspielen mußte; er suchte nach einer verwandten Seele, die seine Kunst besser zu würdigen versteht.
Mit aufgestecktem Dämpfer spielte er seine neue Komposition vor. Ein paar Leute blieben neugierig vor der Tür stehen, darunter auch Horvàth. Dieser mochte aus dem Speisezimmer gekommen sein, denn er hielt ein mit Champagner gefülltes Glas in der Hand.
»Ich möchte auch einen Tropfen Wein!« sagte Marie zu ihm.
Horvàth holte eine ganze Flasche Champagner, stellte sie auf den vor dem Sofa stehenden kleinen Tisch nieder und setzte sich mit gewohnter Vertraulichkeit neben das junge Mädchen, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte. Marie brauchte nun nichts weiter, als daß ihr eine der Tanten entrüstete Blicke zuwarf, um sofort eine unbändige Heiterkeit zur Schau zu tragen. Ein jeder sollte sehen, wie sie sich amüsierte! Sie bewegte den Kopf im Takte nach der Musik und ließ ihr Glas mit dem des Journalisten zusammenklingen.
»Sagen Sie mir nur, bitte,« fragte Horvàth, der gerne den Zynischen hervorkehrte, unvermittelt: »Sind Sie reich?«
»Da seh' einer! Und ich dachte, daß Sie zu meinen uneigennützigen Verehrern gehörten!«
»Da dachten Sie ganz richtig, denn Uneigennützigkeit bildet tatsächlich meine Spezialität. Ich frage auch nicht um meinetwillen, sondern Ihrethalben. Denn wenn Sie eine junge Millionärin sind, so ist Ihr Benehmen wirklich hinreißend; ein Gemenge von amerikanischem und ungarischem Temperament – erste Güte! Allein die unerläßlichste Vorbedingung ist zu mindest eine volle Million …«
»Gleichwie eine luftige Box und feinster Hafer beim Vollblutroß. Sie sind aber jedenfalls ein sehr schlechter Menschenkenner, mein lieber Herr! Denn wenn ich Millionen besäße, so würde ich jetzt nicht mit einem Journalisten champagnisieren, sondern mit dem Grafen Darday oder Blasius Hajdu.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, und von meinem Standpunkte aus ist es mir lieber, daß Sie arm sind.«
Und es hatte wirklich den Anschein, als hätte das Bewußtsein, daß Marie ein armes Mädchen sei, dem Geist des Herrn Horvàth Schwingen verliehen. Bis jetzt war er gewaltsam herb und keck gewesen, jetzt war er mit einem Male geistvoll und liebenswürdig geworden.
Später lenkte Marie das Gespräch auf das Kunstleben in der Hauptstadt; was sich auf diese für sie unbekannte Welt bezog, hatte sichtlich Interesse für sie. Doch was ihr der Journalist berichtete, klang nicht sehr tröstlich. Im Gegenteil sogar.
»Das Leben des Künstlers gleicht dem eines Farmers inmitten des Urwaldes. So groß die Lichtung, die er sich hauen kann, so groß ist auch sein Wirkungskreis. Und was er vor den wilden Tieren schützen kann, ist sein. Die meisten fallen schon sehr früh im Kampf oder werden von den reißenden Tieren gefressen.«
»Doch der Starke und Mutige kann alles oder vieles erreichen?«
»Was kann er erreichen? Das Ideal ist nur insolange ein Ideal, als man darum kämpft. Sobald es erreicht ist, wird es alltäglich.«
»Dort gibt es also auch nichts zu holen? Es gibt also in der ganzen Welt nichts, um dessentwillen es sich verlohnen würde, das Leben zu Ende zu leben?«
»Ich wüßte nur eines, um dessentwillen es sich verlohnt, zu leben: wenn man nämlich sehr geliebt wird.«
Marie schwieg und stellte ihr Glas auf den Tisch.
»Freilich,« sagte sie nach einer Weile, »wenn man uns sehr liebt …«
»Ich bin überzeugt,« fuhr Horvàth fort, »daß in Ihnen ein geheimer Künstlerehrgeiz oder ähnliches steckt …«
»Haben Sie etwa das Zigeunerblut in mir entdeckt?«
»Das läßt sich nicht leicht verheimlichen. Sie schreiben doch nicht?«
»Sie sehen also doch, daß ich nicht blutarm bin?«
»Ja, das sehe ich. Dann verlangt es Sie auf die Bühne, wie? Und zwar in den dramatischen Rollenkreis, nicht wahr?«
»Woraus schließen Sie das?«
»Ich habe vorhin ihren Gang beobachtet … Mit prächtigen, leichten Pantherschritten durchmaßen Sie den Saal. Doch nein, nicht mit Pantherschritten, sondern mit dem lautlosen, graziösen Gleiten einer schillernden, jungen Schlange … Wenn zehn Frauen auf der Bühne sind und die elfte mit solchen Schritten hereinkommt, so erschauert das Logenpublikum und auf der Galerie flüstern sich die Leute zu: Wirst sehen, den Radau macht die!«
Herr Horvàth hätte sich vielleicht noch mehr ereifert während des Sprechens, wenn er in diesem Augenblick nicht den Obergespan erblickt hätte, der ihm aus der Tür des Nebenzimmers zuwinkte. Horvàth nährte in seinem Busen allerdings tiefste Verachtung für jede Gattung politischer Persönlichkeiten; dies hinderte ihn aber nicht, dienstbereit von seinem Sofa aufzuspringen.
»Ihr Lied ist nichts wert, Bandi!« sagte Marie, als sie mit dem Zigeuner wieder allein geblieben.
Der schwermütig klagende Refrain des Liedes hatte ihr das Blut in den Kopf steigen lassen.
Plötzlich stand ihr Vater vor ihr.
»Marie,« sagte er zu ihr, »wir setzten uns vorhin nieder zum Spielen und da verfolgte mich das Pech … Hast du Geld bei dir?«
»Bei mir? Was fällt dir ein?«
Dann erinnerte sie sich aber an die zweihundert Gulden, die ihr der Alte vorhin gegeben hatte. Sie nahm das Geld hervor und gab es dem General zurück.
»Dies ist natürlich nur ein Darlehen,« sagte Atalay. »Amüsiere dich weiter gut.«
Er warf ihr einen Kuß mit der Fingerspitze zu und verschwand.
Marie wurde mit einem Male von dem wilden Verlangen erfaßt, ihren Champagnerkelch zu Boden zu schleudern. Doch konnte sie der Schar der feindseligen Tanten unmöglich einen solchen Anlaß zu einem köstlichen Entrüstungsschauer geben. Sie begnügte sich also damit, beide Fäuste zu ballen und die Augen zu schließen.
Da plötzlich vernahm sie rasche Schritte, Kleiderrauschen und gewaltsam unterdrücktes zorniges Flüstern, so daß sie die Augen öffnete. In dem kleinen Zimmer stand Oskar Dobó und legte seiner Gattin mit hastiger Bewegung die weiß verbrämte Ballmantille um. Derselbe Oskar Dobó, mit dessen Gemahlin Blasius Hajdu die Quadrillen zu tanzen pflegte … Beide schienen sehr erregt zu sein; der Mann sah und hörte in seiner wütenden Hast nichts, die Frau war etwas ruhiger, aber leichenblaß.
»Aber, Oskar … bedenke das Aufsehen …«
»Was schert mich das? Ich bleibe keinen Augenblick länger! Der Wagen wartet … vorwärts!«
Damit schritten sie durch den großen Saal dem Ausgange zu.
Im nächsten Augenblicke erschien Blasius Hajdu in der Tür des Speisezimmers. Er kam ruhigen Schrittes daher, als wäre er nur zufällig hierher geraten; er lächelte sogar, doch eine tiefe, finstere Falte saß zwischen seinen Brauen. Als er Marie erblickte, trat er mit erzwungener Heiterkeit zu ihr hin.
»Worüber denkst du denn nach, Marie?« fragte er.
»Darüber, daß Oskar Dobó ein großer Narr sein muß.«
Diese trockenen Tones gemachte Bemerkung berührte ihn sichtlich unangenehm, obschon er es nach Kräften zu verbergen suchte.
»Und worüber denkst du nach?« fragte das junge Mädchen.
»Darüber, daß du einen sehr hübschen Fuß hast.«
Die beiden verkehrten stets in diesem Tone miteinander. Marie zog ihren Fuß unter den Rocksaum und erwiderte gelassen: »Du könntest doch wissen, daß mein Fuß größer ist, als der der Frau Oskar Dobós.«
»Du bist heute wieder streitbar gelaunt, und ich bin doch gekommen, um dir den Hof zu machen.«
»Nun gut; aus Dankbarkeit werde ich dann dein Alibi nachweisen, wenn es notwendig sein sollte.«
Hajdu wollte sich eine Zigarette anzünden, als Marie sagte: »Bitte, gib mir auch eine.«
»Darfst du denn rauchen?«
»O, ich halte schon so weit, daß mir alles erlaubt ist.«
Damit schmiegte sie sich bequem in eine Ecke des Diwans und Hajdu eine Wolke Rauch ins Gesicht blasend, blickte sie ihn aufmerksam an.
»Und nun sage mir, daß du mich liebst. Du hast mir ja versprochen, daß du mir den Hof machen wirst!«
Hajdu lächelte.
»Glaubst du überhaupt an Liebe?« fragte er.
»Meiner Treu', nein! Ich glaubte schon früher nicht recht daran und heuchelte eher nur aus Schlauheit den Glauben, gleich den Kindern, denen man sagt, daß die Kerzen am Christbaum vom kleinen Jesusknaben angezündet werden … Sie glauben es aus Schlauheit, denn sie fürchten, daß sie sonst keinen Christbaum bekommen … Aber heute …«
»Nun … heute …«
Marie schüttelte den Kopf und schwieg. Erst nach einer Weile hub sie von neuem an: »Ich glaube übrigens, daß dieser Unglaube eine ansteckende Krankheit ist. Oder ist er nicht eine Folge dessen, daß ich zur alten Jungfer geworden bin? Ja, ich bin zur alten Jungfer geworden, trotzdem ich noch keinen Mann gesehen habe, der sich innerhalb vierundzwanzig Stunden nicht in mich verliebt hätte, wenn ich es darauf ankommen ließ! Ein jeder von euch hat sich noch in mich verliebt! Ein jeder machte das durch, gleichwie die Kinder die Windpocken durchmachen … Nach weiteren vierundzwanzig Stunden erwachte aber ein jeder wieder aus seiner Liebe; ein jeder ohne Ausnahme! Ich glaube, ihr Männer verlangt vom Weibe, es möge etwas Rätselhaftes, Geheimnisvolles, Unverständliches in seiner Seele sein; etwas, womit ihr niemals ins reine kommen könnt. Zuweilen leistet schon die Lässigkeit oder Dummheit des Weibes diesen Dienst. Verstände ich mich darauf, so täte ich es ganz sicherlich; ich verstehe mich aber nicht darauf! Meine Seele gleicht dem Schaufenster eines Ladens. Ihr bleibt davor stehen, sagt, die Sache sei ganz nett, und wenn ihr alles gesehen darin, geht ihr weiter. In mir steckt nichts Rätselhaftes und wer mich einmal kennen gelernt hat, für den bin ich nicht einmal ein Weib mehr, sondern nur Mensch. Als Menschen achtet ihr mich; daher kommt es, daß mich niemand heiraten will, dagegen ist ein jeder Mann mein guter Kamerad.«
Die eigentümlichen, verbitterten Worte machten Hajdu ganz verwirrt.
»Auch du wirst den Mann finden,« sagte er, »den man den richtigen zu nennen pflegt.«
»Ich müßte ihn nur suchen, nicht wahr? Nun denn, ich habe ihn gesucht und wie eifrig! Auch heute bin ich nur hierhergekommen, um ihn zu suchen … Doch wie dumm! Ich soll die Kerzen meines Christbaumes mit eigener Hand anstecken und mir dann weismachen, daß es das Jesukindlein getan habe?«
Tante Susi, die das Benehmen ihrer Nichte während des ganzen Abends ungeheuer erzürnt hatte, wartete nur den Augenblick ab, da sie das Nachtessen verzehren konnte, um der rächenden Gerechtigkeit vergleichbar vor ihre Nichte hinzutreten. Sie kam jetzt in den Saal hereingestürmt.
»Da bist du ja, Marie! Mache dich auf der Stelle fertig … Keinen Augenblick bleibe ich länger da mit dir!«
»Siehst du, Blasius,« sagte Marie; »welch ein Mensch du bist! Frauen und Mädchen trachtet man gleicherweise vor dir in Sicherheit zu bringen!«
Und da sie nicht einsah, was sie auf dem Balle des Obergespans weiter zu suchen habe, reichte sie Hajdu die Hand.
»Bei alledem bleiben wir aber gute Freunde, nicht wahr?«
Hajdu drückte schweigend die Hand des Mädchens.
Die beiden Frauen saßen bereits im Wagen, als sich Tante Susi von neuem vernehmen ließ.
»Dein Benehmen war skandalös! Geradezu empörend!«
Marie saß schweigend und regungslos in einer Ecke des Wagens. Nach etwa fünf Minuten begann die Tante von neuem: »Mit dir gehe ich nirgends mehr hin! Mit dir ist es ja nicht möglich.«
Marie gab noch immer kein Lebenszeichen von sich, womit sie ihre Tante endgültig erzürnte. Diese dachte eine lange Weile darüber nach, womit sie ihre Nichte wohl ärgern könnte; dann sagte sie, der Eingebung des Augenblicks Folge leistend: »Wer dein Benehmen heute abend gesehen hat, kann kaum mehr an dem zweifeln, was man in Pest über dich spricht …«
Endlich ließ sich Marie vernehmen. Ruhigen, fast sanften Tones sprach sie: »Weshalb bemühst du dich, Tante? Ich gebe dir mein Wort, daß du nichts sagen kannst, womit du mich ärgern könntest …«
Jetzt waren sie indessen schon daheim angelangt. Marie wünschte ihrer Tante gute Nacht und begab sich in ihr Zimmer. Hier verschloß sie die Tür hinter sich, entkleidete sich, legte sich zu Bett und löschte die Kerze aus. Und dann erst begann sie bitterlich zu weinen.
Am nächsten Tage war Marie schon um sieben Uhr morgens auf den Fußen, während Tante Susi bis nach zehn Uhr im Bette blieb. Wohl hatte Gott Morpheus schon bei Anbruch des Morgens die Flucht aus dem Alkoven des alten Fräuleins ergriffen; allein Tante Susi wollte trotzdem nicht aufstehen, denn sie huldigte der Ansicht, daß das frühe Aufstehen oder zu wenig Schlaf die Frische des Teints ganz bedeutend beeinträchtige.
Dieser Umstand hatte für Marie nur die unangenehme Folge, daß auch sie kein Frühstück bekam. In der Küche der Tante wagten sich nämlich auch die Kaffeetöpfe nicht eher zu erwärmen, als bis sie von ihrer Herrin dazu ausdrücklich ermächtigt wurden.
Die junge Dame, die sich sonst eines ausnehmend ruhigen und tiefen Schlafes rühmen konnte, wurde auch heute nicht durch ihr Gewissen beunruhigt, sondern nur durch die zwei Glas Champagner, die sie bei Tatáry getrunken und die ihr ein wenig Herzklopfen verursachten. Eine Weile wärmte sie sich an dem geheizten Ofen und gähnte dazu, als mit einem Male ein prächtiger Gedanke in ihr erwachte: sie wollte die augenblickliche Kampfunfähigkeit ihrer Gardedame benützen, um das Haus zu verlassen und einen tüchtigen Spaziergang durchs Städtchen zu unternehmen. Sie war eine leidenschaftliche Liebhaberin solcher Spaziergänge; doch nicht des langweiligen Trippelns auf dem Trottoir der Hauptgasse, der die Lokalphantasie den hochtrabenden Namen »Korso« verlieh, sondern der sich auf weite Strecken ausdehnenden ehrlichen Fußpartien. Der Umstand, daß draußen eine zollhohe Schneedecke alles einhüllte, lockte sie noch mehr.
Sie suchte aus ihrem Toilettenschrank ihr Winterlodenkleid und ein mit Lammfell gefüttertes Lederjäckchen heraus; dazu starksohlige, aber sehr niedliche Stiefeletten, die ihr ein früherer Regimentsschuster ihres Vaters ganz prächtig angefertigt hatte.
Ein Astrachanmützchen vervollständigte dieses Kostüm. Nicht einmal ihren Muff nahm sie mit sich; die gefütterten weißen Handschuhe waren warm genug. Nur einen Stock nahm sie an sich, um sich der herrenlosen Hunde erwehren zu können.
Draußen herrschte eine prächtige Winterkälte. Der eiskalte Wind riß dem jungen Mädchen den Tordrücker aus der Hand, daß der schwere Flügel donnernd ins Schloß flog. Ein Erdbeben schien das ganze Haus erschüttert zu haben, so daß Tante Susi erschrocken einen Satz unter ihrer Decke machte. Die Straße war noch ein wenig dunkel und dennoch erblickte das Mädchen sofort eine hohe, elegante Offiziersgestalt, die um die Ecke bog und ihm entgegenkam. Es war General Atalay.
»Hoho! Wo treibst denn du dich herum?« fragte der Alte, beide Arme um das Mädchen legend.
»Ich habe Hunger und will mir da eine Semmel kaufen,« erwiderte Marie und damit sagte sie auch die Wahrheit, denn sie hatte sich wirklich in einem Bäckerladen eine Semmel kaufen wollen. »Und auch du bist schon früh auf den Füßen, Papa?«
»Nicht schon, sondern noch!« gab der General mit klassischer Einfachheit zur Antwort. Mit seinem blühenden Gesicht und den glänzenden Augen bot er der auf Erhaltung der Gesichtsfarbe sich beziehenden Theorie der Tante Susi ein mächtiges Dementi.
»Ich wollte eben zu dir,« fuhr der General fort, »um mich von dir zu verabschieden. Ich muß in dienstlicher Angelegenheit jetzt mit dem Frühzuge abreisen.«
Herr von Atalay war ein ehrlicher Charakter, der sich nicht einmal der eigenen Tochter gegenüber gern einer Notlüge bediente. Doch konnte er seinem Töchterchen unmöglich sagen, daß jene gewisse schöne, rundliche Frau, mit der er die ganze Nacht hindurch mit dem Eifer und Feuer eines jungen Leutnants getanzt, mit dem Frühzuge abreise, und daß er in dem reich ausgestatteten Arsenal seines Geistes eine kleine Blütenlese von klassisch unverschämten Geistesfunken zurückbehalten habe, die er seiner Tänzerin unbedingt noch enthüllen müsse!
Marie überraschte nur der eine Umstand einigermaßen, daß ihr Vater sie direkt aufsuchen wollte, um sich von ihr zu verabschieden. Er war ein guter Mensch, der seine Tochter auch recht lieb hatte, sie aber eher freundlich, als eigentlich zärtlich zu behandeln pflegte.
»Nun,« meinte sie; »das Abschiednehmen können wir ja auch hier auf der Straße besorgen …«
»Freilich! Also adieu, mein Töchterchen!«
Damit küßte er sie auf die von der Kälte geröteten Wangen, hielt sie dann aber an beiden Händen fest, indem er sagte: »Halt noch eins … Ich brauche etwas Geld. Könntest du mir welches vorstrecken?«
»Ist's viel?«
»Eine Lappalie – ein paar tausend Gulden. Ich kann es nicht einmal so genau angeben …«
»Wann benötigst du es?«
»O, es hat Zeit … In ein paar Wochen kann es auch sein …«
»Schreibe mir, Papa, wann du es benötigst, damit ich es dir schicken kann,« erwiderte das Mädchen.
Zwar wußte der General sehr genau, um welche Beträge es sich handle und wann der Verfalltag sei, denn seine Wechsel waren sogar schon protestiert worden; doch liebte er es, diese Dinge mit der größten Gleichgültigkeit zu behandeln, um den Anschein zu erwecken, als wäre die ganze Sache weder wesentlich, noch dringend.
»Ach ja,« sagte Atalay, bevor er sich entfernte: »wie stehst du mit Susi? Gestern sagte jemand, du ständest auf gespanntem Fuße mit ihr.«
»Das könnte ich gerade nicht sagen, soweit es sich nämlich auf mich selbst bezieht,« gab Marie lächelnd zur Antwort; »ich glaube aber, daß sie mich noch heute aus dem Hause werfen wird.«
»Reitet sie denn der Teufel?« platzte der General heraus. »Aber was dann? Ich glaube nicht, daß du noch einen nennenswerten Vorrat von Tanten besitzest?«
»Eine wäre wohl noch vorhanden,« meinte Marie.
»Die in Pest wohnt?«
»Freilich; die meine ich …«
»Davon wäre ich nicht gerade entzückt,« erklärte der General und seine Miene verdüsterte sich wirklich.
Eine Weile strich er sich verlegen das Kinn; dann aber schlug er sich, wie jemand, der nicht gerne über unangenehme Dinge nachdenkt, die Sache mit überraschender Leichtigkeit aus dem Kopf. Der Morgenwind hatte sie hinweggeweht; puh! Und nun dachte er nicht mehr daran.
»Ei was!« sagte er sich. »Man muß nicht gleich an das schlimmste denken. Und wer weiß, ob sich die Dinge nicht noch besser gestalten?«
Er schloß seine Tochter noch einmal in die Arme und sagte: »Also lebwohl, Marie!«
Und den Säbel unter dem rotgefütterten Generalsmantel emporhebend, damit er nicht den Schnee berühre, entfernte er sich eleganten Schrittes; die Sohlen seiner Lackstiefel ließen lange, schmale Spuren im Schnee zurück. Marie aber setzte ihren Weg in entgegengesetzter Richtung fort.
Aus dem Vorstehenden ist zu ersehen, daß Marie nicht gerade aller irdischen Glücksgüter bar war. Ihre Mutter hatte ihr einen Betrag von etwa zwanzigtausend Gulden hinterlassen. Achtzehn Jahre zählte das Mädchen, als der General eines Tages nach langem, verzweifeltem Suchen, und nachdem er den Inhalt von mindestens zwanzig Schrank- und Tischfächern in die Mitte des Zimmers entleert, das Sparkassenbuch fand, das das Vermögen seines Kindes bedeutete, und es Marie mit den Worten übergab: »Das gehört dir. Du bist jetzt schon vernünftig genug, um das nicht auf Dummheiten zu verzetteln … Zwanzigtausend Gulden sind's! Das heißt nur sechzehn, denn viertausend habe ich entliehen, werde sie aber pünktlich zurückzahlen …«
Und das tat er auch. Wenn auch nicht gleich, aber nach einem halben Jahre. Denn zur Ehre des Generals sei gesagt, daß er einen seiner Gläubiger, und zwar Marie, stets ernst nahm. Und es war denn auch nicht seine Schuld, daß die zwanzigtausend Gulden des Mädchens innerhalb fünf Jahre sich auf dreizehntausend reduzierten. Wohin die restlichen siebentausend geraten, erwähnte das junge Mädchen nie auch nur mit einer Silbe. So wenig wie die entfernten Verwandten, die in ewiger Geldverlegenheit steckenden Familienväter und -Mütter, die in ihrer höchsten Verzweiflung scharfsinnig und vernünftig genug wurden, um sich nicht an Tante Susi, sondern an Marie von Atalay zu wenden.
Die Schulden des Herrn Generals von Atalay, die ungefähr in Zwischenräumen von acht bis zehn Jahren jedesmal zu einer so kolossalen Summe anschwollen, daß die armseligen paar tausend Gulden seiner Tochter daneben zu einem Nichts zusammenschrumpften, wurden aus einer ganz anderen, geheimnisvollen Quelle gedeckt. Die unerschöpflich reiche, provisorische Quelle entsprudelte der vornehmen Stille eines erzherzoglichen Palais zu Wien. Dort lebte ein greiser Erzherzog, ein leidenschaftlicher Soldat, der mit einer geradezu schwärmerischen Liebe an Atalay hing. Einst hatte er den jungen Oberleutnant von Atalay auf den Hochebenen der Lombardei gesehen, wo er, einem verderbenbringenden Ungewitter vergleichbar, mit seinem Schwerte Tod und Verderben in den feindlichen Scharen verbreitete, und wenn der alte hohe Herr das Bild des künftigen Krieges vor seinem geistigen Auge aufsteigen sah, erblickte er in Atalay den tollkühnen, furchtbaren Anführer der großen Kavalleriemassen, die in der Schlacht den Ausschlag gaben.
»Was macht Atalay?« pflegte er den Kriegsminister zu fragen.
»Schulden, Hoheit!« gab der Minister unweigerlich zur Antwort.
»Den Mann brauchen wir … Man muß ihn um jeden Preis auf die Füße stellen … Er wird schon zur Vernunft kommen …«
Und so fügte es sich, daß die Schulden Atalays, die in den Kreisen der Beamten der sehr reichen erzherzoglichen Familienkasse einen nicht geringen Schrecken hervorriefen, schon wiederholt ausgezahlt worden waren. Der General erblickte darin bloß eine Abschlagszahlung, die er gegebenen Falls in Kosakenschädeln zurückerstatten würde. Daß die Wechsellawine in letzter Zeit über seinem Haupte wieder in drohende Bewegung geraten war und sich die Hilfe des erzherzoglichen Lebensretters noch immer nicht einstellen wollte, hatte einen sehr traurigen Grund, von welchem auch die gesamte Bevölkerung in Form der in den offiziellen Zeitungen veröffentlichten ärztlichen Bulletins Kenntnis erhielt. Der greise Erzherzog war nämlich so leidend, daß er außer mit seinem Arzt und seinem Beichtvater kaum mit jemandem noch verkehrte. Und seit sehr langer Zeit hatte er auch mit dem Kriegsminister nicht gesprochen, der von den Schulden des Generals Atalay stets pünktlich unterrichtet war.
Doch sorgen wir uns jetzt nicht weiter um die Schulden, denen selbst Atalay eine so unglaublich geringe Bedeutung beilegt, und begleiten wir lieber Marie auf ihrem Morgenspaziergang, nachdem sie aus einem Wirtshause getreten war, wo sie sich eine Semmel gekauft hatte. Zwar hätte sie auch in den Bäckerladen treten können; doch hätte sie damit einen kleinen Umweg machen müssen, und sie sah auch sonst nicht ein, weshalb sie die beschauliche Ruhe der zwei halb betrunkenen Tagediebe respektieren solle, die mit blödem Gesichtsausdruck hinter dem Schenktisch saßen.
Von hier nahm sie ihren Weg nach der Allee, die sich auf den Kalvarienberg emporzieht. Der Weg, den man zur Winterszeit nur selten betrat, war vom Schnee fast ganz verhüllt. Zögernd watete sie durch den Schnee, bis sie die die zweite Station bezeichnende Säule erreichte; doch stampfte sie jetzt schon durch so tiefen Schnee, daß sie an eine Umkehr nicht mehr dachte, sondern entschlossen ihren Weg fortsetzte.
Erst als sie die drei großen Holzkreuze erreichte, blieb sie einen Moment stehen, um auszuruhen und einen Blick rundum schweifen zu lassen. Der schneidende Wind hatte ihre Wangen rot gefärbt und ihre Jacke mit winzigen weißen Kristallen bestreut. Alles um sie her war gleichförmig weiß, der Kalvarienberg, der Horizont und der Himmel auch. Nur die drei Kreuze, das des Erlösers und der beiden Schächer, waren schwarz. Und ringsherum herrschte tiefe Stille, nur die Brust des Mädchens keuchte ziemlich vernehmbar.
»Du lieber Gott, wie allein stehe ich doch in der Welt da!« sagte Marie ziemlich laut.
Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme und blickte nervös um sich. Niemand hatte ihre Worte vernommen; der Erlöser hob das weiße Gesicht gen Himmel, nur die beiden Schächer starrten sie aus den verglasten Augen an.
Sie erinnerte sich mit einem Male, daß dieser absonderliche Morgenspaziergang eigentlich eine Allegorie ihres bisherigen Lebens sein könnte. Stets war sie allein gewesen, inmitten einer so teilnahmslosen Einsamkeit, jeden guten Freundes, jeglicher teilnehmenden Seele bar.
Stets war sie auf ungangbaren Pfaden gewandelt, auf denen sie die Laune und nicht das Verlangen dahinzuschreiten gezwungen und auf denen sie nichts zu suchen hatte. Und jeder ihrer Wege hatte dasselbe Resultat wie der heutige, da sie sich voll Müdigkeit und voll Trauer sagen mußte, daß sie allein sei, daß alles so monoton und daß es so kalt sei! Und dessenungeachtet mußte es in dieser farblosen, kalten Welt einen verborgenen, warmen Winkel geben, wo auch ihr Glück blühte. Allein finden würde sie diesen Winkel niemals, da sie ja kein Talent dazu besaß.
Sodann dachte sie an die Zukunft – an ihre Zukunft! Wie würde sich alles gestalten? Würde sie gänzlich zusammenschrumpfen, verwelken, verblühen … in diesem Nest oder einem anderen Provinznest? Ja, auch aus ihr wird eine exzentrische alte Jungfer werden … und mit der Zeit wird sie sich in ihr Schicksal ergeben und nicht einmal mehr exzentrisch sein, sondern nur alt und einsam.
Ihre Seele lehnte sich gegen diese Vorstellung auf. Mußte denn das so sein? Und weshalb? Weil es die Weltordnung so verlangte. Doch wer und was repräsentierte in ihren Augen den Begriff »Welt?« Ihr Vater, Blasius Hajdu, Tante Susi und noch ein Dutzend Tanten und Onkel. Der Wille dieser Menschen diktierte ihr die Gesetze. Ja, wer waren denn diese Personen? Ihr Vater war ein egoistisches, altes Kind, ein Mann, der für seine Launen alles geopfert hatte, seiner Tochter aber höchstens das Opfer zu bringen vermochte, zeitweilig einen ihrer Briefe zu beantworten … Was war das im Vergleiche zu alledem, was er hundertmal schon für hübsche, leichtsinnige Frauen getan, mit denen ihn der Zufall im Ballsaal oder nur auf der Straße zusammengeführt … Hajdu und die übrigen, der Chor der Tanten und Onkel – was hatten sie die zu kümmern? Es waren das lauter schnell verschwindende, graue Schatten, die für einen Augenblick vor ihr auftauchen, um dann sofort wieder zu verschwinden. Bisher hatten sie alle ihr nur ein Frösteln verursacht; die Wärme des Herzens hatte niemand sie fühlen lassen.
Kalte, finstere Traurigkeit übermannte das Mädchen, das in diesem Augenblick eine Empfindung hatte, als würde es sich niemals wieder von diesem bedrückenden Gefühl befreien können. Niemals, denn das war ja das Leben!
Dessenungeachtet lachte es schon im nächsten Augenblick laut auf. Sein Auge hatte eine schwarze Männergestalt erspäht, die müden Schrittes den Abhang emporgeklettert kam. In dieser Umgebung nahm sich die Gestalt absonderlich genug aus. Sie trug einen Zylinder, einen Zwicker und städtisch zugeschnittenen Winterrock; das Beinkleid hatte sie bis zu den Knöcheln emporgeschürzt und mit den dünnen Füßen stapfte sie unbeholfen durch den Schnee.
»Da seh' einer! Das ist ja mein Journalist!« sagte Marie laut.
Es war wirklich Horvàth, der fünf Minuten später die Spitze des Kalvarienberges erreicht hatte.
»Ja, was suchen denn Sie hier?« fragte sie ihn.
»Ich bin heraufgekommen, um Schnee zu sehen,« erwiderte der Zeitungsschreiber keuchend. »Ich versäumte den Morgenzug und kann erst Mittag fort von hier … Die Neugierde trieb mich herauf, um zu sehen, wie der richtige Winter aussieht … Ich habe nämlich noch keinen Winter gesehen, außer auf den Bildern Wereschtschagins … Ich lebe in der Hauptstadt und pflege im Winter nicht zu reisen, und in Budapest gibt es keinen richtigen Winter. Wenn ich des Morgens aus dem Hause komme, hat man den gefallenen Schnee teils zerstampft, teils fortgeschaufelt …«
»Nun, hier können Sie Schnee genug sehen!«
»Ich hätte niemals geglaubt, daß es soviel Schnee auf der Welt gibt!« sprach Horvàth anerkennenden Tones und rieb mit dem Taschentuch seinen Zwicker. Dann fügte er lächelnd hinzu: »Ich gestehe übrigens, daß der Schnee an sich keine genügende Anziehungskraft besessen hätte, um mich zum Erklettern dieses Berges zu veranlassen. Ich hatte Sie aber schon von weitem gesehen und Ihren Gang erkannt …«
Um die Lippen des Mädchens spielte in diesem Augenblick ein merkwürdiges, spöttisches Lächeln, welches Herrn Horvàth die Notwendigkeit nahelegte, die Bedeutung seiner Erklärung einigermaßen zu mildern.
»Ich reise mittags fort,« fügte er hinzu; »und da tut es mir wohl, von Ihnen Abschied nehmen zu können. Hoffentlich würdigen Sie mich noch eines Händedruckes?«
»Weshalb denn nicht? Hier!«
Damit reichte ihm Marie die Hand.
Der Journalist war ernster als sonst, schien sogar eine gewisse Rührung nicht bemeistern zu können. Er fand ganz besonderen Gefallen an diesem großen, blühenden Mädchen, dessen Auge so rechtschaffen blickte und dessen Lippen so spöttisch lächeln konnten.
»Ich würde mich wirklich glücklich schätzen, wenn ich Ihnen einmal irgend einen Dienst leisten könnte …«
Das junge Mädchen blickte ihn mit einiger Überraschung an und fragte: »Wie meinen Sie das, mein lieber Herr?«
»Was weiß ich? Man sagt derartiges, weil man es empfindet … Es kann aber eine Zeit kommen, da Sie meiner wirklich bedürfen könnten … Vielleicht bleiben Sie nicht immer hier, vielleicht kommen Sie einmal nach Pest. Ich habe dort überall Zutritt und an manchen Orten hat mein Wort auch einen gewissen Einfluß …«
»Ei, ei,« sagte sich Marie im stillen, »Horvàth glaubt ernstlich, daß ich mich der Bühne widmen will … Nun muß ich aber nach Hause gehen,« fügte sie laut hinzu.
Der Journalist begleitete sie. Unterwegs sprachen die beiden nur wenig miteinander. Die junge Dame war von ihrer Begleitung nicht sehr entzückt. Nicht etwa, als wäre ihr Horvàth unsympathisch gewesen; doch seitdem sie die Bemerkung gemacht, daß er in ihrer Nähe auftaue, konnte sie sich einer gewissen Verstimmung nicht erwehren.
Bei dem Tor angelangt, reichten sie sich die Hände.
»Leben Sie wohl, Horvàth!« sagte Marie.
Damit trat sie in das Haus und begab sich geradeswegs in ihr Zimmer. Auf dem Wege dahin begegnete sie niemandem. Sie verschloß die Tür hinter sich und kleidete sich um. Während sie vor dem Spiegel hantierte, mußte sie unwillkürlich die Unterhaltung belauschen, die aus dem Zimmer der Tante herübertönte. Das Zimmer der Tante Susi ward nur durch eine verhängte Glastür von dem des jungen Mädchens geschieden; vor dieser Tür stand ein kleiner Schrank, so daß man jedes Wort, selbst das mit gedämpfter Stimme gesprochene, herüberhören mußte. Zum Überfluß sprach man drüben ziemlich laut; offenbar wußte man nicht, daß Marie in ihrem Zimmer sei.
Tante Susi hatte Gäste. Marie erkannte ihre Stimmen: der eine Gast war Tante Beißzange, der andere Tante Nußknacker. Diese Namen hatten die beiden Damen auf Grund der oberflächlichen Ähnlichkeit erhalten, welche Marie zwischen deren Profil und den genannten nützlichen Hausgeräten entdeckt zu haben glaubte. Von Zeit zu Zeit mengte sich noch eine vierte Stimme in die Unterhaltung, eine gedehnte, angenehme Stimme, die der erwachsenen Tochter Elsa der Tante Nußknacker. Die beiden Tanten – zwei sehr arme Frauen – gehörten zu den getreuesten Vasallen der Tante Susi, bei der sie sich fast jeden Morgen einfanden, nachdem sie ihre Markteinkäufe besorgt hatten, um mit ihr einen interessanten und ausführlichen Ideenaustausch über die Dienstbotenmisere, die Teuerung der Lebensmittel und sonstige – minder unschuldige – Fragen zu pflegen. Diese Morgenbesuche wurden nicht für »voll,« das heißt nicht für offizielle Staatsvisiten angesehen. »Wir kommen nur für einen Moment herein,« sagten die Damen und verplauderten mit dem Hut auf dem Kopf und den Handschuhen an den Händen den ganzen Vormittag im Zimmer der Tante Susi.
»Wahrhaftig, ich bewundere deine Geduld!« sprach in diesem Augenblick Tante Nußknacker.
»Was soll ich tun?« seufzte Tante Susi sanften Tones. »Wäre nur die nahe Verwandtschaft nicht!«
Nun ließ sich die Beißzange vernehmen: »Du mußt mich schon entschuldigen, liebste Susi; allein dein butterweiches, engelgutes Herz wird allmählich zu einem großen Fehler bei dir. Entschuldige, doch deine Güte grenzt an Schwäche … Du müßtest doch daran denken, daß du selbst noch ein Mädchen bist. Zwar bist du über jede Verdächtigung erhaben; aber die Welt ist so schlecht …«
»Ja, ja, die Welt!« seufzte Tante Susi wieder, der der Gedanke, daß sie sich gegen die Verdächtigungen der Welt schützen müßte, sichtlich schmeichelte. Dann fügte sie erbittert hinzu: »Nein, solche Plage, solche Sorgen wie ich, hat niemand sonst!«
Die beiden Tanten, die zu Besuch da waren, begannen jetzt gleichzeitig zu sprechen; allein Frau Nußknacker mußte bald verstummen, denn die andere besaß eine kräftigere Lunge; sie sagte: »Ich habe mich vom ersten Augenblick an gewundert, daß du sie überhaupt in dein Haus nahmst. Du, bei deinen Grundsätzen! Susi kennt das Mädchen sicherlich nicht, sagte ich mir und sprach daher auch kein Wort, denn es ist nicht meine Gewohnheit, mich in die Angelegenheiten anderer zu mengen; allein ich wußte, daß du sie früher oder später kennen lernen wirst.«
»Es ist ja wahr, daß sie sich skandalös benimmt,« bemerkte Tante Susi.
»Nur benimmt? Ja, wenn es sonst nichts wäre!«
Und die beiden Besucherinnen lachten laut auf.
»Aber ihre Vergangenheit! Ihre Vergangenheit!« kreischte dann Tante Nußknacker unerbittlichen Tones.
Marie, die dem Geschwätz bisher nur zerstreut, mit halbem Ohre gelauscht hatte, kreuzte jetzt beide Arme auf der Brust und blickte aufmerksam auf die Glastür. Bemerkt muß noch werden, daß Nußknacker und Beißzange sich nicht immer in so rührender Übereinstimmung befanden wie jetzt … Sie pflegten im Gegenteil bei Tante Susi gegeneinander zu intrigieren und sich gegenseitig das Terrain zu unterwühlen; allein heute gingen sie augenscheinlich mit vereinten Kräften gegen den gemeinsamen Feind vor.
Tante Susi wußte sehr gut, was man über die Vergangenheit Maries sprach; trotzdem gab sie sich jetzt den Anschein, als hätte sie noch gar nichts vernommen. Sie versprach sich einen süßen Genuß davon, wenn man ihr die haarsträubenden Klatschereien von neuem auftischen würde.
»Ihre Vergangenheit? Was wißt Ihr denn von der?« fragte sie voll naiven Staunens.
»Ich weiß nicht recht, ob ich es vor Elsa sagen darf!« ängstigte sich die Beißzange.
»Nur immer zu!« ermutigte sie die andere Tante. »Meine Tochter versteht derlei Dinge nicht!«
»Einmal habe ich es schon gehört, habe es aber auch damals nicht verstanden,« erklärte Fräulein Elsa mit eisiger Unverfrorenheit.
Die junge Dame, die im übrigen sehr hübsch, sehr üppig und sehr dumm war, erfreute sich in den Kreisen der Offiziere der Garnison des Rufes, daß sie die haarsträubendsten Zweideutigkeiten mit einem sich stets gleichbleibenden Phlegma anzuhören verstehe.
»Du weißt, liebste Susi,« hub Tante Beißzange nunmehr an, »wie sehr ich alle Klatschereien hasse. Aber schließlich, Volkes Stimme, Gottes Stimme … Denn weshalb hat man derlei Dinge niemals über dich gesprochen, oder über mich?«
»Oder über Elsa?« fragte Tante Nußknacker verwegen.
»Aber, was spricht man denn von ihr, du lieber Gott?«
»Man sagt, sie habe vor zwei Jahren mit Hajdu – na, wie soll ich mich nur ausdrücken? – ja, mit Hajdu ein Verhältnis gehabt …«
Über diese Enthüllung war niemand erstaunt, nur Marie selbst.
»Das glaube ich nicht!« erklärte Tante Susi. »Es ist allerdings richtig, daß sie sich auch heute noch ausnehmend für Hajdu interessiert; allein ich halte Blasius nicht für fähig, eine solche Charakterlosigkeit zu begehen!«
»Aber ich bitte dich, kennst du denn die Männer nicht? Das Fräulein hat sich wahrscheinlich eingebildet, daß es auf diesem Wege Frau Blasius Hajdu werden könnte.«
Sie sprachen noch weiter. Tante Nußknacker erwähnte auch den Obergespan. Ja, einen nach dem andern! Die Frau des Obergespan sei sogar schon ganz krank aus lauter Eifersucht.
Weiter vernahm Marie nichts. Mit leichenblassem Gesicht stand sie vor dem Spiegel. Sie weinte nicht, grollte auch nicht, sondern empfand nur unendlichen Ekel. Es schien ihr, als tummelten sich Tausende von Kröten, Schlangen, Eidechsen, Ratten und was die Welt noch an Schmutz und Unrat aufzuweisen habe, in ihrem Zimmer umher. Die Zähne schlugen ihr vor Abscheu und Widerwillen klappernd zusammen.
Mechanisch holte sie den kleinen Reisekoffer aus dem Schrank und packte die Gegenstände hinein, die man für eine längere Reise mit sich zu nehmen pflegt.
Eine halbe Stunde später – im Zimmer der Tante wurde noch lustig geklatscht und geplaudert – trat sie mit dem Koffer in der Hand auf den Korridor hinaus, wo ihr eine Dienstmagd entgegenkam. Dies erinnerte sie daran, daß sie dem Mädchen etwas geben müsse.
»Kommen Sie her, Julie!« sagte sie zu der Magd.
Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, um Geld zu sich zu nehmen, und mit dem Gelde nahm sie auch ihr Sparkassenbuch an sich, an das sie vorhin gar nicht gedacht.
»Wohin geht das gnädige Fräulein?« fragte die Magd staunend.
»Ich gehe … reise fort …«
»Und wann kommen Sie zurück?«
»Niemals, Julie!«
Das Mädchen staunte immer mehr.
»Weiß die Gnädige davon?« fragte es.
Die »Gnädige« war Tante Susi.
»Was kümmert mich das?« erwiderte Marie achselzuckend.
»Was wird sie aber dazu sagen?«
»Was schert das mich?«
Bei diesen Worten hatte sie bereits das Tor erreicht. Sie trat hinaus und schlug es hinter sich zu. Vor dem Hause lungerte ein Mann herum, der ein Arbeiter zu sein schien. Sie redete ihn an: »Wollen Sie mir diesen Koffer da zur Bahn tragen?«
»Was zahlen Sie mir dafür?«
»Was Sie wollen?«
»Werden dreißig Kreuzer nicht zu viel sein?«
Der Mann hob den Koffer auf die Schulter; doch stellte es sich dabei heraus, daß er so betrunken war, daß er sich kaum auf den Füßen halten konnte. Marie wollte ihm den Koffer wieder abnehmen; der Mann aber gab ihn nicht ab, sondern taumelte mit ihm fluchend über die Straße. Das Mädchen war nahe daran, aus Wut in Tränen auszubrechen. Was sollte es jetzt anfangen?
In diesem Augenblick näherte sich ein Schlitten unter lustigem Geklingel aus der Richtung der Hauptstraße. Ein Mann mit einem Zylinder saß darin: Horvàth, der Journalist.
Marie winkte ihm mit flammend rotem Gesichte zu.
»Horvàth! Lassen Sie halten!«
Der Schlitten hielt und der Zeitungsschreiber eilte auf sie zu.
»Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Bringen Sie mich zur Bahn! Bringen Sie mich nach Pest!«
»Ich verstehe nicht …«
»Fragen Sie nichts, sondern nehmen Sie diesem betrunkenen Menschen da meinen Koffer ab …«
Horvàth gehorchte schweigend; dann war er dem Mädchen behilflich, in den Schlitten zu steigen. –
Die drei Tanten, die schon zum, Gott weiß, wievielsten Male Abschied voneinander nahmen, wurden jetzt auf die Worte Elsas aufmerksam.
»Mama,« sprach das naive, dicke Fräulein; »sieh doch nur, Marie fährt mit einem fremden Herrn im Schlitten … Und einen Koffer hat sie auch bei sich! Aber das ist ja der Journalist aus Pest, der bei Tatáry war …«
In diesem Augenblick kam das Dienstmädchen hereingestürmt.
»Ich bitte sehr, Fräulein Marie ist abgereist … Sie sagte, sie komme niemals zurück … Sie sagte auch, es kümmere sie nicht, was die Gnädige sagen würde … Und mir gab sie zehn Gulden Abschiedsgeld …«
Wie erstarrt blickten einander die drei Tanten an. Tante Nußknacker war die erste, die zu Atem und zu Worte kam.
»Nun, was habe ich gesagt?« fragte sie mit strahlender Miene. –
Mit Blitzesschnelle verbreitete sich in der kleinen Stadt die Kunde, daß Marie – am helllichten Tage – mit dem Journalisten aus Pest entflohen sei. Daß sie das bei helllichtem Tage getan, wurde ihr merkwürdigerweise als erschwerender Umstand angerechnet. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Kunde und die Wirkung war eine erschreckende. Die beiden fürchterlichen Tanten, Nußknacker und Beißzange, kamen an diesem Tage nicht einmal dazu, eine rechtschaffene Mahlzeit einzunehmen. Auf dem Heimwege mußten sie noch eine oder zwei gute Bekannte aufsuchen, um ihnen die sensationelle Neuigkeit brühwarm aufzutischen. Doch nahmen sie es mit der vertrauten Bekanntschaft nicht so streng, sondern hielten auch die minder gut bekannten Personen an, die sie am Fenster erblickten oder denen sie auf der Straße begegneten. Beide Damen konnten sich eines erhebenden Gefühls nicht erwehren: sie fanden nämlich, daß ihnen Marie durch ihre Flucht eine hohe moralische Genugtuung gegeben habe, denn sie hatte ihr Bündel in demselben Augenblick geschnürt, da sie – die Tanten nämlich – ihren Kassandraruf vernehmen ließen.
Im Laufe des Nachmittags fanden sich gar viele Besucher bei Tante Susi ein. Im Namen der Teilnahme und Sympathie erbat sich die kleinstädtische Neugierde Zutritt, und das alte Fräulein empfing die Gäste mit einer den Umständen entsprechenden Miene. Man merkte ihr förmlich an, daß ihr religiös-sittliches Gefühl ihr die Kraft verleihe, den Schmerz zu ertragen, der ihr zu teil geworden. Sie empfing einen jeden mit den Worten: »Bitte, nennen sie den Namen jener Person nicht mehr vor mir … Sie ist für unsere Familie tot …« Nahm der Gast diese Ermahnung ernst, so war die Tante fünf Minuten später gezwungen, das Gespräch selbst auf Marie zu lenken. Es bereitete ihr nämlich eine Art grausamen Genusses, den »der Ehre ihres Hauses zugefügten Schandfleck« einer recht gründlichen chemischen Reinigung zu unterziehen.
Übrigens war die Sache vorauszusehen gewesen; nur auszudenken wagte man sie nicht … Der Mensch – damit war Horvàth gemeint – war nur deshalb hierhergekommen: offenbar hatte das Mädchen schon früher geheimen Verkehr mit ihm unterhalten … Schon gestern abend hatten die beiden bei Tatáry ein so auffallendes Benehmen bekundet, daß man sie förmlich mit Brachialgewalt voneinander trennen mußte. Und am Morgen hatten sie eine Begegnung am Kalvarienberg, wo alles weitere besprochen wurde …
Jemand – ein junger Rechtsanwalt – ließ das Wort » moral insanity« fallen und das wurde von den übrigen zahllose Male wiederholt. Man wollte zugeben, daß Marie den Journalisten nicht einmal liebe; allein ihre Sucht, Aufsehen zu erregen, ihre exzentrische Denkungsart hatten sie allmählich so weit gebracht, daß sie früher oder später einen unerhörten Skandal heraufbeschwören mußte. Ja, mußte … Natürlich kam auch der frühere »Fall« mit Hajdu zu Worte, sowie die Kombination mit Tatáry, die die öffentliche Meinung der kleinen Stadt mit instinktivem, bewunderungswürdigem Ahnungstrieb auf Grund einer schlecht verhehlten, unflätigen Bemerkung des schönen Obergespans aufbaute. Seine Gemahlin, die auch sonst in solchem Maße eifersüchtig war, daß sie ihn selbst seiner Träume wegen zur Rechenschaft zu ziehen pflegte, erhob jetzt offen den Vorwurf gegen ihn, daß auch er mit Marie von Atalay getändelt hätte. Und hatte er das nicht, so hatten sie beide sicherlich nichts dazu beigetragen!
Und des Abends erzählte man sich schon viele andere Dinge von dem schönen Flüchtling, denn wo fände der menschliche Forschergeist eine Schranke? Zwei oder drei Abenteurer der kleinen Stadt gaben Anlaß dazu. Junge Männer in gewürfelten Anzügen, die sich gerne als Don Juans gaben, und die Marie früher zuweilen voll Ironie verspottet hatte, nahmen jetzt mit ostentativem Eifer, mit einem vielsagenden, diskreten Lächeln das Mädchen in ihren ritterlichen Schutz.
Wer da meint, daß ein solcher »Fall« in der öffentlichen Meinung aufrichtige, ehrlich gemeinte Entrüstung hervorruft, irrt sich ganz bedeutend. Keine Idee! So oft sich eine Gelegenheit darbietet, daß wir den Boden unter den Füßen eines Nebenmenschen sinken sehen, wiederholt sich die merkwürdige Erscheinung, daß die Zuschauer von einem wahren Freudentaumel erfaßt werden. Ein Teil derselben sieht die Sache mit offener Schadenfreude, der andere mit scheinbarem Schmerz mit an. Die ersteren sind die aufrichtigen, und die Trauernden die Heuchler, denn sie trauern nicht im entferntesten. Sie empfinden nichts weiter als eine Art wonnigen Schauers, wie ihn die letzten Auftritte einer Bühnentragödie beim Publikum hervorrufen … Haben Sie schon gehört? Wissen Sie schon? Was sagen Sie dazu? Und wer es hört, ist glücklich; noch glücklicher ist aber, wer es erzählen kann. Ohne Rang- und Klassenunterschied empfindet ein jeder diese Glückseligkeit; selbst die in den niedrigsten Spelunken der Stadt hausenden verlorenen Geschöpfe empfinden sie und rufen lachend und frohlockend aus: »Nun seht ihr, daß selbst die vornehmen Grafen- und sonstigen Fräuleins nicht besser sind, als wir!«
Inzwischen setzte die Person, die zu all dem müßigen Gerede Anlaß gegeben, vollkommen ruhig ihre Reise nach Pest fort. Sie befand sich allein in einem Coupé. Sie hatte Horvàth gebeten, sie allein in einem Coupé reisen zu lassen, nicht so sehr, weil es der Anstand erforderte, sondern weil sie Kopfschmerzen hatte und ihr das Sprechen lästig war. Und der Journalist hatte stillschweigend ihrem Wunsche entsprochen.
In Steinbruch – eine Station vor Pest – stieg Marie aus, trat an das Fenster Horvàths und sagte zu ihm: »Leben Sie wohl!«
»Wie? Sie kommen also nicht nach Pest?«
»Meine Tante wohnt hier in Steinbruch … Bemühen Sie sich nicht; ich nehme einen Wagen und bin gleich bei ihr …«
»Sagen Sie mir wenigstens, wo die Dame wohnt, damit ich Sie aufsuchen kann … Vielleicht werden Sie meiner bedürfen …«
»In diesem Falle werde ich Ihnen schreiben … Ich weiß, bei welchem Blatte Sie arbeiten … Noch einmal besten Dank!«
Damit ging sie, und Herr Horvàth, der sich unterwegs offenbar mit dem Ausmalen eines Kapitels aus einem an überraschenden Wendungen überreichen psychologischen Roman amüsiert hatte, setzte seine Reise in ziemlich gedrückter Stimmung fort.
Zehn Minuten später klopfte Marie bereits an die Tür der im dritten Stock gelegenen Wohnung ihrer Tante.
Anna, die »Pester Tante,« deren Namen man nach Tante Susi in korrekter Gesellschaft nicht zu erwähnen pflegte, war eine bedauernswerte Frau, die eine wirklich traurige Vergangenheit hinter sich hatte. In ihren jungen Jahren führte sie ein rechtschaffenes, bescheidenes Leben an der Seite eines tüchtigen Beamten, bis sie sich dazu bewegen ließ, mit einem herabgekommenen Individuum – es sollte ein Maler gewesen sein, andere aber sagten, es sei ein gewöhnlicher Stubenmaler gewesen – gemeinsamen Haushalt zu führen. Der Mann hatte ihr auch die Ehe versprochen, sein Versprechen aber niemals eingelöst. In der Familie aber vertrat fortan Tante Anna die Rolle des Dämons der bösen Leidenschaften, trotzdem sie eher die Dienstmagd, denn die Geliebte jenes betrunkenen Tagediebes war. Die Arme war eine bescheidene, etwas beschränkte Frau, schmiegsam, weder gut, noch schlecht, sondern gleich den meisten Menschen, weiches Wachs in den launenhaften Fingern des Schicksals. Das Schicksal hatte das aus ihr gemacht, was sie war, trotzdem es auch eine Heilige oder zu mindest eine Märtyrerin aus ihr hätte gestalten können, ohne sich darum mehr Mühe geben zu müssen. An der Seite ihres zweiten »Mannes« streifte sie sehr bald ihre früheren Gewohnheiten, ihren gesellschaftlichen Ehrgeiz ab, so daß sie fast ganz vergaß, daß sie einer vornehmen Familie entstammte. Dagegen eignete sie sich die Kunstgriffe der großstädtischen »Gnä' Frau« an, die um das tägliche Brot zu kämpfen hat, und seit sechs Jahren, das heißt seitdem ihr Tyrann verschwunden, verschollen oder gestorben war, erwarb sie sich als Auskocherin und Quartiergeberin ihr kümmerliches Brot.
»Wen belieben zu suchen?« fragte die kleine, gelbwangige Frau in den abgetragenen, schmutzigen Kleidern, als das stattliche, elegante Fräulein in die kleine Küche trat.
»Ich suche Tante Anna … Sind Sie es vielleicht? Ich bin Marie von Atalay …«
»Ja, ich bin es … Was wünschen Sie?«
Marie schloß die Frau schweigend in die Arme, worauf jener sofort die Tränen in die Augen schossen. Seit zwölf Jahren vielleicht hatte sie keinen einzigen Verwandten mehr gesehen.
Nun sagte ihr Marie, aus welchem Grunde sie hierhergekommen. Sie wolle bei der Tante wohnen; Kost und Quartier würde sie natürlich bezahlen …
Die Tante geriet in eine ungeheure Verwirrung.
»Aber, Kind, wie könntest du bei mir Platz finden?« jammerte sie. »Ich selbst wohne ja in der Küche, hinter dem grünen Vorhang dort … Ich habe nur ein Zimmer und das gehört meinem Mieter … Vergangenes Jahr hatte ich noch eine schöne Wohnung: doch jetzt bin ich in eine arge Verlegenheit geraten … Mein Zimmerherr ist schon seit zwei Monaten die Miete schuldig und ich weiß nicht, was ich anfangen soll.«
»An die Luft setzen müssen Sie ihn, Tante, wenn er nicht zahlt!«
Tante Anna blickte erschrocken auf ihre schöne Nichte.
»Das wäre schon recht,« sagte sie; »er ist aber ein gar grober Mann!«
Marie war bereits im reinen mit sich, wie sie hier aufzutreten habe. Mit ihrer Tante durfte man sich nicht beratschlagen! hier mußte man selbst anordnen und befehlen, wenn man etwas erreichen wollte.
»Ist der Patron zu Hause?«
»Nein, doch wird er gleich nach Hause kommen.«
Marie trat in das Zimmer und sagte: »Was gehört hier dem Zimmerherrn? Schaffen Sie alles in die Küche hinaus und übergeben Sie es ihm. Sagen Sie ihm, er möge gefälligst im Stadtwäldchen oder meinethalben am Bahnhof übernachten.«
Die gesamte Habe des Zimmerherrn bestand aus zwei Pfeifen, ein paar weiblichen Photographien, etwas Weißwäsche und einer überzähligen Pepitahose. Mit erschrockener Miene raffte Tante Anna die Gegenstände zusammen, die ihr die Generalstochter hinwarf.
»Und nun öffnen Sie das Fenster und heizen Sie ein. Dann bitte ich um Wasser und Papier nebst Tinte, da ich meinem Vater schreiben will. Auch bitte ich um etwas zu essen, da ich sehr hungrig bin.«
Sie gab ihrer Tante Geld und setzte sich nieder, um einen Brief zu schreiben. Schon unterwegs hatte sie ihrem Vater telegraphiert, und jetzt benachrichtigte sie ihn brieflich, daß sie fortan bei Tante Anna wohnen werde. Es war ein recht kurzer Brief. Den Grund, aus welchem sie Tante Susi so unvermittelt im Stiche zu lassen gezwungen gewesen, berührte sie nicht, sondern schrieb nur, daß sie dazu genötigt gewesen … Dann ersuchte sie den General, er möge bei Tante Susi veranlassen, daß ihre Habseligkeiten ihr nachgeschickt würden; sie selbst könne nicht an die Tante schreiben.
Noch hatte sie ihren Brief nicht beendet, als von draußen das Schelten einer weinseligen Männerstimme vernehmbar wurde. Der Zimmerherr war nach Hause gekommen! Er war ein großer, langer Schlingel mit aufgedunsenem Gesicht und der verdächtigen Eleganz der hauptstädtischen Müßiggänger. »Das möchte ich sehen! Das möchte ich sehen!« lärmte er in einem fort.
Als dann die Tür des für ihn verlorenen Paradieses geöffnet wurde und das große, elegante junge Mädchen vor ihm stand, verstummte er; ja, es mochte sich sogar etwas wie eine ritterliche Regung in ihm geltend machen, denn mit einem schelmisch sein wollenden Lächeln sagte er: »Ei, ei, Gnädige wollen mich also aus meiner Wohnung vertreiben?«
»Gehen Sie zum Teufel, sonst lasse ich einen Schutzmann holen!« gab Marie trocken zur Antwort.
Der Zimmerherr war über diesen Ton sichtlich erstaunt.
»Pardon!« sprach er verächtlich.
Damit wendete er dem Mädchen den Rücken und verlangte von der Quartiergeberin seine Sachen. Ein Kragen fehlte. Wo war dieser Kragen? Endlich aber gab er sich zufrieden und ging.
Marie erklärte, daß sie vorläufig in der Küche zu schlafen wünsche, bis ihr Bettzeug anlangte, und zwar in dem Bette der Tante. Auch sollte die Tante schon morgen eine neue Wohnung suchen, aber in der Stadt drinnen; eine Wohnung mit zwei Zimmern und einer Küche.
»Wozu bist du aber eigentlich nach Pest gekommen?« fragte die Tante später, nachdem sie einigen Mut gefaßt.
»Um Schauspielerin zu werden.«
Darüber dachte die Tante lange und eifrig nach. Schauspielerin wollte sie werden? Das war ja schon recht. Die Tante hatte so manches schon im Leben erfahren, wußte auch, daß es zweierlei Schauspielerinnen gebe: solche, die der Bühne zuliebe diese Laufbahn wählen und solche, die es nicht der Bühne zuliebe tun. Zu welcher Art gehörte wohl Marie? Die Tante sagte sich, daß es eigentlich schade sei, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, da es sich früher oder später ohnehin herausstellen werde. Würde die Kleine von rein künstlerischem Ehrgeiz getrieben, so konnte sie unbedingt auf ihre Tante rechnen, die ihr eine treue Hüterin und Beschützerin sein würde. Sie würde sie pflegen, ihr kochen und waschen, sie ankleiden, sie auf Schritt und Tritt begleiten und nicht dulden, daß man sie auch nur mit einem schiefen Blick belästige. Sollte Marie aber diesem Bilde nicht entsprechen – nun dann – du lieber Gott! – konnte sie auch auf die arme Tante Anna zählen.
Zwei Wochen später wohnten die beiden Frauen bereits in der Stadt, wo sie in der unmittelbaren Nähe der großen Ringstraße eine hübsche und recht wohlfeile Wohnung gefunden hatten.
Anfänglich ging Marie selbst mit einem wahren Feuereifer daran, ihr kleines Zimmer einzurichten; als sie damit aber zur Hälfte fertig geworden, verlor sie mit einem Male alle Lust an der Sache und überließ ihrer Tante die Vollendung der Arbeit. Der Fluch der mit geläutertem Geschmack ausgerüsteten Menschen hatte sie ereilt: sie, die in allen Dingen, Möbeln, Kleidern und Nippes die einfachen, doch gediegenen, wertvollen und künstlerischen Hervorbringungen liebte, vermochte sich auf die Dauer nicht mit dem vielen wohlfeilen Kram zu befreunden, den sie in ihrem ersten Eifer durch Tante Anna für ihre neue Wohnung hatte zusammenkaufen lassen.
»Dies ist ja nur eine provisorische Behausung,« tröstete sie sich selbst.
Und wirklich machte die Wohnung bis zu Ende den Eindruck des Provisorischen und Fremden, wie eine Gasthofswohnung oder aber wie die Klause eines an fremdem Ort einquartierten Offiziers.
Den Stempel des Militärischen drückten das Messingbett, die Reitpeitschen, einige wertvolle Nippes, die lauter Sportnachbildungen darstellten, sowie ein gutes Gruppenbild, das den General hoch zu Rosse im Kreise einiger seiner Offiziere, die gleichfalls beritten waren, zeigte, der Wohnung auf. Aber auch in der Anordnung der Gegenstände gab sich eine gewisse Pedanterie kund, wie man sie gewöhnlich nur bei Militärjunggesellen antrifft. Das reiche Arsenal der Kämme, Bürsten und Nagelscheren hatte seinen Platz auf einem besonderen Tische erhalten, wo die Gegenstände der Größe nach in Reih und Glied geordnet waren, wie es nur bei den Sammlungen im Museum gebräuchlich ist. Und die Schuhe, für die Marie unverhältnismäßig viel verausgabte, standen in schnurgerader Ordnung längs der Wand des Vorzimmers aufgestellt.
Marie hatte sich bereits in ihrem neuen Heim eingerichtet, als sie endlich einen Brief vom General erhielt. Herr von Atalay, bei dem das Briefschreiben auch sonst nicht zur Leidenschaft gediehen war und der jede Zeile Geschriebenes recht gern mit einem Kilometerritt erkauft hätte, war wohl in seinem ganzen Leben keiner schwierigeren Frage gegenübergestellt worden, als jetzt, da er seiner Tochter zu schreiben hatte. Er war einesteils aufs höchste aufgebracht über seine Tochter, weil sie ohne sein Wissen und ohne seine Einwilligung in das Haus jener Person übergesiedelt war … Er fühlte instinktiv, daß er jetzt seine väterlichen Rechte geltend machen, dazwischentreten und seine eigenmächtige, unbändige Tochter bestrafen oder zu mindest tüchtig auszanken müßte. Anderenteils bedurfte er aber dringend jener sechstausend Gulden, die ihm seine Tochter schon früher zugesagt hatte … Mit jemandem aber grob zu sein und von dem Betreffenden gleichzeitig Geld zu verlangen – dieses Kunststück brächte selbst ein größerer Stilist als es der General war, auch nicht fertig. Atalay war denn auch nicht grob mit seiner Tochter, sondern kennzeichnete bloß in Form einiger leiser Vorwürfe den Standpunkt, den er Tante Anna gegenüber prinzipiell einnahm, während er den überwiegend größeren Teil seines Schreibens der Ventilierung der Geldfrage widmete.
Über den Herrn General waren damals bitterböse Tage gekommen. Eine Woche vorher hatte man seinen mächtigen Gönner in Wien zur ewigen Ruhe geleitet, und die Mitglieder der glanzvollen militärischen Begleitung ahnten nicht einmal, daß in dem mit der Herzogskrone geschmückten Erzsarge gleichzeitig auch die letzten Hoffnungen eines Dutzend vertrauensseliger Gläubiger in die Kapuzinergruft beigesetzt wurden.
Einige Tage nach der Beisetzung kam die erschreckende Wechsellawine neuerdings in Bewegung; doch gingen die Dinge jetzt mit schwindelerregender Schnelligkeit vor sich. Noch hatte der General keine Zeit gehabt, ein paar kräftige Reiterflüche laut werden zu lassen, als er von höherer Stelle bereits die diskrete Mitteilung erhielt, daß man ihn behufs Ordnung seiner Angelegenheiten provisorisch vom Dienst enthebe.
Inzwischen hatte Marie ihrem Vater das Geld bereits nach Wien geschickt. Von ihren Bühnenplänen sprach sie nicht in ihrem Briefe und damit erwies sie dem Alten nur einen Gefallen, der von ihm unangenehmen Dingen sehr gerne keine Kenntnis nahm. –
Auf welche Weise wird man zur Künstlerin? Aus dem genießenden Menschen zum schaffenden Genius? Welcher Weg führt aus dem Zuschauerraum des Theaters auf die Bühne empor?
Marie von Atalay erschrak vor diesen Fragen, mit denen sie sich jetzt eingehender zu befassen begann. Sie wurde nachdenklich, hielt Umschau um sich und sah niemanden, der ihr den richtigen Weg zu zeigen vermocht hätte oder ihr sonst wie zu Hilfe gekommen wäre.
Sie wollte nichts davon wissen, eine der vorhandenen Schauspielerschulen zu besuchen; sie fühlte sich schon zu alt dazu, um nach Schülerart auf einer Bank Platz zu nehmen und lektionenweise zu lernen. Aber auch sonst lehnte sich ihre aristokratische Natur gegen den Gedanken auf, mit den glattrasierten jungen Leuten, die stets in einen flatternden Mantel gehüllt waren, und den Damen, die ihr Haar in so auffallender Art ordneten und die sie zuweilen scharenweise über die Kerepeserstraße ziehen sah, in ein kameradschaftliches Verhältnis zu treten.
Mit einem schnellen Entschluß schrieb sie endlich an einen der Meister. Der Meister sollte sie lehren, sollte ihr den richtigen Weg weisen.
Der Künstler, der das Bühnenideal des jungen Mädchens repräsentierte, war Zoltan Arday, der ein wenig verlebte Bonvivant einer hauptstädtischen Bühne. Früher, als sich Marie noch häufiger in Budapest aufhielt, hatte sie das Spiel Ardays hinreißend, liebenswürdig, diskret und vornehm gefunden, und der sympathische Eindruck, den sie damals empfangen, veranlaßte sie jetzt, den Künstler in einem kurzen, höflichen Schreiben um die Ehre seines Besuches zu bitten.
Zur bestimmten Stunde fand sich denn auch Arday pünktlich bei Marie ein. Im Tageslicht war er weder so liebenswürdig, noch so vornehm, wie bei Lampenlicht, und auch seine Gebrechlichkeit trat deutlicher hervor. Als er den Wunsch des jungen Mädchens kennen gelernt, kehrte er einen sehr praktischen, fast möchte ich sagen geschäftlichen Standpunkt hervor.
»Mit einem Wort, mein Fräulein,« sprach er, »Sie möchten erfahren, ob Sie Bühnentalent besitzen?«
»Und wenn ja, kann, darf ich auf Ihre Unterstützung zählen?«
Statt der Antwort zog der Künstler sein Notizbuch hervor und sagte: »Ich habe nachmittag noch eine Stunde frei.«
Dann ließ er das Mädchen ein paar Verse deklamieren, die er, in seinen Stuhl zurückgelehnt, mit halbgeschlossenen Augen und unbeweglich anhörte. Endlich sagte er: »Genug, ich danke Ihnen.«
»Nun?« fragte Marie, die ihre gewöhnliche Ruhe bei dieser Gelegenheit ganz eingebüßt zu haben schien.
Arday sprach das Urteil aus: »Ich glaube, daß in Ihnen ein gewisses dramatisches Talent steckt, dessen Entfaltung sich verlohnen würde. Sie müssen aber noch sehr viel lernen und noch mehr vergessen. Wenn Sie wünschen, so erteile ich Ihnen zwischen vier und fünf Uhr Unterricht. Für meinen Unterricht pflege ich pro Stunde fünf Gulden zu bekommen.«
Die letzten Worte hatte Arday leise und mit einem leichten Lächeln gesprochen, welches etwas von der blasierten Liebenswürdigkeit des Herrn Des Prunelles an sich hatte.
Der Künstler fand durchaus nichts Außerordentliches an diesem kleinen Abenteuer. Es ist häufig genug der Fall, daß vornehme junge Damen mit exzentrischen Neigungen plötzlich das Talent einer Sarah Bernhard in sich entdecken. Keine von ihnen will indessen eine Schule besuchen, sondern eine jede schreibt Meister Arday oder einem anderen Meister Wort für Wort einen Brief, wie ihn Marie von Atalay geschrieben. Ein paar Monate lang quälen sie sich damit, Verse und Prosa zu büffeln und dann geben sie die Sache auf. Sie werden ihrer überdrüssig, besinnen sich eines Besseren und heiraten.
Seit einer Woche schon waren die Unterrichtsstunden im Gang und während dieser Woche war es Herrn Arday gelungen, seiner Schülerin die Überzeugung beizubringen, daß es nichts Schwereres auf der Welt gebe, als zu stehen, zu sitzen, zu gehen und zu gestikulieren. Marie hatte keine dieser Künste inne. Sie wußte ja nicht, wie man zur Tür hereinzukommen und ein Taschentuch vom Tisch aufzunehmen hatte. Und gar das Sprechen! O, Marie konnte plappern, Buchstaben und Silben verschlucken, auch singen konnte sie; aber sprechen, mit der erforderlichen Betonung sprechen konnte sie nicht!
»Nein, ich kann es nicht,« erklärte Marie im Tone trauriger Resignation, »und werde es auch niemals können!«
»Nur Mut!« pflegte dann Arday zu erwidern. »Aller Anfang ist schwer!«
Dazwischen studierte Marie die endlos langen und betrübend leeren, inhaltslosen Verse und Monologe aus der Feder ihr ganz unbekannter Autoren, die ihr Arday brachte, da sie, wie er sagte, ausnehmend geeignet seien, im ausdrucksvollen Deklamieren zu vervollkommnen. Diese Verse rezitierte das Mädchen häufig auch des Nachts, halb im Schlaf und suchte sie recht ausdrucksvoll zu deklamieren, und beim Ankleiden ertappte es sich häufig genug dabei, wie es im Spiegel die eigenen Bewegungen beobachtete, ob sie wohl genügend plastisch seien.
Nach Ablauf von drei Monaten faßte die Überzeugung Wurzel in der jungen Dame, daß sie von ihrem Ziele niemals weiter entfernt war als gegenwärtig. Der Weg, den sie eingeschlagen, mochte zu allem eher, denn zur Kunst führen. Wohl glaubte sie auch jetzt noch felsenfest an das herrliche Talent des Meisters, aber an sich selbst hatte sie allen Glauben verloren.
Zu dieser Zeit geschah es, daß sie auf einem Spaziergang, den sie zur Mittagsstunde unternahm, zufällig mit Horvàth, dem Journalisten, zusammentraf. Seit vier Monaten wohnten sie schon in derselben Stadt, ohne daß sie einander gesehen hatten. Der sehr kurzsichtige Horvàth hätte sie in der Menge auch jetzt nicht erkannt, wenn Marie ihn nicht angehalten hätte. Nach kurzem Gespräch kamen sie auch auf Arday zu reden, und Marie, der es einleuchtete, daß sie jetzt mit einem Menschen spreche, der sie verstehen konnte, erzählte ihm die erlittene Selbsttäuschung.
Horvàth geriet buchstäblich in Wut.
»Um Gottes willen,« sprach er höchst aufgeregt, »was treiben Sie? Was? Von Arday wollen Sie lernen? Vom affektiertesten, hohlsten Komödianten des ganzen Landes?«
Marie erstarrte fast zur Salzsäule vor Schrecken, als sie Horvàth in diesem Tone von dem Meister sprechen hörte. Der Journalist aber, der in Kunstsachen nihilistischen Anschauungen huldigte, fuhr ingrimmig fort: »Wer da lehrt, daß man die Schauspielkunst in der Schule erlernen müsse, ist entweder ein Betrüger oder ein Esel. Die Schule ist vorhanden, um allgemeine Bildung zu verleihen und die Schüler mit den Behelfen der Kunst bekannt zu machen. Sie besitzen die erforderliche Bildung und sind auch mit Ihren Mitteln im reinen; Sie bedürfen also der Schule nicht, am allerwenigsten aber der Schule eines Arday, der von Ihnen hundertmal mehr lernen könnte, als Sie von ihm. Sie können nicht gehen, nicht sprechen? O, über den erbärmlichen Hohlkopf, dem niemand gut genug spricht und geht, der nicht so spricht und geht, wie er! Er wünscht, die ganze Welt möge so hinken und lispeln wie er. Er wird Ihre Individualität zugrunde richten. Und ohne Individualität gibt es keine Kunst, gibt es überhaupt gar nichts.«
»Großartig!« rief Marie aus. »Sie sagen, daß Arday nichts versteht, und Arday ist offenbar der Ansicht, daß Sie nichts verstehen. Sehr schön. Doch was soll aus mir werden?«
»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen,« sagte Horvàth, nachdem er einen Blick auf seine Uhr geworfen. »Ich werde Sie zu einem Manne führen, der Ihnen sagen soll, was aus Ihnen werden wird. Sie werden ihm selbst glauben, wenn Sie mit ihm gesprochen haben, denn er ist der einzige Mensch im ganzen Lande, der etwas von Kunst versteht.«
»Wer ist das?«
»Der Alte ist's … Er wohnt sogar da in der Nähe … Kommen Sie auf der Stelle mit zu ihm; dort werden Sie die Wahrheit hören. Er wird zwar grob mit Ihnen sein; doch brauchen Sie sich nicht daran zu kehren …«
Eine abenteuerliche Neugierde veranlaßte Marie, den Journalisten zum »Alten« zu begleiten. Nicht etwa, als hätte sie die Meinung des Zeitungsschreibers sonderlich beeinflußt, denn daß Horvàths Geist sich stets in Extremen bewegte, war ihr bereits klar geworden, allein ihr Glaube zu sich selbst war dermaßen erschüttert, daß ihr das Sammeln und Vergleichen der einander widersprechenden Meinungen und Ansichten ein wahres Vergnügen bereitete. Sie war dem Kranken zu vergleichen, der aus den Widersprüchen der ärztlichen Diagnosen seine Hoffnung schöpft.
Wer der »Alte« war? Einst hatte er als ein königlicher Bühnen-Löwe die Bretter beherrscht, und heute hauste er als zahnloses, altes Raubtier in seiner im dritten Stock gelegenen Höhle. Einst hatte eine ganze Frauengeneration für ihn geschwärmt, und heute goß er sich in trauriger Einsamkeit mit eigener Hand den Tee in seiner kahlen Junggesellenwohnung auf. Als Romeo hatte er seine Laufbahn begonnen, als König Lear hatte er sie beendet. Mit dem Stachel der Undankbarkeit im Herzen verlebte er seine verbitterten Tage und fluchte dabei den beiden Töchtern der Undankbarkeit: der Kunst und der öffentlichen Meinung. Dabei hatte man sich ihm gegenüber keinerlei Ungerechtigkeit schuldig gemacht; ihm war nichts weiter zugestoßen, als daß er alt geworden war.
Horvàth hatte das Mädchen von vornherein darauf aufmerksam gemacht, daß der Alte grob sein werde. Doch der Alte strafte seine Worte Lügen und nahm seine Gäste mit väterlicher Milde auf. Zwar hatte er keinen guten Tag, allein sein Jubiläum stand vor der Tür, und soviel Macht hatte der Künstler noch immer in ihm, daß er bei solchen Anlässen sich mit den Vertretern der siebenten Großmacht auf freundschaftlichen Fuß zu stellen suchte. Als er von dem Zweck des Besuches in Kenntnis gesetzt wurde, begann er tatsächlich grob zu werden, doch nur mit Marie. Er duzte sie und sagte ihr allerlei absonderliche Dinge.
»Schauspielerin willst du werden?« herrschte er sie an, »weshalb nicht lieber Telephonfräulein oder Schiffskassiererin?«
Marie lachte und Horvàth redete ihr zu, etwas zu deklamieren. Sie sollte deklamieren, dabei aber möglichst nicht an Arday denken.
»Na, was kannst du denn?« fragte der Alte gelangweilt.
Marie von Atalay deklamierte einige Stellen aus der Rolle der Julie und der Desdemona.
»Sehr gut! Großartig!« sagte der Alte, doch in einem Tone, daß keines von ihnen eine Freude daran hatte. »Bitte, noch eine Kleinigkeit!«
Marie, die ein vorzügliches Gedächtnis hatte, deklamierte einiges aus einem Stücke Echegarays. Der Alte hörte mit affektiertem Entzücken zu. Mitunter schloß er die Augen und schnalzte sogar mit der Zunge, als schlürfe er Austern.
»So etwas habe ich noch niemals gehört!« brummte er.
Herr Horvàth begann sich sehr unbehaglich zu fühlen, während das Mädchen ganz verwirrt schwieg.
»Deklamiere noch etwas, mein Töchterchen! Verweigere einem Sterbenden doch nicht diesen Genuß!«
Der Alte bediente sich mit besonderer Vorliebe des Vergleichs mit einem Sterbenden. Selbst im Restaurant pflegte er mit schmetternder Stimme zu rufen, wenn ihn der Kellner zu lange warten ließ: »Ein Sterbender will seinen Rindsbraten haben!«
Marie aber hatte alle Geduld verloren und fragte: »Was soll das, Meister? Herr Horvàth sagte mir, daß Sie mir die Wahrheit mitteilen würden. Hätte ich geahnt, daß Sie mich necken und verhöhnen werden, so wäre ich wahrhaftig nicht gekommen …«
»Die Wahrheit willst du wissen, mein Töchterchen?« erwiderte der Meister. »Die will ich dir nicht vorenthalten. Du bist die erste Operetten-Primadonna des kommenden Jahrzehnts!«
»Operetten-Primadonna?«
»Ja, und ich lege meine Hand ins Feuer, daß es so sein wird! Du mußt nur wollen! Du hast mir Verse der Leidenschaft, der Liebe, des Kummers und Glücks deklamiert, und ich habe noch niemals eine so vollendete Parodie der menschlichen Leidenschaft genossen! Hört man dir zu, so muß man unwillkürlich einen Moment glauben, daß all das, was die Dichter Leidenschaft und Liebe nennen, nichts als eine anmutige Mystifikation ist. Du würdest Romeo, den Mohr von Venedig, die ganze Welt zum Narren halten … Du bist fürchterlich nüchtern, mein Kind, besitzest weder Glauben, noch Blut in den Adern; dafür aber besitzest du Anmut, zahllose geistvolle Einfälle und bist fürchterlich maliziös … Wärst du als Mann geboren, so würdest du vielleicht der große Bonvivant der Zukunft sein; so aber mußt du Soubrette werden. Du wirst eine neue Schule schaffen, die in den Rahmen des zeitgenössischen Geschmacks paßt …«
Marie war über diese Mitteilungen so maßlos erstaunt, daß sie kein Wort zu sprechen vermochte. Horvàth war der erste, der zu Worte kam.
»Die Frage ist nur die, ob das Fräulein auch Stimme hat?«
»Ihre Stimme ist recht angenehm und ihr musikalisches Gehör ohne Zweifel ausgezeichnet,« erklärte der Alte. »Das weitere ist Nebensache. Und jetzt gehe ich zum Mittagessen …«
Marie erholte sich erst einigermaßen von ihrem Staunen, als man sich bereits auf der Straße unten befand.
»Mit meiner dramatischen Laufbahn ist's also zu Ende?« fragte sie traurig.
»Lernen Sie singen!« redete ihr Horvàth zu, der unerschütterlich an die Unfehlbarkeit des Alten glaubte.
Zwei Wochen waren schon seit dem Besuche bei dem Alten vergangen, als sich Marie endlich zu etwas zu entschließen vermochte. Das erste, was sie tat, war, daß sie Meister Arday den Laufpaß gab, da sie alles Vertrauen zu ihm verloren hatte. Der Meister war darob nicht sehr verwundert, denn seine Schüler und Schülerinnen aus vornehmem Hause machten es gewöhnlich so: sie gingen mit einem wahren Feuereifer an die Sache, um sie eben so plötzlich wieder aufzugeben. Solchen Schülern pflegte er bei der letzten Stunde stets seine Photographie mit eigenhändiger Unterschrift zu verehren.
Am Ende der zweiten Woche fand sich General von Atalay ganz unerwartet in der Wohnung seiner Tochter ein. Marie hatte einige Not, ihren Vater zu erkennen, denn sie sah ihn zum erstenmal im Leben in bürgerlicher Kleidung. Er war sehr elegant, wenngleich etwas zu jugendlich gekleidet, im übrigen aber heiter und liebenswürdig wie immer.
»Ich habe in Budapest einiges zu erledigen, fahre aber mit dem Abendzuge wieder nach Wien zurück,« sagte er unter anderem. »Beiläufig, habe ich dir schon gesagt, daß ich in den Ruhestand trete? Ich habe die ewigen Schreibereien satt. Heutzutage ist man ja nicht mehr Soldat, sondern bloß ein Kanzleibeamter …«
Bis zum Abend verweilte der General bei seiner Tochter. Er benahm sich sehr freundlich und bescheiden; man merkte ihm förmlich an, daß er etwas wollte. Er fand alles schön und gut in der Wohnung seiner Tochter, ja, sagte sogar von Tante Anna, daß sie keine unangenehme Person sei. Als es Abend zu werden begann, rückte er endlich mit seinem Anliegen heraus: er brauchte wieder Geld.
Lumpiger drei- oder viertausend Gulden wegen könne man sich denn doch nicht erschießen, bemerkte er lächelnd.
Als Marie nach dem Nachtessen allein geblieben war, stellte sie in ihrem Notizbuche lange und erschöpfende Berechnungen an … Die Vermögensbilanz stellte sie folgendermaßen auf: »Ich werde Gesangsunterricht nehmen … Ich gehe zur Operette … Gelingt die Sache, so ist alles gut; schlägt sie fehl, so können wir uns beide erschießen: Der Vater und ich …«
Sie hatte eine Stimme von nur geringem Umfang, die aber sehr angenehm klang und die sie meisterhaft zu handhaben verstand. Ihre Lehrerin, eine sehr erfahrene und recht verständige Frau, war vom ersten Augenblick an entzückt von ihr. Die Couplets deklamierte sie mehr, als daß sie sie sang, und ihren Vortrag würzte sie mit zahllosen originellen Einfällen, wie das die Schule der Pariser Skala erfordert. Sang sie eine pathetischere Arie, so wirkte ihre parodisierende Kühnheit mit unwiderstehlichem Humor.
»Nur ein wenig Glück und alles ist gewonnen!« behauptete ihre Lehrerin.
Den ganzen Sommer verbrachte Marie in der Stadt, in angestrengter Arbeit. Sie studierte ein halbes Dutzend Operettenrollen ein, vermochte aber keinen Augenblick die Befürchtung los zu werden, daß sie diese ihre Kenntnisse niemals werde verwerten können. Bisher war es ihr im Leben noch mit allem so ergangen: alles hatte sie begonnen und alles wieder im Stich gelassen. Alle ihre Pläne waren in Rauch aufgegangen, alle Arbeit war zwecklos gewesen. Weshalb? Das hätte nur der Himmel zu sagen vermocht.
Zu Beginn des Herbstes – Herr Horvàth weilte dazumal in Italien, um, wie er sich selbst ausdrückte, sich eine dumme Einbildung aus dem Kopfe zu schlagen – suchte Marie den Direktor des Operettentheaters auf. Sie war zweimal bei ihm, fand ihn aber beide Male nicht zu Hause. Nun schrieb sie ihm, bekam aber keine Antwort. Dies machte sie wieder in solchem Grade mißmutig, daß sie nicht einmal den Gesangsunterricht fortsetzen wollte. Was sollten alle ihre Bemühungen? Es wurde ja doch nichts aus der Sache, absolut nichts!
Da erhielt sie einen ganz unverhofften Besuch in der Person Tatárys, des schönen Obergespans. Mit weißen Glacéhandschuhen, in einem lichten Überzieher mit Perlmutterknöpfen, mit weißen Gamaschen an den Füßen, mit Chypreparfum besprengt und Lügenphrasen auf den Lippen, trat er bei ihr ein. Die Lüge bestand darin, daß er vorgab, er habe bei dem im Hause wohnenden Rechtsanwalt zu tun gehabt, und von diesem erfahren, daß Marie hier wohne.
Er kehrte den guten Verwandten hervor, ja trug sogar eine gewisse Rührung zur Schau.
»Was für eine Lebensweise haben Sie sich zurechtgelegt? Wohl die eines Studenten? Ist ein solches Leben nicht zu traurig für Sie?«
Dann lenkte er das Gespräch auf die Pläne des jungen Mädchens.
»Man sagte, daß Sie sich der Bühne zuwenden wollten. In der letzten Zeit verstummten die Klatscher, aber … Oder ist es nicht wahr? Ist die Sache ein Geheimnis?«
Nein, das war sie nicht, und Marie berichtete dem Obergespan alles, was für ihn Interesse haben konnte.
Der Besuch Tatárys hatte zur Folge, daß das Mädchen schon am nächsten Tag einen Brief aus der Theaterkanzlei erhielt. Der Direktor bat in höflichen Worten um Entschuldigung, weil er nicht sofort auf ihren Brief geantwortet, und stellte sich dann der jungen Dame zur Verfügung. Obergespan Tatáry hatte jedenfalls treffliche Verbindungen in den Ministerpalais.
Schon am nächsten Tag – es war zur Mittagsstunde – finden wir Marie im Musikzimmer des Theaters. Mit dem Hut auf dem Kopfe und nachlässig um die Schultern geworfenem Mantel saß der Kapellmeister vor dem Klavier, während sich der Direktor auf einem in Pension geratenen Theaterthron niedergelassen hatte, der in einer dunklen Ecke stand. Marie hatte Tante Anna mit sich gebracht, damit sich jemand statt ihrer fürchte. Sie selbst fürchtete sich nicht, fühlte nicht einmal etwas wie Aufregung, sondern nur eine Art traumhafter Erstarrung. Sie wußte, daß sie heute das entscheidende Wort über ihre vielen Pläne, Vorbereitungen und Experimente vernehmen werde, und staunte selbst über ihre Gleichgültigkeit. Sie ertappte sich selbst dabei, daß sie im Grunde genommen gar nichts hoffe, sich aber auch vor gar nichts fürchte. Vielleicht hatte das nüchterne, etwas unsaubere Aussehen des Musikzimmers, oder das gelangweilte, gleichgültige Verhalten des Kapellmeisters diese Wirkung bei ihr hervorgerufen. Tatsache war, daß sie die begeisternde Nähe der Muse nicht fühlte, und hätte man sie um Auskunft darüber gebeten, wieso sie eigentlich hierher geraten, so hätte sie wohl keine befriedigende Antwort geben können. Sie war da, weil sich die Sache so gewendet …
Nur Tante Anna war sich der Wichtigkeit des Augenblicks bewußt. Sie war bleich und sehr aufgeregt. Auch ein wenig aufgebracht über den Direktor und den Kapellmeister, weil sie die Sache mit so offenkundiger Geringschätzung behandelten. Der Kapellmeister hätte doch wenigstens den Hut abnehmen können.
Der Musiker ließ die Finger über die Tasten des Klaviers gleiten, und Marie sang die Skala. Der Kapellmeister blickte sie überrascht an und warf dann einen vielsagenden Blick in die Ecke, wo regungslos und geheimnisvoll wie ein ägyptisches Götzenbild, der Direktor thronte. Das Gesicht des Kapellmeisters hatte einen Ausdruck, als hätte er Essig geschluckt.
Die jungen Damen, die von Zeit zu Zeit in diesem Raume Probe zu singen pflegten, glichen einander insofern, als jede von ihnen Stimme hatte, aber keine einzige singen konnte. Wer Stimme und musikalisches Gehör hat, wendet sich unbedingt der Oper zu. Marie aber überraschte ihre Zuhörer damit, daß sie singen konnte, aber keine Stimme hatte!
»Wäre es nicht besser, wenn sie sich der dramatischen Laufbahn zuwendeten?« fragte der Kapellmeister.
Tante Anna ließ ein zorniges Zischen vernehmen; Marie aber lachte leise auf. Nun ließ sich der Direktor vernehmen. Seine Stimme drückte eine gewisse Zurechtweisung für den Kapellmeister aus, als er ruhig sagte: »Ich bitte ein Couplet zu singen, mein Fräulein …«
Marie begann ein Couplet mit französischem Text zu singen. Der Musiker war schon sehr hungrig und bearbeitete anfänglich sehr ungeduldig die Tasten; dann aber begann er aufmerksam zu werden und gab bei den weiteren Strophen nur mit einer Hand den Ton an. Jetzt dämpfte die junge Dame schon selbst ihre Stimme; doch ihr Auge funkelte und ein reizendes, impertinentes Lächeln erschien auf ihren Lippen.
Das Lied war zu Ende. Der Kapellmeister schaute starren Auges auf das Mädchen, während der Direktor die Hände zweimal leise gegeneinander schlug …
Was war das? Das Mädchen empfand mit einem Male etwas wie süßen Schwindel, während ihm eine heiße Blutwelle aus dem Herzen zu Kopfe schoß … Der erste Applaus! Der erste! In diesem Augenblick wurde sich Marie mit einem Male über sich selbst klar. Sie fühlte, daß sie nur zu wollen brauche, um sich diese zwei Männer vollkommen untertan zu machen.
Der Direktor wollte irgend ein Lied von ihr hören; sie achtete aber nicht auf seine Worte, sondern begann unter den auf dem Klavier liegenden Noten zu blättern, worauf sie sagte: »Dies möchte ich singen …«
Sie knöpfte ihre Jacke auf, nahm ihren Hut ab und zog ihren Handschuh von der einen Hand. Sie brachte eine längere Soloszene aus einer neuen Operette zur Darstellung, eine jener Effektszenen, wie sie von den Komponisten einzelnen Primadonnen auf den schönen Leib geschrieben werden, damit sie sich nach Herzenslust austoben können.
Marie erzielte bei ihrer kleinen Zuhörerschaft einen viel größeren Erfolg, als sie selbst ahnte. Zwar applaudierte der Direktor diesmal nicht; dagegen trat er zum Klavier hin und musterte Marie von Kopf bis zu den Füßen. Dann tauschte er einen Blick mit dem Kapellmeister und mit diesem einen Blick hatten sich die beiden verständigt. Da war sie ja endlich, sie, von der die allabendlich leer bleibenden Bankreihen voll Sehnsucht träumten … Welch gütige Welle des Lebens mochte sie nur hierher, in das Musikzimmer des Theaters, gespült haben? Woher kam sie, wo war sie herangewachsen und wo hatte sie gelernt, daß sie sich so sehr von den anderen unterschied? Ihr Spiel war ein anderes, ihre Bewegungen waren andere, selbst ihr Blick war ein anderer. Alles neu an ihr, überraschend, prickelnd … Ihre ruhige Kühnheit, ihr bewunderungswürdiger Erfindungsgeist, ihre hinreißende Pikanterie, die fremdartige, aber vollkommene Anmut ihrer Bewegungen. Entzückend war sogar die Mangelhaftigkeit ihrer Stimme, die sie mit solcher hinreißender, parodisierender Kühnheit auszubeuten verstand.
Der Direktor fürchtete sichtlich, daß er sein Entzücken verraten könnte. Er zitterte aber auch davor, daß sich Marie bei näherer Betrachtung nicht als das entpuppen könnte, was sie im ersten Augenblick zu sein schien. Schon manchen Irrwisch hat man für einen Stern, schon viele Glassplitter für Diamanten angesehen.
»Haben Sie auch andere Szenen aus dieser Operette einstudiert?« fragte der Direktor nach einer atemlosen Pause.
»Ich habe die ganze Rolle einstudiert,« erwiderte ihm Marie.
Nun schritt der Direktor zur Tür und rief auf den Korridor hinaus: »Heda! Man hole mir Herrn Vidray von der Bühne – Ich lasse ihn bitten, hierher zu kommen. – Er soll die Probe unterbrechen und auf der Stelle kommen. – Auch das Soufflierbuch der ›Herzogin Yvette‹ soll man mir aus der Kanzlei bringen.«
Herr Vidray war der Tenorist des Theaters und nebenbei der Abgott der weiblichen Bevölkerung zweier Vorstädte. Er war aber auch ein schöner Mann, namentlich am Nachmittag und am Abend, wenn er nicht schläfrig war. Als er aber jetzt in das Musikzimmer trat, war er noch schläfrig und schaute daher ein wenig verdrossen drein.
Auf Wunsch des Direktors führten sie zu zweien die große Eifersuchtsszene aus dem zweiten, dann die Versöhnungsszene aus dem dritten Akt aus. Ferner wollte der Direktor die Serenade, das Trinklied und den melodramatischen Monolog Yvettens hören. Nach anderthalbstündiger Probe, nachdem alle bedeutenderen Szenen des Stückes zur Darstellung gelangt waren, gab er sich endlich zufrieden. Nein, dieses Mädchen war kein Irrlicht, war kein böhmisches Glas, sondern ein wirklicher Stern, ein kostbarer, edler Diamant.
Nun führte der Direktor Marie in seine Kanzlei, wo er ihr einen Fauteuil anwies und in folgenden Worten seinem Entzücken Ausdruck verlieh: »Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß Ihr Talent tatsächlich sehr beachtenswert ist, obschon Sie noch vieles lernen müssen, namentlich in bezug auf Spiel und Mimik. Allein im Hinblick auf Ihr Talent und Ihre vornehme Familie bin ich bereit, Sie zu engagieren, anfänglich natürlich unter bescheidenen Bedingungen.«
Marie erschrak ein wenig bei dem Wort »engagieren.« Sie hatte eigentlich nur darüber ins reine kommen wollen, ob sie Talent besitze oder nicht. Alles weitere mußte sie vorerst mit ihrem Vater besprechen … Und es unterlag keinem Zweifel – dies verschwieg sie dem Direktor indessen – daß General von Atalay, der bei allem liebenswürdigen Zynismus auf den uralten Adel seines Namens überaus stolz war, sich mit dem Vorhaben seiner Tochter nicht leicht befreunden werde. Zwar hatte der Herr General jederzeit eine ganz besondere Vorliebe für die kurz geschürzten Vertreterinnen des leichteren Operettengenres an den Tag gelegt; doch konnte man auf Grund dieser Sympathie nicht mit völliger Sicherheit darauf schließen, daß es ihm ein besonderes Vergnügen bereiten würde, wenn er seine Tochter sich dieser ihm so werten Laufbahn zuwenden sähe.
Das Zögern der jungen Dame berührte den Direktor sichtlich unangenehm; doch mußte er sich schließlich darein fügen. Er notierte sich die Adresse Mariens und bat sie, ihn so bald als möglich von ihrem endgültigen Beschluß in Kenntnis setzen zu wollen.
Als Marie am Arme der Tante Anna das Theater verließ, konnte sie aus den Blicken der dort gruppenweise herumstehenden Theaterangehörigen die Überzeugung schöpfen, daß man von ihrem Erfolge bereits Kenntnis habe. Herr Vidray, der Tenorist, hielt sich in gemessener Entfernung von seinen minder besoldeten Kollegen und lüftete mit einer unnachahmlichen, vornehmen Bewegung der weiß behandschuhten Rechten den mit einem Samtband gezierten Zylinder. An seinem vielsagenden, huldigenden und dennoch vertraulichen Lächeln merkte man, daß auch er auf das Mädchen gewartet habe. Dann wartete noch jemand auf sie: der Kapellmeister. Der kraushaarige Mann redete Marie mit der bei Musikern gewohnten Unbefangenheit an: »Welche Richtung nehmen Sie, mein Fräulein? In die Vorstadt? Schön. Dann können wir ja bis zur elektrischen Bahn zusammen gehen.«
Er wollte wissen, ob sie sich mit dem Direktor geeinigt habe.
»Nein!« gab sie zur Antwort.
»Das wundert mich. Er kann Sie nicht aus den Krallen lassen und wird es auch nicht tun. Wieviel verlangten Sie von ihm? Was Sie auch verlangen mögen, er wird es bewilligen … Viertausend, sechstausend, selbst achttausend Gulden. Vielleicht noch mehr. Er wird zwar blutige Tränen vergießen, aber auch zahlen, denn er ist wohl geizig, aber auch ein sehr gescheiter Mann.«
Der Kapellmeister hatte Marie aber nicht nur deshalb erwartet, um gegen seinen Direktor loszuziehen.
»Ich habe eine Operette …,« begann er nach einer Weile.
Sehr ausführlich skizzierte er die Fabel der Operette und sang auf offener Straße sogar die größeren Arien vor, und zwar mit haarsträubend unangenehmer Stimme. Marie sollte die Hauptrolle darin kreieren. Die Rolle war dankbar und wie für Marie geschaffen … Als hätte er sie direkt für sie geschrieben … Er wollte ihr die Partitur bringen und sie dann unterrichten … Als der Mann endlich ging, schob Marie ihre Hand unter den Arm der Tante Anna.
»Nun glaube ich selbst, daß ich gesiegt habe,« sagte sie. »Nur weiß ich nicht, ob ich der Mutter Natur dafür Dank wissen werde.«
»Der Kraushaarige sagte, man werde dir viertausend, sechstausend, achttausend Gulden und vielleicht noch mehr geben.«
Marie wollte antworten, doch fuhr sie mit einem Male zusammen und ihr Gesicht wurde blutrot. Inmitten der sich drängenden und stoßenden Menge war ein elegant gekleideter Herr so dicht an ihr vorübergegangen, daß er sie mit dem Ellbogen anstieß. Jetzt wendete er sich zurück und sagte mit nachlässiger Höflichkeit: »Pardon!«
Nun erkannte er aber das Mädchen. Es war Blasius Hajdu.
Einen Moment blickten sie einander starr an.
»Sieh da, Blasius!« sagte das Mädchen endlich.
»Guten Tag, Marie.«
»Der Zufall weiß also doch höflich zu sein,« scherzte das Mädchen. »Seit wann bist du denn in Pest?«
»Seit zwei Monaten,« erwiderte Hajdu gelassen. »Ich wohne wieder ständig hier …«
Erst jetzt merkte Marie, daß das Benehmen ihres Freundes ganz verändert war. Er sprach zwar mit tadelloser Höflichkeit, aber auch sehr kühlen, zurückhaltenden Tones.
Da fiel ihr ein, daß Hajdu und Tante Anna einander vielleicht nicht einmal kannten, und so stellte sie die beiden einander mit kurzen Worten vor. Der junge Mann lüftete den Hut mit lässiger Gebärde, während auf seiner Stirn eine Falte des Unmuts erschien.
Soviel Arroganz genügte, um Marie das Blut ins Gesicht zu treiben. Nun, wenn es nichts weiter bedurfte, als Arroganz – darauf verstand sie sich auch einigermaßen.
»Ich will dich nicht länger aufhalten,« sagte sie. »Guten Tag!«
Sie nickte mit dem Kopf und setzte am Arm der Tante Anna mit gleichgültiger Miene ihren Weg fort. Hajdu ließ sich aber nicht abweisen, sondern begleitete sie noch etwa zehn Schritte weit.
»Wann könnte ich mit dir sprechen, Marie?« fragte er. »In wichtigen Angelegenheiten …«
»Am Nachmittag bin ich immer zu Hause …«
Sie wollte ihre Adresse angeben, allein Hajdu fiel ihr ins Wort: »Ich weiß, wo du wohnst …«
»Wirklich?«
Marie maß ihn mit einem bitteren Lächeln. Seit zwei Monaten weilte er in Pest, wußte ihre Adresse und würdigte sie nicht einmal eines Besuches … Doch, was lag daran?
»Lebwohl, Hajdu!«
Und hoch erhobenen Hauptes schritt sie weiter, unter den Spaziergängern mit ihrer stolzen, stattlichen Gestalt nicht geringes Aufsehen erregend.
Zwar hatte Hajdu dem jungen Mädchen gesagt, daß er in wichtigen Angelegenheiten mit ihm zu sprechen wünsche; doch fand er sich erst vier Tage nach jener zufälligen Begegnung bei Marie ein. Der General dagegen hatte sich schon früher bei ihr eingefunden, und zwar einen Tag nach Empfang jenes Briefes, in welchem Marie ihm von ihren Bühnenplänen Mitteilung gemacht.
Herr von Atalay war bei diesem Anlaß in wirklichen Zorn geraten und sprach in so scharfem, verletzendem Ton mit seiner Tochter, wie noch niemals.
»Hast du wirklich den Verstand verloren?« rief er unter anderem. »Willst du durchaus, die Leute sollen mit Fingern auf mich deuten?«
»Auf dich, Papa?« fragte Marie mit ehrlichem Staunen.
»Von mir ist die Rede, nicht von dir! Von meiner gesellschaftlichen Stellung und nicht von der deinigen! … Ein General, dessen Tochter das Galeriepublikum durch den Anblick ihrer Trikots amüsiert … Unerhört!«
Der General sprang ingrimmig auf.
»Wenn ich bedenke, was man bei Hofe sagen wird …«
»Was sollte ich also deiner Ansicht nach tun, lieber Papa?«
»Diesen Unsinn sollst du dir aus dem Kopf schlagen …«
»Und dann? Was wird aus mir, was wird aus uns werden?«
Atalays Miene verdüsterte sich ein wenig.
»Das laß meine Sorge sein,« sprach er etwas unsicheren Tones. »Ich werde für deine Zukunft sorgen …«
Der unverbesserliche alte Knabe, dieser Fürst aller Optimisten, hielt noch immer fest daran, daß er sich durch eine Millionenheirat alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumen könne. Sollte aber das nicht gelingen, so gab es ja noch eine Menge anderer Arten, um zu Geld zu gelangen: eine glückliche Nacht im Spielzimmer des Klubs, oder eine gute Kombination bei den Wettrennen würde ihm früher oder später all das in den Schoß werfen, worauf ein Mann wie er mit vollem Recht seitens des Schicksals rechnen durfte.
»Vorderhand mußt du Budapest den Rücken wenden.«
»Und wohin soll ich gehen?«
»Ich habe mit Oskar Dobó und seiner Frau Rücksprache genommen; beide wollen dich auch nach dem Vorgefallenen gern wieder bei sich aufnehmen.«
»Soll ich dort vielleicht die Rolle der Wirtschafterin spielen?«
»Du könntest dich auch auf andere Weise im Hause nützlich machen … Die Kinder geben Arbeit genug …«
»Ich soll also die Rolle der Erzieherin übernehmen?«
»Arbeit ist keine Schande,« erwiderte der General ernst.
Eine leidenschaftliche Bitterkeit erfüllte das Herz der jungen Dame. Welch unerhörte Selbstsucht sprach da aus dem Alten! Das war ihr Vater, ihr leiblicher Vater? Um in der Welt die Rolle des glänzenden Kavaliers ungestört fortsetzen zu können, wollte er seine Tochter, die sich in einer für ihn so unangenehmen Weise geltend zu machen begann, ganz einfach verstummen machen, zum Verschwinden bringen … Sie sollte aus der Hauptstadt verschwinden, sollte sich in der Provinz unter unsympathischen Menschen vergraben, ihr Leben einer Arbeit widmen, zu der sie weder Lust noch Beruf in sich fühlte, sollte verwelken, verblühen, aber in aller Stille, unbemerkt, ungesehen. Und der Alte hatte gar keine Ahnung davon, fragte gar nicht danach, welche Gedanken und Wünsche sein Kind erfüllten, ob es Träume, Neigungen und Empfindungen habe, ob es ein Anrecht an das Leben geltend machen wolle?
Marie gab ihrem Vater keine Antwort; vor Bitterkeit vermochte sie nicht zu sprechen. Der General aber, der die Traurigkeit seiner Tochter für kindliche Unterwürfigkeit ansah, war ein wenig gerührt und wartete ihr noch mit einigen väterlichen Ratschlägen auf, die durchaus nicht zu ihm paßten. Darauf entfernte er sich beruhigt, nachdem er noch gesagt, daß er sich nach ein paar Tagen oder in einer Woche wieder einfinden werde, dann »würden sie alles in Ordnung bringen.«
Am vierten Tage stellte sich, wie gesagt, Blasius Hajdu ein. Als der junge Mann ins Zimmer trat, fand er seine Freundin in Gesellschaft des Theaterkapellmeisters. Der kraushaarige Musiker saß in gewohnter Ungezwungenheit mit der Zigarette vor dem Klavier, während Marie in einem Notenheft blätterte. Sie gingen miteinander die Partitur der neuen Operette durch.
Die künstlerische Genreszene berührte Herrn Blasius sichtlich sehr unangenehm.
»Wie ich sehe, bin ich zu ungelegener Zeit gekommen,« sagte er mit jener kühlen Überlegenheit, die Marie so zu ärgern vermochte.
»Du kannst bleiben,« erwiderte das Mädchen, »wir sind schon fertig mit der Lektion.«
Sie begleitete den Kapellmeister ins Vorzimmer hinaus, kehrte dann in das Zimmer zurück und stand nun Blasius gegenüber.
»Nun, Hajdu, was gibt es Neues?« fragte sie.
Eine Weile betrachtete sie ihn forschenden, ein wenig herausfordernden Blickes, vermochte aber den beharrlichen, ernsten Blick der braunen Männeraugen nicht lange zu ertragen. Um ihre Verwirrung zu verbergen, bot sie ihm einen Sitz an. Blasius schwieg lange; dann erfaßte er mit sanfter Bewegung die Hand des Mädchens. Leisen, weichen Tones, in jenem Tone, der einst von so süßer, nervenerschauernder Wirkung auf das Mädchen gewesen, sprach er: »Meine arme Marie, was ist mit dir geschehen?«
Erstaunt blickte ihn die junge Dame an. Sie hatte eine Empfindung gehabt, als werde sich ihr auch Hajdu in feindlicher Absicht nähern; seine warme Teilnahme entwaffnete sie. Schon lange hatte niemand in diesem Tone mit ihr gesprochen, und nun erfaßte sie mit einem Male eine so kindische, absonderliche Sehnsucht nach ein bißchen Sympathie und Wärme, daß es ihr eine große Erleichterung gewesen wäre, wenn sie sich auf der Stelle, ohne jeden Übergang, so recht von Herzen hätte ausweinen können. Derlei denkt man aber nur, tut es indessen nicht.
Hajdu sprach inzwischen leise weiter: »Ich erkenne dich nicht mehr, Marie! Du, die du früher so klug und stolz gewesen – wohin ist es mit dir gekommen?«
»Wohin es mit mir gekommen?« wiederholte das Mädchen mechanisch.
»Als man mir all diese Dinge zum erstenmal berichtete, wollte ich sie nicht glauben. Jetzt aber muß ich sie glauben, obschon ich nichts von alledem verstehe … Mir ist deine Flucht aus dem Hause deiner Tante Susi eben solch ein Rätsel, wie deine jetzige Lebensweise … Was soll das alles bedeuten?«
Die junge Dame war nicht mehr bewegt. Wozu sollte sie ihre Seele enthüllen, weshalb sich vor Blasius zu entschuldigen suchen, der sie so wenig wie alle anderen verstehen würde? Doch was lag daran? Und ironischen Tones erwiderte sie: »Das alles bedeutet, daß ich auf Abwege geraten bin.«
Hajdu zuckte die Achseln, als er sagte: »Wahr ist es nicht; ich wenigstens werde es niemals glauben, allein für einen Scherz ist die Sache gar zu traurig. In dir scheint ein selbstmörderischer Instinkt zum Durchbruch gelangt zu sein, der dich zwingt, deine Zukunft gewaltsam zugrunde zu richten … Ich will deinen Motiven nicht nachforschen, denn dazu habe ich kein Recht, sondern will nur fragen: gibt es kein Mittel, um dich von der Ausführung deiner Absicht zurückzuhalten? Erwäge deine Antwort genau!«
Die Wangen der jungen Dame färbten sich plötzlich dunkelrot und ihr Herz pochte stürmisch … Was war das? Die Sache hatte also noch kein Ende? Vielleicht war sie bis heute nur das Opfer eines fürchterlichen Mißverständnisses; vielleicht ließ sich noch alles gut machen?
»Doch, es gibt ein Mittel,« sprach sie, indem sie tief Atem schöpfte.
Hajdu blickte sie mit gespannter Aufmerksamkeit an.
»Ja, es gibt ein Mittel,« wiederholte sie. »Was ich der ganzen Welt zuliebe nicht aufgeben würde, würde ich einem einzigen Manne zuliebe aufgeben. Ihm zuliebe alles.«
Blasius hatte die Anspielung jedenfalls verstanden, denn er errötete ein wenig.
»Dieser Mann ist jedenfalls dein Vater?« fragte er.
Marie blickte ihn starren Auges an. Inmitten ihres plötzlichen Schreckens und bitterer Beschämung bewahrte sie soviel Besinnung, nur mit dem Kopfe zustimmend zu nicken.
»Natürlich … mein Vater,« sprach sie. »Würden es seine Interessen erheischen, so würde ich auf meine Pläne verzichten. Ich weiß aber, daß er materiell zugrunde gerichtet ist, daß seine militärische Stellung auch erschüttert und seine gänzliche Zerrüttung nur eine Frage der Zeit ist, wenn sich nicht jemand findet, der statt seiner arbeitet und ihn mit Geld, mit viel Geld noch dazu, versieht … Nun denn, ich werde für ihn arbeiten, wie es mir eben möglich ist, und niemand hat ein Recht, mir den Weg zu verstellen … Wenn du willst, können wir jetzt über andere Dinge sprechen.«
Hajdu, der die Wirkung des peinlichen Auftrittes noch nicht verwunden hatte, verlor den Boden endgültig unter den Füßen. Er wußte nicht, was er dem Mädchen sagen solle, und da er instinktiv fühlte, daß er eine recht traurige Rolle zu spielen beginne, beeilte er sich, Abschied zu nehmen.
»Besuche mich doch nächstens wieder,« sagte Marie an der Tür zu ihm. »So weit mir bekannt, pflegst du die Bekanntschaft mit Schauspielerinnen nicht zu meiden …«
Als sie allein geblieben war und die Sache reiflich überdachte, gestand sie sich ehrlich, daß das Vorgehen des jungen Mannes durchaus begreiflich, ja sogar selbstverständlich gewesen. Er hatte schon vor Jahren gewußt, daß er nur die Hand nach ihr auszustrecken brauche, um sie zu gewinnen, und hatte es nicht getan. Hätte er es also jetzt etwa tun sollen, da die abenteuerliche Flucht und die Lebensweise seiner Freundin in der Hauptstadt drei Komitaten im Lande reichlich Stoff zu boshaften Klatschereien boten?
In den Nachmittagsstunden desselben Tages hatte Marie ein kurzweiliges Abenteuer, das von entscheidendem Einflusse auf sie war. Sie war mit Tante Anna in die Stadt gegangen und in eine vornehme Konditorei getreten, um daselbst einen kleinen Vorrat an Teegebäck zu kaufen. Sie trafen in dem Laden, der zu dieser Stunde der Versammlungsort eines Teiles der gebildeten Welt war, Bekannte an: An einem Tische schlürfte Hajdu seinen Tee, in Gesellschaft der schönen Frau Oskar Dobó und der Tante Susi. Hajdu nickte den Eintretenden zwar höflich mit dem Kopfe zu, Frau Dobó dagegen wendete ihr Gesicht mit erheuchelter Gleichgültigkeit, Tante Susi aber mit ostentativer Entrüstung ab.
Marie blickte mit einem heiteren Lächeln um sich.
»Dies ist ein sehr angenehmer Ort,« sprach sie zu Tante Anna. »Wir wollen hier eine Tasse Tee nehmen.«
Ihr früherer gaminhafter Übermut gelangte wieder zur Geltung; sie war überglücklich, daß sie ihre liebenden Verwandten so recht gründlich ärgern konnte. Daß ihre Absicht besser, als sie gehofft, gelang, hatte sie dem hilfreichen Zufall zu verdanken. Im Laden war nämlich auch Herr Vidray, der schöne Tenorist, anwesend, mit dem sie im Musikzimmer des Theaters bekannt geworden. Der Schauspieler erkannte das Mädchen auf der Stelle, und ein koketter Blick des letzteren an seine Adresse genügte für ihn, um sich mit strahlender Miene an dessen Tisch niederzulassen.
Herr Vidray erwies sich als ausgezeichneter Partner bei der kleinen Komödie, die Marie zu Ehren ihrer geliebten Verwandten veranstaltete. Der Künstler besaß nämlich die ganz außerordentliche Gabe, die allergleichgültigsten Dinge auf sehr kompromittierende Weise vorzubringen. Als ihn Marie beispielsweise fragte, wann der Direktor in seiner Kanzlei anzutreffen sei, legte Vidray seinen Arm der ganzen Länge nach auf die Lehne des Stuhles, auf welchem das junge Mädchen saß, und sich dicht zu ihr neigend, flüsterte er mit dem hypnotisierenden Lächeln des Frauenbezwingers: »Vormittag von Elf bis Eins und abends von Sechs bis Sieben.«
Inzwischen hatten die Verwandten ihren Tee getrunken und sich aus dem Laden entfernt. Die Damen gönnten dem jungen Mädchen auch jetzt keinen Blick. Hajdu grüßte zwar, sah ihr aber nicht ins Gesicht und maß dafür Herrn Vidray mit dem scharfen, drohenden, einer tätlichen Beleidigung gleichkommenden Blick des Duellhelden vom Kopf bis zu den Füßen.
»Das ist der wahre Mann,« sagte sich Marie, die Hajdu im Auge behalten hatte. »Er will nichts von mir wissen, aber ein anderer soll den Blick auch nicht zu mir zu erheben wagen. Welch eine Komödie!«
Der Tenorist wunderte sich ein wenig, als ihm Marie jetzt, im Gegensatz zu ihrem bisherigen koketten Gebaren, kurzer Hand den Laufpaß gab und mit Tante Anna nach Hause ging.
Das kleine Abenteuer hatte die Wirkung auf Marie, daß sie am nächsten Tage den Direktor aufsuchte und sich ihm zur Verfügung stellte. Sie verlangte selbst, der endgültige Kontrakt möge nach ihrem ersten Auftreten abgeschlossen werden, das in der neuen Operette des Kapellmeisters erfolgen würde.
An demselben Tage noch schrieb sie an ihren Vater: »... Nun habe ich meinen endgültigen Entschluß gefaßt. Ich werde Schauspielerin und von dieser Absicht wird mich niemand abbringen; verstehe mich wohl, Papa: niemand auf der Welt. Deinen Namen werde ich nicht auf die Bühne bringen, sondern unter einem fremden Namen auftreten. Solltest du mich dieses meines Schrittes wegen auch verstoßen, vergiß nicht, daß ich stets und immer deine liebende, dankbare Tochter bleibe …«
Diese Kunde übte auf Herrn von Atalay keine so erschütternde Wirkung aus, wie wir nach dem Vorhergegangenen glauben könnten. Er hatte jetzt viel größere Sorgen: er hatte bereits die Nachricht erhalten, daß er endgültig in den Ruhestand versetzt sei, und gleich einem Rudel hungriger Wölfe stürmten seine Gläubiger auf ihn ein.
Irma Talay – wie sich Marie von Atalay fortan nannte – machte im Laufe der nächsten Woche die Wahrnehmung, daß sie aus der Ferne sehr unzutreffende Vorstellungen vom Theaterleben gehabt. Sie hatte sich getäuscht; allein ihre Täuschung war eine angenehme. Sie hatte über Theaterintriguen schon soviel gelesen und gehört, daß sie, zumal sie selbst eine so geringe Meinung von den Menschen im allgemeinen hatte, sich mit einer gewissen entschlossenen Resignation zu dem Verteidigungskampf rüstete, den sie gegen die Neidsucht ihrer neuen Kollegen glaubte führen zu müssen. Doch ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht; vergebens hatte sie ihre Waffen geschärft, es bot sich ihr kein Anlaß zu Kampf und Verteidigung. Ihre neuen Kollegen nahmen sie mit demonstrativer Freundlichkeit auf, als bedeute das Engagement Mariens ein besonderes Glück für sie. Die bisherige Primadonna, der in ihr doch eine gefährliche Nebenbuhlerin erstanden war, verriet ihre Nervosität nur insofern, als sie das Mädchen mit geradezu unheimlichem, übersprudelndem Wohlwollen aufnahm.
Daß man ihr einen solchen Empfang bereitete, hatte Marie selbst unabsichtlich bewirkt. Man wußte beim Theater, daß sie einer vornehmen Familie entstamme, daß sie sich der Bühnenlaufbahn nicht so sehr aus Not, denn aus Lust und Neigung zugewendet habe, und demgemäß hatte man erwartet, daß sie hochmütig oder zu mindest affektiert sein werde. Doch die einfache und sogar etwas trockene Art, die aber für aufrichtige Anspruchslosigkeit zeugte, die Bescheidenheit, mit welcher sich Marie gab, entwaffnete einen jeden. Durch die Herzlichkeit, die ein jeder an den Tag legte, wollte man den Beweis erbringen, daß man auf die neue Kollegin nicht neidisch sei, dagegen berührte es diesen und jenen, in dessen Busen insgeheim aristokratische Neigungen schlummerten, sehr angenehm, daß man eine Aristokratin zur Kollegin erhalten habe.
Die bunte Künstlerschar, aus der das Personal des Operettentheaters bestand, setzte sich bei näherer Betrachtung aus mehr oder weniger interessanten oder gewöhnlichen, zuweilen närrischen, meistens ungezogenen, aber fast ohne Ausnahme naiven Menschen zusammen. Die Primadonna selbst, über deren dämonisches Temperament, das in ihren schwarzen Augen zum Ausdruck kam, das Publikum ganze Legenden zu erzählen wußte, war allerdings launenhaft und unverläßlich, dabei aber gut und abergläubisch bis zur Einfalt, gleich einer Pfarrersgattin aus der Provinz. Und aus dem gleichen Holz war auch Vidray geschnitzt, der sich in der Rolle des unerbittlichen Frauenbezwingers gefiel. Lauter Kinder, geheimnisvoll und gefährlich in den Augen der Schwachen, für die Starken aber höchstens ein Gegenstand der Kurzweil. Selbst in ihrem Zorn, in ihrer Bosheit und Ränkesucht kam stets ein versöhnender Zug zur Geltung: die Naivetät der Bohème.
Dies waren die Wahrnehmungen, die Marie machte, während die Proben zu der neuen Operette des Kapellmeisters, »Die entflohene Braut« betitelt, im Gange waren.
Das erste Auftreten!
Seit Wochen bereitete sie sich dazu vor; sie wußte jedes Wort, jede Note des Stückes auswendig und dessenungeachtet traf sie der große Abend verzweifelt unvorbereitet an. Mit dem Stück war sie zwar fertig geworden, aber mit sich selbst noch nicht. Noch war der Mut des Entschlusses nicht in sie eingezogen, noch hatte sie mit sich selbst nicht abgerechnet, noch hatte sie sich an den Gedanken der Öffentlichkeit nicht gewöhnt. Seit Wochen hatte sie Tag für Tag den Kalender in die Hand genommen, und jetzt bildete das Eintreffen des großen Tages dennoch eine Überraschung für sie.
Noch am Morgen desselben Tages hatte sie sich nicht vorzustellen vermocht, daß sie vor einem zahlenden Publikum spielen werde, noch dazu heute schon! Gern hätte sie über diese Sache nachgedacht, hatte aber keine Zeit dazu. Sie wollte ihre Rolle noch einmal durchsehen, hatte auch mit ihrem Kostüm viel zu tun. Der ganze Tag verging in fortwährendem Hasten, und mit einem Male sah sie sich in der engen Theatergarderobe, in Gesellschaft ihrer Tante Anna und einer mürrisch blickenden Ankleidefrau. Jeden Moment wurde an ihre Tür geklopft; bald waren es die Kollegen, bald die Schützlinge des Direktors, und dabei nähte man mit fieberhafter Eile an dem roten Seidengürtel, den der Schneider endgültig verdorben hatte.
Gerade wollte sie sich setzen, um etwas Atem zu schöpfen, als der Regisseur an die Tür klopfte.
»Fräulein, Sie kommen gleich an die Reihe,« meldete er.
»Unmöglich … Vorher sind ja zwei Szenen!«
Marie hatte gemeint, daß die Vorstellung noch nicht einmal begonnen habe … Dann stand sie zwei Minuten an einer Leinwandtür und zählte an dem entsetzten Pochen ihres Herzens die dahinfliehenden Minuten. Draußen auf der Bühne sprach ein Mann mit erhobener Stimme, die unter dem Schnürboden wuchtig widerhallte. Und rings um sie her, über und unter ihr, kurz überall machte sich die schreckliche Nähe des unsichtbaren und dennoch deutlich wahrnehmbaren und fühlbaren Publikums geltend.
»... und im Fichtenwalde werden wir den Sommer verbringen,« sagte der Schauspieler auf der Bühne draußen.
»Bitte, Fräulein!« flüsterte der Regisseur.
Die beiden Flügel der Tür wurden geöffnet und eine blendende Helligkeit schlug Marie entgegen. »Verbringen« war ihr Stichwort … Nun stand sie auf der Bühne … Sie war mit dem sicheren Bewußtsein hinausgetreten, daß sie weder singen noch spielen würde. Sie war jetzt zu nichts fähig. Sie ging nur hinaus, weil sie ein starker Wille, der stärker war als der ihrige, dazu zwang.
Man empfing sie mit lautem Beifall. Es schmeichelt dem Publikum immer, wenn jemand befangen vor sein erhabenes Angesicht tritt.
Die Musik setzte ein und Marie sang ihr kurzes Entreelied. Während sie sang, lauschte sie der eigenen Stimme und sie erschrak selbst vor dem fremden Klang derselben. Es schien ihr, als sänge eine andere Person, in einem weit entfernten Keller … Die Wirkung des Liedes ging vollständig verloren.
Ein Teil des Publikums begann wieder zu applaudieren. Als man aber aus dem Orchester zwei ungeheure Blumensträuße auf die Bühne hinaufreichte, verdarb das den günstigen Eindruck und unter die Klatscher mengten sich einzelne Zischer. Das Publikum liebt es nicht immer, wenn man sein Urteil merklich beeinflussen will.
Nach dem kurzen Auftritt hatte sie die Bühne für einige Augenblicke zu verlassen. Als sie wieder draußen vor den mit Leinwand bespannten Latten stand, bemerkte sie Herrn Vidray, der sich eiligst auf die entgegengesetzte Seite der Bühne begab. Er wollte einer Begegnung mit Marie aus dem Wege gehen, denn er wußte nicht, was er ihr sagen sollte, er war sehr verlegen geworden. Gleich allen Schauspielern, die doch den größten Teil ihres Lebens auf der Bühne verbringen, war der Tenorist in der Mathematik des Bühnenerfolges vollkommen unbewandert, und nach dem ersten Auftritt unterlag es für ihn keinem Zweifel, daß Marie eine Niederlage erleiden werde. Jedoch fand sich jemand, der Mitleid mit dem Mädchen hatte und zu ihm eilte, um ihm mit kameradschaftlicher Liebe Mut zuzusprechen. Es war die Primadonna. Zwar hatte sie bei den Proben, die sie zum größten Teil im geheimen mit ansah, das Spiel der jungen Dame mit zunehmender Angst verfolgt, und selbst die Zischer gehörten – wie Eingeweihte wissen wollten – der Garde ihrer Anbeter an; allein die Liebe, mit welcher sie jetzt Marie in die Arme schloß, war trotzdem nicht erheuchelt. Jetzt hielt sie nicht die gefährliche Nebenbuhlerin, sondern ein bebendes, sich selbst überlassenes Kind, für das sie eine Art mütterlicher Zärtlichkeit empfand, an sich gedrückt. In ihrem guten, leichtsinnigen Herzen waren noch viel größere Widersprüche und unvermitteltere Übergänge an der Tagesordnung.
»Der Anfang ist vollkommen gelungen, mein Kind!« sprach sie. »Sie taten sehr klug daran, daß Sie mit Ihrer Stimme noch zurückhielten … Eine kleine, diskrete Befangenheit erhöht nur die Wirkung … Dann aber legen Sie los! Sie werden sehen, wie die Leute rasend werden! Jetzt gehe ich in meine Loge zurück, um Ihnen Beifall zu klatschen …«
Marie mußte wieder auf die Bühne. Sie hatte einen längeren Prosaauftritt, während dessen sie sich viel bewegen mußte. Ihre Partner waren Vidray und ein alter Komiker. Während des Spiels wechselte ihre Stimme mit erstaunlicher Schnelligkeit. Zuweilen erweckte eine Grimasse, die sie machte, oder ein kecker Satz, den sie sprach, einige Heiterkeit unter dem Publikum, und dann bekam sie neuen Mut, so daß sie mit aller Kraft bemüht war, den lähmenden Druck, der auf ihrer Seele lastete, von sich zu schütteln; allein schon im nächsten Augenblick verlor sie ohne jeden Grund wieder alle Lust und allen Mut. Traurigkeit erfaßte sie. Was sollte diese fruchtlose Anstrengung? Würde denn dieser Aufzug niemals ein Ende nehmen? Niemals?
Nun folgte das Duett. Herr Vidray legte mit seinem weichen, angenehmen Tenor los und schrie Marie in Grund und Boden, wie man zu sagen pflegt. Er spielte sie aber auch in Grund und Boden. Er, der bei den Proben stets der höflichste Partner der Welt war, machte mit einem Male die Wahrnehmung, daß ihm die Befangenheit des Mädchens eine prächtige Gelegenheit biete, die eigene Bühnenroutine glänzen zu lassen, und dieser Versuchung vermochte er nicht zu widerstehen. Er spielte dem Mädchen nicht mehr zur Hand, wie der Bühnenausdruck lautet, sondern drängte sich in den Vordergrund, übersprang der Reihe nach die kleinen Nuancen, die man bei der Probe vereinbart hatte, und begann auf eigene Faust geistvolle Lichter zu improvisieren, die seine Partnerin völlig aus dem Konzepte bringen mußten.
Endlich war der erste Aufzug zu Ende. In der ersten Prosceniumsloge unten klatschte Frau Perényi, die Primadonna, Marien zwar ostentativ Beifall; doch das Publikum verhielt sich sehr kühl, obschon es der kollegialen Großmut der schönen Frau alle Gerechtigkeit widerfahren ließ. Der Vorhang hob sich kaum zweimal, was in diesem Theater, wo die nach Dutzenden zählenden Hervorrufe an der Tages-, besser gesagt Abendordnung waren, für eine halbe Niederlage galt.
»Tante, wir haben Fiasko gemacht!« sagte Marie, als sie in ihre Garderobe trat. »Bei Gott, wir haben Fiasko gemacht!«
Der zweite Akt brachte aber einen völligen Umschwung. Wie das kam? Marie begriff es nicht, obschon sie später noch sehr viel und oft über die Sache nachdachte. Sie trat auf die Bühne und sofort fühlte sie, daß das Publikum sie jetzt mit anderen Augen betrachte. Allerdings nahm sie sich entzückend aus in ihrem tollen Kostüm, das bunt und strahlend war, wie der Kelch einer orientalischen Blume, und hauchleicht, wie ein Spinngewebe. Sie streckte die Arme, die in langen Handschuhen steckten, nach dem Publikum aus und begann bei dem leisen, begleitenden Summen der Musik ihr Couplet mit gedämpfter Stimme, fast nur harmonisch dahingehaucht, zu singen. Als sie die erste Strophe beendet hatte, mengte sich starker Applaus in die rauschend einsetzende Musik. Dies war nicht mehr der höfliche, mutspendende Applaus von vorhin, sondern der unwillkürlich zum Ausdruck gelangende aufrichtige Beifall.
Als sie zum zweitenmal vor den Souffleurkasten trat und den Finger, gleichsam Schweigen gebietend, an die Lippen drückte, hatte sie sich selbst gefunden. Der schmerzliche Druck, der ihr Herz bisher zusammengepreßt hatte, war gewichen und das Blut rollte wieder warm durch ihre Adern. Mit blitzenden Augen und reizend geröteten Wangen blickte sie in den gefüllten Saal hinein; sie blickte dem Publikum ins Auge, trat in unmittelbare Verbindung mit ihm, verstand das Publikum und machte sich ihm verständlich.
Und das Publikum, das an derbere, greifbarere und einfältigere Wirkungen gewöhnt war, begriff alsbald, daß es bisher im Irrtum gewesen und daß der diskrete Reiz dieses Gesanges und die feine Zurückhaltung dieses Spieles anders als sonst genossen werden müsse.
Die Wirkung steigerte sich immer mehr. Marie hatte die Leute neugierig gemacht und sich in ihr Wohlwollen eingeschmeichelt und sie schließlich mit sich hingerissen.
Am Ende des zweiten Aktes hatte sie einen längeren Auftritt, in welchem sie als Herrin der Situation in nervöser Hast auf der Bühne hin und her zu rennen hat, die Leute zum Narren hält, in Ohnmacht fällt, schluchzt, lacht, singt und leidenschaftliche Ausbrüche entrollt. Im Bewußtsein des zweifellosen Sieges war nunmehr eine übersprudelnde Heiterkeit über das Mädchen gekommen. Verwegen ließ es seinem Übermut die Zügel schießen, und einem Frühlingssturm gleich, tobte es sich voll dämonischer Anmut und geistsprühender Einfälle aus.
Mit ihrem Spiel übertraf Marie sogar die hochgespannten Erwartungen des Direktors. Der erzielte Erfolg – der zum großen Teil übrigens auch dem überglücklichen Kapellmeister-Komponisten zu danken war – war in seinen äußerlichen Kundgebungen zwar nicht allzu geräuschvoll, darum aber nicht weniger vollständig. Das Publikum war förmlich konsterniert, und der naivere Teil desselben wagte seinem Urteil einer Anfängerin gegenüber nicht recht zu trauen. Schon im Zwischenakt hatte man das Losungswort ausgegeben; es lautete: »Ein Phänomen!« Und neugierige, mitleidige und schadenfrohe Blicke flogen nach der Loge der Primadonna hinüber.
Im letzten Akt verflachte das Stück so ziemlich und Marie fand keine Gelegenheit mehr, um neuerliche Lorbeeren zu pflücken; doch das nunmehr in seinem Urteil fest gewordene Publikum hatte sich ihr gänzlich unterworfen und jedes noch so unbedeutende Wort, jede noch so belanglose Bewegung wurde mit Beifall aufgenommen.
Ihre Kollegen, die ihr schon im zweiten Zwischenakt ein halbes Dutzend neuer Verehrer vorgestellt hatten, wollten den erzielten Erfolg durchaus mit einem Souper feiern; allein Marie entschlüpfte der sie umringenden Schar, denn sie empfand das Bedürfnis, mit ihren Gedanken allein zu sein.
Und während sie die Einzelheiten des erzielten Triumphes noch einmal überdachte, ging eine trauernde Frau aus dem Theater nach Hause: die schöne Frau Perényi, die Primadonna. Vergebens umschwärmten ihre Verehrer sie, während sie spöttische Bemerkungen über das Spiel des neuen Sternes machten; sie fühlte und wußte, daß sie eine überlegene Nebenbuhlerin gefunden. Ihr Stern war im Erlöschen. Jahrelang hatte sie ganz allein am Horizont der Kunst geleuchtet und das Publikum betete sie schon aus Gewohnheit an; doch nun würde sie erbleichen, verschwinden angesichts der anderen, die voll jugendlicher Kraft, voll fremdartigen, blendenden Glanzes am heutigen Abend aufgetaucht war.
Die folgenden Abende vermehrten nur noch den Triumph der jungen Sängerin. Gar schnell streifte sie die Unbeholfenheit der Anfängerin ab, sie lernte schnell und überraschte selbst die Kollegen durch die Sicherheit ihres Spieles. Ihre ersten großen Erfolge erzeugten – wie hätte das auch anders sein können? – eine Art süßen Taumels bei ihr und in dieser glücklichen Gehobenheit prangte ihr Talent voll blendender Farbenpracht.
Sie erwachte mit dem Bewußtsein, daß sich von gestern auf heute ein Wunder zugetragen habe. Gestern hatte sie sich noch als gänzlich Fremde in dem Gewühl der Großstadt bewegt, heute kannte sie schon ein jeder oder hatte wenigstens Kenntnis von ihrem Vorhandensein. Aus dem unbedeutenden Provinzfräulein war ein gesellschaftlicher Mittelpunkt geworden, um den sich ein breiter Kreis von Neugierigen und Genußmenschen, von guten Freunden und Neidern bildete. Nun konnte sie sich schon heimisch fühlen in der Hauptstadt, deren heiß pulsierendes Leben auch ihr eine Rolle zugeteilt hatte.
Die Presse behandelte sie ziemlich gut, abgesehen freilich von einigen Ausnahmen. Die letzteren verdächtigte Tante Anna, die überraschend viel angeborenen Sinn für Theaterintriguen bekundete, alsbald damit, daß sie im Solde der Frau Perényi ständen.
Allein nicht bloß aus den Zeitungen, sondern auch aus dem ununterbrochenen Anschlagen der Vorzimmerklingel, aus den Tag für Tag massenhaft einlaufenden Briefen und der Zahl der Besucher konnte Marie die Überzeugung schöpfen, daß sie in des Wortes wahrstem Sinne in Mode gekommen sei. Hunderte von Personen, die sie vor ein paar Tagen nicht einmal dem Namen nach gekannt hatten, suchten sie in dringenden Angelegenheiten auf. Die Schneider wollten sie kleiden, die Möbelhändler ihre Wohnung einrichten, die Photographen ihr Bild haben und die Zeitungsschreiber sie interviewen. Und noch andere meldeten sich schriftlich und persönlich, phantastische Impresarios, Lieferanten jeglicher Art, Mietwagenbesitzer, plötzlich entflammte Anbeter und Bettler.
Auch die geheimnisvollen und so unangenehmen Damen blieben nicht aus, die den eigentlichen Grund ihres Kommens durchaus nicht eingestehen können, so wenig wie die mit einer überraschend großen Dosis Unverschämtheit ausgestatteten Herren, die sich eine Versäumnis glauben zuschulden kommen zu lassen, wenn sie sich nicht aus den Vorzimmern der neu aufgetauchten Sterne weisen lassen.
Es war in der ersten Woche, als Marie vor dem Theater mit Horvàth zusammentraf. Es war anzunehmen, daß der Journalist seine Abendpromenade nicht nur zufällig vor dem Theater besorgte; sicher war indessen, daß er die junge Dame mit saurer Miene und gleichgültiger Höflichkeit grüßte.
»Wann sind Sie denn aus Italien zurückgekehrt?« fragte Marie.
»Gestern mittag.«
»Ich habe Sie im Theater nicht gesehen … Sind Sie denn gar nicht neugierig auf mich?«
»Nein. Die Spatzen auf den Dächern pfeifen ja, daß Sie großartig, hinreißend sind, und ich glaube es unbesehen.«
»Sind Sie vielleicht böse auf mich?«
»Auf Sie, in die halb Budapest verliebt ist?«
»Ich merke schon, daß Sie nicht nur den Verstand, sondern auch die gute Laune im Lande der Zitronen zurückgelassen haben. Wenn Sie morgen besser gelaunt sind, so besuchen Sie mich am Nachmittag.«
Horvàth kam am nächsten Tage der Aufforderung nach, seine Laune war aber keine bessere geworden. Schweigend, mit finsterer Miene saß er dem Mädchen gegenüber. Selbst wenn Marie weniger scharfsichtig gewesen wäre, so hätte sie über den Zustand ihres Freundes sehr bald ins klare kommen müssen.
Der Journalist war eifersüchtig, eifersüchtig auf das ganze Budapester Publikum, das sich zwischen sie beide gedrängt und die Entfernung zwischen ihnen noch vergrößert hatte. Er haßte aus ganzem Herzen diese tausendköpfige, applaudierende Horde und der Gedanke, daß in Zukunft auch er nichts weiter sein werde, als ein unbedeutendes Mitglied der Applaudierenden, erbitterte ihn noch mehr. Wenn Marie bisher freundlich zu ihm gewesen, so wußte oder glaubte er wenigstens, daß das ihm, dem Menschen, gelte; doch wer bürgte ihm jetzt dafür, daß sie nicht die Feder des Kritikers bestechen wollte? Schon jetzt sah er um die Lippen des Mädchens jenes gewisse Primadonnen-Lächeln, das jeden erobern will, jeden sich zu Füßen zu zwingen trachtet. Dieser Gedanke demütigte ihn und brachte ihn in wilde Wut; er war eifersüchtig, verliebt, närrisch mit einem Wort. Er schämte sich seines Zustandes und konnte sich doch keine bessere Person aussuchen, als Marie, um ihr die Bitternis desselben fühlbar zu machen.
Anfänglich war er nur schlecht gelaunt; als sich aber ein neuer Besuch in der Person Tatárys einfand, wurde er geradezu unausstehlich. Die süßliche und herablassende Art des schönen Obergespans empörte ihn. Marie staunte über den Besuch, war aber trotzdem recht liebenswürdig. Zwar mochte sie den Obergespan nicht leiden, doch empfand sie jetzt einige Dankbarkeit für ihn, den einzigen ihrer Verwandten, der augenscheinlich an der Laufbahn Mariens keinen Anstoß nahm.
Am nächsten Morgen wurde der jungen Künstlerin eine unangenehme Überraschung zu teil. Das Blatt, bei dem Horvàth als Theaterkritiker wirkte, brachte einen recht scharf gehaltenen Artikel gegen den »Kultus, den man mit Irma Talay treibt und der schon ans Lächerliche streift« … Anfänglich wollte sie nicht einmal glauben, daß ihr Freund diesen Artikel geschrieben; doch hatte Horvàth diesmal gegen seine Gewohnheit mit seinem vollen Namen unterzeichnet. Im übrigen war der Artikel voll sprühenden Geistes geschrieben, und abgesehen von einigen schärferen Ausfällen, konnte er den Eindruck einer unbefangenen Kritik machen. Sein Verfasser beugte sich bereitwillig vor den brillanten Mitteln der Irma Talay; doch könne er seine Überzeugung nicht verschweigen, daß die bisherigen Erfolge der Künstlerin »noch niemanden berechtigen, sich ein Urteil über die Tiefe ihres Talents zu bilden …« Sei diese Tiefe überhaupt vorhanden? Das sichtliche Bemühen der Künstlerin, auf die höheren Regionen des Zuschauerraumes zu wirken, ließe die Beantwortung dieser Frage zu mindest zweifelhaft erscheinen.
Marie fühlte, wie ein eisiger Schauer über ihren Rücken glitt. Sie wußte, wußte ganz bestimmt, daß es nicht wahr sei, was Horvàth geschrieben, und daß er selbst auch nicht daran glaubte; doch erschreckte sie die Wahrnehmung, daß jemand unter dem Deckmantel der Wahrheit so schreiben könne.
Was war mit Horvàth geschehen? Nichts weiter, als was sehr vielen gescheiten Menschen schon widerfahren war: das Übermaß an Geist hatte ihn dumm gemacht. Er hatte abends vorher das Spiel Mariens mit angesehen, und nachdem er sich während der halben Nacht vor seinem Schreibtisch abgequält hatte, war sein Artikel fertig geworden. Vielleicht hatte er nicht einmal das Mädchen, sondern das Publikum verletzen wollen, dessen Beifallsstürme ihn rasend vor Eifersucht machten. Dem Mädchen wollte er nur begreiflich machen, daß er nicht in die Schar seiner Verherrlicher einzutreten beabsichtige. Er wolle nicht an dem Triumphwagen ziehen helfen, überhaupt nicht den übrigen gleichen. Er hatte etwas Ungewöhnliches, Überraschendes schreiben wollen, und nicht wahrgenommen, daß er während des Schreibens dahin gelangt war, wohin jene seiner Kollegen, die mit ihren Artikeln den Schauspielerinnen liebenswürdige Worte und Gaben erpressen, schon vor ihm gelangt waren.
Als er mit seinem Artikel fertig geworden, hatte er ein Gefühl, als hätte er seine persönlichen Empfindungen der Wahrheit zum Opfer gebracht, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit schmerzlichem Stolz. Er war viel zu subjektiv veranlagt, besaß viel zu wenig Selbstdisziplin, als daß er nicht an all das hätte glauben können, was er sich glauben machen wollte.
»Dieser Mann ist mein bester Freund,« sagte sich Marie. »Was habe ich erst von meinen Feinden zu erwarten?«
Bald meldeten sich auch die Widersacher. Als erster ihr eigener Vater. Dazumal weilte der General schon wieder in Budapest, und er dachte sehr lange darüber nach, ob er seine Tochter aufsuchen solle oder nicht. Als er von Marie jenen in so energischem Tone gehaltenen Brief erhalten, in dem sie ihm mitteilte, daß sie, ob mit seiner Einwilligung oder ohne dieselbe, sich der Bühne widmen werde, hatte Herr von Atalay kurzer Hand beschlossen, sich nicht mehr um sein ungehorsames Kind zu kümmern. Dann aber war er nachsichtiger geworden. Ein paar liebevolle Briefe seiner Tochter, noch mehr aber der große Erfolg ihrer Bühnentätigkeit hatten ihn nachdenklich gemacht. Nun, Marie hatte sich schließlich kein Kapitalverbrechen zuschulden kommen lassen; kann denn eine Schauspielerin keine ehrbare Person sein? … Und der Rang? Das Ansehen? Auch über diese schönen Dinge hatte er einigermaßen seine Ansichten geändert, seitdem er aus dem Militärverbande entlassen worden. Welchen Wert hat der Rang, wenn man nicht unabhängig ist und kein Geld hat?
Schon am ersten Abend begab er sich in das Kasino, wo er Blasius Hajdu antraf. Die beiden Herren soupierten gemeinsam, doch von Marie sprach keiner von ihnen. Ein jeder wartete darauf, daß der andere dieses Thema berühren werde. Doch fand sich jemand, der ihnen aus der Verlegenheit half. Am benachbarten Tisch saßen ein paar junge Herren, die eben aus dem Theater kamen. Natürlich war von der neuen Diva die Rede.
»Ist sie wirklich so großartig?« fragte der eine.
»Einfach großartig!« erklärte der andere. »Mager, hoch, Vollblut mit einem Wort. Das Haar ist herrlich, wenn sie es nämlich nicht färbt.«
»Bist mit ihr bekannt geworden?«
»Alexander geleitete mich in ihre Garderobe.«
»Läßt sich etwas anfangen mit ihr?«
»Ich weiß nicht … Ich fragte sie, ob sie meinen Besuch annehmen werde; doch fertigte sie mich mit einem Scherz ab. Sie sagte lachend, daß ihre Wohnung viel zu bescheiden sei, als daß sie so große Herren wie mich bei sich empfangen könnte.«
In dem General kochte es, als er in solchem Tone über seine Tochter sprechen hörte. Trotzdem beschwichtigte er Hajdu, indem er zu ihm sagte: »Laß sie nur weiter schwatzen; wir werden sie schon Mores lehren.«
Jene aber fuhren ruhig zu sprechen fort. Ihr Benehmen bekundete keinerlei Flegelhaftigkeit oder Selbstüberhebung; im Gegenteil, sie schienen beide gut erzogene, ja sogar verhältnismäßig bescheidene junge Leute zu sein.
»Weiß man nicht, wer gegenwärtig ihr Geliebter ist?« fragte der eine.
»Im Theater sagt man, der Direktor; doch ist es nicht ausgeschlossen, daß das auch nur Geschwätz ist.«
»Und es ist doch zweifellos, daß sie jemanden hat. Wenigstens nach ihrer Vergangenheit zu urteilen. In der Provinz soll sie schon so manches Husarenstücklein angestellt haben, und auch nach Budapest kam sie mit einem Journalisten, mit dem sie entflohen war. So viel ich gehört habe, hatte sie damals flüchten müssen. Es wäre also lächerlich, wenn sie jetzt die Nonne hervorkehren würde.«
»Das tut sie auch nicht, doch scheint sie ein gescheites Mädel zu sein, das sich die Zukunft nicht verderben will.«
Weiter kamen sie nicht, denn General Atalay war mit blutunterlaufenen Augen in die Höhe gesprungen.
»Ich schlage die beiden nieder!« keuchte er.
Hajdu stellte sich ihm entgegen. Nur keinen Skandal! Die jungen Herren wußten nicht, was sie von der Sache denken sollten, begriffen aber auf der Stelle, als ihnen jemand zuflüsterte: »Er ist ihr Vater!«
Ja, ja, der Vater ist General! Und dieser alte Herr hier ist der General Atalay! Beide meinten vor Scham unter die Erde versinken zu müssen … Welch unangenehmer Zufall! Sie hatten den General nicht beleidigen wollen, bedauerten das Geschehene ungemein und baten reumütig um Verzeihung. Wer wird sich auch mit einem Vater um der Ehre der Tochter willen duellieren? Sie erklärten von Herzen gerne, daß das Ganze bloß Theaterklatsch, die reinste Verleumdung, eine Eselei sei … Alles wollten sie erklären, was der alte Herr nur wünschte … alles tun, was er nur wollte … Nur verzeihen sollte er ihnen …
Der General, den man ins Rauchzimmer gedrängt hatte, wollte sich um jeden Preis schlagen. Er sagte, daß er die beiden Flegel ohrfeigen werde, wenn sie sich ihm nicht mit den Waffen gegenüberstellten. Bis Mitternacht redeten einige alte Herren auf ihn ein, um ihn zu beruhigen. Was wolle er denn noch von den jungen Leuten, nachdem sie schon reumütig um Verzeihung gebeten? Keiner von beiden sei ein Heiliger, aber auch kein Feigling. Nur die Zunge habe ihnen zu lose im Munde gesessen; das sei anderen Leuten auch schon passiert und dürfe man es deshalb noch nicht auf einen öffentlichen Skandal ankommen lassen.
Der General begab sich endlich nach Hause, nachdem er erklärt hatte, daß er gegebenen Falls die beiden Gelbschnäbel dennoch ohrfeigen werde. Unterwegs aber sagte er zu Hajdu: »Du, wenn ich wüßte, daß auch nur eine Silbe von alledem wahr ist, was diese beiden Flegel gesprochen, so würde ich dem Mädel mit eigener Hand das Genick umdrehen.«
»Keine Silbe ist wahr davon,« beruhigte ihn Hajdu.
»Aber wahr ist es, daß sie mit dem Journalisten entflohen ist?«
»Zwischen Flucht und Flucht ist ein Unterschied.«
»Trotzdem kann es dem Patron passieren, daß ich ihm eine Kugel durch den Leib jage, ihm und dem Direktor auch.«
»Wolltest du jeden niederschießen, der eine Schauspielerin ohne jeden Grund ins Gerede gebracht hat, du fändest in Budapest nicht genügend Schießpulver dazu!«
»Ich bringe meine Tochter fort von Budapest. Entweder kommt sie mit mir oder ich …«
Doch Atalay verriet nicht, was er zu tun gedachte, wenn Marie ihm nicht folgen würde.
Wirklich fand sich der General am nächsten Tag in der Wohnung seiner Tochter ein. Hoch erhobenen Hauptes trat er bei ihr ein, mit der ruhigen, entschlossenen Miene, die den Duellsekundanten so wohlbekannt war.
»Ach, Papa!« rief Marie voll freudiger Überraschung aus. Sie war gerade im Begriff, vor dem Spiegel ihr Haar zu ordnen, und streckte jetzt ihrem Vater beide Hände entgegen.
Er schien es nicht zu sehen, sondern sagte nur: »Ich bin gekommen, um dich mit mir zu nehmen.«
»Wohin?« fragte das Mädchen neugierig.
»Mit mir nach Wien.«
Marie blickte dem Alten zwei Sekunden aufmerksam ins Auge, dann erriet sie, um was es sich handelte.
»Ich kann nicht mitgehen,« erwiderte sie trocken; »denn ich trete heute abend auf.«
»Du wirst eben nicht auftreten,« rief Atalay aufgeregt aus. »Weder heute noch ein andermal! Ich will und befehle, daß du mit mir kommst. Denn deine jetzige Lebensweise ist eine unerhörte Schmach …«
Marie änderte ein wenig die Gesichtsfarbe; dann aber wendete sie sich zum Spiegel und nahm wieder den Kamm zur Hand.
»Worin besteht die unerhörte Schmach?« fragte sie leise.
»Die Leute wetzen sich den Schnabel an dir! Im Kasino spricht man in einer Weise von dir, wie man es sonst nur von den verworfensten Frauenzimmern hört …«
»Sonderbar!« sagte das Mädchen mit einem eigentümlichen Lächeln. »Es bedeutet also eine unerhörte Schmach für mich, weil man mich im Kasino verleumdet? Das ist wirklich merkwürdig!«
Der General fühlte, daß er auf schlüpfriges Terrain geraten. Um seinen Rückzug zu decken, begann er, seiner Gewohnheit nach grob zu werden. Er erfaßte die Hand seiner Tochter und donnerte: »Du wirst mit mir kommen! Ich befehle es!«
Die brutale Berührung hatte eine ganz andere Wirkung, als der Vater gedacht. Marie war blutrot geworden, während sie dem Alten blitzenden Auges finster und entschlossen ins Gesicht blickte.
»Und was geschieht, wenn ich nicht gehe?« fragte sie langsam.
»Dann erschieße ich dich!« lärmte der General und schlug auf den Revolver, den er in der Tasche hatte.
Marie zuckte die Achseln und bückte sich, um ihren Kamm aufzuheben, der zu Boden gefallen war.
»Nun, so erschieße mich,« entgegnete sie trocken; »denn bei meiner Ehre, ich werde dir nicht gehorchen.«
Atalay fühlte, daß er zu weit gegangen. Schließlich war die Rolle des in seiner Ehre verletzten Vaters nicht seine Sache. Im Grunde genommen war er viel zu blasiert, als daß er ernstlich hätte zürnen können. Seine Wut war immer nur eine Art erkünstelte Wut, wie man sie in der Kaserne benötigt; in der Hand eines solchen Mannes entladet sich der Revolver nicht … Dagegen war die Entschlossenheit des Mädchens um so aufrichtiger. In ihm war die naive Urkraft des Blutes derer von Atalay noch vorhanden, und ein solches Mädchen konnte man nicht einmal mit der geladenen Waffe einschüchtern.
Im übrigen kamen Vater und Tochter im Laufe dieser höchst unbehaglichen halben Stunde zu der Wahrnehmung, daß sie einander bis zum heutigen Tage sehr ungenügend gekannt hatten. Das Mädchen lernte heute einen neuen Charakterzug an seinem Vater kennen, den es bei ihm niemals vermutet hatte, und den das Weib nur mit einer gewissen Geringschätzung zur Kenntnis nehmen konnte: die Eigenschaft des prahlerischen Hasenfußes. Und der Alte entdeckte voll Staunen, daß in seiner Tochter eine größere Dosis Festigkeit und Entschlossenheit steckte, als er von einem Weibe jemals vorausgesetzt hätte.
Sie hatten ihre Waffen gemessen und die des Mädchens hatten sich als die stärkeren erwiesen. Erstaunt blickte der General auf die junge Person vor sich. Das war seine Tochter? Seine eilfertige, anmutige kleine Marie? Auch äußerlich schien sie sich verändert zu haben; es schien, als wäre sie eine andere, eine gereifte Dame geworden, viel höher und kräftiger, als sie bisher gewesen. Ihr Gesicht hatte einen entschiedneren, ihr Blick einen erstaunlich festen Ausdruck angenommen. Und das über die Schultern niederwallende dunkle Haar umgab sie wie das Symbol der jugendlichen Kraft und Stärke.
»Treib mich nicht zum äußersten,« murmelte Atalay verwirrt. »Was willst du denn eigentlich?«
»Was ich will? Ich will, daß wir offen und ehrlich miteinander sprechen. Wenn ich auch eine Komödiantin bin, meinem Vater gegenüber will ich keine Komödie spielen. Ich will dir sagen, was mich zur Bühne getrieben. Ich will leben, für mich, aus eigener Kraft. Ich will eine reale Basis unter meinen Füßen fühlen, die Luft des Lebens einatmen. Ich will Mensch sein! Wer hat ein Recht, mir das zu verbieten? Welches Gesetz kann mich zwingen, in hermetischer Abgeschlossenheit vom Leben, meine Jahre in ewiger Abhängigkeit zu verträumen, in ewigem Nichtstun zu verdämmern? Tante Susi und das Kasino! Welch eine Komödie! Wohl weiß ich, daß wir Mädchen ursprünglich einen anderen Beruf haben … Es ist der Beruf des Weibes, dem Manne zu leben und der Kraft des Mannes alles zu verdanken. Doch wo ist der Mann, der mich heiraten will, der mir alles gewährt, dessen ich im Leben bedarf? Ich hab' ihn gesucht und nicht gefunden! Er ist überhaupt nicht vorhanden. Ich kann nur für mich allein leben, kann nur auf meine eigene Kraft zählen … Und das ist nicht meine Schuld, sondern nur mein Unglück!«
Der Alte war krebsrot im Gesicht geworden; die Worte seiner Tochter hatten einen wunden Punkt in ihm berührt.
»Willst du damit sagen, daß ich dir ein schlechter Vater gewesen?« fragte er finster.
»Nein! Du warst mir ein so guter Vater, als ich dir eine gute Tochter … Wir kamen sehr gut aus mit- und nebeneinander, ein jeder nach seiner Art; wir liebten und achteten einander und waren bemüht, uns gegenseitig nicht zur Last zu fallen. Weshalb willst du das bewährte System jetzt zerstören?«
Atalay war bei diesen Worten unwillkürlich von einer gewissen Traurigkeit erfaßt worden. Er empfand eine Art Rührung, die seinen sonstigen Gewohnheiten so wenig entsprach.
»Herrgott,« sagte er; »du sprichst ja, als wären wir zwei einander wildfremde Menschen!«
Marie streckte ihm die Hand entgegen und fragte: »Sollte ich dich verletzt haben? Meine Absicht war es nicht … Doch kann ich nicht anders sprechen, als ich denke …«
Wieder nahm der General die Hand seiner Tochter nicht an. Er hatte seine Rührung bereits überwunden. Was sollte das? Wohin war es mit ihm gekommen? Er pflegte nicht zu bitten, zu streiten und zu feilschen. Er war gewöhnt, zu befehlen, Soldaten und Bürgerlichen gleicherweise, seiner Familie und der ganzen Welt.
»Was sollen die vielen Worte?« fuhr er wieder empor. »Ich frage dich, ob du mit mir kommst? Ja oder nein?«
»Nein!«
Dieses »Nein« tönte so fest, positiv und unabänderlich, wie der Schlag eines eisernen Hammers auf dem Amboß.
»Nun dann – lebwohl!«
Der General machte auf den Hacken Kehrt und verließ dröhnenden Schrittes das Zimmer. Dies war zwar in seinem Programm nicht vorgesehen gewesen; doch tat er es instinktiv. Was hätte er auch sonst tun können?
Seine Tochter rief ihm etwas nach, was er aber nicht hören wollte und auch nicht verstand. Auf der Straße unten hob er den Kopf mit einem Male empor, denn vom oberen Stock hatte man ihn angerufen: »Papa! Du hast etwas hier vergessen!«
Marie war es, die sich lächelnd zum Fenster hinausneigte und ihm mit den Fingerspitzen einen Kuß nachsandte. Und da der General hierauf nicht reagierte, warf sie ihm eine Rose auf den Kopf. Doch Atalay ließ die Blume im Staube der Straße liegen und ging weiter. Von dem demütigenden Bewußtsein erfüllt, daß er jetzt die größte Niederlage seines Lebens erlitten, setzte er seinen Weg fort. An das Kasinogeschwätz dachte er zwar nicht mehr: doch seiner Tochter konnte er nicht verzeihen, daß sie ihm nicht gehorcht und sich stärker als er erwiesen hatte.
Seit diesem Auftritt mochte wohl schon ein Monat verflossen sein, als Marie eines Abends Blasius Hajdu im Theater erblickte. Man gab »Die beiden Bräute,« jenes Stück, welches Marie blöd zu nennen pflegte, in dem sie aber ihre größten Triumphe feierte. Es geschah zum erstenmal, daß Hajdu, der sonst zu den fleißigsten Theaterbesuchern gehörte, Marie spielen sah. Er saß in Gesellschaft eines älteren Herrn in einer Prosceniumsloge und sah die Vorstellung ruhig und aufmerksam mit an.
Ob er wohl wiederkommen wird? fragte sich Marie, die der Ansicht zuneigte, daß Hajdu an diesem Abend mehr jenem alten Herrn, als ihr zuliebe ins Theater gekommen war.
Am nächsten Abend saß der junge Herr wieder in der Loge. Man gab dasselbe Stück, von dem Marie immer wieder erklärte, daß es schon eine übermenschliche Leistung sei, es auch nur ein einziges Mal mit anzusehen. Heute war er also um ihretwillen gekommen!
Am dritten Abend blieb sein Platz lange leer; doch am Schluß des ersten Aktes erschien Hajdu wieder in dem Halbdunkel der Loge. Ein leises, strahlendes Lächeln erschien auf dem Gesicht Mariens, und aus dem Parterre, von wo man jede Bewegung, jeden Blick der Künstlerin scharf überwachte, wendeten sich etliche neugierige Operngläser gegen Hajdu.
Und dieser sah sich auch am vierten Abend das Stück an, das er doch schon auswendig kennen mochte; und am fünften und jedem folgenden Abend gleichfalls. Oft verspätete er sich, zuweilen entfernte er sich auch vor Schluß der Vorstellung; doch blieb er nur ausnahmsweise fort, wenn Marie auftrat.
Wie war das zu erklären? – Nicht anders, als daß Hajdu Marie »entdeckt« hatte. Wirklich war er an dem ersten Abend, als er sie spielen sah, nur zufällig, fast gegen seinen Willen in das Theater gegangen; doch was er dort zu sehen bekommen, hatte ihn höchlichst überrascht. Was? Dies war jenes magere, herbe, gelangweilte und sich so närrisch gebärdende Mädchen, das sich ihm einst mit alter Gewalt an den Hals werfen wollte? Er erkannte es nicht wieder, das heißt, lernte es erst jetzt kennen, da es in der berückenden Bühnenbeleuchtung seine originelle Individualität voll und ganz zur Geltung bringen konnte. Einst hatte man Marie arrogant genannt; jetzt erschien sie majestätisch und hinreißend zurückhaltend, als wäre sie eine regierende Königin gewesen. Einst hatte Hajdu sie als maliziös gekannt; jetzt mußte er anerkennen, daß sie von genialen Einfällen übersprudle. Ihre einstigen Launen und Wunderlichkeiten wurden nachträglich durch ihr Temperament erklärlich gemacht, das jetzt in der wunderbaren Farbenpracht des schönsten Regenbogens erstrahlte. Und was Hajdu an dem Mädchen stets sympathisch gewesen, gelangte nunmehr in der Form und Gestalt der unwiderstehlichen, bezwingenden Liebenswürdigkeit von Gottes Gnaden zur Geltung.
Eigentlich war sie Zoll für Zoll noch immer die frühere Marie; allein in der eigentümlichen Bühnenbeleuchtung kam sie ganz anders zur Geltung, und nicht nur ihre innerliche, sondern auch ihre äußerliche Individualität. Früher war sie ein mageres Mädchen gewesen, nun aber kamen ihre edlen, festen Rasseformen unter den exotischen, nebelhaften Kostümen zur Geltung und ihre eigentümlichen Bewegungen erweckten im Beschauer einen Begriff der fremdartigen Grazie der einstigen Waldnymphen.
Der erste Theaterabend wirkte tatsächlich gleich einer Revolution auf Hajdu und die Wirkung war eine so gewaltige, daß er nicht einmal mehr an seine tugendhafte Entrüstung dachte, die ihn bisher vom Besuche des Theaters zurückgehalten.
Marie aber erblickte einen neuen Triumph ihrer Kunst darin, daß sie Hajdu, diesen halsstarrigen, kühlen und empörend überlegenen Menschen, in die Schar ihrer Bewunderer hinüberziehen konnte. Seitdem sie lange Kleider trug, seitdem sie auf der Bühne des Lebens die Rolle des heiratsfähigen und -süchtigen Mädchens spielen mußte, hatte sie Hajdu stets unter den Zuschauern gesehen. Selbst im Leben hatte sie eigentlich immer nur für ihn gespielt; seine Aufmerksamkeit war sie zu erregen bemüht gewesen, seinen Beifall hatte sie stets zu erringen gesucht. Und das hatte ihr durchaus nicht gelingen wollen. Jetzt endlich war es gelungen. Die Allegorie war zur Wirklichkeit geworden. Abend für Abend saß Hajdu in dem Halbdunkel der Loge und betrachtete sie. Und ihr bereitete das Doppelspiel Freude. Es war eine Freude, schön zu sein, eine Freude, über die Menge zu herrschen, eine Freude, im Strahlenglanz des Ruhmes sich zu baden. Hätte sie sich selbst die Frage vorgelegt, was sie denn jetzt eigentlich wieder mit Hajdu bezwecke, so hätte sie keine Antwort auf diese Frage gefunden. Nichts bezweckte sie mit ihm! Sie wollte nichts weiter, als daß Hajdu jeden Abend im Theater sitze und ihr Bewunderung zolle; das Spiel bereitete ihr auf diese Art mehr Freude und Genuß. Und da es schließlich in ihrem Berufe gelegen war, den Leuten den Kopf zu verdrehen, konnte sie auch Hajdu ein Körnchen weiblicher Koketterie nicht vorenthalten. Dies hatte sie übrigens zu jeder Zeit trefflich verstanden, selbst als sie noch ein ganz kleines Mädchen war. Ein kaum wahrnehmbares sonniges Lächeln, die mutwillige Betonung eines treffenden Satzes aus der dargestellten Rolle ist ja nicht viel, und trotzdem häufig genügend, um aus dem gelegentlichen Theaterbesucher einen Jahresabonnenten zu machen.
An den Abenden, an denen Marie auftrat, hatte das Theater noch einen regelmäßigen Besucher: den Obergespan Tatáry. Entweder kümmerte sich der Obergespan nicht um sein Komitat, oder dieses war nicht auf seine väterliche Fürsorge angewiesen, denn Tatsache war, daß man Tatáry während der ganzen Saison in Budapest sah, wo er sich eine elegante Junggesellenwohnung hielt und ein entsprechendes Junggesellenleben führte.
Nun trug sich eines Abends ein Zwischenfall im Theater zu, der an sich wohl recht unbedeutend war, Hajdu aber trotzdem nachdenklich stimmte. Tatáry fand sich nämlich mit einer eigentümlichen, goldgelben Blume im Knopfloch seines Rockes im Theater ein. Im zweiten Akt war die Blume von seinem Rock verschwunden und prangte nunmehr in dem Perlengürtel der neuen Diva.
»Was soll denn das?« fragte sich Hajdu und griff unmutig nach seinem Theaterglas.
Mit einem Male erinnerte er sich wieder an die boshaften Gerüchte, die im Hause der Tante Susi ihren Ursprung hatten und wiederholt auch an sein Ohr gedrungen waren. Marie und Tatáry … Tatáry und Marie … Was an der Sache wohl wahr sein mochte? Tatáry war zu allem fähig. Aber Marie? Hajdu gestand sich, daß er auf diese Frage keine Antwort finde. Seitdem er das Mädchen auf der Bühne gesehen, stand es in überraschend neuer Gestalt vor ihm, und das frühere Bild, das er von der alten Marie gekannt, schien endgültig über den Haufen geworfen zu sein.
Mitunter meinte er, daß alles wahr sei, was man von der Vergangenheit der Künstlerin spreche; alles, selbst das allerschlimmste. Dann wäre er wieder zu beschwören bereit gewesen, daß alles nur Verleumdung sei.
Aus der Erinnerung und alledem, was er jetzt sah und hörte, suchte er Daten zusammenzustellen, um ein Bild von dem Charakter Maries zu entwerfen. Natürlich versagte dieses psychologische Experiment. Der Seele des Mädchens entquollen Farben und Töne, deren Zusammensetzung und Ursprung selbst größere Menschenkenner als Hajdu nicht zu analysieren vermocht hätten. Er sah Marie in einer operettenhaft frivolen Liebesszene und erschrak förmlich vor dem sinnlichen Feuer, das in ihrem Auge glühte und in ihrer Stimme bebte. Er sah sie in einem Auftritt, der in einem Chambre separée der Bühne stattfand und wo sie ihre verworrenen Empfindungen gleich einer trunkenen Bacchantin durch Tanzen zum Ausdruck brachte. Und wie raffiniert verstand sie die scharfe Pointe ihres Couplets herauszuarbeiten und mit welcher bewußten Diskretion über deren Schlüpfrigkeiten hinwegzugleiten! Ward sie bei solchen Anlässen nur von dem künstlerischen Instinkt oder aber von der Erkenntnis des Weibes geleitet?
Er hätte selbst nicht zu sagen gewußt, weshalb ihn diese Frage so sehr beschäftigte. Es währte lange, bis er sich die Beantwortung derselben von der Stelle holte, wo man sie ihm am ehesten erteilen konnte, nämlich von Marie selbst. Er suchte die Künstlerin in ihrer Garderobe auf. Einer seiner guten Freunde sagte eines Abends im Theater zu ihm: »Von dir hängt es ab, ob ich eine Wette gewinne oder verliere. Irma Talay hat mit mir gewettet, daß ich dich nicht in ihre Garderobe zu bringen vermag.«
»Und doch ist nichts leichter als das,« erwiderte Hajdu.
Zwei Minuten später klopften sie an die spanische Wand, die vor dem Garderoberaum der Primadonna stand.
»Nicht erlaubt! Ich kleide mich an!« ertönte die Stimme der Diva. »Übrigens, wer ist da?«
»Blasius Hajdu.«
Ein fröhlicher Ruf, dem alsbald lautes Lachen folgte, ertönte hinter der spanischen Wand.
»Der tugendsame Jüngling wagt die Schwelle des Sündenpfuhls zu überschreiten?« fragte Marie und ein bis an den Ellbogen nackter Arm kam hinter der Wand zum Vorschein, um die Hand des jungen Mannes zu schütteln.
»Guten Abend, Blasius!«
Noch einige Herren sammelten sich vor der Tür an, Kasinomitglieder, darunter Tatáry und einige Journalisten. Aus dem Garderoberaum vernahm man das Rauschen von Frauenkleidern, das Klappern der Schuhabsätze und Klirren des Brenneisens, und inmitten des hastigen Hin- und Hereilens wurde lustig geschwatzt und geplaudert. Endlich trat Marie in den Korridor hinaus, mit geschminkten Wangen, einem ungeheuren Spitzenhut auf dem Kopf, in einem regenbogenfarbenen kurzen Seidenkleide und mit nackten Armen. Ein weißer Nelkenstrauß zierte die Büste. Sie reichte Hajdu noch einmal die Hand und sagte: »Schön von dir, daß du gekommen bist!«
Mit lächelndem, tiefem Blick schaute sie ihm ins Auge, warf einem anderen jungen Herrn eine spöttische Bemerkung zu und eilte der Bühne zu. Tatáry ging ihr nach, und nachdem sie noch zwei Sekunden lang miteinander gesprochen, kehrte der Obergespan mit einer weißen Nelke in der Hand zurück.
»Gehen wir,« sagte er. »Der zweite Akt beginnt.«
Hajdu wendete der Gesellschaft den Rücken und schritt dem Ausgange zu. Er nestelte an der nicht gut schließenden Klinke, als eine Männerstimme an sein Ohr schlug.
»Sie muß ihn ein Heidengeld kosten,« sagte dieselbe. »Jeden Abend ein Blumenstrauß; aber auch jeden Abend!«
Ein befrackter Herr plauderte mit einem kostümierten Schauspieler. Hajdu wußte, daß von Tatáry und Marie die Rede sei; doch schlug er die Tür schweigend hinter sich zu und ging in seine Loge. Er erinnerte sich, daß er vor kurzem erst zu General Atalay gesagt hatte: »Wolltest du einen jeden niederschießen, der eine Schauspielerin ohne jeden Grund ins Gerede gebracht hat, du fändest in Budapest nicht genügend Schießpulver dazu!«
Ob man aber wirklich ohne Grund Marie ins Gerede brachte?
Aufmerksam beobachtete er Tatáry, der in der ersten Reihe saß. Er konnte den schönen Obergespan auch sonst nicht leiden; in diesem Augenblick aber erschien er ihm unbeschreiblich widerlich und unausstehlich.
Dabei tat Tatáry in diesem Augenblick nichts anderes, als was hundert andere Leute gleichzeitig mit ihm taten: er betrachtete Marie durch sein Glas. Doch in dem Ausdruck seines Gesichts und in der Haltung seines stattlichen Körpers lag etwas, wodurch Hajdu an den balzenden Auerhahn erinnert wurde. Mit anmutiger Lässigkeit, gekreuzten Beinen saß er da, das Selbstbewußtsein des für schön geltenden Mannes nur zu deutlich verratend. Mit den Augen sog er den Blick der Diva förmlich an sich, und das leise Lächeln, welches auf seinen Lippen erschien, so oft sein Blick dem der Künstlerin begegnete, galt offenbar seinen Nachbarn. Sein Blick kam einer Tätlichkeit gleich und sein Lächeln war das Lächeln impertinenter Prahlerei. Oder bildete sich Hajdu das alles nur ein? Wie dem auch sein mochte, sicher war, daß er den schönen Tatáry in diesem Augenblick mit der größten Ruhe hätte ohrfeigen können.
Seitdem Hajdu den sich auf Marie beziehenden Klatschereien vermehrte Aufmerksamkeit zu schenken begann, konnte er die Überzeugung gewinnen, daß das Mädchen, das im Grunde genommen ein jeder liebte, einen fürchterlich schlechten Ruf habe. Ferner konnte er sich überzeugen, daß gerade jene, die der Künstlerin Sympathie, ja sogar eine gewisse Hochachtung entgegenbrachten, Sympathie der Künstlerin und Hochachtung dem Weibe, am meisten bestrebt waren, sie in Verruf zu bringen.
»Ein großartiges, temperamentvolles Mädchen … Dabei so klug und bieder … Macht von sich selbst nicht soviel Aufhebens … Affektiert nicht, plündert die Leute aber auch nicht …«
Derart äußerte sich die öffentliche Meinung in der brutalen Ausdrucksweise der Kasinos.
»Aber um des Himmels willen, woher nehmt ihr alle diese Dinge?« fragte Hajdu einmal entsetzt.
Die Leute blickten einander staunend an.
»Aber das sind ja so allgemein bekannte Dinge, daß es sich nicht einmal verlohnt, darüber zu streiten … Ein jeder weiß, daß sie während ihres Aufenthaltes in der Provinz einen kleinen Fehltritt zu verzeichnen hatte … Dann ließ sie sich von einem Journalisten entführen … Dem gab sie später freilich den Laufpaß, was der Flegel so übelnahm, daß er sie auch heute noch in seinem Blatte herunterreißt … Was man von ihrem Direktor sagt, ist nicht erwiesen … Vielleicht ist es wahr, vielleicht auch nicht … Bei Tatáry aber ist jeder Zweifel ausgeschlossen.«
Immerhin konnte sich Marie auch einiger begeisterter Verteidiger rühmen. Das waren junge, milchbärtige Idealisten, die ihr sentimentale Veilchensträuße schickten und mit trauriger, eifersüchtiger Miene unter ihren Fenstern und vor ihrer Garderobe herumlungerten. Diese Leute, die sie ihre Lilien- oder Cherubim-Garde nannte, verspottete sie selbst am meisten voll Gutmütigkeit. Es waren junge Herren, die erst vor kurzem unter der erzieherischen Hand der Mama hervorgekommen, lauter gute Jungen, aber noch ein wenig grün und so einfältig! Nach ein paar Jahren, sobald sie ihre Erziehung in den Sonderzimmern der Kasinos vervollständigt haben, werden auch sie anders über Operettensängerinnen sprechen. Der allergrünste und lieblichste aller Cherubim war ein junger Graf mit einem wahren Mädchengesicht, der einmal mit Tränen in den Augen vor Marie niederkniete und in aller Form um ihre Hand anhielt.
»Mein armer junger Freund,« gab ihm das Mädchen da zur Antwort. »Wo wurden Sie denn erzogen? Wissen Sie denn nicht, daß man Operettensängerinnen nicht zu heiraten pflegt?«
Diesem Ausspruch, welchen der naive junge Herr selbst weitergab, wurde im Kasino allgemeiner Beifall gezollt.
Hajdu hatte indessen durchaus keine Lust, sich der Cherubimgarde einverleiben zu lassen, und darum legte er auch den umherschwirrenden Gerüchten keine sonderliche Bedeutung bei. Daß das Mädchen aber selbst dazu beitrage, seinen Ruf zu schädigen, schien ihm keinem Zweifel zu unterliegen. Sie benahm sich zu unbefangen, beinahe keck, und zuweilen sprach sie so unbedenklich und rücksichtslos, als gäbe es überhaupt keinerlei Rücksichten für sie auf der Welt. Selbst wenn all' das, was man von ihr sprach, auch der Wahrheit gemäß war, hätte sie bei einigem Bemühen noch immer als Musterbild der Ehrbarkeit gelten können. Und in dem absonderlichen Bemühen, sich ins Gerede zu bringen, war ihr Tatáry mit einem einer besseren Sache würdigen Eifer behilflich.
Hajdu kannte den schönen Obergespan sehr genau. Sein Temperament konnte der Mann trefflich zügeln; dagegen war seine Eitelkeit eine geradezu unerhörte. Hätte ihm selbst die Venus von Milo ihre Liebe angeboten, unter der Bedingung aber, daß dies für immer ein Geheimnis zwischen ihnen beiden bleiben müsse, so würde er sich möglicherweise nicht in das Abenteuer eingelassen haben. Hätte er aber erreichen können, daß die Besucher des Pariser Louvre vor der Marmorstatue der Göttin flüsterten: »Dies ist die Geliebte des Obergespans Tatáry!« so wäre er imstande gewesen, allem zu entsagen, in erster Reihe aber der Liebe der Göttin selbst. Zeit seines Lebens kannte er nur einen Ehrgeiz: für einen unwiderstehlichen Herzensbrecher gehalten zu werden. Das heilige Feuer der Liebe empfand er nur, wenn die Leute beim Anblick einer strahlenden Schönheit im Lichte der Bühne oder auf dem glatten Salonparkett die Köpfe zusammensteckten und sich zuraunten: »Die Geliebte Tatárys!«
Seitdem Hajdu den Obergespan so scharf beobachtete, fühlte er seine uralte Abneigung gegen ihn noch zunehmen. Tatáry sah das Spiel der neuen Diva jeden Abend mit an. Stets hatte er eine Blume von auffallender Farbe im Knopfloch und stets ließ er einen Strauß aus denselben Blumen auf die Bühne emporreichen. In Herrengesellschaft neckte man ihn natürlich sehr viel mit Marie von Atalay, das heißt mit Irma Talay, und bei solchen Anlässen verstand der schöne Obergespan mit so verdächtiger Diskretion zu lächeln, daß Hajdu – wie man zu sagen pflegt – ein Jucken in der rechten Handfläche empfand.
Wiederholt hatte Hajdu die Diva in ihrer Wohnung aufsuchen wollen, vor dem Tor des Hauses aber immer wieder kehrt gemacht, weil er den Wagen Tatárys dort stehen sah. Die ganze Stadt kannte das elegante und recht auffallend ausgestattete Vehikel, dessen Decken mit dem von einer Krone überragten großen Monogramm des Obergespans geziert waren. Hajdu, der häufig an dem Hause vorübergehen mußte, in welchem Marie wohnte, konnte sich alsbald überzeugen, daß der Wagen jeden Nachmittag mit mathematischer Pünktlichkeit von fünf bis sechs Uhr vor dem Tor stand.
»Vielleicht ist sie schlecht,« sagte sich der junge Mann; »daß sie aber unvernünftig ist, leidet keinen Zweifel.«
Hätten die beiden – Marie und Tatáry – ihre Zusammenkünfte auf offener Straße gehabt, so hätten sie einander auch nicht ärger bloßstellen können.
Auf die Bühne hinauf ging Hajdu nicht mehr, auch auf der Straße begegnete er dem Mädchen nicht mehr. Die Neugierde drängte ihn aber eines Tages, Marie trotz allem in ihrer Wohnung aufzusuchen. Der Wagen des Obergespans stand wieder vor dem Tor und Hajdu war überzeugt, daß man ihn nicht empfangen werde. Hierüber wollte er sich nun Gewißheit verschaffen.
Nach langem Klingeln öffnete ihm endlich Tante Anna die Tür.
»Marie ist nicht zu Hause,« beschied sie ihn.
»Es war ja klar,« brummte Hajdu.
Nun wußte er genug. Das verwirrte Gesicht der Tante genügte ihm, um seine letzten Zweifel zu zerstreuen. Er machte also kehrt und ließ die Frau stehen.
Auf der Treppe wurde ihm eine große Überraschung zu teil; mit dem Hut auf dem Kopf und einem kleinen Päckchen in der Hand kam ihm Marie entgegen, die bei seinem Anblick erstaunt ausrief: »Aber, Hajdu! Also auch schon invalid?«
»Invalid? Ich?«
»Kommst du denn nicht von der schwedischen Gymnastik?«
Wirklich befand sich im zweiten Stock, gerade über der Wohnung der Künstlerin, eine Anstalt für schwedische Gymnastik.
»Fällt mir nicht ein! Dich wollte ich besuchen …«
»Auf diese Ehre war ich wirklich nicht vorbereitet … Komm also zurück.«
Sie traten miteinander in die kleine Wohnung. Hajdu blickte argwöhnisch um sich; allein von Tatáry war keine Spur zu entdecken.
Marie plauderte inzwischen gar lustig. Sie war sonst nicht sonderlich gesprächig; doch wenn sie sich einmal in einer Gesellschaft wohl fühlte, so ließ sie einen anderen kaum zu Wort kommen. Und heute schien sie sich sehr wohl zu fühlen. Sie erzählte ihrem Freunde kleine Theatergeschichten, alltägliche Begebenheiten, die sich aus ihrem Munde aber charakteristisch und humorvoll ausnahmen. Sie mochte mit besonderer Liebe an ihrer neuen Umgebung hängen, denn sie gedachte im Tone unendlicher Nachsicht und Sympathie der Schwächen und Eigentümlichkeiten ihrer Kollegen. Es seien das kleinliche Menschen, selbstsüchtig, prahlerisch und unverträglich, aber liebenswürdig und kurzweilig! Selbst von dem groben Regisseur und dem ewig benebelten Souffleur sprach sie wie von zwei lieben Kindern, die man bei aller Unordentlichkeit gern haben müsse.
Hajdu, der ihr nur mit halbem Ohr lauschte und von Zeit zu Zeit gezwungen lächelte, fiel ihr mit einem Male ins Wort, indem er das Gespräch auf den Obergespan lenkte. Wenn er auch nicht die Seele des Mädchens kannte, so kannte er doch dessen Verhalten, und darum griff er offen, ohne alle Winkelzüge an.
»Wann hast du Tatáry zum letztenmal gesehen?« fragte er.
»Den sehe ich jeden Abend.«
»Da – in deiner Wohnung?«
»Nein, im Theater. Hier war er aber auch schon zwei- oder dreimal.«
Sie sagte das in einem Ton und mit einer Miene, daß ihr Hajdu rückhaltlos Glauben beimaß: »Wie kommt es also, daß sein Wagen Tag für Tag vor deinem Tore steht?«
Marie lachte und fragte: »Das hast du bemerkt?«
»Die ganze Stadt hat es schon bemerkt …«
»Tatáry übt die schwedische Gymnastik im zweiten Stock oben,« erklärte das Mädchen. »Ich habe ihn schon wiederholt auf der Treppe gesehen … Er sagt, seine Nerven seien zerrüttet.«
Nun war dem jungen Mann alles klar. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß die schwedische Gymnastik dem Obergespan nur ein Vorwand sei, um seine grauenhafte Eitelkeit zu befriedigen … Unerhört! Eine solche Niederträchtigkeit …
Das Blut schoß Blasius plötzlich mit solcher Gewalt zu Kopfe, daß er von seinem Sitz emporfahren mußte. Marie legte ihm die Hand besorgt auf den Arm und fragte: »Was ist dir denn, Hajdu?«
»Der Bandit! Der Bandit!« schrie Hajdu. Dann verbesserte er sich, als wollte er den Geist der verewigten Räuberhauptleute Rozsa Sandor und Sobri Joska um Verzeihung bitten: »Nein, nicht Bandit – nur Lump!«
»Aber was ist dir denn?« fragte das Mädchen staunend.
Endlich hatte sie verstanden, was ihren Freund so sehr empörte. Zu Hajdus nicht geringem Staunen teilte das Mädchen indessen seine Entrüstung nicht. Frauen denken in solchen Dingen ganz anders. In diesem Punkt weicht die Denkungsart des Mannes und des Weibes gänzlich voneinander ab. Der Mann ist der Ansicht, daß jedes unlautere Verlangen an sich schon eine Beleidigung des Weibes einschließe. Das Weib dagegen erblickt in dem Verlangen des Mannes immer eine Art der Huldigung, und diese Huldigung macht es nur unmutig, wenn sie ihm persönlich lästig fällt.
Marie sympathisierte absolut nicht mit dem Obergespan; doch jetzt hatte sie eine Empfindung, als müßte sie ihn denn doch in Schutz nehmen. Worin bestand eigentlich die Schuld Tatárys? Darin vielleicht, daß er jeden Abend im Theater war und ihr jeden Abend Blumen auf die Bühne schickte? Darin, daß er sich mit kindischen Ungereimtheiten den Kopf einnahm, nur um mit ihr in einem Atem genannt zu werden? Ein eitler Narr, der zu betrügen meint, während er selbst betrogen wird. Das alte Lied!
Die Gelassenheit der Diva vermehrte noch den Zorn Hajdus. Es berührte ihn wie eine persönliche Beleidigung, daß das Mädchen ein so mildes Urteil über Tatáry fällte; es empörte ihn, daß es augenscheinlich so geringen Wert auf seinen guten Ruf legte. Und auch dies ist ein Punkt, in welchem Mann und Weib nur schwer übereinstimmen. Die Frau – und gerade die tugendhafteste und beste – treibt mit ihrem Ruf keinen derartigen Kultus wie der Mann; tut sie es dennoch, so geschieht es auch nicht sich selbst, sondern dem Manne zuliebe, den sie verehrt und dessen Empfindlichkeit sie in Ehren hält. Sie wahrt also auch in diesem Falle nicht den eigenen guten Ruf, sondern den des Gatten oder Geliebten.
Die beiden vermochten sich durchaus nicht zu verständigen.
»Die Männer sind sich eigentlich alle gleich,« sagte sich Marie im stillen, und mit derselben Berechtigung konstatierte Hajdu: »Alle Frauen sind sich gleich!«
Das gönnerhafte Auftreten und der belehrende Ton Hajdus ärgerten Marie ein wenig. Dieses Auftreten und dieser Ton mögen das Recht und die Pflicht des Mannes sein; doch läßt sich die Frau das nur in einem Falle gefallen. Und da dieser Fall hier nicht vorlag, lehnte sich der Stolz des Mädchens gegen die unberechtigte Bevormundung auf.
Nachdem Hajdu einige stärkere Bemerkungen gemacht, schnitt Marie die weitere Unterhaltung auf ziemlich schroffe Art ab, indem sie rundweg fragte: »Weshalb zerbrichst du dir meinen Kopf?«
Hierauf hatte er keine Antwort. Als er sich von Marie verabschiedete, war er sehr übler Laune; er ärgerte sich selbst nachträglich darüber, daß er sich zu einem leidenschaftlicheren Tone hatte hinreißen lassen, als er ihn sonst anzuschlagen pflegte. Was sollte das? Er nahm sich auch fest vor, sich nicht mehr um die Sache zu kümmern; weder um Marie noch um Tatáry wollte er sich mehr kümmern … Und doch mußte es ein Genuß für Götter sein, dem schönen Obergespan einmal so recht gründlich heimzuleuchten! Nicht dem Mädchen, sondern sich selbst zuliebe. Das Blut floß siedend heiß durch seine Adern; er fühlte, daß er nicht eher Ruhe haben werde, als bis er sich durch eine kleine Gewalttat Erleichterung verschafft. Dem Sybariten eine Ohrfeige versetzen, ihm mit der Spitze des Degens das glatte Gesicht aufschlitzen und sich dann weder um ihn, noch um das Mädchen mehr kümmern – dies wäre der einzige Abschluß, der ihm seine Ruhe wiedergeben könnte.
Über Nacht wurde er ruhiger, und als er am nächsten Morgen erwachte, schämte er sich seiner Aufwallung. Wahrhaftig, über diese Zeit war er denn doch schon hinaus!
Einige Tage später traf dennoch ein, was eintreffen mußte.
Hajdu, der während der letzten Tage das Theater nicht mehr betreten hatte, spielte bis elf Uhr Karten in seinem Kasino. Dann erhob er sich vom Spieltisch und sah nach seiner Gesellschaft. Im Rauchzimmer fand er einen großen Kreis von Herren vor. Auf einem Sofa lag Tatáry der Länge nach ausgestreckt. Er war gerade aus dem Theater gekommen und sprach von der Vorstellung. Das Knopfloch seines Rockes schmückte auch jetzt noch die bewußte Blume, der man es förmlich anmerkte, daß man sie aus einem großen Strauß herausgerissen. Diese Blume, die Marie keinem ihrer Verehrer verweigerte, brachte Hajdu jeden Abend von neuem in Wut.
Die Herren sprachen über die Vorstellung, bis Tatáry das Gespräch mit einer erzwungenen Wendung auf ein anderes Thema lenkte. Er begann von den sogenannten ehrbaren Frauen zu sprechen. Unter ehrbaren Frauen verstehen diese Herren gewöhnlich diejenigen ihrer Geliebten, die nicht jedermann zur Verfügung stehen. Auf dem Wege der Gedankenverbindung kam er sodann auf das Thema der diskreten Verehrer. Überhaupt sprach der Obergespan sehr oft und mit großer Vorliebe über die ritterlichen Pflichten der Diskretion. Er hatte diesbezüglich sehr strenge Prinzipien, die er als fertige Theorie gern zu Gehör brachte. Vielleicht redete derselbe merkwürdige Instinkt aus ihm, der den Feigen veranlaßt, immerfort von Mut und Tapferkeit zu sprechen, und den Kranken, über die Gesundheit Vorträge zu halten. Er sagte unter anderem auch, daß der glückliche Verehrer jeder Frau Diskretion schuldig sei, selbst jener, die er bezahlt habe.
Die Gesellschaft interessierte sich nicht sonderlich für dieses Thema; doch der Obergespan kam immer wieder auf dasselbe zurück. Endlich fand sich dennoch jemand, der mit ihm zu debattieren begann, Blasius Hajdu. Mit der verdächtigen Ruhe des einstigen berufsmäßigen Händelsuchers bemerkte er: »Mein lieber Obergespan, weshalb zerbrichst du dir dein bißchen Verstand über etwas, wovon du doch nichts verstehst?«
Tatáry, der ein großer Freund der Etikette war und mit dem gerade aus diesem Grunde selbst seine vertrautesten Freunde niemals zu scherzen pflegten, maß Blasius mit erstaunten Blicken.
»Wovon verstehe ich nichts?« fragte er.
»Davon, worüber du sprichst.«
»Von der Diskretion, meinst du? Merkwürdig! Und weshalb wohl nicht?«
Tatáry dachte nicht im Traume daran, daß der so ruhige und zurückhaltende Blasius Hajdu mit ihm Streit suchen könnte, er war aber darauf vorbereitet, daß es jetzt zu einem längeren Wortgefecht zwischen ihnen kommen werde, wie ein solches an diesem Ort und unter diesen Personen nicht zu den Seltenheiten gehörte. Zu seiner nicht geringen Überraschung schlug Hajdu indessen sofort den brutalsten Ton an.
»Weshalb nicht?« wiederholte er. »Das werde ich dir sagen! Weil du ein dummer, feiger und niederträchtiger Patron bist!«
Wohl zwanzig Personen hatten es gehört, darunter auch drei oder vier Diener. Hajdu begnügte sich indessen auch damit nicht, als er jetzt seinem überschäumenden Zorn freien Fluß gewähren konnte. Er erinnerte sich an die Worte, deren er sich bei Marien bedient, und hatte das dringende Bedürfnis, sich derselben auch Tatáry gegenüber zu bedienen. An der Tür wendete er sich also zurück und fügte hinzu: »Du bist kein Mann, sondern ein Lump!«
Damit ging er nach Hause, wie jemand, der seine Sache sehr gut gemacht hat.
Das Benehmen Hajdus hatte im Kasino natürlich peinliches Aufsehen erregt. Was war diesem sonst so ruhigen, gelassenen Manne eingefallen? Hatte er den Verstand verloren? Die Eingeweihten, aber auch die minder Eingeweihten wußten indessen, was, besser gesagt, wer im Hintergrunde stehe. Natürlich Irma Talay … Hajdu war der unglückliche Nebenbuhler des schönen Obergespans! Er war sicherlich sehr verliebt, daß er sich so sehr vergessen konnte. Als Tatáry noch nicht wußte, daß die Sache eine so ernste Wendung nehmen werde, hatte er selbst das Gerücht verbreitet, daß Hajdu über seine Niederlage sehr gekränkt sei; darum auch sei er ihm, dem Obergespan, gegenüber seit einiger Zeit so mürrisch und unfreundlich. Er sagte das nicht gerade mit diesen Worten, gab es aber deutlich zu verstehen.
Natürlich bildete ein Duell die banale Fortsetzung des Abenteuers. In Berücksichtigung der Verwandtschaft – die allerdings nur eine sehr entfernte war – forderte der beleidigte Teil, also Tatáry, keine strengen Bedingungen, und Hajdu waren Säbel auch erwünschter als Pistolen. Wenn man jemanden so haßt, wie er den Obergespan haßte, so tut das Bewußtsein sehr wohl, daß man dicht an den Verhaßten herankommen kann.
Obschon Hajdu in letzter Zeit das Fechten arg vernachlässigt hatte, hatte er doch volles Vertrauen zu sich. Einst war er ein gefürchteter Fechter und berüchtigter Streithahn gewesen. Der Obergespan aber war ein Feigling. Als echte Mannesnatur fühlte Hajdu das instinktiv heraus. Mit dem Säbel in der Hand würde er mit ihm tun können, was er wollte. Und er hatte die redliche Absicht, seinen Gegner zum mindesten zum Krüppel zu machen.
Zwar betrog sich Hajdu in seinen Voraussetzungen nicht; das Resultat des Duells war aber trotzdem ein anderes, als er vermeinte. Der Obergespan verwundete Hajdu am Arm, noch dazu so schwer, daß derselbe eine lange Zeit hindurch gelähmt war und seine volle Kraft niemals wieder zurückerhielt. Wie das möglich war? Als Hajdu mit zehn Seidenstichen am Arm und vor Wut und Scham mit den Zähnen knirschend, sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, vermochte er über den Verlauf des Zweikampfes durchaus nicht ins reine zu kommen. Der Obergespan hatte entschieden für seine glatte Haut gezittert. Mit kreidebleichem Gesicht, blauen Lippen und scheuem Blick stand er vor ihm. Doch sein Benehmen blieb untadelhaft ritterlich, ja sogar höflich. Das Malheur ereignete sich gleich beim ersten Zusammentreffen. Hajdu hatte die feste Absicht, seinem Gegner die schöne Larve gründlich zu verunzieren, wie er sich ausdrückte; Tatáry dagegen hatte keinerlei Absicht und hieb und schlug nur blind und wild mit der Verbitterung eines Menschen um sich, der für sein Leben fürchtet. Sie waren sehr hart aneinander geraten, und als die Sekundanten die Kämpfenden voneinander trennten, war Hajdus Arm schon fürchterlich zerhauen, während der Obergespan mit ein paar Flachhieben davonkam. Vielleicht hatte Hajdu die Sache verfehlt, weil er gar zu wütend und gar zu selbstbewußt zu Werke gegangen war.
Als er nachträglich die Einzelheiten des Zweikampfes an seinem geistigen Auge vorüberziehen ließ, ärgerte es ihn am meisten, daß er sich nach beendetem Duell recht kindisch benommen hatte. Er hatte den Kopf gänzlich verloren, wollte mit dem gelähmten, blutigen Arm durchaus weiterkämpfen, schalt die Ärzte, und als ihm die Sekundanten die herkömmliche Aussöhnung in Vorschlag brachten, drohte er, Tatáry mit der linken Hand zu ohrfeigen, wenn er sich ihm zu nähern wage. Die Sekundanten, die ihn vielleicht höher schätzten, als den schönen Obergespan, suchten ihn zu beruhigen und machten dann keines Aufhebens weiter von seinem absonderlichen Benehmen. Tatáry, der nach dem Kommando »Halt!« seine Kaltblütigkeit und ritterliche Haltung sofort ganz zurückgewonnen hatte, legte ein weit vornehmeres und würdevolleres Verhalten an den Tag, als Hajdu.
Nun lag der eine der Duellanten mit in Karbolwatte gewickeltem Arm in seiner Wohnung, während der andere ins Theater ging, wo sich sofort Hunderte von neugierigen Augen auf ihn richteten. Am nächsten Tage hatte bereits die ganze Stadt Kenntnis von dem Duell. Das heißt, die paar tausend Menschen hatten Kenntnis davon, die man auf Kosten der stummen Hunderttausend die ganze Stadt zu nennen pflegt. Marie, die bei der Probe von der Sache hörte, war überrascht und nachdenklich geworden. Im übrigen nahm sie die Sache nicht tragisch, ja nicht einmal sehr ernst. Sie war die Tochter eines Offiziers und hatte früh genug erfahren, daß man derlei ritterliche Aufregungen, die sie dank den Abenteuern ihres Vaters oft genug kennen gelernt hatte, mit gleichmütiger Ergebung ertragen müsse, gleich einem Elementarereignis geringeren Kalibers. Je mehr sie über die Sache nachdachte, je absonderlicher erschien ihr das Verhalten Hajdus. Zwar rührte sie der ritterliche Eifer ein wenig, mit dem sich Hajdu ihrer annahm; doch fand sie trotzdem, daß sich ihr Freund kindisch benommen habe. Er wollte nichts von dem Mädchen wissen; aber andere verfolgte er mit wütender Eifersucht; war das nicht kindisch?
Von solchen Gedanken erfüllt, schrieb sie den nachstehenden Brief, den sie im Laufe des Tages an Blasius abschickte:
»Mein lieber Ritter! Dreierlei Dinge spricht man von dir: Daß du ein Duell hattest, daß du verwundet wurdest und daß ich die Ursache deiner Leiden sei. Über das erstere wundere ich mich, das zweite bedauere ich und das dritte glaube ich nicht. Ich glaube es nicht, weil du weder einen Grund noch ein Recht hattest, dich in meine Angelegenheiten zu mengen. Sicherlich hatte dein Duell einen anderen Grund, den du der Öffentlichkeit nicht preisgeben willst. Das ist auch ganz richtig. Ich will der Sache daher nicht nachforschen, sondern dich nur bitten, mir mitzuteilen, ob ich dich besuchen kann. Ich komme ganz gern zu dir, wenn ich weiß, daß ich gern gesehen werde.
Mit bestem Gruß
Marie.«
»Das ist sie, wie sie leibt und lebt!« sagte Hajdu, nachdem er den Brief zu Ende gelesen hatte.
Und unter großer Anstrengung schrieb er mit der linken Hand, mit faustgroßen Buchstaben, die Antwort, die einzige Antwort, die er seiner Überzeugung nach geben konnte:
»Ich danke dir bestens für deine freundliche Teilnahme. Du hast ganz recht; unser Streit hatte einen anderen Grund, den ich hier nicht des weiteren ausführen will. Die Verwundung ist übrigens nicht ernst und kaum der Rede wert. Für das liebenswürdige Anerbieten deines Besuches danke ich dir herzlich; doch will ich dich nicht bemühen, um so weniger, als ich eine sehr gute Pflegerin habe, nämlich meine Schwester.«
Er wußte, daß die bloße Erwähnung seiner Schwester vollkommen hinreichte, um Marie ein- für allemal von seiner Wohnung fernzuhalten. Seine Schwester, Baronin von Radvanyi, eine sehr stattliche und sehr hochmütige Witwe, gehörte nämlich mit zu den erbittertsten Feinden der Diva. Im übrigen log Hajdu nur halb, als er sagte, daß er von seiner Schwester gepflegt werde. Die Dame besuchte ihn seit dem Duell täglich, wohl nur für eine halbe Stunde, doch war sie während ihrer Anwesenheit dem Arzt beim Erneuern des Verbandes behilflich. – Hajdu hatte die Empfindung, daß er Marien nicht anders schreiben konnte. Er schämte sich schon zur Genüge seines Abenteuers und wollte nicht auch die Rolle des verwundeten Ritters übernehmen, der sich von seiner Dame pflegen läßt. Dies wäre zu mindest lächerlich gewesen, und es hatte alle Wahrscheinlichkeit für sich, daß Marie die Sache auch nicht ernst aufgefaßt hätte.
Es ist nur natürlich, daß sich die öffentliche Meinung anläßlich des Duells auch mit Marie eingehend beschäftigte. Und nach kurzer Zeit bot sich der öffentlichen Meinung neuerliche Gelegenheit, sich mit der interessanten Künstlerin des näheren zu befassen.
Die Sache begann damit, daß Tatáry auf Grund eines im Amtsblatt veröffentlichten allerhöchsten Handschreibens in gnädigstem Tone seiner Stelle als Obergespan enthoben wurde. Hierüber wunderte sich eigentlich kein Mensch, mit Ausnahme des Obergespans selbst.
»Seit einiger Zeit leidet der Minister wieder an chronischer Selbstüberhebung!« erklärte er scharfen Tones im Klub.
Später ward es ihm indessen klar, daß seine Enthebung gerade zur rechten Zeit erfolgt sei; das viele Hin- und Herreisen war ihm schon recht lästig geworden.
Zur selben Zeit fand in der Junggesellenwohnung, die der Obergespan im Hotel zur Königin von England inne hatte, eine wichtige, wenn auch nicht gerade erbauliche Begegnung statt. Frau von Tatáry traf zum Besuche ihres Gemahls in der Hauptstadt ein. Tatáry befand sich gerade bei der Toilette, als seine Gattin mit ernstem, bleichem Gesicht, völlig unerwartet bei ihm eintrat.
»Sieh, da, Malvine!« lautete seine Begrüßung. »Weshalb hast du mich denn von deiner Ankunft nicht in Kenntnis gesetzt?«
Die Frau richtete die verweinten Augen mit traurigem Ausdruck auf den Gatten, als sie erwiderte: »Ich bin gekommen, um ein ernstes Wort mit dir zu sprechen …«
Tatáry machte eine saure Miene. Er wußte, daß jetzt eine sogenannte Szene kommen würde; er haßte aber – wie jeder Kavalier – von Grund seines Herzens alle »Szenen«.
»Was wünschest du?« fragte er.
»Ich will wissen, wann du zu uns übersiedeln wirst …«
»Übersiedeln?«
»Natürlich! Ich denke, du hast jetzt keinen Anlaß mehr, in Budapest eine Wohnung zu halten; jetzt hast du ja mit dem Minister nichts mehr zu tun …«
Die sonst so bescheidene und sanfte Frau betonte das Wort »Minister« mit besonderer Bitterkeit.
»Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß ich ständigen Aufenthalt in der Provinz nehme,« entgegnete Tatáry mit vornehmer Ruhe. »Wir haben in jenem unangenehmen Klatschnest nichts mehr zu tun und werden ständig in Budapest wohnen. Auch für die Kinder wird es nur von Vorteil sein, wenn sie so früh wie möglich hauptstädtische Schulen besuchen.«
»Für die Kinder!«
Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen. »Nun kommt die Szene!« sagte sich Tatáry mit einem spöttischen Lächeln. Dieses Lächeln hatte sonst eine beschwichtigende Wirkung auf seine Frau, erzielte heute aber keinerlei Erfolg. Die Frau fuhr mit überraschender Entschiedenheit zu sprechen fort: »In Budapest können wir nicht leben. Die Kosten eines hiesigen Aufenthaltes könnten wir nicht bestreiten, am wenigsten die des deinigen. Weißt du, was du während zweier Jahre verbraucht hast? Wenn das fünf oder sechs Jahre so weiter geht, so sind wir zugrunde gerichtet … Du sprichst von den Kindern? Wenn du ihnen einen Notpfennig retten willst, so komm in die Provinz zurück und lebe sparsam und eingezogen.«
Die Frau war in ganz unausstehlicher Weise spießbürgerlich; gar keinen Sinn hatte sie für die gesellschaftlichen Pflichten ihres Gemahls. Davon konnte doch keine Rede sein, daß Tatáry ständigen Aufenthalt in der Provinz nehme! Er haßte jenes abscheuliche Nest mit seinen kleinlichen, unangenehmen Menschen … Für ein paar Monate konnte man es – im Sommer – zur Not daselbst aushalten; aber Winter und Sommer dort verbringen, die Saison dort vertrödeln? Unsinn! Und gerade jetzt sollte er dahin gehen, da man ihn seiner Obergespanswürde enthoben? Die Leute würden am Ende glauben, er könne die lumpigen paar tausend Gulden, die mit der Stelle verbunden waren, nicht entbehren. Die Leute sind ja dumm und neidisch!
Das Vermögen gehörte zwar der Frau; allein die Macht befand sich in den Händen des Mannes. Und er machte auch Gebrauch von seiner Macht. Grob wurde der Mann niemals; dafür aber verstand er auf unerbittliche Weise vornehm zu sein.
»Liebes Kind,« sagte er sehr von oben herab, »es ist eine ausgemachte Tatsache, daß wir in Budapest wohnen werden. Ich will gar nicht mehr weiter über diesen Punkt sprechen!«
Das bleiche Gesicht der Frau wurde blutrot. Die seit vielen Monaten angestaute Bitterkeit machte sich in einem Strom leidenschaftlicher Worte und heißer Tränen Luft.
»Ja,« fuhr sie empor; »du willst nicht nach Hause kommen, weil du deine Geliebte nicht verlassen willst … deine Geliebte, mit der du mein Vermögen verschwendest, der du deine ganze Zeit widmest, für die du dich auch duelliert hast … O, Schmach, Schmach!«
Tatáry erkannte seine Frau nicht mehr. Sie war stets eine stille, unterwürfige kleine Person gewesen; doch die maßlose Aufregung hatte sie jetzt ganz des Verstandes beraubt. Die vornehme Ruhe ihres Herrn und Gebieters blieb vollständig wirkungslos; was er auch sagen mochte, die Frau weinte, wütete, schäumte förmlich vor Ingrimm.
»Verleumde Marie nicht,« sagte Tatáry, »denn sie ist ein ehrbares Mädchen und über jeden Verdacht erhaben … Ich verbiete dir, in solchem Tone von ihr zu sprechen …«
Das war nur Öl ins Feuer. Die Frau erblickte eine blutige Beleidigung darin, daß ihr Gatte sie wie ein unreifes Kind behandelte, dem man alles weismachen kann, was man nur will. Die ganze Welt wußte ja, daß er im Theater immer nur an ihrer Seite weilte. Für wen verausgabte er denn das viele Geld, wenn nicht für sie? Und hatte er sich nicht auch um ihretwillen duelliert? In zehn Zeitungen zu mindest hatte sie es gelesen … Und stand nicht auch das Porträt des Mädchens auf seinem Schreibtisch?
Tatáry machte dem peinlichen Auftritt ein Ende, indem er einen Spaziergang unternahm und seine Gattin allein ließ.
Diese aber entschloß sich zu einem verzweifelten Schritt, nachdem sie wohl zwei Stunden hindurch mit sich selbst gekämpft hatte und ihr flammender Zorn allmählich einer finsteren Traurigkeit gewichen war. Sie mußte diesen Schritt unternehmen, um sich und ihre Kinder vor der moralischen und materiellen Katastrophe zu schützen. Sie begab sich zu Marie.
Im Theater nannte man ihr die Adresse der Künstlerin, die sie auch glücklich daheim antraf.
»Ist's ein Traum?« fragte Marie nach der ersten Begrüßung. »Du bist es wirklich? Aber so setze dich doch!«
Erst jetzt begann Frau von Tatáry darüber nachzudenken, was sie dem jungen Mädchen eigentlich sagen solle. Sie fühlte, daß es wohl am besten sein werde, wenn sie sehr versöhnlichen, bittenden Tones zu ihr spreche.
»Du bist also nicht böse, daß ich dich aufgesucht habe?« fragte sie. »Glaube mir, ich hätte es nicht getan, wenn nicht das Interesse meiner Kinder auf dem Spiel stünde. Und dann weiß ich, daß du ein gutes Mädchen bist – früher wenigstens warst du es. Auch habe ich dich niemals auch nur mit einem Worte beleidigt – nicht wahr? Ich sprach niemals Schlechtes über dich, wie die anderen.«
Ihre wirren Worte, noch mehr aber ihr bleiches Gesicht und die verweinten Augen erschreckten Marie.
»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?« fragte sie.
»Ich komme wegen meines Mannes … Ja … Ich mache dir ja keine Vorwürfe des Vergangenen wegen – ich schwöre dir, daß ich dir nicht einmal böse bin … Aber inständigst bitte ich dich, laß ab von dem Unglücksmenschen! Ich mußte zu dir kommen, denn mit ihm läßt sich kein vernünftiges Wort reden … Von dir hängt alles ab … Wenn du willst …«
Sie konnte nicht weiter sprechen, oder wagte nicht mehr zu sagen; Marie aber hatte bereits genug gehört. Von den kolportierten Gerüchten war zu vieles schon auch an ihr Ohr gedrungen, als daß sie über die Dinge nicht im klaren gewesen wäre. Sie erhob sich, bleich, bebend vor Ekel und Unmut. Diese schmähliche, lächerliche Beschuldigung verfolgte sie also auf Schritt und Tritt? War denn die ganze Welt verrückt geworden?
Erschrocken merkte die arme Frau von Tatáry, welch großen Fehler sie begangen … Sie hatte ja Marie nicht erzürnen wollen. Nur rühren, ihr Mitleid hatte sie erregen wollen …
»Zürne mir nicht!« flehte sie. »Ich habe ja nichts Schlechtes gesagt, beschuldige dich auch nicht und glaube auch gar nichts! Doch der Unglücksmensch verschwendet unser ganzes Vermögen, kümmert sich nicht um seine Familie und richtet seinen Ruf zugrunde …«
Marie stand vor ihrer Besucherin und blickte ihr lange finster ins Gesicht. Endlich fragte sie: »Ich richte ihn wohl zugrunde, nicht wahr?«
Die Frau schüttelte heftig den Kopf.
»O nein! Doch sieh, ich bin so tief unglücklich …«
Wirklich verkündeten ihre bleichen Wangen, die eingefallenen, verweinten Augen beredt genug, wie unglücklich sie sei. Marie wurde selbst traurig, als sie in dieses traurige, abgehärmte Muttergesicht blickte. Ihr Zorn verflog, am liebsten hätte sie laut aufgeweint. Was sollte sie mit dieser armen Frau anfangen, die so unglücklich, so eifersüchtig und so beschränkten Geistes war? Sollte sie sie überzeugen, daß sie sich in einem Irrtum befände? Ihre Bemühungen wären ja ganz vergeblich!
»Wirst du mir glauben, wenn ich dir etwas mit meinem Ehrenworte verspreche?« fragte sie nach langem Besinnen.
»Gewiß, Marie. Dir glaube ich alles.«
»Ich verspreche dir also, deinen Mann hinauswerfen zu lassen, wenn er den Fuß noch einmal über meine Schwelle setzen sollte. Ferner verspreche ich dir, seine Briefe, Blumen und alles andere, was er vielleicht schicken könnte, gleichfalls hinauswerfen zu lassen … Und sollte er es wagen, mich im Theater oder auf der Straße anzusprechen, so werde ich ihm den Rücken wenden … Und nun gehe nach Hause und sage ihm das!«
Damit wendete sich das Mädchen um und begab sich in sein Schlafzimmer. Frau von Tatáry, die sehr überrascht war, rief es noch einige Male mit furchtsamer Stimme beim Namen; als sie aber keine Antwort erhielt, entfernte sie sich so still, wie sie gekommen war.
Als die Frau ihrem Gatten trockenen Tones, aber in überraschend scharfer Form die energische Botschaft Mariens übermittelte, vergaß Tatáry seine vornehme Ruhe und begann, in seinem Zorn sehr grob zu werden.
»Bist du verrückt geworden?« schrie er. »Das ist ja unerhört, einen Menschen derart zu blamieren!«
Der bloße Gedanke trieb ihm das Blut in die Wangen und er knirschte mit den Zähnen … Dann sprach er wieder einmal das schreckliche Wort aus, mit dem er die verliebte Frau schon einmal in tödliches Entsetzen gestürzt hatte, das Wort Scheidung nämlich. Nun würde er erst recht nicht in die Provinz zurückkehren, sondern in der Hauptstadt bleiben. Die Frau mochte mit den Kindern wohnen, wo sie wollte; ihm lag nichts daran. Wenn es ihr nicht paßte, so könnte sie sich von ihm scheiden lassen!
Dies war übrigens keine so leere Drohung, wie man vielleicht glauben könnte. Zwar besaß Tatáry gar nichts, während seine Frau wohlhabend, ja sogar reich war; doch der schöne Mann hatte allmählich herausgefunden, daß er sich stark unter seinem Werte verkauft habe. Seitdem er in Budapest eine Rolle spielte, war er zum Bewußtsein seines Wertes erwacht. Seine Frau war schließlich denn doch eine zu unbedeutende und dabei geizige Person, und ein Zweifel konnte doch gar nicht darüber bestehen, daß ein so hervorragender Kavalier wie Tatáry unter den Töchtern der Budapester Millionäre nach Belieben wählen könne. Ja, er kannte sogar eine sehr reiche und dabei sehr hübsche Gentry-Witwe, die ihre Millionen sehr gern im Tausche für den Namen Tatáry hingegeben hätte.
Vorläufig erörterte Tatáry die Frage allerdings eher nur aus Grausamkeit, und damit hatte er das Übergewicht wieder erlangt … Ja, er wolle sich scheiden lassen! An der Seite einer solchen Frau wolle er doch nicht sein ganzes Leben verbringen. Eigentlich bereite er sich schon seit langem auf diesen entscheidenden Schritt vor. Auch mit seinem Advokaten habe er schon gesprochen; alles sei bereits in Ordnung!
Schweigend, mit Tränen in den Augen, lauschte die Frau den Worten ihres Gatten. Sie war leichtgläubig und einfältig wie ein Kind, und als Tatáry wohl schon zum zehntenmal wiederholte, daß die Scheidung bei ihm fest beschlossene Sache sei, zweifelte seine Gattin nicht mehr, daß der große, furchtbare, vernichtende Schlag unabwendbar geworden sei. Vergebens schienen alle Anstrengungen; sie würde den Mann, den sie so anbetete, nun doch verlieren!
Gegen Abend verließ Tatáry seine Wohnung von neuem. Er sagte, er gehe zu seinem Advokaten, ging aber ins Kasino. Und als sich die Frau allein sah mit ihrem großen Schmerz, ihren gequälten Nerven, tat sie etwas, woran sie früher niemals gedacht und wessen sie sich niemals für fähig gehalten hätte. Sie legte Hand an sich.
Vorerst schrieb sie einen sehr kummervollen, einfältigen Brief an ihren Gatten. Sie fühle – schrieb sie – daß sie Tatáry nicht glücklich machen könne. Doch wolle sie sich seinem Glück nicht hinderlich in den Weg stellen und darum mache sie ihrem Leben mit eigener Hand ein Ende. Tatáry möge Marie heiraten, die er ja so sehr liebe. Sie verzeihe ihnen beiden und wünsche, daß ihr trauriger Schatten niemals ihrer beider Glück beeinträchtige. Und so weiter.
Zum Glück war sie zu ungeschickt, um sich mit dem Revolver ihres Gatten eine gefährliche Wunde zuzufügen. Die Kugel bohrte sich ihr in die Schulter. Im Hotel aber erregte der Schuß ungeheures Aufsehen. Auf den Treppen und in den Korridoren entstand ein wirres Laufen und Rennen; die Hotelgäste und Dienerschaft erbrachen die Tür und fanden die Obergespansgattin in ihrem Blute liegend. Man schickte nach einem Arzt, suchte den Gatten und telephonierte an die Rettungsgesellschaft und die Polizei.
Am nächsten Morgen stand es bereits in sämtlichen Zeitungen zu lesen und bildete den fast ausschließlichen Gesprächsstoff der Leute, daß die Frau des schönen Obergespans Tatáry einen Selbstmordversuch gemacht habe. Weshalb? Selbst wenn einige Blätter den Brief der armen Frau auch nicht wortgetreu abgedruckt hätten, hätte doch ein jeder gewußt, weshalb sie das getan.
Eine vornehme junge Frau beging einen Selbstmordversuch, weil ihr Gatte sie einer Operettensängerin wegen verlassen wollte. Der Fall war ein so drastischer, die handelnden Personen waren so bekannte, daß die öffentliche Meinung selbst mit dem besten Willen darüber nicht zur Tagesordnung hätte übergehen können. Und dieser beste Wille war ja nicht einmal andeutungsweise vorhanden.
Von Osten und Westen begannen gewitterschwere Wolken an dem Horizont der jungen Künstlerin emporzusteigen. Schwarze, unheilschwangere, greulich ächzende und stöhnende Luftungeheuer nahten, deren Formen bedenklich an die boshaften Gesichter der Tante Susi, der Tanten Nußknacker und Beißzange erinnerten. Einen Augenblick herrschte tiefe, drohende Stille, und als das Mädchen um sich blickte, merkte es voll Herzensangst, daß es allein dastehe, ganz allein! Und dann ging ein Wettern und Donnern los, stürzte ein wahrer Wolkenbruch nieder: das Wettern und Donnern der Moralisten, der Wolkenbruch der Verleumdungen.
Vergebens sagte sie sich immer wieder: »Das ist denn doch zu lächerlich!« Die Sache war nicht im geringsten lächerlich.
Alles zeugte wider sie. Widerlegen konnte sie gar nichts und Erklärungen hätten die Sache nur noch mehr verdorben. Der Revolverschuß, der in einem Salon des ersten Stockes im Hotel zur Königin von England ertönt war, konnte nicht mehr hinweggeleugnet werden; ebensowenig konnte der Brief der Selbstmordkandidatin falsch ausgelegt werden. Dieser Brief, dessen kummervolle Einfalt selbst Marien Tränen entlockte, war von besonderer Wirkung auf den weiblichen Teil des großen Publikums. Wenn die Frauen im großen ganzen auch für das Theater schwärmen, so bringen sie den Schauspielerinnen instinktiv feindselige Gesinnungen entgegen. Sie sehen nur die gefährlichen Nebenbuhlerinnen in ihnen, mit Vorrechten reich ausgestattete Nebenbuhlerinnen, die durch die Bühnenbeleuchtung interessant, durch den Dramenschreiber geistreich, durch den Kostümschneider schön und durch den Nimbus unwiderstehlich gemacht werden. Der instinktiven Antipathie gesellt sich eine entsprechende Dosis Neid hinzu, da sich unter den weiblichen Bewohnern der Hauptstadt unglaublich viele Schauspielerinnen finden, die ihren Beruf verfehlt haben!
Die Damen der Budapester Gesellschaft fühlten, daß man etwas gegen die Garde der sogenannten leichtgeschürzten Muse tun müsse, die immer häufiger verwüstende Piratenzüge gegen den Familienherd unternahm. Auch ein Teil der Presse ließ sich in diesem Tone vernehmen. Die Menschen, namentlich die schreibenden, lieben es, einzelne Fälle zu generalisieren, und der Fall Tatáry-Talay bot reichlichen Stoff, um dieser Leidenschaft zu frönen. Ein charakteristisches Symptom unserer heutigen gesellschaftlichen Entwicklung das! Auf allen Gebieten trägt die gewissenlose Selbstsucht den Sieg über frühere Zucht und Sitten davon. Die gewissenlose Selbstsucht, die wir auch Sittenlosigkeit nennen könnten, die sich gleicherweise im Parlament, in den Ämtern und hinter den Theaterkulissen geltend macht …
Im Kasino wurde natürlich nicht in diesem Sinne geurteilt. Dort sagte man ganz einfach: »Die arme Irma Talay hatte Pech …« Ein Teil der Presse verhielt sich reserviert; doch fanden sich ganz vereinzelt auch Blätter, die sogar eine Lanze für Marie brachen. Unter anderem das Blatt, bei welchem Horvàth die kritische Feder führte. Horvàth, der der Künstlerin monatelang mit galligen Kritiken das Leben verbittert hatte, warf sich jetzt mit einem Male zu ihrem Verteidiger auf. Ob ihn hierzu sein gutes Herz veranlaßte, oder ob er durch den Geist des Widerspruches dazu gedrängt wurde, wußte niemand anzugeben. Tatsache war, daß er sich ganz in seinem Element fühlte, wie der Salamander im Feuer, als er wieder einmal gegen das Urteil der großen Masse, die er mit dem souveränen Hochmut des Vollblutbohémiens verachtete, zu Felde ziehen konnte. Sein Chefredakteur gestattete ihm indessen nicht, mehr als einen einzigen Artikel in dieser Sache zu schreiben, denn dieser Artikel war so schroff, so zynisch gehalten, daß jener Teil der Abonnenten des Blattes, für die das Schreiben von Briefen zum täglichen Brot gehört, voll Entrüstung gegen seine Auffassung protestierte.
Lange Zeit hindurch war sich Marie über die Kraft des sie umtobenden Sturmes nicht im reinen. Sie grämte sich auch nicht, sondern ärgerte sich eher. Wenn sie sich über etwas grämte, so war es nicht das eigene Ungemach, sondern das der armen Frau von Tatáry, obschon diese des Mitleids nicht einmal mehr bedürftig war, da sie sich schon wieder der besten Gesundheit erfreute.
Erst später begann Marie zu fühlen, daß ihren Weg eine feindselige Macht verstelle, der sie entweder ausweichen oder gegen die sie den Kampf aufnehmen müsse. Doch wie sollte sie den Kampf mit der Sturmesgewalt der öffentlichen Meinung aufnehmen? Jetzt erst wurde sie sich ihrer weiblichen Schwäche bewußt. Wenn man den Mann verleumdet, so kann er an seinen Mut appellieren. An wen soll aber das Weib appellieren? Der Mann kann sich auf das Forum hinausstellen und Beweise von seinen Verleumdern fordern. Doch für das Weib wird das Forum zum Pranger; seine Unschuld muß sich ganz allein durchringen. Und wie wäre das unter den gegebenen Umständen möglich gewesen?
Als Marie etwa eine Woche nach jenem Vorfall wieder auftrat, verbreitete sich das Gerücht, daß man sie auszischen werde. Selbst hinter den Kulissen wurden derartige Befürchtungen laut, und Marie legte voll Bitterkeit ihr buntfarbenes Seidenkostüm an. Im Zuschauerraum herrschte wirklich eine große Unruhe; doch zu einem offenkundigen Skandal kam es nicht. Dafür ereignete sich aber etwas anderes, wodurch Marie tiefer verletzt und verbittert wurde, als wenn der Pöbel sie mit faulen Eiern beworfen hätte. Als sich der Vorhang nämlich nach dem ersten Aufzug senkte, rührte sich keine Hand, um ihr zu applaudieren. Niemand hatte diese stumme Demonstration geplant, niemand arrangiert, ihre Wirkung war daher um so mehr niederschmetternd. Das Publikum selbst war über sein Verhalten so erstaunt, daß die Totenstille hernach einem aufgeregten Gemurmel wich. Und das währte die ganze Vorstellung hindurch. Sämtliche Zuschauer saßen mit gekreuzten Armen da und sahen das Stück wie auf Verabredung schweigend, unter eisiger Stille mit an. Die Künstlerin spielt, lacht, singt, tanzt, bietet ihr ganzes Können auf, und das Publikum verharrt gleichgültig, regungslos und stumm. Kann es für die Künstlerin eine größere Demütigung geben?
Als Marie im zweiten Aufzug merkte, daß sie die Kälte des Publikums nicht bezwingen könne, ließ sie ihre Rolle vollständig fallen, wie der Kunstausdruck lautet. Sie gab sich keinerlei Mühe mehr und spielte ohne jede Lust, beinahe gleichgültig weiter. Ihr Spiel machte den Eindruck, als setze sie sich nunmehr über die Gunst oder Mißgunst des Publikums hinweg, als würdigte sie es nicht einer ehrlichen Anstrengung. Als sie aber nach dem letzten Akt in ihre Garderobe eilte, machte sich ihre große Bitterkeit Luft. Sie warf sich in die Arme ihrer Tante Anna und wurde von einem Weinkrampf übermannt. Was wollten die Leute von ihr? Womit hatte sie dieselben beleidigt?
Sie trat noch einigemal auf; dann aber meinte der Direktor, daß es besser wäre, wenn sich Marie eine Zeitlang zurückzöge. Man müsse abwarten, bis etwas Gras über die Geschichte gewachsen; die Menschen vergäßen schnell und würden auch den Fall Tatáry bald vergessen haben. Zwar war es bei keiner Vorstellung zu einem Skandal gekommen; allein der Direktor merkte besorgt, daß das Publikum sich allen Ernstes von seinem Lieblinge abzuwenden begann. Das ernstliche Ernüchtern aber beginnt nicht beim Skandal, sondern bei den leeren Bankreihen. Das Nachlassen des Interesses hatte seinen Grund nicht in der moralischen Entrüstung des Publikums, sondern in einem anderen, damit vielleicht im Zusammenhange stehenden und jedenfalls sehr gefährlichen Umstande. Das Publikum, das sich sein rasendes Entzücken selbst suggeriert hatte, als es Marie dutzendemal vor die Lampen rief, war jetzt nahe daran, in dem halb leeren Hause infolge der eigenen Kälte zu erfrieren. Man sagt, ein Hauch genüge zuweilen, um eine Lawine in Bewegung zu setzen, und der Direktor dachte voll Schrecken daran, daß die Gleichgültigkeit einem Schneesturm gleich Marie, ihn selbst und das ganze Theater unter sich begraben könnte. Tatsache war, daß man über die Künstlerschaft der neuen Diva jetzt in so geringschätzendem Tone zu schreiben begann, wie vordem niemals. Im Publikum und in der Presse begann sich sogar eine allgemeine Reaktion gegen den immer weitere Kreise ziehenden Operettenkultus geltend zu machen. War denn das eigentlich Kunst zu nennen?
Marie blieb recht lange fern von der Bühne, und dieses Interregnum machte sich der Direktor zunutze, um die frühere Primadonna, Frau Perényi, wieder häufiger auftreten zu lassen. Der Gedanke erwies sich als richtig. Das Publikum kehrte – als hätte es sich seines Fehltrittes geschämt – reuig zu seiner früheren Gottheit zurück. Frau Perényi wurde jeden Abend mit Blumen und Beifall überschüttet, und jedermann fühlte, gegen wen die Spitze dieser Demonstrationen gerichtet sei. Und so kam es, daß man im Namen der Moral und guten Sitte Frau Perényi feierte, von der doch allgemein bekannt war, daß sie im Laufe der Zeiten wohl schon ein Dutzend Kavaliere gänzlich ausgeplündert hatte.
Eben zerbrach sich Marie in ihrem bescheidenen Heim den Kopf, ob sie ihren unfreiwilligen Urlaub nicht zu einer kleinen Reise ins Ausland benutzen sollte, als sie unerwartet Besuch erhielt.
Blasius Hajdu war der unerwartete Gast, auf den sie am wenigsten gerechnet hatte. Er sah gar nicht schlecht aus, nur trug er den Arm noch in der Schlinge.
»Du bist es, Hajdu?« fragte das Mädchen erstaunt, stand auf und reichte ihm die Hand. Schon seit Tagen befand es sich in einer ungewöhnlich weichen Stimmung, und jetzt traten ihm sogar Tränen in die Augen, als es die linke Hand des Freundes drückte. Trotzdem fügte es lächelnd hinzu: »Na, uns beiden ist es doch schön ergangen!«
Hajdu, der Marie seit dem Duell nicht gesehen, wollte mit seinem Besuch eine einfache Pflicht erfüllen. Die Zeitungsartikel, die er Tag für Tag las, die schmählichen Verleumdungen, die zu seiner Kenntnis gelangten, hatten die Wirkung auf ihn, daß er alles vergaß, um dessentwillen er der Freundin zürnen zu müssen vermeinte, und herbei eilte, um Marie aufzusuchen, in der er nur mehr das verlassene und verfolgte Mädchen sah.
»Schön von dir, daß du gekommen bist,« sagte das Mädchen. »Daran erkenne ich dich.«
»Wie ich sehe, grämst du dich nicht sonderlich.«
Ein Blick auf das blühende Gesicht der Künstlerin hatte ihn überzeugt, daß sie sich die gegen sie inszenierte Hetzjagd nicht sonderlich zu Herzen nahm.
»Ich danke,« erwiderte Marie humoristisch; »den Umständen nach befinde ich mich recht wohl.« Sie bot ihrem Freunde einen Sitz an, reichte ihm ein Zeitungsblatt und sagte: »Da lies das neueste Preßerzeugnis.«
Ein pfiffiger Reporter hatte in Wien den General von Atalay aufgesucht und berichtete nun in seinem Blatte über das Ergebnis seines Besuches. Der General, der offenbar keine Ahnung davon hatte, daß seine Erklärungen in die Zeitung kommen würden, hatte die an ihn gerichteten Fragen sehr kurz beantwortet. Man sollte ihn doch in Frieden lassen! Er pflege nur das »Armeeblatt« zu lesen, nehme sonst prinzipiell keine andere Zeitung zur Hand und habe daher auch keine Ahnung davon, was in Budapest geklatscht werde. Im übrigen habe er keine Tochter, habe auch nie eine gehabt, kenne die Familie Tatáry nicht und höre den Namen Irma Talay heute zum erstenmal.
Mit gleichgültiger Miene durchflog Hajdu den Bericht und legte dann die Zeitung aus der Hand.
»Wunderst du dich etwa darüber?« fragte er.
»Ich wundere mich über gar nichts mehr! Anfänglich suchte ich über die Dinge klar zu werden, die sich mit mir zugetragen und da gelangte ich zu dem Ergebnis, daß ich zwischen zwei Eventualitäten zu wählen habe: entweder anerkenne ich, daß ich wirklich schlecht und verderbt bin, oder ich erkläre, daß mich die Welt wissentlich verleumdet. Das erstere ist aber nicht wahr und das letztere kann ich nicht glauben. Ein drittes aber gibt es nicht. Ich stehe vor einem Wunder und meine Logik läßt mich im Stich!«
»Du hast unrecht, denn was dir widerfahren, ist nur natürlich.«
»Natürlich, sagst du? Du gibst den Leuten also recht, die mich ein verkommenes Geschöpf nennen?«
»Das habe ich mit keiner Silbe gesagt. Ich gebe auch dem Ochsen nicht recht, wenn er die am Wegrande blühende Blume mit seinen Hufen zerstampft, obschon ich die Sache durchaus natürlich finde … Wenn eine Blume am Wegrande blüht, so kann sie kein anderes Schicksal erwarten.«
»Der auf mich bezügliche Teil deines Vergleiches ist ja recht schmeichelhaft für mich. Doch wäre es mir lieb, wenn du dich näher erklären wolltest. Man ist nie klug genug, um nicht noch lernen zu können.«
»Ich werde dir eine sehr banale Wahrheit verkünden: das Leben ist ein Kampf.«
»Mich dünkt, als hätte ich das schon einmal irgendwo vernommen.«
»Jedenfalls aber nur mit halbem Ohr, und aufgefaßt hast du den Sinn dieser wenigen Worte ganz gewiß nicht … Die Natur, oder sagen wir, die gesellschaftliche Gewohnheit bestimmt, daß an diesem Kampfe nur der Mann teilnehme. Die Bestimmung des Weibes ist im allgemeinen eine andere. Seiner natürlichen Veranlagung, Erziehung und der in der Gesellschaft von ihm eingenommenen Stellung nach ist der Mann für diesen Kampf gewappnet und ausgerüstet. Wenn das Weib, dieser Gewohnheit entgegen, den Kampf aufnimmt, so befindet es sich nicht in der gleich günstigen Lage wie der Mann. Der Harnisch des Weibes ist schwächer, das Weib besitzt mehr verwundbare Stellen, und wird es angegriffen, so kann es sich überhaupt nicht verteidigen, wie es der Mann tut. Ein mit dem Durchschnittsmaß von Kraft und Fähigkeiten ausgerüsteter Mann wird unter normalen Umständen seinen Platz im Leben behaupten können. Dies genügt aber dem Weibe nicht, das aus seinen natürlichen Grenzen hervortritt; das Weib lebt alsdann immerwährend unter außerordentlichen Umständen, in einem ewigen Belagerungszustande, und eben deshalb bedarf es außerordentlicher Mittel und Waffen, um sich verteidigen zu können.«
Marie, die ihrem Freunde aufmerksam, aber auch mit einigem Spott in Blick und Miene zuhörte, fiel ihm jetzt ins Wort, indem sie sagte: »Es wäre nicht ohne Interesse, zu erfahren, welches diese außergewöhnlichen Waffen sind.«
»Ich will sie dir nennen, obschon ich auch damit nichts Neues sagen werde. Mit zahllosen Beispielen beweist die Natur, daß sie dort, wo sie ihre Ziele mit Gewalt nicht zu erreichen vermag, ihre Zuflucht zur List, ja sogar zur Hinterlist nimmt. Vorsicht und Anpassungsvermögen sind die Waffen der Schwachen.«
Unmutig stand Marie von ihrem Platze auf. Die Weisheit ihres Freundes erschien ihr recht hausbacken und seine Schlußfolgerungen dünkten ihr recht demütigend.
»Ich bin nicht schwach!« erklärte sie, indem sie ihre kräftige Gestalt emporreckte.
»Nicht? Ich will es dir gerne glauben, wenn du jetzt die Menschen davon überzeugen kannst, daß du zumindest so tugendhaft bist, wie Frau Perényi zum Beispiel.«
»Ich werde sie von gar nichts überzeugen! Mögen sie sagen, was sie wollen; ich kehre mich an ihre Meinung nicht!«
»Du kehrst dich nicht daran, weil sie dich verurteilen. Doch nahmst du voll Dankbarkeit das Urteil derselben Menschen entgegen, als sie dich himmelhoch priesen, als sie dich eine Göttin und einen Stern nannten. Besser waren sie aber auch damals nicht, und schlechter sind sie auch heute nicht, als sie es dazumal gewesen … Ich könnte auch sagen, daß das, was geschehen, kein Zufall ist. Du selbst hast es herbeigeführt. Du bist rechtschaffen, aufrichtig und mutig. Mit solchen Eigenschaften kann man im Leben schließlich auch vorwärts kommen, aber nur, wenn man genügend stark dazu ist. Doch du bist ein Weib, demzufolge schwach. Welchen Vorteil hast du von deinem Mut? Die Sache ist bei Gott dieselbe, als wollte der Hase den Kampf mit der Hundemeute aufnehmen.«
Es wollte Marie bedünken, als könnte Hajdu recht haben. Doch wäre sie kein echtes Weib gewesen, wenn sie sich vor seiner Logik gebeugt hätte. Wer hat schon jemals ein Weib gesehen, dem mit Argumenten beizukommen ist?
»Mag sein, daß du recht hast,« sagte sie, »aber verstehen kann ich dich trotzdem nicht. Ich kann und will nicht begreifen, daß es meine Bestimmung ist, mich zwischen die Schollen zu ducken und Schleichwege zu benützen. Mag mich die Meute zerfleischen.«
»Ich erkenne dich an deinen Worten,« erwiderte Hajdu mit einem bitteren Lächeln.
So oft die beiden über Prinzipien sprachen, kam es zum Streit zwischen ihnen. Auf diese wohlbekannte Erfahrung gestützt, machte Marie der Debatte ein kurzes Ende, indem sie sagte: »Es wäre wahrhaftig viel vernünftiger, wenn du mit mir einen Spaziergang machen wolltest. Tante Anna hat ewig Fußreißen und ich war schon seit Wochen nicht außerhalb der Stadt.«
»So komm,« sagte Hajdu; »ich habe heute ohnehin nichts zu tun.«
Es ist aber anzunehmen, daß er sie selbst in dem Falle begleitet hätte, wenn er etwas zu tun gehabt hätte. Marie kleidete sich rasch um und schon nach einigen Minuten trat sie in einfachem schwarzem Kleide, mit einem schwarzen Hut auf dem Kopfe und weißen Handschuhen an den Händen vor ihren Freund hin.
»Gehen wir also!« sagte sie.
Sie freute sich wie ein Kind auf den Spaziergang. Sie war eine große Freundin von Fußpartien, und auf dem Lande hatte sie oft meilenweite Fußwanderungen unternommen. Mußte sie ein paar Tage im Zimmer verbringen, so fühlte sie sich unbehaglich, und gelangte sie wieder ins Freie, so wäre sie am liebsten, einem jungen Füllen gleich, wie toll dahingestürmt.
Sie schritten miteinander nach Ofen hinüber und begannen in den Bergen herumzusteigen. Als es zu dämmern anfing, traten sie ins Sommerwirtshaus und ließen sich Milch geben. Als Marie wieder nach Hause kam, war es schon ziemlich spät geworden.
»Mir scheint, ich bin neugeboren,« sagte sie, als sie vor dem Tor stand, und dehnte behaglich die geschmeidigen Glieder. »Ja, du bist doch eine bessere Gardedame als die Tante Anna.«
»Ich stehe dir auch ein andermal zur Verfügung,« erwiderte Hajdu. »Wann du nur willst.«
»Wann ich will? Ich nehme dich beim Wort und erwarte dich morgen. Was sollte mir diese lange Zeit, wenn wir nicht ausgedehnte Spaziergänge unternehmen würden?«
Bis Marie von neuem aufzutreten hatte – was noch vier Wochen währte – unternahmen sie Tag für Tag ausgedehnte Spaziergänge. Vor dem Regen war ihnen nicht angst; ja, es bereitete Marie noch einen besonderen Genuß, wenn der Regen unter lautem Klatschen gegen ihren Kautschukmantel schlug.
Hajdu erwies sich auf diesen Ausflügen als ausgezeichneter Begleiter. Wohl war er ein etwas wortkarger und maliziöser Mann, im Grunde genommen aber ständig bei heiterer Laune und immer voll Rücksicht gegen andere. Er kannte die Frauen, und wenn irgend jemand, so wußte er, wie man für deren Zerstreuung und Bequemlichkeit zu sorgen habe. Zum erstenmal in ihrem Leben verbrachten sie jetzt längere Zeit neben- und miteinander. Zwar kannte Hajdu das Mädchen seit dessen Kindheit, und schon damals hatte er eine gewisse ihr wohltuende Anhänglichkeit an sie bewiesen, ihr auch später in der gönnerhaften Art des älteren Vetters ein wenig den Hof gemacht; aber Freundschaft schlossen sie erst jetzt miteinander. Nun er die junge Dame näher kennen lernte, gelangte Hajdu erst zu der Wahrnehmung, daß das Kesseltreiben, welches man anläßlich des Falles Tatáry gegen sie veranstaltet hatte, nicht ohne jede Wirkung auf sie geblieben sei: eine gewisse Unsicherheit gab sich in ihrem Wesen kund, ein leises Zögern und Schwanken, vielleicht als das Ergebnis dessen, daß sie zum Bewußtsein der eigenen Ungeschicklichkeit und Kraftlosigkeit erwacht war. Dieser neue Zug stand ihr übrigens sehr gut; zwar hatte sie an Entschiedenheit eingebüßt, aber an Weiblichkeit sehr gewonnen. Die neue Gestalt, die seine Freundin angenommen, überraschte und rührte Hajdu sogar ein wenig. Die launenhafte, boshafte Marie von Atalay war gezähmt worden!
Wenn Hajdu dieses Thema seiner Freundin gegenüber auch nicht berührte, so fühlte er dennoch, daß er einer Art verwandtschaftlicher Pflicht nachkomme, wenn er viel und oft an der Seite des Mädchens verweile. Seit dem Falle Tatáry stand Marie in entsetzlich schlechtem Rufe, und ihre jetzige zurückgezogene Lebensweise konnte ihr nur zum Vorteil gereichen. Hätte es sich um einen anderen und nicht um ihn selbst gehandelt, so hätte Hajdu die Situation vielleicht anders und vielleicht auch richtiger beurteilt. Zwar hatte sich die öffentliche Meinung in der letzten Zeit tatsächlich beruhigt, aber milder war das Urteil darum nicht geworden. Es gab in Budapest nunmehr kaum einen, gesellschaftlich in Betracht kommenden Menschen, der nicht schon gewußt hätte, daß Marie jetzt die Geliebte Hajdus sei. Im Hinblick auf die vorhergegangenen Ereignisse und das frühere Verhalten Hajdus fand dies jedermann logisch, ja sogar ganz natürlich.
Das Publikum machte – und hierin gehorchte es seinem feinen Instinkte, der sich sogar in seinen Verleumdungen zu bekunden pflegt – einen Unterschied zwischen dem früheren Verhältnis der Künstlerin zu Tatáry und ihren neuerlichen Beziehungen zu Hajdu. Die Leute sagten, Marie habe Tatáry zugrunde gerichtet und jetzt werde sie sich für Hajdu zugrunde richten. Das letztere war wohl in der Weise zu verstehen, daß Marie ihre Kunst vernachlässigen werde. Denn Tatáry habe sie nur zum Narren gehalten und von Hajdu lasse sie sich zum Narren halten.
Auch jetzt blieb sich das Theaterpublikum konsequent in der Inkonsequenz, und Marie, die es vor kurzem ohne Grund auszischen wollte, wurde jetzt auch ohne Grund mit demonstrativer Freude empfangen. Seit vier Wochen hatte man sie nicht gesehen. Vor vier Wochen war sie zwar auf ein Haar dieselbe gewesen, die sie heute war; doch gewahrte man erst heute, wie schön, wie jung, geist- und temperamentvoll sie sei, hundertmal mehr wert, als alle Frau Perényis der Welt.
Und mit diesem Mädchen wagte jemand zu konkurrieren? Dieses Mädchen wollte man auspfeifen? Die Leute gerieten nachträglich in Wut bei diesem Gedanken. Welch schmähliche Intriguen waren das doch! Und um der »Verfolgten« Genugtuung zu gewähren, schlug man die Hände zusammen, aber mit einer Gewalt, daß das Theater brandete und donnerte, wie das brausende, tosende Meer.
Auch diese Demonstration war von niemandem veranstaltet worden. Das Publikum benahm sich ganz einfach wie die Eltern, die zu der Wahrnehmung gelangen, daß sie ihr Kind mit übertriebener Strenge gezüchtigt, und die jetzt in das entgegengesetzte Extrem verfallen und es übermäßig verwöhnen. Zwar konnte der Fall Tatáry damit nicht ungeschehen gemacht werden; aber verzeihen konnte man der schönen Sünderin auf jeden Fall. Wer könnte denn von einem Mädchen mit solchen Augen fordern, es möge ein Nonnenleben führen? Die Leute sagten, sie sei gefährlich, wie ein reißendes Tier … Vielleicht! Bitte, sich also in acht zu nehmen! Und, in Parenthese bemerkt, es mochte nicht einmal so übel sein, sich von diesen weißen Zähnen zerreißen zu lassen!
Und die Leute warfen bedeutungsvolle Blicke nach der Loge hinüber, in deren Hintergrunde Hajdu saß.
An einem der nächsten Tage erhielt Marie einen interessanten Gast: Sebastiani, den berühmten Pariser Impresario. Sie kannte den Begleiter der Leute à la Patti und Mierzwinski dem Rufe nach und war über seinen Besuch daher nicht wenig erstaunt. Der alte Herr, den viele für einen Italiener, manche für einen Griechen, die Eingeweihten aber für einen spanischen Juden hielten, pflegte nicht viel Worte zu machen, wenn es sich um den Abschluß eines Geschäftes handelte.
»Mein Fräulein, haben Sie Lust, viel Geld zu verdienen?« fragte er in deutscher Sprache.
»Ich spiele ja auch jetzt nicht umsonst,« erwiderte Marie lächelnd.
»Ich weiß nicht, wieviel Sie bekommen; keinesfalls aber so viel, daß es der Bezeichnung ›Geld‹ wert wäre … Beherrschen Sie außer dem Deutschen auch noch eine andere Sprache?«
»Die französische vollständig, die englische leidlich.«
Diese Auskunft bestärkte Herrn Sebastiani in der Überzeugung, daß Marie – die er übrigens nur zufällig im Theater entdeckt hatte – seiner eben so sehr bedürfe, wie er des Mädchens.
»Seit zwanzig Jahren hat es keine wirkliche Soubrette mehr auf der Welt gegeben und ich dachte schon, die Gattung sei gänzlich ausgestorben,« erklärte Herr Sebastiani. »Sie, mein Fräulein, sind aber eine echte, wirkliche Soubrette … Ich kenne Hunderte von Frauen und Mädchen, die bedeutendere Künstlerinnen sind als Sie; aber eine wirkliche Soubrette ist keine einzige … Ich werde Sie der Welt vorstellen, und ich kann Ihnen sagen, die Überraschung wird keine geringe sein! Offenbach wird zu neuem Leben erwachen und die Kavaliere des zweiten Kaiserreichs werden sich verjüngen. Machen Sie einen zehnjährigen Kontrakt mit mir und nach zehn Jahren können Sie sich endgültig zur Ruhe setzen … Sie werden Geld haben, so viel Sie nur wollen, werden sich auf einer Bergesspitze oder an einem Seeufer ein Schloß kaufen und einen Tenoristen heiraten können …«
Der alte Herr, der sämtliche Fürstlichkeiten und Berühmtheiten Europas persönlich kannte, war nicht im geringsten Weltmann. Er plauderte mit dem gemütlichen Zynismus des Bühnenvaters, und dabei musterte er Marie unbefangen von allen Seiten, räusperte sich und rückte unruhig auf seinem Sitz hin und her.
Obschon Sebastiani keine sofortige Antwort verlangte, erklärte ihm Marie, daß sie nicht im Traume daran denke, ihr Vaterland zu verlassen.
»Schon recht; doch wenn Sie es einmal tun wollen, so werden Sie mit mir kommen … Mit wem könnten Sie denn sonst gehen? Meine Adresse wissen Sie. Telegraphieren Sie mir, sobald sie den Moment für gekommen erachten, selbstverständlich, wenn Ihre Gestalt und Ihre Stimme inzwischen keinerlei Einbuße erleiden … Sollten Sie kontraktlich gerade an ein Theater gebunden sein, so lassen Sie sich das nicht anfechten. Wir können Reugeld zahlen.«
Während er so sprach, hatte der alte Herr eine recht gute Photographie der Künstlerin auf dem Tische erspäht. Er nahm das Bild einen Moment zur Hand, verglich es mit dem Original und steckte es dann wortlos in die Tasche. An der Schwelle blieb er noch einmal stehen und sagte: »Meine Adresse wissen Sie also. Ich verbringe den ganzen Herbst in Paris. Unsere Rundreise werden wir in Amerika beginnen.«
Marie nickte nur lachend dazu. Der alte Jude mochte sehr viel Geld haben; allein so viele Millionen besaß er denn doch nicht, daß er sie zu bewegen vermocht hätte, jetzt den Fuß aus Budapest zu setzen. Sie sollte fortgehen – und gerade jetzt? Noch nie im Leben hatte sie sich so wohl gefühlt, wie jetzt!
Es braucht vielleicht gar nicht betont zu werden, daß Blasius Hajdu die Ursache dieses ausnehmend behaglichen Gefühls war. Wohl hatte er in seinem Leben dem Mädchen mit den wiederholt geweckten und nie erfüllten Hoffnungen gar viele bittere Stunden schon bereitet; allein mit seinem jetzigen Verhalten machte er alles wieder gut. Es ist wirklich ein absonderlicher Einfall des Schicksals, daß es den Schlüssel zu solch einem weiblichen Herzen, das mit einem so überaus komplizierten Schloß versehen ist, gerade nur in die Hände eines einzigen Mannes niederlegt.
Er hat sich keinerlei Verdienst dazu erworben, die Natur hat ihn in keiner Weise zu seinem Vorteil vor den anderen Männern ausgezeichnet, und trotzdem liegt das Schicksal des weiblichen Herzens in seiner Hand. Marie wußte schon seit langem, daß dem so sei. Sie war von Natur aus weder besonders sentimental, noch übermäßig leidenschaftlich; sie hatte keine sonderlich hohe Meinung von den Männern, fühlte sich im großen ganzen auch nicht hingezogen zu ihnen, und kannte eigentlich nur einen Mann, und der hieß Blasius Hajdu. Ihm, aber auch nur ihm gegenüber fühlte sie sich stets als Weib, stets zur Nachgiebigkeit, ja selbst zur Unterwürfigkeit bereit, wie es ja der Beruf des Weibes mit sich bringen soll.
Als das Mädchen inmitten seiner sogenannten Triumphe und scheinbaren Erfolge zur Besinnung zu kommen begann, überzeugte es sich von neuem von der Nutzlosigkeit seiner Kämpfe. Kunst, Beruf, Erfolg – all dies sind keine ernsten Dinge. Sie beginnt sich daran zu gewöhnen, sie hält an gewissen banal klingenden Losungsworten fest, an den Losungsworten der Kunst und Pflicht, und dann verliert sie mit einem Male die Geduld, gerät in Zorn, sträubt sich gegen den ihr auferlegten Zwang, und die Pflicht ist samt der Kunst flöten gegangen. Ernst zu nehmen ist weder die eine noch die andere! Keine von beiden hat jenen Inhalt, um dessentwillen es sich verlohnen würde, zu leben … Das leichte Erschauern, das ihr die Berührung der Hand ihres Freundes verursacht, ist mehr wert als alles andere. Dies mag lächerlich, vielleicht sogar traurig sein; aber zu ändern ist nichts daran. Jedes Lied hat nur einen Refrain: Alles ist nichts; etwas ist nur, wenn man uns heiß und innig liebt. Vergebens tanzt oder singt, schreibt oder herrscht das Weib; Wert und Gehalt hat sein Leben erst, wenn es liebt und wieder geliebt wird.
Aus einer entlegenen Provinzstadt langte eine überraschende Kunde an: das Ehepaar Tatáry trennt sich voneinander. Zwar redeten Hajdu und Marie aus gegenseitiger Rücksicht nicht über die Sache: doch erhielten sie aus verschiedenen Quellen eine erschöpfende Darstellung sämtlicher Phasen des Scheidungsprozesses.
Die sich für die Sache interessierten, mochten am meisten über den Umstand staunen, daß nicht Tatáry, sondern seine Gattin die Scheidung forderte. Was war in die schüchterne Frau mit der Taubenseele gefahren? Vor nicht langer Zeit hatte sie sterben wollen, weil ihr Herr und Gebieter von einer Scheidung sprach, und jetzt, da sie sich durch ihren verzweifelten Schritt die Liebe des Gatten zurückerobert hatte, wollte sie nichts mehr von ihm wissen. Es schien, als hätte die gewaltsame Erschütterung ihre Gedanken in eine andere Richtung gelenkt und ihrer Seele gleichzeitig eine Kraft verliehen, deren sie früher nicht fähig gewesen wäre. Als sich die Waffe in der Hand der mit sich selbst zerfallenen Frau entlud, erblickte sie in dem Aufblitzen des Pulvers Herrn Tatáry mit einem Male in einem ganz eigentümlichen, überraschenden Licht. Sie erkannte – weshalb aber erst jetzt? – daß ihr Gemahl ein ganz erbärmlicher Wicht sei, ein Mensch ohne Geist und Herz, dumm, hohl, gewöhnlich, egoistisch und feige wie ein Schwamm.
Ein paar Wochen blieben ihr zum Nachdenken, und die Folge davon war, daß sie die Annäherung ihres Mannes voll Abscheu zurückwies, worüber nicht nur er, sondern sie selbst auch höchlichst verwundert war … Und dann erklärte sie, was inzwischen zum festen Entschluß in ihr geworden, daß sie die Scheidung wünsche!
Anfänglich nahm Tatáry die Sache nicht ernst. Er kannte seine Frau so wenig, hatte auch im übrigen nur eine so geringe Meinung von den Menschen, daß er nur leere Taktik, eine Art gewöhnlicher Gegenwehr darin erblickte. Er erschrak erst, als er merkte, daß eine fremde Hand die Karten seiner Frau mische. Diese Hand war die des Herrn Fodor, jenes schweigsamen, eiskalt blickenden jungen Mannes mit der gewölbten Stirne, der Tatáry als Sekretär gedient, so lange dieser Obergespan gewesen, und er selbst noch kein Advokatendiplom besessen. Als Sekretär war er immer pünktlich, gehorsam und verläßlich gewesen, wie eine Maschine. Er machte der Frau Obergespan nicht den Hof, so wenig wie einer anderen Frau, versah aber mit der überlegenen Schonung des willensstarken Mannes die verschiedenen Angelegenheiten der sich selbst überlassenen Frau. Frau von Tatáry ward sich des großen Einflusses, den Fodor auf sie ausübte, eigentlich erst bewußt, als ihr der Advokat nach dem häßlichen Budapester Abenteuer zu verstehen gab, daß sie sich von ihrem Manne trennen müsse. Fodor, der sonst so zurückhaltende und vorsichtige Fodor, sagte ihr, daß ihr Mann ein erbärmlicher Wicht sei, den man mit keinem Opfer vor dem Niedergange bewahren könne, und der Frau wurde es mit einem Male klar, daß er recht habe. Fodor sagte auch, daß Frau von Tatáry nur mehr Abscheu für ihren Gemahl empfinden könne, und die Frau fand, daß sie ihn wirklich verabscheue.
Als Tatáry daheim zu fühlen begann, daß er den Boden unter seinen Füßen verliere, erschrak er und geriet in Wut. Zum erstenmal im Leben war er eifersüchtig auf seine Frau; melancholisch durchstreifte er die kleine Stadt und schrieb die zärtlichsten Briefe an »seine Malwine.« Er mußte sich aber alsbald überzeugen, daß er einem furchtbaren Feind gegenüberstehe, einem dunkle Ziele verfolgenden, schrecklichen und mit geheimnisvollen Waffen kämpfenden Feind, in dessen Hand die Frau selbst schon zum blinden Werkzeug geworden. Dieser Feind besaß eine so suggestive Macht, wie sie nur der echte Mann über das Weib auszuüben vermag; sein Wille machte die sonst so schwache, beschränkte Frau stark, zäh und klug … Mit einem Male wurde Tatáry von wütendem Neid erfaßt, von dem Neid des verwöhnten Schoßhundes, der da fühlt, daß er eines neuen Lieblings wegen sein weiches Kissen, seine volle Schüssel verlieren und aus dem teppichbelegten Salon sehr bald endgültig in den Stall verwiesen werden wird.
Diese Nachrichten schöpfte Marie aus den Mitteilungen des allwissenden Journalisten Horvàth. Als dieser Herr bemerkte, daß sich die öffentliche Meinung von der Künstlerin abzuwenden beginne, wurde er aus ihrem galligen Kritiker zu ihrem begeisterten Verteidiger, wofür Marie, die auf diesem Gebiete schon vieles gelernt und Herrn Horvàth niemals ernst genommen hatte, ihre Dankbarkeit in der Weise bekundete, daß sie den Faden der Freundschaft dort aufnahm, wo er vor kurzem abgerissen worden.
Hajdu gegenüber, der jede Einzelheit des Tatáryschen Scheidungsprozesses ebenso genau, wenn nicht noch genauer kannte als sie, gedachte sie der Sache niemals auch nur mit einem Worte. Die Erwähnung des verhaßten Obergespans hätte mit ihrem jetzigen Seelenzustande absolut nicht im Einklange gestanden.
Die beiden jungen Leute führten damals eine recht eigenartige Lebensweise. Den größten Teil des Tages verbrachten sie gemeinschaftlich. Hajdu verabschiedete sich von Marie, um in der nächsten Stunde wieder lachend bei ihr einzutreten, und das Mädchen entließ den Freund, um eine halbe Stunde später das Dienstmädchen nach ihm zu schicken. Von Liebe war zwischen ihnen keine Rede, nicht einmal andeutungsweise; auch Sentimentalitäten tauschten sie nicht aus.
Die Ursache ihres Beisammenseins war einzig und allein nur in dem physischen Behagen zu suchen, das sie gegenseitig an ihrer Gesellschaft fanden. Da Hajdu auch sonst nicht gesprächig war, so tat ihnen sogar die gemeinschaftlich ertragene Langeweile unsäglich wohl. Das einfache Beisammensein befriedigte alle ihre Wünsche; wenn sie in dem kleinen Salon der Künstlerin saßen, so fühlten sie keinerlei anderes Verlangen. Sie durchblätterten gemeinschaftlich die Zeitungen, besprachen die kleinen Ereignisse des tägliche Lebens. Nur Pläne schmiedeten sie niemals. Es schien, als gäbe es für das Mädchen weder eine Vergangenheit, noch eine Zukunft, als lebte es ausschließlich nur für die Gegenwart.
Dieser Zustand konnte indessen nur ein Übergangsstadium und schon seiner Natur nach nicht von Dauer sein.
An einem freien Tage, als Marie nicht aufzutreten hatte, verleitete sie ihren Freund, mit ihr die Margareteninsel zu besuchen. Mit gewohnter Unbefangenheit nahmen sie im Gasthof das Mittagessen ein, und am Nachmittag durchstreiften sie die schattenreichen Waldwege des entzückenden Eilandes. Es war noch ziemlich früh, als sie in die Stadt zurückkehrten und am Schwur-Platz ans Land stiegen. Marie, die immer eine gewisse Niedergeschlagenheit empfand, wenn man nach einem solchen Ausflug in das starre Häuserlabyrinth der Stadt zurückkehrte, schritt schweigend an der Seite ihres Freundes dahin. In einer stillen Seitengasse der inneren Stadt sagte das junge Mädchen, das die über den Haustoren angebrachten Straßentafeln mit den entsprechenden Nummern mit sichtlichem Interesse musterte, vor einem vornehmen, nicht großen Gebäude mit einem Male: »Hier wohnst du?«
»Ja, parterre links.«
»Wie gern möchte ich deine Wohnung sehen!« seufzte Marie mit dem sehnsüchtigen Ausdruck eines Kindes.
»Ich werde sie dir einmal zeigen,« entgegnete der junge Mann.
»Einmal! Weshalb denn nicht jetzt? Ja, jetzt! Auf der Stelle!«
Ihr Auge glänzte, ihr Gesicht strahlte vor Freude. Nein, keinen Schritt wollte sie weitergehn, als bis sie ihren Wunsch erfüllt sähe. Weshalb könnte sie dem Freunde keinen Besuch abstatten? Die Straße war wie ausgestorben, niemand würde sie sehen. Und selbst wenn man sie sähe? Ihrethalben mochten die Leute schwatzen …
Hajdu fiel ihr hastig ins Wort: »Lassen wir das! Wenn du meine Wohnung sehen willst, so kannst du zu mir kommen, ohne Umschweife und ohne Erklärung, gleichviel, ob man dich sieht oder nicht sieht …«
Sie waren inzwischen schon an dem Hause vorübergeschritten. Jetzt machte Marie wortlos kehrt und trat in das Haus ein. Nun, die Sache war ja leichter, als sie selbst gedacht! Ihr alter Wunsch ging in Erfüllung, als sie über die Vorzimmerschwelle der kleinen Junggesellenwohnung trat, ihr alter Wunsch, den sie bloß aus kindischer Furcht bisher verschwiegen. Hajdu hatte schon so viel von seiner Wohnung gesprochen, daß sie anzugeben vermochte, wo sich dort die einzelnen Möbelstücke befanden.
Die Wohnung des jungen Mannes war einfach, aber hübsch und elegant. Sie bestand aus einem sehr großen Raum, der als Empfangs- und Arbeitszimmer diente, und einem Alkoven, der das Schlafgemach vertrat, und dessen vordere Hälfte, deren Fenster auf die Straße sahen, und die ein ganzes Magazin orientalischer Teppiche aufwies, für ein türkisches Rauchzimmer angesehen werden konnte. Die Wohnung, namentlich aber das mit englischen Ledersofas und riesigen geschnitzten Bücherschränken ausgestattete Empfangszimmer gefiel dem jungen Mädchen ganz ungemein, das die Vorliebe für die männliche, einfache Eleganz des Sportsmannes schon mit der Erziehung in sich aufgenommen hatte. Neugierig und mit einer Art wundersamen Rührung durchschritt Marie das Zimmer. An der Wand stellte sie sich auf die Fußspitzen, um die dort hängenden Stahlstiche in dem herrschenden Halbdunkel genauer zu unterscheiden, und die auf dem Schreibtische stehenden Nippes nahm sie der Reihe nach zur Hand, um sich des näheren nach ihnen zu erkundigen. Dann aber kam ihr etwas in den Sinn und ein gewisser Unmut übermannte sie … Sie suchte ihre Photographie und fand sie nirgends. Weder hier noch im Schlafzimmer. Sie erinnerte sich aber ganz genau, daß sie Hajdu schon mehr als ein Bild von sich geschenkt hatte. Sie sah eine ganze Menge Photographien von Mädchen und Frauen an den Wänden und auf den Tischen, darunter auch die von Schauspielerinnen in recht gewagten Kostümen; aber das eigene Bild sah sie nirgends. Zwar vermutete sie, daß Hajdu sie auf diese Weise von den anderen unterscheiden wolle; allein diese Art des Unterscheidens paßte ihr nicht. Wenn er einen Unterschied machen wollte, so konnte er ja die übrigen Bilder fortwerfen und nur das ihrige allein hinstellen. Dies verbot wahrscheinlich wieder die sogenannte Diskretion. Der bloße Gedanke, daß sich Hajdu ihr gegenüber zu Diskretion verpflichtet hielt, brachte Marie in Wut. Sie hätte selbst nicht zu sagen vermocht, weshalb; doch fühlte sie, daß diese Geheimtuerei etwas Demütigendes und Verletzendes für sie in sich schließe.
Das Mädchen ließ sich im Schaukelstuhl nieder und lauschte nur mit halbem Ohr den Worten Hajdus, der heute von einer ungewöhnlichen, fast nervösen Gesprächigkeit war. Er erklärte ihr eine neuartig konstruierte Zündvorrichtung, die aber nichts weiter war, als ein sinnreich ausgedachtes Spielzeug. Das Mädchen hörte ihm zu und ward dabei von Zeit zu Zeit von einem leichten Schwindel befallen, während solcherlei Gedanken durch seinen Geist zogen: »Zündvorrichtung, Zündvorrichtung! Welch ein sonderbarer Name … Mich interessiert es nicht, denn ich möchte jetzt wissen, was dieser Mann da sagen würde, wenn ich mit einem Male beide Arme um seinen Hals schlingen und sein Haar küssen würde … Soll ich es tun oder nicht? Wahrscheinlich würde auch er mich für ein verworfenes Geschöpf halten … Soll ich? Ja, ich tue es.«
Sie tat es aber nicht, sondern saß mit gelähmten Armen, mit tödlicher Traurigkeit in Blick und Miene, regungslos da. Endlich erhob sie sich.
»Gehen wir; es ist spät geworden!« sagte sie.
Keinen Augenblick wollte sie länger bleiben. Sie ließ sich von Hajdu nach Hause begleiten und gab ihm unterwegs auf seine Fragen kaum eine Antwort. Sie war unmutig, traurig und verbittert.
Derartige unvermittelte Verstimmungen waren übrigens bei ihr seit einiger Zeit an der Tagesordnung. Eben war sie noch heiter und hinreißend liebenswürdig, und schon im nächsten Augenblick war sie stumm und verschlossen. In solchen Momenten war sie zuweilen sogar boshaft bis zur Unausstehlichkeit, und ihr ganzes Wesen verriet das Bestreben, ihren Freund zu ärgern oder zu mindest aus seiner kühlen Ruhe aufzuscheuchen.
Mit einem Wort, sie war verliebt, das mußte ein Blinder sehen.
Zu jener Zeit ereignete sich eine recht unbedeutende Sache, die auf die weitere Gestaltung ihrer Freundschaft indessen von großem Einfluß war. Marie trat in einer neuen Rolle auf und erntete einen stürmischen Beifall; ihr Triumph bereitete ihr indessen keine rechte Freude, weil Hajdu nicht an seinem gewohnten Platze saß. Er wußte ganz genau, welche Wichtigkeit seine Anwesenheit für Marie habe; mit dem richtigen Schwung spielte sie ja nur dann, wenn sie ihren Freund in seiner Prosceniumsloge sah, und trotzdem hatte er fernbleiben können? Was wohl die Ursache sein mochte? Marie wußte, daß Hajdu für diesen Abend zum Diner im Hause einer sehr schönen Frau geladen war. Der junge Mann hatte sich sogar geärgert, daß das Diner mit der Theatervorstellung zusammenfiel, und als ganz selbstverständlich erwähnt, daß er dem Diner fernbleiben werde. Und nun hatte er sich doch eines anderen besonnen!
Im Zwischenakt hörte Marie, daß einige ihrer Kollegen nach der Vorstellung eine Singspielhalle besuchen wollten. Zwei unübertreffliche englische Clowns ließen dort ihre Kunst bewundern, prächtige Burschen, die sich gegenseitig Stühle auf den Köpfen zerbrachen. Die mußte man doch sehen und bewundern.
»Ich gehe mit euch!« sagte Marie.
Ihr Anerbieten wurde natürlich mit Begeisterung aufgenommen.
Die Gesellschaft, der sie sich anschloß, gehörte nicht gerade zur Aristokratie des Theaters, und die Singspielhalle, die sie besuchen wollte, erfreute sich eines recht zweifelhaften Rufes, doch Marie, die sich in einer verteufelt heiteren Stimmung befand (im gewöhnlichen Leben nennt man das Galgenhumor!), wollte sich heute abend durchaus amüsieren. Weshalb sollte sie sich nicht amüsieren, da sich doch andere – unter andere war Hajdu zu verstehen – auch amüsierten?
Und so ging sie denn hin und bereute es herzlich. Das Lokal, in welchem ihr federngeschmückter Primadonnenhut nicht geringes Aufsehen erregte, war schmutzig, die Vorstellung geschmacklos und langweilig. Einige junge Magnaten schlossen sich ihrer Gesellschaft an und die langweilten sie noch mehr.
Als sich Hajdu am nächsten Tage in der Wohnung seiner Freundin einfand, traf er Tante Anna allein zu Hause. Diese sagte ihm, daß Marie sofort nach Hause kommen werde, und begann von der gestrigen Orpheumvorstellung zu sprechen, um den Gast zu zerstreuen. Hajdu wollte seinen Ohren nicht trauen, als er hörte, wo und in wessen Gesellschaft seine Freundin heute nacht gewesen. Er selbst hatte nicht ins Theater gehen können, weil seine schlecht geheilte Wunde wieder aufgebrochen war und er sich einer neuerlichen kleinen Operation hatte unterziehen müssen. Er war alles, nur kein sentimental veranlagter Mensch; aber jetzt erinnerte er sich dennoch, daß er diese Wunde, die ihn gestern wieder gezwungen hatte, im Bette zu bleiben, eigentlich doch nur Maries wegen erhalten, und er fand, daß es ein sehr brutaler Zufall – wenn es nämlich ein solcher war – gewesen, der das Mädchen gerade gestern an jenen Ort geführt.
Er war in solchen Unwillen geraten, daß er nicht den Mut hatte, die Rückkehr des Mädchens abzuwarten; er fürchtete, es in seiner Erbitterung zu beleidigen. So begab er sich denn ins Kasino, und der boshafte Zufall fügte es, daß er hier mit einem der jungen Herren zusammentraf, die gestern abend die Orpheumgarde der Diva gebildet. Natürlich konnte der junge Kavalier nicht umhin, den gestrigen, prächtigen Abend zur Sprache zu bringen. Er sprach mit einer gewissen kindischen Prahlsucht, aber im Tone der größten Sympathie, ja sogar Hochachtung von Marie; der Verlauf der ganzen Unterhaltung, namentlich aber die Gesellschaft, in der das Mädchen den Abend verbracht hatte, war jedoch derart kompromittierend, daß Hajdu seine Gereiztheit kaum zu unterdrücken vermochte.
Was für ungeheuerliche Geschmacklosigkeit war das schon wieder? Was drängte Marie dazu, so oft mit sich selbst in Widerspruch zu geraten? Oder hatte sie wirklich so gewöhnliche Instinkte? Wurde sie von einem geheimen Nebenzweck in jene Gesellschaft geführt? War das Mädchen dumm oder schlecht? Wer das zu sagen vermöchte!
Ein merkwürdiger, fast unbegreiflicher Zorn übermannte ihn. Der Zorn, welcher beim Manne zum Verhüllen seiner Beschämung dient. Sonst hatte er keine brutalen Neigungen; aber heute hätte er sich am liebsten durch einen Akt der Roheit Erleichterung verschafft … Vielleicht hätte er seine Freundin sogar tätlich zu beleidigen vermocht … In Wirklichkeit tat er freilich, was Leute seines Schlages in seiner Lage gewöhnlich tun: er ging dem Mädchen aus dem Wege. Drei Tage lang blieb er fern von ihm und seine Briefe beantwortete er mit leeren Ausflüchten. Und dazwischen wurde er ernstlich krank, etwa wie ein Morphinist oder Alkoholiker, der seine schreckliche Leidenschaft zu bekämpfen sucht.
Am vierten Tage fand sich dann Marie bei ihm ein.
Es war fünf Uhr nachmittags, als die Vorzimmerklingel ertönte. Hajdu öffnete selbst die Tür und da sah er nun das Mädchen in weißem Kleide, mit einem großen, blumengeschmückten Hut auf dem Kopfe, in bester Stimmung und strahlender Schönheit vor sich.
»Ich habe bis heute auf dich gewartet,« sagte Marie; »und da du durchaus nicht kommen wolltest, so kam ich her, um nachzuschauen, was denn eigentlich los ist.«
Hajdu gab keine Antwort, sondern wies dem Mädchen einen Sitz an. Wohl zwei Minuten lang blickten sie einander fest an, und während dieser Zeit nahm das Gesicht des jungen Mannes einen immer finsteren Ausdruck an. Er nagte an der Unterlippe und blickte kalt über Marie hinweg, während diese gerührt, lächelnd, zärtlich und einigermaßen verwirrt dem Freunde ins Gesicht blickte.
Dann vermochte sie sich nicht länger zu beherrschen. Sie streckte die Hand über das Tischchen, das zwischen ihnen stand, und erfaßte Hajdus Hand mit starkem, warmem, ehrlichem Druck. Und ebenso starken, warmen, ehrlichen Tones sagte sie zu ihm: »Du bist mir der Singspielhalle wegen böse? Und du hast doch keinen Grund dazu. Ich weiß nicht einmal, weshalb ich dort gewesen. Auf keinen Fall aber deshalb, um mich dort zu amüsieren.«
Hajdu blickte dem Mädchen ins Auge und empfing mit einem Male den Eindruck, daß Marie lüge … Ja, sie log. Das Blut schoß ihm zu Kopfe. Er wußte selbst nicht, was er tat, als er die Hand des Mädchens schon von sich gestoßen hatte. Und das hatte er mit solcher Kraft getan, daß es einer tätlichen Mißhandlung gleichkam.
In der nächsten Sekunde hatte sich Marie mit einem Ausdruck süßer Unterwerfung auf dem Gesicht an seine Brust geworfen. Sie umschlang seinen Hals und drückte sein Gesicht an sich, daß ihm fast der Atem versagte. Er hätte sie nicht von sich zu stoßen vermocht, dachte aber auch nicht daran. Fast vergehend vor glückseligem Entsetzen, verharrte er regungslos in den umschlingenden Mädchenarmen, während er mit zitternder Hand selbstvergessen das Haar der jungen Dame streichelte.
Diese befreite sich zuerst aus der Umschlingung. Sie war vor dem niedrigen Sofa, auf dem Hajdu saß, auf den Teppich niedergekniet, und sich zurückbeugend, blickte sie ihm ins Auge, schweigend, mit ernstem Gesicht und ein wenig verschleiertem Blick. Sie handelte dabei sichtlich ganz unbewußt. Ihr Gesicht hatte einen eigentümlichen, fremdartigen, betrübend starren Ausdruck.
Hajdu vermochte das nicht lange zu sehen und fuhr mit der Hand leicht über ihr Gesicht. Die leichte Berührung machte die Starrheit der Züge mit einem Male verschwinden und gab ihnen den gewohnten Ausdruck wieder.
Vielleicht wurde es Marie erst jetzt klar, was sich zwischen ihnen zugetragen, denn ihr Gesicht wurde mit einem Male blutrot, während sie sich verwirrt empor richtete. Das, was ihr jetzt erst klar zu werden begann, wirkte mit solcher Gewalt auf sie, daß sie nicht wußte, was sie tun oder sagen solle. Sie blickte zögernd und unschlüssig auf die Tür und trat dann zum Spiegel hin, um ihr Haar zu ordnen, das tatsächlich ein wenig zerzaust war. Jetzt trat Hajdu auf sie zu und erfaßte ihre Hand mit warmem Druck.
»Tut es dir leid, daß du dich verraten hast?« fragte er mit zärtlichem Vorwurf, aber halb im Scherz.
Marie schüttelte den Kopf.
»Nein,« erwiderte sie leise. »Auch hab' ich ja nichts verraten, was du nicht schon längst gewußt hättest.«
Sie blickte ihn nicht an; doch ein leises, unterwürfiges Lächeln umspielte ihre Lippen.
Hajdu hielt ihre Hand fest und streichelte sie leise. Nun fiel ihr etwas ein: der vorgestrige Abend, den sie in der Singspielhalle verbracht, und plötzlich legten sich ihre Finger mit leidenschaftlichem Druck um die Hand des jungen Mannes.
»Du warst mir des vorgestrigen Abends wegen böse?« sagte sie leisen, eindringlichen Tones. »Doch ging ich nicht hin, um mich zu amüsieren! Mich amüsiert und interessiert gar nichts. Menschen, Dinge und Ereignisse – mir ist alles gleichgültig. Mich interessiert nur das, was für dich Interesse hat, Blasius!«
Sie schwieg, denn sie hatte eigentlich etwas anderes sagen wollen, und der fremde, leidenschaftliche Klang ihrer Stimme erschreckte sie selbst. Dann blickte sie furchtsam, fast erschrocken in das Gesicht des Freundes, während sie seine Hand drückte und preßte. Selbst in der unbewußten Kundgebung ihrer Leidenschaft lag eine gewisse dämonische Kraft.
Hajdu beruhigte das Mädchen, indem er es auf die Lider küßte. Marie ließ sich ohne jedes Widerstreben küssen; doch in derselben Sekunde, da sie die Lippen Hajdus auf ihren Lidern fühlte, schossen ihr schon die Tränen ins Auge. Hajdu sprach zu ihr; doch sie verstand offenbar nicht einmal, was er sagte, denn sie gab keine Antwort auf seine Fragen, sondern lächelte nur, während sie den Freund ununterbrochen anblickte und seine Hand krampfhaft preßte. Die heiße Berührung der Lippen des jungen Mannes hatte sie fast der Sinne beraubt. Sie sah und hörte nicht, ja, sie dachte nicht einmal an etwas, sondern wußte nur das eine, daß es am besten wäre, immer so zu leben oder aber auf der Stelle zu vergehen, was schließlich das gleiche war.
Jetzt trat der Diener Hajdus herein und überreichte seinem Gebieter einen Brief, den der Postbote gebracht. Nun machte Hajdu seine Freundin mit zärtlichen Worten selbst darauf aufmerksam, daß sie nicht länger bei ihm bleiben könne, denn es beginne bereits zu dämmern. Arm in Arm verließen sie das Haus und Arm in Arm traten sie vor Tante Anna hin. Auf den Wunsch der jungen Dame mußte Hajdu zum Nachtessen bleiben und erst nach Mitternacht erhielt er die Erlaubnis, nach Hause zu gehen. Dabei mochten sie kaum sehr wichtige Dinge miteinander zu besprechen haben, denn der Abend verlief in tiefer Stille. Die beiden jungen Menschenkinder blickten einander nur unverwandt an, als könnten sie sich nicht satt sehen aneinander, bis dann Marie ihre Hand über den Tisch hinweg Hajdu entgegenstreckte, der sie nicht mehr losließ.
Nachdem Hajdu gegangen war, wollte Marie zu Bett gehen; doch verflossen wohl noch zwei Stunden, bis sie die Kerze auslöschte, denn sie versank immer wieder in Nachdenken. Einmal seufzte sie tief auf, und aus ihrem Sinnen emporschreckend, stieß sie gegen ein Möbelstück an. Aber selbst der Schmerz, den sie dadurch empfand, war unaussprechlich süß.
Hajdu begab sich inzwischen langsam nach Hause. Er wollte nicht ins Kasino gehen, denn er fürchtete, daß er dort wieder jemanden antreffen werde, der über Marie zu sprechen beginne.
Am nächsten Abend sah er seine Freundin im Theater wieder. Vor Beginn der Vorstellung suchte er sie in ihrer Garderobe auf; doch konnten sie inmitten des hastigen Treibens, das hier immer herrschte, kaum ein paar Worte miteinander wechseln.
»Tante Anna ist krank, und du könntest mich nach der Vorstellung nach Hause begleiten,« sagte das Mädchen. »Doch komm auch nach dem ersten Aufzug herauf, denn da habe ich eine halbe Stunde frei … Wir werfen alle Leute hinaus und werden miteinander plaudern …«
Als er im Zwischenakt hinaufging, schickte Marie ihre Ankleiderin fort, indem sie sagte, sie möge in ihre Wohnung eilen und von Tante Anna den schwarzen Spitzenfächer verlangen … Dann verschloß sie die Tür des kleinen Gemaches und trat mit lächelndem, glückstrahlendem Gesicht und ausgebreiteten Armen auf ihren Freund zu. Ihr Gesicht und die entblößten Arme waren geschminkt, und ihr Haar verbreitete einen starken Duft. Sie erschien ihm überraschend fremdartig und begehrenswert wie noch nie. Das Auge blitzte, phosphoreszierte förmlich unter den gefärbten Wimpern. Sie küßten sich nicht, sondern neigten sich nur ganz nahe zueinander und blickten sich lange ins Auge. Das Gesicht und die Lippen der beiden dürsteten nach Küssen, doch fanden sie offenbar besonderes Wohlgefallen an diesem Martyrium und blickten sich nach wie vor aus nächster Nähe mit leidenschaftlichem, trunkenem Auge an, das sich allmählich zu verschleiern begann. Eine ganz unerträgliche Hitze herrschte in der Garderobe.
Jetzt klopfte es an die Tür. Der Regisseur machte Marie darauf aufmerksam, daß sie sich für ihre Szene fertig zu halten habe. Das Mädchen machte sich aus den Armen Hajdus los und sagte: »Und nun gehe!«
Dann erfaßte sie seinen Arm und streckte ihm die Lippen zum Kusse hin, worauf sie sagte: »Nun aber gehe wirklich!«
Bis zum Schluß der Vorstellung rührte sich Hajdu nicht aus seiner Loge. Er saß in dem dunkeln Hintergrunde derselben und verfolgte mit sehnsüchtigem Auge jede Bewegung Maries.
Er hatte einen Teil der jüngsten Nacht und den heutigen Tag in tiefem Sinnen verbracht, er hatte darüber nachgedacht, wohin wohl der abschüssige Pfad führen werde, den er mit Marie betreten. Doch jetzt dachte er nicht mehr darüber nach; ja, seine früheren Bedenken erschienen ihm jetzt sogar recht kleinlich. Der Kuß, den er vorhin in der Garderobe erhalten, und der auch jetzt noch auf seinen Lippen brannte, hatte jedem Dilemma ein Ende gemacht. Er hatte eine Empfindung, als risse ihn ein heißer Orkan mit unwiderstehlicher Gewalt mit sich. Wer kann unter solchen Umständen nachdenken? Gleich einem lebenden Meteor stürmt der Verliebte vorwärts, und die ganze Welt bleibt hinter ihm zurück, um in ein Nichts zu versinken. Ein funkelndes Augenpaar ruft ihn in die zur Umschlingung ausgebreiteten Arme; was sich diesseits und jenseits derselben befinde, weiß er nicht und will es auch nicht wissen.
Nach der Vorstellung, als die Straße schon still und ruhig geworden, schlüpften die beiden jungen Leute Arm in Arm zum Tore hinaus.
»Ich bin hungrig, wie ein Wolf,« sagte Marie; »doch wollen wir trotzdem noch nicht nach Hause gehen, sondern einen Umweg über die Ringstraße machen …«
Sie blieb vor einer Laterne stehen und wendete lachend das Gesicht dem jungen Manne zu, indem sie hinzufügte: »Sieh nur, ich bin noch immer geschminkt. Ich beeilte mich so sehr, daß ich mir nicht einmal Zeit nahm, mir das Gesicht abzuwaschen … Na, zu Hause werden wir das Versäumte schon einholen.«
Sie waren in eine enge Seitengasse der Ringstraße gelangt, in der außer ihnen beiden keine Sterbensseele zu sehen war.
»Wohin gehen wir?« fragte das Mädchen.
Hajdu blieb stehen und blickte Marie an. Dann erwiderte er: »Zu mir.«
In der nächsten Sekunde aber sahen sie sich schon erschrocken, erbleichenden Antlitzes und mit stürmisch pochendem Herzen an. Dann gingen sie schweigend weiter, mit langsamen Schritten und traurig gesenktem Kopf. Hajdu hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt oder die Zunge abgebissen; er hatte die Empfindung, als hätte er eine verhängnisvolle Roheit verübt, die durch nichts mehr gut gemacht werden könne … Nicht jetzt und nicht in dieser Form hätte er das sagen dürfen. Dabei aber bekundete Marie weder Unmut noch Aufregung.
An der Ecke bogen sie nach rechts ein, und zwei Minuten später standen sie vor dem Haustor der Künstlerin.
»Bist du mir böse?« brach Hajdu endlich die tiefe Stille.
»Nein, nein!« Das Mädchen erfaßte die Hand des Freundes und sie an sich drückend, fügte es hinzu: »Ich bin nicht böse und weiß auch nicht, was mit mir geschehen ist … Mein Herz hat sich zusammengekrampft … Verzeihe mir; doch ist eine so furchtbare Traurigkeit über mich gekommen …«
Man sah ihr an, hörte es aber auch an ihrer Stimme, daß es ihr eine große Erleichterung gewähren würde, wenn sie sich so recht von Herzen ausweinen könnte. Sie konnte aber nicht weinen und ihr Auge blieb trocken, während sie den Kopf an die Schulter Hajdus lehnte.
Im Torschloß knirschte der Schlüssel. Der Hausmeister wünschte ihnen guten Abend. Marie reichte ihrem Freunde die Hand, die eiskalt war.
»Gute Nacht, Hajdu,« sagte sie.
Dann stieg sie müden Schrittes die Treppe empor.
Hajdu fühlte, daß er eine schlaflose Nacht verbringen werde und darum begab er sich gar nicht nach Hause, sondern ins Kasino. Eine Weile blätterte er in den Zeitungen des Lesezimmers, dann ging er ins Rauchzimmer und streckte sich auf einem Sofa aus. Er war übler Laune und sehr nervös, als er an die jüngsten Ereignisse zurückdachte. Er wußte, daß er einen großen, vielleicht niemals wieder gut zu machenden, taktischen Fehler begangen habe. Er liebte Marie mit einer Leidenschaft, deren er sich selbst niemals für fähig gehalten hätte; doch hinderte ihn dieser Umstand nicht, sich seine reichen Erfahrungen zunutze zu machen.
Er hatte die Sache also verfehlt. Unter gleichen Umständen genügt ein Nichts – zuweilen bloß ein schlecht gewähltes Wort, oder die falsche Betonung eines Wortes – um die Stimmung zu zerstören. Und die Sache hatte sich doch so prächtig angelassen! Man hätte das Mädchen gewähren lassen müssen; es wäre von selbst gereift gleich der am Zweige hängenden Orange, die in die hingehaltene Hand fällt …
Hajdu konnte seinen Gedanken nicht länger nachhängen, weil einer seiner Freunde ins Zimmer trat.
Es war zufällig sein bester Freund, dessen Gegenwart ihn stets angenehm berührte. Im übrigen ein ziemlich leichtlebiger Mensch, dabei aber gutmütig und liebenswürdig. Er mochte einem feierlichen Diner beigewohnt haben, denn er war noch im Frack und offenbar in Champagnerstimmung. Schon im Theater, wohin er nur während des letzten Aktes gelangt war, hatte er sich ziemlich auffallend benommen.
»Sieh da, Blasius!« rief der Eintretende aus. »Sei mir gegrüßt, du beneidenswertester Mensch des Jahrhunderts!«
»Weshalb beneidest du mich?« fragte Blasius.
Der angeheiterte junge Mann zuckte die Achseln.
»So betrunken bin ich denn doch nicht, um dummes Zeug zu schwatzen … Genug, daß ich dich beneide! Heute abend im Theater kam mir das in den Sinn …«
Er setzte sich nieder, zündete sich eine Zigarre an und schwatzte weiter.
»Nein, ich beneide dich doch nicht! Meiner Treu nein! Ich hab' dich lieb, und wäre ich ein Frauenzimmer, so gäbe ich auch dir den Vorzug und nicht mir … Du bist ein Mann, der sich seines Wertes bewußt ist und kein so sentimentaler Esel wie ich …«
»Weshalb bist du ein Esel?« fragte Hajdu mit mäßigstem Interesse.
»Weil ich ein Esel bin!« erklärte der andere mit verblüffender Einfachheit. »Du aber bist keiner! Die Leute mögen schwatzen, was sie wollen, du wirst ihnen die Freude nicht bereiten, das Mädchen zu heiraten. Heute erst habe ich zu Tatáry gesagt: ›Du kennst Hajdu schlecht! Der begeht keine Dummheit, über ihn werdet ihr nicht lachen!‹«
Der in weinseliger Laune befindliche Mann wurde ernst und fuhr sentimentaleren Tones fort: »Siehst du, ich bin ein ganz anderer Mensch! Ich lege die Hand aufs Herz und gestehe rückhaltslos: Ich würde sie heiraten! Ich will damit nicht gesagt haben, daß ich sie heiraten will; doch wenn ich die Hand aufs Herz lege, so muß ich gestehen, daß ich sie heiraten würde! Daß ich ein Esel bin, sage ich aber deshalb, weil Leute wie ich am besten tun, wenn sie sich eine Kugel durch den Kopf schießen.«
Der junge Herr hatte einmal zur Leibgarde der Diva gehört; auch jetzt war er noch ihr begeisterter Verehrer, zumal, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte.
Aus dem Geschwätz seines Freundes verstand Hajdu so viel, daß er in den Klatschereien der Leute bereits für den Bräutigam der Künstlerin angesehen werde. Sollte die Sache mit einer Heirat endigen? Weshalb gerade mit einer Heirat? Dies war ein Thema, mit dem er sich in seinen einsamen Stunden nicht gern beschäftigte. Eine Heirat! Davon konnte überhaupt keine Rede sein! Ob die niederträchtigen Gerüchte, die man von ihr ausgesprengt hatte, der Wahrheit entsprachen oder nicht, Tatsache war, daß man Marie lieben, verehren, daß man für Marie sterben, aber sie nie und nimmer heiraten konnte. Hierüber war Hajdu schon längst mit sich schlüssig geworden; debattieren konnte man darüber nicht mehr. Es war aber auch gar nicht nötig, daß man sich mit dieser Frage beschäftigte. Ihre freiheitsliebende, die leeren Formalitäten verabscheuende Künstlerseele kümmerte sich um die Logik der spießbürgerlichen Liebe sicherlich ebensowenig, wie er selbst.
Am nächsten Tage fand sich Hajdu schon zur Mittagsstunde bei seiner Freundin ein. Sie war allein in ihrem Zimmer und als er sie an sich ziehen wollte, bot sie ihm wortlos die Stirne zum Kuß. Marie war ernst und ein wenig zerstreut; man merkte ihr an, daß sie nur wenig oder schlecht geschlafen habe. Hajdu, der nicht sehr gesprächig aufgelegt war, saß schon eine ziemliche Weile schweigend vor ihr, als sie mit einem Male zu seinem nicht geringen Erstaunen die Frage an ihn richtete: »Sage mir aufrichtig, mein teurer Freund, hältst du mich für unwürdig, mich zu deiner Gattin zu machen?«
Der Angriff – wenn eine sanften, leisen Tones gestellte Frage als solcher bezeichnet werden kann – war ein so unerwarteter und rückhaltloser, daß Hajdu keine Antwort fand. Überrascht blickte er auf das Mädchen; als er aber erkannte, daß er diese Frage beantworten müsse, erkannte er auch, welche Bedeutung seine Antwort haben könnte.
»Welch eine Frage, Marie!« sagte er. »Kann es denn einen Mann geben, dessen du unwürdig wärest?«
»Sprichst du aus Überzeugung?« forschte sie.
»Ich pflege nicht zu lügen!« erwiderte Hajdu.
Offenbar hätten hundert andere Männer an Hajdus Stelle ebenso geantwortet, zumal man nur sehr schwer anders zu antworten vermocht hätte; Marie war aber noch unerfahren genug, um sich mit dieser Antwort zu begnügen. Übrigens hatte sie Hajdu mit dieser absonderlichen Einleitung nicht zu einer Erklärung zwingen, sondern selbst eine Art Erläuterung vorbereiten wollen.
»Weißt du, Blasius,« sagte sie; »ich habe selbst schon darüber nachgedacht, daß man mich vielleicht nicht heiraten möchte! Man hat doch schon so viele Dinge über mich gesprochen … Dann aber fiel mir wieder ein, daß du dich durch das viele Gerede doch nicht wirst irreführen lassen. Ich glaube, daß ein Mann wie du mir an den Augen absehen kann, daß ich nicht die bin, für die man mich verschreit …«
Sie schwieg und obschon ihr Gesicht blutrot wurde, blickte sie dem jungen Mann fest ins Auge. Und der Ausdruck ihrer schönen, grauen Augen war wirklich mädchenhaft ruhig, ein wenig furchtsam, aber kristallrein. Wie ganz anders war sie ihm damals in ihrer Garderobe erschienen!
Dieser Auftritt, der keinen eigentlichen Abschluß hatte, da Hajdu nicht wußte, was er Marie antworten solle, änderte nichts an dem Verhältnis der beiden. Sie warteten weiter, ohne recht zu wissen, worauf.
Dies waren die schönsten Tage, die das Mädchen genoß. Marie war liebreizend, geheimnisvoll und herrlich wie die taufeuchte Rosenknospe, die des Aufgangs der Sonne harrt.
Eine Veränderung hatte sich dessenungeachtet zugetragen. Seitdem das Wort »Heirat« über die Lippen des Mädchens getreten, wollte es den jungen Mann bedünken, als dächte die ganze Welt auch nur daran. Im Kasino und auf der Straße, im Theater und in der Gesellschaft begann man sich auffallend eifrig mit akademischen Debatten über das Heiraten zu beschäftigen. Es war übrigens nicht ganz ausgeschlossen, daß seine Phantasie hauptsächlich die Schuld daran trug, wenn er im Grunde genommen ganz harmlose Bemerkungen auf sich bezog.
Im Kasino plauderten zwei Herren miteinander. Der eine gab seiner Meinung mit den Worten Ausdruck: »Ein kluger Mann? Gibt es denn kluge Menschen in der Liebe? Gibt es denn eine Tollheit, die der Verliebte nicht glauben würde, und gibt es eine Scheußlichkeit, die er nicht zu verzeihen geneigt wäre? Rousseau heiratete seine Köchin und Goethe seine Wirtschafterin … Und waren das keine klugen Menschen?«
»Sollte das auf mich abgemünzt sein?« fragte sich Hajdu, während er aus dem Zimmer ging.
In der Bibliothek, in die er jetzt seine Schritte lenkte, gab der Kasinophilosoph, ein galliger, alter Junggeselle, seine jedenfalls sehr eigentümliche Theorie über die Frauen zum besten. Es schien, als sollten seine Worte auch direkt Blasius gelten.
»Die Frauen,« so dozierte er, »sind sich alle gleich; sie sind weder gut noch schlecht. Nur die Gelegenheit macht sie zu dem einen oder dem anderen. Sie sind sich alle so gleich, daß es sich nicht verlohnt, die eine der anderen zuliebe zu verlassen; so gleich, daß man eine jede der anderen zuliebe vergessen kann …«
Dann wieder ließ die Schwester Hajdus, die verwitwete Baronin, eine Sentenz verlauten, die ihn stutzig machte.
»In gewissen Dingen sind die Männer wie die Kinder,« behauptete sie. »Eine geschickte Frau kann ihnen alles weismachen … aber auch alles!«
»Glaubst du?« fragte Blasius.
»Ich weiß es!« erklärte die Witwe im Brusttone der Überzeugung.
»Und wer ist diese geschickte Frau?« forschte ihr Bruder.
»Wer? Ich glaube, daß jede Frau geschickt ist …«
Hatte das eine Anspielung sein sollen? Wer könnte es sagen? Sicher war einmal, daß sie die Frauen gewiß sehr gut, und einigermaßen auch die Männer kennen mochte.
Ein paar Tage lang dachte Hajdu darüber nach, auf welche Weise er dieser unangenehmen Situation wohl ein Ende machen könnte, als er mit einem Male die Wahrnehmung machte, daß es mit der Vorsicht schon zu spät sei. Er konnte einer Heirat nicht mehr entrinnen. Selbst wenn er in diesem Bund einen moralischen Schiffbruch erblicken wollte, konnte er den Rückzug nicht mehr antreten. Zwar hatte er dem Mädchen kein formelles Versprechen gegeben; doch konnte er ihm keine Enttäuschung mehr bereiten, wenn er nicht als Feigling oder Lügner dastehen wollte. Auf welche Weise sich die entscheidende Wendung vollzogen hatte? Die Antwort auf diese Frage wird Hajdu wohl niemals finden. Tatsache war, daß die Dinge so und nicht anders standen. Gestern wäre ein Rückzug vielleicht noch möglich gewesen, heute aber nicht mehr. Sein Gewissen sagte ihm, daß es nicht mehr möglich sei und das Gewissen trügt nicht. Langsam und unbemerkt war der Übergang vor sich gegangen und als er nunmehr zum Bewußtsein dessen erwachte, daß er einen Pfad betreten, auf welchem ein Weiterschreiten nicht rätlich erscheine, konnte er sich nicht mehr zurückwenden.
Selbst wenn er annehmen wollte – was nicht einmal ausgeschlossen war – daß das Mädchen diese für sie so günstige Wendung mit schlauer Berechnung herbeigeführt habe, konnte er sich auch nicht mehr aus den Fäden des geschickt gesponnenen Gewebes befreien. Hatte er es gewollt, so teilte er das Schicksal des George Dandin; hatte er es nicht gewollt, so war er der betrogene Betrüger. Er war an dem Ausstellen eines falschen Wechsels mit beteiligt und mußte ihn selbst um den Preis des eigenen Lebensglückes einlösen.
Bemerkt möge hier werden, daß Marie keine Ahnung von alledem hatte, was Hajdu zu dieser Zeit insgeheim beschäftigte. Sie sah nur, daß der Geliebte bald traurig, bald nervös war, und dies erschreckte oder veranlaßte sie zu liebevollen, leidenschaftlichen Klagen. Im übrigen war sie kurzsichtig, wie jedes liebende junge Mädchen. Sonst war auch in dem Verhalten der Künstlerin eine große Veränderung zu bemerken; das sinnliche Feuer, welches die ersten Kundgebungen ihrer Liebe so stürmisch und doch so süß gestaltete, beunruhigte sie in der letzten Zeit nicht mehr. Statt dessen war die ständige Rührung der kleinbürgerlichen Bräute, die bekannte Ostersonntagsstimmung der deutschen Familienromane an ihr wahrzunehmen, die sie veranlaßte, mit Hajdu so unterwürfigen und dankbaren Tones zu sprechen, als wäre er ein höheres Wesen, und sich der ganzen Welt gegenüber als gutes, sanftes Geschöpf zu betätigen.
Oft stimmte sie Hajdu durch ihr Gebaren ganz sentimental. In solchen Augenblicken fühlten sie sich einander sehr nahe und verstanden sich gegenseitig aufs beste.
Dann aber kam der junge Mann wieder auf sehr merkwürdige, ja sogar törichte Einfälle. Eine heimtückische Frage, die sich immer wieder hervorwagte, drängte sich ihm auf: »Was mochte wohl unter dem tränenfeuchten Auge und dem süßen, gerührten Lächeln verborgen sein?« Er hatte sie auch auf der Bühne bereits lächeln, weinen, toben und jauchzen gesehen und sie war dort nicht minder ergreifend, wahr und überzeugend gewesen … Was verbarg sich also in Wirklichkeit unter ihrem jetzigen Wesen? Die Unschuld eines Mädchens oder die raffinierte Kunst des Weibes? Sie hatte die Unschuld wie die Verderbtheit, die keusche Jungfräulichkeit wie den sinnlichen Taumel mit der gleichen Virtuosität auf der Bühne dargestellt. Nur dargestellt? Nein! Mit der entsetzlichen Chamäleons-Seele der wirklich gottbegnadeten Künstlerin hatte sie all dies in Wirklichkeit auch empfunden. Wenn sie auf der Bühne weinte, so vergoß sie echte Tränen. Ihr eingebildeter Seelenschmerz machte sie tatsächlich erblassen. Und war sie nicht wirklich verderbt, wenn sie die Verderbtheit des Weibes darzustellen hatte? Wer konnte also behaupten, daß sie jetzt, da sie unschuldig sein wollte, der Sicherheit halber sich nicht der artistischen Hilfsmittel bediente, die sie auf der Bühne bei der Darstellung der Unschuld als zuverlässig erkannt hatte? Wahrheit und Lüge, Leben und Bühne gleichen sich in so erschreckender Weise. Wo endet das eine und wo beginnt das andere?
Gleich den meisten Männern, die der guten Gesellschaft angehören und die von anständigen Müttern erzogen wurden, hatte auch Hajdu zwei voneinander scharf abweichende Ansichten von den Frauen. Die eine – möglichst liberale – Auffassung bezieht sich auf die große Masse der Frauen; die zweite – die möglichst strenge und spießbürgerliche – auf die Frauen, die der eigenen Familie angehören. Die Männer solcher Art sind als Junggesellen gewissenlos, als Gatten aber unduldsam. Es versteht sich von selbst, daß solche Männer eine besondere Neigung zur Eifersucht haben, noch dazu zur gefährlichsten Art der Eifersucht, jener nämlich, die rein der Eitelkeit entspringt. Das Bewußtsein, daß viele Tausende von Menschen – ein jeder, der seinen Gulden als Eintrittsgebühr bezahlt hatte! – seine zukünftige Gattin im Trikot und tief ausgeschnittenen Kleide gesehen, demütigte Hajdu beinahe mehr, als die scheußliche Erinnerung an die von Tatáry heraufbeschworenen Klatschereien. Und diese Klatschereien, die er in Zukunft nicht mehr mit seiner gewohnten vornehmen Arroganz totschweigen konnte und für die er würde eintreten müssen, verbitterten ihn viel mehr, als er vor sich selbst eingestehen wollte. So unverdient auch die Angriffe gewesen, die man seiner Zeit gegen Marie gerichtet – vor dem Richterstuhl des eigenen Gewissens konnte Hajdu das Mädchen nicht freisprechen. Wenn es auch nichts weiter verschuldet hatte, kokettiert hatte es dennoch mit Tatáry, so gut wie mit einem Dutzend anderer Männer. Viele erblicken in dieser Art der weiblichen Koketterie nichts anderes, als ein bedeutungsloses Nichts, im schlimmsten Falle einen ungebührlichen Scherz; allein Hajdu gehörte nicht zu diesen Leuten. In dem vornehmen Kastell auf dem Lande, wo er herangewachsen war und wo die Frauen noch an den übertriebenen Sitten und Gebräuchen eines patriarchalischen Zeitalters festhielten, dort huldigte man der Ansicht, daß die unlauteren Wünsche, mit denen ein Weib in Berührung kommt, es förmlich brandmarken. Die Seele des Weibes sei rein und klar wie ein Kristallkelch; hat sich einmal der Hauch eines fremden Atems auf ihm niedergelassen, so zerbricht ihn sein empfindlicher Herr und führt ihn niemals wieder an die Lippen. Hajdu erschauerte förmlich, wenn er sich vergegenwärtigte, daß Marie, die Soubrette, seit geraumer Zeit sozusagen den Beruf habe, solcherlei Wünsche zu wecken und zu nähren. Seine zukünftige Gattin stand in den Diensten dieser Kunst. –
Der alte Atalay war wieder einmal in Budapest aufgetaucht. Seine Tochter suchte er natürlich nicht auf; doch Hajdu beglückte er mit seinem Besuch. Die unfreiwillige Muße und die bürgerliche Lebensweise hatten den General sehr mitgenommen; er war in des Wortes strengstem Sinne ein alter Mann geworden. Im übrigen machte er Hajdu gegenüber kein Hehl daraus, daß es mit seinen Angelegenheiten recht schlecht bestellt sei. Ein paar lumpige Schulden verbitterten ihm das Leben; er schleppe dieselben mit sich, wie der Gefangene die an seinen Fuß geschmiedete Kette. Er vermochte sie nicht abzuschütteln, sich nicht von ihr zu befreien; das Leben sei ihm eine wahre Hölle geworden … Auch äußerlich gaben sich Überdruß und Geldnot an dem alten Herrn zu erkennen; der glänzende Kavalier hatte sich sehr schnell in einen vernachlässigten, absonderlichen, schlecht rasierten und verbitterten Menschen verwandelt. Hajdu hatte er auch nur aufgesucht, um von ihm Geld zu verlangen.
»Vielleicht kann ich es dir noch zurückzahlen,« sagte er; »vielleicht auch nicht … Ich glaube selbst eher das letztere. Weiß der Teufel, ich habe bereits alles Vertrauen zu meinem Stern verloren.«
Die beanspruchte Summe war nicht unbedeutend; doch lebte Hajdu in solchen Vermögensverhältnissen, daß er sich den Luxus erlauben konnte, einer der Gläubiger des Generals von Atalay zu sein. Die Wiener Gläubiger des Herrn von Atalay mochten tatsächlich äußerst unangenehme Leute sein, denn kaum hatte der alte Herr von Hajdu das Geld erhalten, als er es sofort per Post an den Wiener Rechtsanwalt schickte, den er unter allen Anwälten der Welt am meisten haßte. Dann verbummelte er noch einige Tage in der ungarischen Hauptstadt, obwohl er hier doch gar nichts mehr zu tun hatte. Am Abend traf er mit Hajdu gewöhnlich im Kasino zusammen, wo sie, wie es sich für richtige Pensionisten gebührt, friedlich miteinander Schach spielten. Während einer solchen Schachpartie traf es sich, daß Tatáry, der sich seit einiger Zeit wieder in Budapest aufhielt, wo er in der Hoffnung auf die zu schließende Millionenheirat eine sehr kostspielige Lebensweise – vor der Hand natürlich auf Kredit – führte, mit einigen Herren in den Saal trat. Der einstige Obergespan, der seine volle, markige Tenorstimme gerne hörte und tatsächlich eine gewisse angenehme Rednergabe besaß, erläuterte seiner Gewohnheit nach schon wieder einen akademischen »Fall.« Er sprach ja mit besonderer Vorliebe von den vornehmen Pflichten des Kavaliers, und im Zusammenhange damit von Mut, taktvoller Verschwiegenheit und den sonstigen modernisierten Institutionen der ritterlichen Zeiten. Bei solchen Gelegenheiten erzählte er einige seiner Erlebnisse, oder er stellte komplizierte Probleme auf. Wie müsse sich – so lautete dann seine Frage – der richtige Kavalier benehmen, wenn er in diese oder jene Lage gerät.
»Nehmen wir an,« sagte er heute, »ein Kavalier habe mit einer Dame ein Verhältnis gehabt … Nehmen wir ferner an, ein nach jeder Richtung hin tadelloser Gentleman, der obendrein der gute Freund des betreffenden Herrn ist, wolle diese Dame zu seiner Gattin machen … Welche Pflicht erwächst dem Kavalier nunmehr? Muß er seinem Freunde die Augen öffnen oder muß er schweigen? Hat er der Stimme der Freundschaft oder der Ritterlichkeit Gehör zu schenken?«
Da sich unter den Anwesenden niemand für derartige Probleme erwärmte, konnte Tatáry ohne Störung den von ihm eingenommenen Standpunkt erläutern, der in der Forderung einer unbedingten ritterlichen Verschwiegenheit gipfelte.
Hajdu war unwillkürlich Ohrenzeuge der Worte des einstigen Obergespans gewesen und starrte jetzt mit leichenblassem Gesicht auf das Schachbrett vor sich nieder … Die Figur, die er soeben erfaßt, zitterte wahrnehmbar zwischen seinen Fingern.
»Was ist dir, Blasius?« fragte Atalay.
Hajdu gab keine Antwort.
Tatáry weilte bereits im dritten Zimmer. Sicherlich hatte er keine Ahnung davon, daß seine Worte von vorhin dem jungen Manne einem scharfen Messer gleich ins Herz gedrungen waren. Er hatte ihn nur ein wenig ärgern wollen, wie das unreife und ruhelos veranlagte Menschen gern tun, für die der Ärger anderer Personen eine wahre Wonne bedeutet. Auch ihm waren die Gerüchte von der Verlobung zu Ohren gekommen, und da hatte er das Bedürfnis empfunden, nach seiner Art in der Sache mitzusprechen. Er hatte sich dazu die denkbar bequemste Form gewählt; eine Form, die von vornherein alle Erklärungen und Mißverständnisse zuließ.
Herr von Atalay war ein zu kluger Mann, als daß er nicht auf der Stelle wahrgenommen hätte, daß zwischen der akademischen Geschmacklosigkeit Tatárys und der Aufregung Hajdus ein gewisser logischer Zusammenhang existiere. Zwar konnten ihm die vorhergegangenen Ereignisse nicht bekannt sein; doch ahnte er instinktiv, daß dieselben so diskreter Natur seien, daß sie Hajdu in seiner freien Willensäußerung behinderten. Der richtige Mann errät das sehr schnell; die Dinge haben ihre besondere Schablone, nach der sie zugeschnitten werden.
Der alte Herr empfand das Bedürfnis, der Sache auf den Grund zu dringen. Nicht etwa aus Neugierde, sondern aus Interesse. Auch sonst sympathisierte er ganz ungemein mit seinem jungen Freunde, und seitdem ihm dieser ein solches Entgegenkommen bewiesen hatte, zerbrach sich Atalay fortwährend den Kopf darüber, auf welche Weise er seinen Dank wohl abstatten könnte. Nun bot sich ihm eine günstige Gelegenheit. Es war augenscheinlich, daß Tatáry dem jungen Hajdu unangenehm zu sein bemüht war, und Blasius war – sicherlich nicht ohne triftigen Grund – genötigt, das schweigend hinzunehmen. Es gibt schon so verzwickte Lebenslagen! Zu solchen Zeiten ist das Dazwischentreten eines taktvollen Freundes geradezu unbezahlbar. Atalay fühlte große Lust und Neigung dazu, die Rolle dieses taktvollen Freundes durchzuführen. Hajdu zuliebe war er bereit, mit Tatáry Händel zu suchen. Er würde den Schwätzer zum Schweigen bringen, den Lästigen entfernen und ihm aus purer Gefälligkeit sogar sechs Zoll kaltes Eisen in den Leib bohren. Wenn der alte Eisenfresser dies nicht verstehen sollte, was dann sonst? Eine Taktlosigkeit wollte er sich aber dessenungeachtet nicht zuschulden kommen lassen, und darum mußte er erst Klarheit über den Sachverhalt haben, bevor er sich zu etwas entschloß. Von Hajdu konnte der Alte, wie er wohl wußte, keine Aufklärung verlangen; wohl aber von anderen Leuten.
Atalay versicherte sich eines »guten Freundes,« mit dem er seit zwei Jahren regelmäßig Tarock spielte, dessen Namen er aber nicht kannte. Der gute Freund ahnte aber seinerseits wieder nicht, daß der verwegene alte Herr, der beim Spiel stets Kontra sagte, der Vater der Irma Talay sei.
»Was geht denn zwischen Hajdu und Tatáry vor?« fragte der alte Herr, der auf Umwegen niemals Bescheid gewußt hatte.
»Habe keine Ahnung,« gab der vorsichtige Tarockpartner zur Antwort. »Die Leute sagen, Hajdu wolle heiraten; doch weiß ich nicht, was Wahres an der Sache ist … Einmal hatte er sogar schon ein Duell mit Tatáry; doch kenne ich die Sache nur vom Hörensagen …«
Einmal hatte er schon ein Duell mit Tatáry? Ach ja! Obschon Atalay seiner Zeit sich die Ohren zugehalten und die Augen geschlossen hatte, um nichts von alledem zu hören und zu sehen, was über seine Tochter geschrieben und gesprochen wurde, war er von allem trefflich unterrichtet. Aus Bequemlichkeit hatte er von den Dingen keine Kenntnis genommen, denn das war ja nur Geschwätz gewesen, das für ihn kein Interesse hatte; nunmehr erinnerte er sich aber ganz genau an alles, um sich den zwischen Tatáry und Hajdu bestehenden Zwist erklären zu können.
Auf dem Wege der Logik gelangte der alte Herr, der nur selten, über unangenehme Dinge aber niemals nachdachte, mit einem Male an einen Punkt, an den er am allerwenigsten zu gelangen gewünscht hätte … Er erinnerte sich an all das, was man vor nicht zu langer Zeit von seiner Tochter gesprochen, daß sie nämlich erst die Geliebte Tatárys gewesen, nunmehr aber die Hajdus sei. Bisher hatte er von diesem Geschwätz, von dem er auch keine »amtliche Kenntnis« besaß, keinerlei Notiz genommen. Als er sich jetzt aber sagte, daß er von Hajdu Geld verlangt und erhalten habe, von demselben Hajdu, den man mit seiner Tochter in einem Atem nannte – o, bei diesem schrecklichen, abscheulichen Gedanken geriet er mit einem Male in wilde Wut, wie der Stier beim Anblick des roten Tuches. Nun war die Reihe an ihm, um zu erbleichen und mit blutunterlaufenen Augen um sich zu blicken … Obschon alles in allem nicht übertrieben gewissenhaft, verstand der Alte in Bezug auf die sogenannte Klubehre keinen Scherz. Wie in den meisten Menschen wohnten auch in ihm mehrere, sagen wir zwei Seelen. Die eine war die Seele des leichtfertigen Kumpans, des Frauenverführers und Spielers, kurz des Glücksjägers, der alle Veranlagung zum Versumpfen hat. Die zweite war die des Gentlemans, des kein Feilschen duldenden Kavaliers, des Fanatikers der Ehre. Wirklich schienen in dem Manne die Seelen zweier Menschen zu wohnen; er war genußsüchtig und puritanisch, verdorben und naiv wie ein Kind, verworfen und erhaben. Die zwei Seelen, die des Kavaliers und des Taugenichtses, standen natürlich auf ständigem Kriegsfuße miteinander. Jetzt hatte wieder einmal die erste die zweite angefallen, hatte sie gleichsam an der Kehle gepackt, aus ihrer gleichgültigen Ruhe aufgerüttelt und schrie ihr ins Ohr: »Unglücklicher, wohin ist es bereits mit dir gekommen? Was ist aus dir geworden? Der tapfere Soldat, der allenthalben bekannte stolze Kavalier ist zum alten Alfanz herabgesunken, der sich von dem Verehrer seiner Tochter ein Nachtessen bezahlen läßt. Heute schweigst du noch und drückst die Augen zu; doch morgen wirst du schon selbst mit ihm über deine Tochter verhandeln.«
»Ich will Klarheit haben! Klarheit!« sagte sich der General.
Und damit begab er sich im Sturmschritt zu ihr, der einzigen Person, von der er wußte, daß er die Wahrheit erfahren werde: zu Marie.
Zweimal war Atalay schon vergebens in der Wohnung seiner Tochter gewesen, ohne sie zu Hause anzutreffen; beim dritten Besuch traf er sie endlich an. Marie befand sich in keiner rosigen Stimmung; seit zwei Tagen schon hatte sie keinerlei Nachricht von Hajdu, und dies verwirrte und beunruhigte sie. Zu ihrem nicht geringen Staunen sah sie jetzt ihren Vater bei sich eintreten und erfreut rief sie aus: »Papa!«
Der Alte nahm die Hand an, die sie ihm entgegenstreckte, und ließ sich sogar von seiner Tochter küssen. Der ungewöhnlich ruhige und ernste Ausdruck seines Gesichts erschreckte sie aber.
Erst als Tante Anna hinausgegangen war und sie miteinander allein gelassen hatte, begann Atalay zu sprechen.
»Als ich zum letztenmal hier gewesen, schieden wir in Zorn voneinander,« sagte der Alte. »Ich bin nun gekommen, um dich zu versöhnen. Sollte ich dich verletzt haben, so bin ich bereit, dich um Verzeihung zu bitten …«
»Aber, Papa!« fiel ihm Marie ins Wort.
Verwundert blickte sie den Alten an. Sie glaubte zuerst, er wolle nur spotten; dann aber mußte sie sich überzeugen, daß Atalay im Ernste spreche.
»Unsere Wege haben sich gänzlich voneinander getrennt,« fuhr der General fort. »Du hast dich unabhängig gemacht und lebst nach eigenem Gutdünken. Mir ging das sehr nahe, da in unserer Familie derlei bisher nicht Sitte gewesen; doch sehe ich nunmehr ein, daß mein Protest ungerecht gewesen. Ich nehme auch die Theorie an, daß du ein Recht an das Leben oder daran hast, was du Leben nennst … Du hast meinen Namen abgelegt, hast jeden Verkehr mit meiner Familie abgebrochen, verlangst und benötigst von uns weder Hilfe noch Schutz; ich müßte also sehr ungerecht sein, wenn ich noch irgend welchen Anspruch an dich erheben wollte.«
»Aber, Papa, was soll das alles?« fragte Marie, von diesen Worten sehr unangenehm berührt.
»Du wirst sofort begreifen. Wir sind also einig darin, daß wir einander keine Hindernisse in den Weg legen. Jedes von uns möge nach eigenem Gutdünken, nach seinem eigenen System und Ermessen leben. Habe ich recht? Du hast gewisse Lebensbedingungen; ich habe sie auch. Zu meinen Lebensbedingungen gehört auch das, was man gewöhnlich mit dem Namen Ehre bezeichnet. Ich will nicht den innerlichen Wert derselben abwägen; da ich aber mit ihr alt geworden bin, so möchte ich sie auch in Zukunft nicht gerne entbehren, zumal ich bis zu einem gewissen Grade auch ein Gewohnheitsmensch bin …«
Bei den letzten Worten, die sehr bitteren Tones gesagt worden waren, hob Marie den Kopf, wobei sie die Brauen runzelte.
»Und wer will dich dessen berauben, was man gewöhnlich mit dem Namen Ehre bezeichnet?« fragte sie mit einer gewissen Geringschätzung in Blick und Miene.
»Seiner Ehre kann man sich nur selbst berauben,« gab Atalay zur Antwort. »Ich weiß nicht – um ganz aufrichtig zu sein – ob ich heute noch ein anständiger Mensch bin oder nicht … Ich könnte es aber erfahren, wenn du mir eine Frage wahrheitsgemäß beantworten wolltest.«
»Und wie lautet diese Frage?« forschte das Mädchen, dessen Nervosität immer höher stieg.
»Höre mich an,« fuhr der General fort; »ich werde dir berichten, wie sich die Dinge verhalten … Ich befand mich wieder einmal in Geldverlegenheit und mußte mich an die Freundlichkeit eines reichen Freundes wenden, um mir aus der Verlegenheit zu helfen. Mein Freund gab mir die verlangte Summe ohne Widerrede. Später erwachten aber Zweifel in mir darob, ob ich wohl richtig zu Werke gegangen … Der gute Freund, von dem die Rede ist, war nämlich Blasius Hajdu.«
Atalay blickte seine Tochter bei diesen Worten durchdringend an. Wie er auch über sie denken mochte, des einen war er sicher, daß sie in Geldsachen ebenso empfindlich und vornehm denke, wie er selbst.
Als er den Namen Hajdus nannte, war Marie blutrot im Gesicht geworden. Sie fuhr von ihrem Stuhl empor und schlug mit der Hand ärgerlich auf den Tisch, indem sie sagte: »Was fiel dir ein! Von Hajdu hast du Geld verlangt? Wenn du in Verlegenheit warst, weshalb hast du dich nicht an mich gewendet?«
Der General aber wurde leichenblaß.
»Es ist also wahr? Du liebst ihn?« rief er aus.
Der Schrecken hatte ihn förmlich gelähmt, und seiner Tochter hatten Scham und Zorn alle Selbstbeherrschung geraubt. Wie peinlich und demütigend war es doch, daß der Alte die Geldfrage mit ihrem Liebesidyll verquickt hatte! Was mußte sich Hajdu wohl denken? Wenn Atalay Geld benötigte, weshalb wendete er sich nicht an sie, Marie?
»Du liebst ihn also?« rief Atalay noch einmal aus.
Dieser überlegene, strafende Ton brachte das Mädchen in Zorn.
»Ja, ich liebe ihn!« erklärte es. »Und wenn ich ihn liebe, so ist das noch kein Grund für dich, von ihm Geld zu verlangen!«
Ihre Worte besagten gar nichts; doch in ihrer Stimme, in ihrer Miene, namentlich aber in ihrem Blick lag etwas, was den General beruhigte und beschwichtigte. Ein kindlich trotziger Ausdruck, an dem er seine Tochter, seine närrische, aber grundehrliche Marie erkannte. Dieser augenblickliche Eindruck war ein so gewaltiger, daß er mit einem Schlag jeden Verdacht und jede Beschuldigung verstummen machte. Erleichtert atmete der General auf, und dann schlug er den Blick verwirrt zu Boden, als fürchtete er, daß das reine, feste Auge seiner Tochter aus demselben etwas erfahren könnte.
»Du liebst Hajdu und er liebt dich – freilich – jetzt verstehe ich schon! Er will dich heiraten und Tatáry – O, über den Schurken, den jämmerlichen Halunken!«
Atalay erfaßte mit einem Male das Handgelenk seiner Tochter und riß sie mit solcher Gewalt an sich, daß sie förmlich vor ihn hinflog und ihm jetzt Auge in Auge gegenüber stand.
»Marie,« herrschte er sie an, »wagst du bei dem Andenken deiner Mutter zu beschwören, daß Tatáry nicht dein Geliebter gewesen?«
»Papa, bist du von Sinnen?« fragte das Mädchen mit flammenden Wangen.
Die wenig ehrerbietigen Worte taten dem Alten unendlich wohl, so daß er jetzt nicht einmal mehr einen Schwur von ihr forderte.
»Ich zermalme ihm den Schädel mit meinem Stiefelabsatz …« zürnte er.
Marie zuckte die Achseln. Weshalb gerade Tatáry unter den Zehntausenden, die sie verleumdeten? In dem Alten kochte es, daß er die Ursache seiner Aufregung nicht zu verschweigen vermochte.
»Der Schuft!« sagte er grollend. »Er erklärte mit lauter Stimme im Kasino: Wenn jemand mit einer Frau ein Verhältnis hatte und der beste Freund dieses Jemand dieselbe Frau heiraten will, muß man da dem Bräutigam die Augen öffnen oder nicht? Da Hajdu erbleichte, so wußte ich, daß diese Worte auf ihn gemünzt waren; doch war mir der Zusammenhang nicht klar … Jetzt aber ist er mir bereits klar geworden!«
Marie hörte ihrem Vater mit erstaunlicher Ruhe zu.
»Wann geschah das?« fragte sie.
»Vorgestern nachts …«
»Vorgestern? Und seitdem habe ich Hajdu nicht gesehen … Die Worte hatten ihren Zweck also erreicht …«
Erst jetzt erbleichte sie; dann setzte sie sich und, den Kopf in beide Hände gestützt, bemühte sie sich, über die Sache nachzudenken. Der Alte beobachtete sie mit besorgter Miene.
»Du glaubst, daß die Worte Tatárys auf Hajdu von Einfluß waren?« fragte er nach einer Weile.
Marie zuckte schweigend die Achseln. Sie glaubte es nicht nur, sondern wußte sogar, daß sich ein großes, vielleicht sogar unüberwindliches Hindernis zwischen sie beide gedrängt habe. Seitdem sie einander ihre Liebe gestanden, war kein Tag vergangen, ohne daß sie sich gesehen hätten. In welch einem Seelenzustande mochte sich Hajdu befinden, daß er volle zwei Tage von ihr fernbleiben konnte?
Es schien ihr mit einem Male, als erschlösse sich ihr ein Einblick in die Seele des jungen Mannes. Sie wußte, wie stolz und empfindlich er war, und vermochte sich vorzustellen, welch ein erbitterter, schmerzlicher Kampf jetzt zwischen seiner Eitelkeit und seiner Liebe entbrannt sein mochte. Daß sie doch an all dies nicht schon früher gedacht! Sie hatte ja bisher überhaupt an nichts gedacht, sondern hatte nur geliebt … Sie hatte bisher gelebt wie eine Blume, wie ein Vogel, in unbewußtem Glück. Jetzt war sie wieder zum homo sapiens geworden, der nachdachte, und sobald sie nachdachte, litt sie auch schon.
Wie wird das enden? Sie wußte es im vorhinein. Hajdu würde das ihr stillschweigend gegebene Versprechen halten und sie zu seiner Gattin machen. Anders konnte er nicht zu Werke gehen … Und sie, durfte sie unter solchen Umständen seine Frau werden? Ein kalter Schauer erfaßte sie, und es schien ihr, als würde ihr Herz zu pochen aufhören. Sie fühlte, daß sie, wenn sie die Lösung der Frage noch weiter suchte, auf den Pfad geraten mußte, der sie für immer vom Glücke trennen würde. Und dennoch mußte eine Lösung gesucht und gefunden werden!
Herr von Atalay gewahrte mit einem Male, daß er hier wieder überflüssig, oder zu mindest nebensächlich geworden sei. Sein väterliches Ansehen, die richterliche Strenge, die moralische Entrüstung – alles war nutzlos vergeudet worden; er selbst war zur bedeutungslosen Episodenfigur herabgesunken, während die Hauptrolle von anderen übernommen wurde. Seine Tochter wußte vielleicht nicht einmal, daß er im Zimmer weilte, sondern stand mit marmorweißem Gesicht und einer starren, tiefen Falte zwischen den Augenbrauen in der Fensternische. Kaum daß der Alte nach einer langen Weile die Frage an sie zu richten wagte: »Was wird also geschehen, Marie?«
»Ich werde das Geld herbeischaffen …«
»Welches Geld? Wer spricht hier von Geld?«
»Nun ja! Um Hajdu zu bezahlen …«
Ach so! Atalay wurde feuerrot im Gesicht, sprach aber kein Wort.
Darauf begab sich seine Tochter in das anstoßende Zimmer, wo sie lange Zeit verblieb, während der General darüber nachdachte, ob er gehen oder bleiben solle. Tante Anna suchte ihn zurückzuhalten. Sie sagte ihm, er möge auf Blasius Hajdu warten, der gleich hier sein werde, denn Marie habe das Dienstmädchen zu ihm geschickt, um ihn zu sich zu bitten. Atalay erschrak ein wenig … Was mochte seine Tochter von dem jungen Mann wollen? Sie würde doch keinen Unfrieden stiften wollen? Doch nein, diesbezüglich durfte er ruhig sein; er kannte seine Tochter von dieser Seite.
Zehn Minuten später trat Hajdu ein. Er schien ein wenig verwirrt zu sein, als er in das Zimmer trat, und wunderte sich jedenfalls, Atalay bei seiner Tochter zu finden.
»Ist Marie zu Hause?« fragte er.
In demselben Augenblick trat diese aus dem Nebenzimmer herein. Sie hatte sich daselbst umgekleidet und trug jetzt an Stelle des roten Hauskleides eine einfache graue Straßentoilette. Atalay meinte zu merken, daß seine Tochter in diesem Kleide viel magerer und bleicher aussah.
Lächelnd streckte Marie dem jungen Manne ihre Hand entgegen und sagte: »Grüß Gott! Hast dich ja eine Ewigkeit nicht sehen lassen!«
Und noch bevor Hajdu eine Entschuldigung vorzubringen vermocht hätte, fügte sie rasch hinzu: »Weißt du, weshalb ich dich rufen ließ? Um dich von einer großen Neuigkeit in Kenntnis zu setzen. Du wirst überrascht sein!«
Sie machte eine kurze Pause um tief Atem zu schöpfen. Scheinbar stand sie Hajdu vollkommen ruhig gegenüber; nur an den krampfhaft geballten Fäusten hätte man ihre ungeheure Aufregung erkennen können, während sie unter den gerunzelten Brauen hervor den Freund scharf beobachtete.
»Wir haben nämlich beschlossen, nach Amerika zu gehen,« fügte sie hinzu.
Sie bemerkte, daß Blasius erbleichte, und jedes Wort genau erwägend, fuhr sie langsam zu sprechen fort: »Sebastiani, der Pariser Impresario, hat mir bereits einen Antrag gestellt. Jetzt habe ich beschlossen, seinen Antrag anzunehmen … Schon in einigen Tagen trete ich meine Reise an.«
Eine lange, furchtbare Pause trat ein. Mit gespannter Aufmerksamkeit blickte das Mädchen auf Hajdu; seine ganze Seele hing förmlich an den Lippen des jungen Mannes. Seine Antwort mußte alles entscheiden.
Und endlich ließ sich Hajdu vernehmen: »Nach Amerika willst du gehen? Was soll das bedeuten? Ich verstehe wirklich nicht …«
Er schien so verwirrt zu sein, daß er vielleicht wirklich nicht recht wußte, was man zu ihm sprach … Er war erschrocken und erstaunt zugleich. Er sah, daß hier etwas Außerordentliches im Werke sei, wußte aber in der Schnelligkeit nicht, wie er sich unter den derart veränderten Umständen zu verhalten habe … Sicher war nur das eine, daß Marie die Heirat nicht für so unumgänglich notwendig ansehe, wie er eine solche angesehen … Eine wilde Freude durchzuckte seine Seele, rasch wie ein Blitz. Nun konnte sich noch alles zum Guten wenden! Er verging sich weder gegen die Ehre, noch gegen die Liebe; der Wille des Mädchens geschah, der seinige auch; die Ziege wird satt und der Kohlkopf bleibt doch erhalten!
»Das wirst du doch nicht tun?« fragte Hajdu. »Nicht wahr, du tust es nicht?«
»Doch, doch, ich tue es!« erwiderte Marie leise und traurig.
Sie wußte bereits genug. Wenn dieser Mann sie liebte und für sich zu bewahren wünschte, so würde er jetzt keine leeren Worte machen, sondern den Arm um sie schlingen und drohenden Tones sagen: »Bist du von Sinnen, daß du daran nur zu denken wagst? Glaubst du vielleicht, ich werde dich ziehen lassen?«
»Aber wenigstens bleibst du nicht lange fort?« fragte Hajdu weiter.
»Das hängt von den Umständen ab …«
Das Zögern, die Vorsicht des jungen Mannes trieb Marie das heiße Blut zu Kopfe. Sie machte auf den Fersen kehrt, ging in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
»Was ist mit Marie geschehen?« fragte Hajdu den alten Herrn.
»Das mag Gott wissen! Ich verstehe das Ganze nicht!«
Hajdu blieb noch eine halbe Stunde; dann entfernte er sich voll widerstreitender Gefühle, nachdem er zweimal an die Tür des Nebenzimmers gepocht hatte, ohne von seiner Freundin einer Antwort gewürdigt worden zu sein, und nachdem Atalay ihm die Versicherung gegeben, daß er ihm noch an demselben Abend die Erklärung für das eigentümliche Verhalten seiner Tochter zu geben bemüht sein werde.
Die junge Dame aber durchmaß inzwischen mit unermüdlichen Schritten ihr Zimmer. Vom Fenster bis zur Ofennische waren es sechs Schritte, und auf dieser kurzen Strecke wandelte sie mit gemessener Schnelligkeit auf und nieder, gleich einem Uhrpendel.
Aus dem Nebenzimmer lauschte Atalay auf das gleichförmige Geräusch der Schritte seiner Tochter. So vergingen sechs endlos lange Viertelstunden. Es begann bereits zu dämmern. Nun aber verlor der General schon die Geduld und pochte sehr energisch an die Tür.
»Marie! Heda, Marie! Hörst du denn nicht?«
Endlich öffnete das Mädchen die Tür und blickte staunend auf den Alten.
»Was wünschest du?« fragte es.
»Was tust du da drinnen?«
»Nichts. Ich gehe nur auf und ab.«
»Was bedeutet dein ganzes Benehmen?«
»Mein Benehmen?«
»Du sagtest ja, du wolltest nach Amerika gehen.«
Von dem anderthalbstündigen Spaziergang durch das enge Zimmer ganz betäubt, begriff Marie jetzt erst, wovon die Rede sei. Sie schlang die Arme mit einem Male um den Hals ihres Vaters, was sie schon sehr lange nicht getan und sagte leisen, schmeichelnden Tones: »Nicht wahr, du kommst mit mir?«
»Nach Amerika? Willst du denn wirklich dahingehen?«
»Ja, dorthin oder anderwärts … Nur fort von hier, weit fort!«
Eine Träne stahl sich in ihr Auge. Als ihr aber der General, der sich Zeit seines Lebens vor nichts anderem als vor weinenden Frauen gefürchtet, betroffen ins Auge sah, begann sie zu lächeln. Dann zog sie den Alten gewaltsam neben sich auf das Sofa nieder, und während sie seine Hände in den ihrigen festhielt, redete sie mit einem süßen Lächeln auf den Lippen auf ihn ein: »Komm mit mir, Papa! Wir werden hier unsere sämtlichen Schulden bezahlen, so daß niemand einen Anspruch mehr erheben kann. Was sollte uns noch hier zurückhalten? Nichts! Du wirst dich überzeugen, wie gut es uns drüben ergehen wird. Und ich bedarf obendrein deiner, noch dazu sehr …«
Der alte Herr schüttelte den Kopf.
»Wie könntest du meiner, der ich ein alter Tagedieb bin, bedürfen?« fragte er aufrichtig.
Das Mädchen lächelte nicht mehr, sondern blickte ihn traurig an.
»Aber siehst du denn um des Himmels willen nicht, wie fürchterlich allein ich bin?« fragte es.
Marie traf allen Ernstes ihre Reisevorbereitungen. Schon am nächsten Tage war die telegraphische Antwort Sebastianis eingelaufen. Er benachrichtigte die Diva, sie möge ihm nach Paris nachkommen, so rasch als möglich; gleichzeitig eröffnete er ihr einen bedeutenden Kredit bei einer Budapester Bank, »damit sie ihre Angelegenheiten schneller abwickeln könne.«
Der Direktor Mariens war ein zu kluger Mann, als daß er nicht eingesehen hätte, daß er die Künstlerin, die um jeden Preis gehen wollte, nicht zurückhalten könne. Viele Leute sind schwer zu ersetzen auf ihrem Posten; aber unentbehrlich ist niemand. Die Verhandlungen zwischen den beiden hatten nur mehr die Höhe des Reugeldes zum Gegenstande.
Als Hajdu seine Freundin am nächsten Tage besuchte und die ernstlichen Vorbereitungen mit eigenem Auge mitansah, kam ihm ein sonderbarer Gedanke. Wie, wenn der ganze Reiseplan nur eine gewandte Provokation war? Eine Art blinden Schusses, der den Zweck hatte, ihn, Hajdu, zum Sprechen zu bringen, zu einer Erklärung zu drängen? Doch schon im nächsten Augenblick schämte er sich seines Gedankens. Er war sonst nicht eben zynisch, auch nicht entschieden skeptisch veranlagt; doch seitdem er mit der Welt der Bühnenintriguen und Lügen in nähere Berührung gekommen, hatte auch er sich nach vielen Richtungen hin verändert.
»Weshalb willst du eigentlich nach Amerika gehen?« fragte er.
»Weil ich Geld, sehr viel Geld erwerben will …«
»Hast du deinen Entschluß reiflich überlegt?«
»Sehr reiflich sogar.«
»Er ist also unabänderlich?«
»Ja, unabänderlich.«
»Wie, wenn es doch ein Mittel gäbe? …«
Seine Vorsicht entlockte dem Mädchen, das in diesem Augenblick ihm tief in die Seele blickte, ein Lächeln.
»Laß uns über andere Dinge sprechen!« sagte es.
Einige Tage vor der Abreise konnte Hajdu nicht mehr daran zweifeln, daß es seiner Freundin bitterer Ernst um ihren Plan sei. Und er wäre kein Mann, wenigstens kein wirklicher Mann gewesen, wenn ihn der Gedanke an die Trennung nicht sehr unglücklich gemacht hätte. Einer schlaflos verbrachten Nacht hatte er den festen Entschluß zu verdanken, daß er sich von Marien nicht trennen werde. Er liebte sie, er konnte sie nicht von sich lassen und mußte ihre Abreise im Notfalle sogar durch Gewalt verhindern. Der ganze Reiseplan war ja nur der selbstquälerische Einfall eines verliebten, nervösen Frauenzimmers, und durfte und konnte demzufolge nicht ernst genommen werden …
Am nächsten Tage suchte er seine Freundin schon früh morgens auf. Marie stand inmitten der halb ausgeräumten Wohnung und befehligte mit überlauter Stimme die Operation des Einpackens. Ihre Möbel hatte sie an einen Trödler verkauft, und nur einen Teil ihrer Bücher und Kleider wollte sie mit sich nehmen. Hajdu erblickte in dem geräuschvollen Benehmen seiner Freundin eine ganz überflüssige Demonstration, die ihn mit Unmut erfüllte.
»Was soll das alles, Marie?« fragte er. »Du denkst doch nicht, daß ich dich wirklich ziehen lasse?«
Zwei Lastträger kamen herein, um das große Sofa fortzuschleppen. Nachdem ihre schweren Schritte verhallt waren, begann Hajdu von neuem: »Du denkst doch nicht, daß ich dich ziehen lasse? Ich liebe dich, und du liebst mich auch; das ist doch kein Geheimnis mehr zwischen uns. Wenn du mich liebst oder mich jemals geliebt hast, so kannst du mir einen solchen Schmerz nicht zufügen …«
»Wenn ich dich auch liebe, so leide ich auch,« erwiderte Marie, »ich verdiene also keine Vorwürfe …«
Sie wurden wieder gestört, und Hajdus Nervosität stieg immer höher.
»Weißt du, daß ich dich zu meiner Gattin machen will?« fragte er nach einer Weile.
»Ja, ich weiß es,« gab Marie sanft zur Antwort.
»Und du willst nicht meine Frau werden?«
»Nein!«
Sie hatte leise, fast demütig gesprochen, doch merkte man ihr trotzdem an, daß sie entschlossen bis zur Halsstarrigkeit war und allen Bitten und Überredungskünsten gegenüber unempfindlich bleiben würde. Dieser weibliche Eigensinn, der der Stimme der gesunden Vernunft gegenüber taub bleibt, machte Hajdu im vornhinein wütend.
»Aber um des Himmels willen, was willst du denn?« fragte er.
»Fort will ich von hier!«
»Glaubst du nicht, daß du mir wenigstens eine Erklärung schuldig bist?« zürnte er.
»Ich würde dir die Sache vergebens erklären, denn du würdest aus meiner Erklärung nicht klug werden … Es gibt Dinge, die man nicht erklären kann, die man entweder versteht oder nicht versteht …«
»So beantworte mir wenigstens eine Frage, aber aufrichtig: Liebst du mich noch?«
Marie heftete einen Blick auf Hajdu, der das Blut in seinen Adern stocken machte.
»Was soll das, mein Freund? Glaubst du mir, wenn ich dir sage, daß ich im Vollbesitze meiner gesunden Vernunft bin? Wenn ja, so kannst du mir auch glauben, daß ich alles reiflich erwogen, bedacht und überlegt habe und – nicht anders handeln kann. Ich kann nicht!«
»Wenn du mich zu verlassen imstande bist, so liebst du mich auch nicht wirklich.«
»Das ist ein Grund mehr, um mich nicht zu zwingen.«
Ihre Sophistik brachte Hajdu in Wut. Sie waren allein im Zimmer und er zog das Mädchen mit Gewalt an sich. Er meinte, die körperliche Berührung werde eine größere suggestive Kraft besitzen, als die bloße Logik. Doch irrte er sich in seiner Voraussetzung. Marie blieb ruhig und kalt, nur der Unmut brachte auf ihrem Gesicht eine kleine Veränderung hervor, als sie sagte: »Bitte, laß mich …«
Hajdu wurde über und über rot. Nun war kein Zweifel mehr möglich, daß er Marie verloren habe. Er hatte keine Macht mehr über sie; weder ihre Seele, noch ihr Körper gehorchten ihm mehr. Diese Wahrnehmung war es, die ihm die Schamröte ins Gesicht trieb. Weiter konnte er nicht gehen. Er hatte die Grenze erreicht, die ihm sein Stolz zog. Er wollte sich nicht tiefer demütigen und auch Marie nicht weiter beunruhigen.
Der Tag der Abreise war gekommen.
Atalay traf seine Reisevorbereitungen mit sichtlicher Freude. Er hatte sich in letzter Zeit viel gelangweilt und gar manche Demütigung schlucken müssen; nun sehnte er sich nach einem bewegteren Leben und irgend einer Beschäftigung. Seine Beschäftigung sollte darin bestehen, daß er der Reisemarschall, ständige Begleiter und Beschützer seiner Tochter sein würde. Schon benahm sich Marie so zärtlich und dankbar ihm gegenüber, daß Herr von Atalay sich selbst um sein Amt beneidete. Tante Anna nahmen sie auch mit sich. »Ein weibliches Wesen muß ich denn doch um mich haben,« hatte Marie erklärt, »und eine geeignetere Person können wir nie und nimmer finden.«
Der Orient-Expreßzug, mit dem Marie und ihre Begleiter nach Paris reisten, fuhr um halb Zwei morgens von Budapest ab. Um diese Zeit geht kein anderer Zug, und in dem stillen, finsteren Bahnhof sind kaum ein paar Menschen anwesend, deren Schritte das Echo der einsamen, riesigen Halle wecken.
Hajdu begleitete seine Freunde zur Bahn. Eine Art Starrheit war über ihn gekommen, so daß das ganze den Eindruck auf ihn machte, als wäre es bloß ein Traum. Nachdem sich die kleine Gesellschaft in dem Schlafwagen niedergelassen, blieb Marie für einen Augenblick in der Coupétür stehen, um noch ein paar Worte mit ihrem Freunde zu wechseln. Sie sprachen über die Reise und die lästige Zollrevision. Plötzlich unterbrach sie sich selbst und indem sie Hajdu die Hand reichte, sprach sie: »Vergiß das Datum des heutigen Tages nicht! Von heute über zwei Jahre – verstehe mich wohl – wirst du begreifen, was ich getan, und wirst du auch einsehen, daß ich anders nicht zu Werke gehen konnte, wirst mir vielleicht auch dankbar dafür sein …«
Verwirrt und erstaunt blickte Hajdu auf das Mädchen, da es ihm bedünken wollte, als entferne sich die Gestalt Mariens allmählich von ihm. Und es wahr kein Traum mehr, es war Wirklichkeit. Der Zug setzte sich in Bewegung, ohne daß das frühere Glockenzeichen seinen Abgang verkündet hätte. Schon war er fünf Schritte weit von ihm entfernt, schon zehn Schritte …
Überrascht, zitternd und wütend stand Hajdu da.
Was war das? Also doch? Und das sollte er dulden? Nein! Er würde ihr nachstürzen, sie zurückbringen …
Dies dachte er aber bloß, tat es indessen nicht. Er tat nichts anderes, als daß er den Hut lüftete und sich verbeugte. Vom Zuge her wurde ein weißes Tuch geschwenkt, bis die Dunkelheit Tuch, Mädchen und Zug verschlungen hatte.
In Gedanken vertieft, schritt Hajdu dem Ausgange zu. Hier stieß er mit einem atemlos herbeieilenden Manne zusammen. Hajdu kannte ihn vom Sehen; es war Horvàth, der Journalist.
»Zu spät!« murmelte Horvàth. Dann fügte er mit einer gewissen Bitterkeit hinzu: »Eigentlich bin ich Zeit meines Lebens überall zu spät gekommen!«
Die weiteren Erlebnisse der Operettensoubrette Irma Talay, die jenseits des großen Wassers Geld und Lorbeeren in Fülle erntete, gehören nicht mehr in den Rahmen dieser Erzählung; dagegen muß ich über die große Veränderung berichten, die kurze Zeit nach der Abreise der Künstlerin in dem Schicksal eines ihrer Bekannten, des ehemaligen Obergespans Tatáry, eingetreten war. Wir wissen, daß sich der Mann in letzter Zeit mit der Kombination einer Millionenheirat trug. Diese Heirat kam indessen – unbekannt aus welchen Gründen – nicht zustande. Ebenso versagte eine zweite und dritte Kombination. Darauf begann Tatáry in den Kreisen der hauptstädtischen Geldaristokratie, in denen er wirklich kurze Zeit in der Mode gewesen, zu einer komischen Figur hinabzusinken, während man ihn in seinem Kasino nicht so lächerlich, als vielmehr für lästig erklärte. Tatáry betrieb nämlich den für seine Bekannten recht unangenehmen Sport, aller Welt, namentlich aber seinen Bekannten die Zumutung zu stellen, für ihn Wechsel zu unterschreiben …
Dann trat eine Art stiller Katastrophe ein. Tatáry blieb mit einem Male dem Kasino fern und später wurde es auch bekannt, daß er nicht mehr zu den Mitgliedern desselben gehöre. Die Ursache dieses beschleunigten Austrittes, besser gesagt, ungewollten Ausscheidens, sollte dem Vernehmen nach ein Kellner gewesen sein, der sich nicht darein fügen wollte, daß seine Geldforderungen mit Ohrfeigen honoriert wurden.
Es ist überflüssig, Tatáry auf dem Pfade des Versumpfens weiter zu begleiten; wer es drei Jahre nach der Abreise der Irma Talay noch der Mühe wert erachtete, sich nach ihm zu erkundigen, konnte recht eigentümliche Mitteilungen über seine neuesten Geldquellen vernehmen.
Dessenungeachtet gab es Leute, die den schönen Tatáry von ganzem Herzen bedauerten; zu dieser Kategorie gehörte vor allen Dingen Tante Susi mit ihren beiden Freundinnen, denen Marie einstmals die Beinamen Tante Nußknacker und Tante Beißzange gegeben. Die drei ehrenwerten Damen konnten es durchaus nicht verwinden, daß Tatárys geschiedene Frau den einstigen Sekretär des Obergespans heiratete.
»Den armen Tatáry hat die Person zugrunde gerichtet,« verkündeten sie in unerschütterlicher Überzeugungstreue.
Die »Person« war natürlich Marie von Atalay, die, wie die hauptstädtischen Zeitungen schrieben, »einem undankbaren Kinde gleich der heimatlichen Muse, die ihre ganze Gunst auf sie verschwendet hatte, schnöde den Rücken gewendet hat.«
Ende.