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Zweiter Teil

Ich stehe vor einem hohen eisernen Tor, das ich zu öffnen versuche. Zaghaft versuche ich es, nicht etwa ernstlich. Aber das Tor ist verschlossen, und ich fühle mich wie befreit. Bin alt und jung zugleich. Müdigkeit lächelt über Kindliches: Geh' an der Welt vorüber, es ist nichts …

Ich sehe durch dicke Stäbe in einen verschneiten Vorgarten. Dahinter liegt das Gefängnis. Ein Haus, lang und grau, trauriger wie eine Fabrik im Morgengrauen. Wahrscheinlich sieht ein Gefängnis aus wie das andere, sind alle einander ähnlich. Aber das Gefängnis, in dem ich mich melden muß, ist das unheimlichste, das ich mir denken kann. Es will mir nicht in den Sinn: Du auch, wie die andern auch.

Es ist mein Gefängnis, und ich kehre nicht um. Ich werde hineingehen, obgleich ich weiß, ich sündige gegen mich selbst, wenn ich dies Haus betrete.

Ich zögere. Mein Blick fällt auf die elektrische Glocke, und selbstverständlich zögere ich. Ist es so selbstverständlich? Das Selbstverständliche sollte keiner Erwähnung bedürfen.

Ach, wie ich zögere! Noch in der Erinnerung befällt mich eine Beklommenheit. Denn wer steht heute vielleicht vor diesem Tor? Wer durchleidet heute die sieben Stadien der Angst wie ich einst? Wieviele noch werden vor diesem Tore stehen, vergewaltigt von einer eisernen Macht?

Ich lehne mich mit dem Rücken an das Tor und überlege. Gibt es keine Möglichkeit, dies Haus zu umgehen? Aber wohin könnte ich mich wenden?

Vor mir liegt die weite Schneelandschaft, liegen kleine friedliche Bauernhäuser, die mich zur Einkehr verführen und zum Weiterwandern. Soll ich betteln gehen? Mit so schlechtem Gewissen? Und … sie werden mich ja doch ergreifen.

Schwarze Vögel krächzen. Ich halte mich nicht dabei auf. Den langen, eisigen Weg, zu dessen Seiten entlaubte schwarze Bäume ragen, habe ich zurückgelegt. Liegt so totenstill vor mir, zurückbleibend; ach, so entfernt und nicht ahnend meine Bangigkeit.

Schon flammt ein Licht auf hinter dem Fenster einer Hütte. Leute, die hier draußen gearbeitet haben, gehen der Stadt zu. Vor einer halben Stunde auf der Landstraße fragte ich sie noch, wo das Strafgefängnis liegt. »Ich habe einen Bruder dort und will ihn besuchen.« Ich selbst habe es geglaubt …

Schrill schlägt die Gefängnisuhr. Viermal. Ich muß mich entscheiden. Bin ich denn so sicher, daß ich hineingehen werde? Daß man mich noch nicht geholt hat! Ob man mich schon gesehen hat?

Unschlüssiger werde ich. Es zuckt mir schon in den Beinen. Doch das Zucken verschwindet wieder. Lahm und traurig werde ich. Ob es nicht in meiner Nähe einen Menschen gibt, der mir sagen könnte: »Gehen Sie nicht dahinein. Fliehen Sie. Man wird Sie nicht fassen.«

Aber ich will nicht fliehen. Es wäre nicht richtig. Ich werde hineingehen müssen. Ich habe mein Urteil unterschrieben, so werde ich jetzt auch bis zu Ende gehen müssen. Je früher ich hineingehe, desto früher komme ich heraus.

Wäre ich doch allein geblieben! Das Gefängnis kommt von der Gemeinsamkeit.

Ein Mann verläßt das Gefängnis. Es gibt verschiedene Türen hier.

Er trägt keinen Mantel. Fröstelnd schlägt er den Rockkragen hoch.

Ich denke mir: Da geht ein Entlassener.

Er reibt sich die Hände, sieht sich um nach allen Seiten. Der hat es hinter sich.

Er bemerkt mich nicht. Und dann drücke ich auf den Knopf. Hoffentlich ist die Leitung nicht gestört … Ich warte.

Geht mir durch den Kopf: »Schönen Gruß von meiner Mutter und ob Sie so gut sein wollten …« Wie kommt mir das dazwischen?

Ein Hund schlägt an. Vor Hunden habe ich immer Angst gehabt. Besonders als Kind. Jetzt aber trage ich einen langen Rock, und es paßt wenig zu mir, Angst vor einem Hunde zu zeigen in einem Augenblick, da ich als erwachsene Frau ins Gefängnis gehe, um mich in aller Ordnung einer Strafe zu unterziehen.

Ein Mann in blauer Jacke kommt durch den Vorgarten auf mich zu. Er hat es nicht eilig. Ob er weiß, daß ich nicht umkehre? Man hat mein Läuten also doch ernst genommen. In meiner Wohnung kommt man nicht, wenn ich läute. Hier kommt man sofort. Wie das alles verschieden ist!

Der Hund kläfft so laut. Gewiß hat man die Glocke ganz überhört. Ich habe ja nur »versuchsweise« geläutet.

Der weiß gar nicht, was ich will. Fragt:

»Wo haben Sie die Zustellung?«

Die fingere ich aus meinem Handtäschchen.

Ich bemerke, daß ich meine Handschuhe verloren habe, denn ich habe eiskalte Hände. Meine Finger sind so steif, daß ich das Papier kaum halten kann. Ach, das ist zu dumm!

Es schwimmt mir einen Augenblick durch den Kopf: vielleicht werde ich heißen Kaffee bekommen.

Ich trete mit dem Beamten ins Haus, und er schließt gleich die Haustür ab, als sei es schon Schlafenszeit …

Er liest mein Papier durch, gibt es mir zurück und deutet auf eine Tür:

»Da hinein.«

Er ist in ein Zimmer gegangen, das gleich neben der Haustür liegt. Es verwirrt mich, daß er mich allein stehen läßt, seinen Besuch.

Es ist nicht kalt auf dem Korridor, aber es riecht hier so … ja, so nach ausgezogenem Schuhzeug, verschiedenem Schuhzeug, vermengten Menschen; nicht unsauberer, aber billiger Wäsche, und … ja, nach schnell gewechselter Wäsche, von der ein leichter, fader Duft zurückbleibt: es riecht vermischt … ja gerade so.

Ich kann hier doch nicht stehenbleiben … Und plötzlich überfällt mich die unangenehme Empfindung, daß ich in die Falle gegangen bin; direkt oder indirekt, das Resultat bleibt dasselbe: ich bin im Gefängnis.

Und wenn ich gefangen bin, bin ich unfrei, so gründlich, daß es mir wie eine Taktlosigkeit erscheint, meine eigenen Beine zu gebrauchen; das wäre ja Selbständigkeit.

Ich stehe und warte und überlege mir, welche Tür der Beamte wohl gemeint haben mag. Ich stehe wie angewurzelt; besorge, daß meine Verlegenheit überhandnehmen könne; weiß nicht mehr, wie man ein Gesicht zur Schau trägt; denke, es sei meine Pflicht, daran zu denken, daß ich meine Beine möglichst unauffällig setze. Um Himmelswillen, nicht mit den Armen schlenkern!

Ich lege mir eine Kopfhaltung zurecht, versuche einen ruhigen Gesichtsausdruck. Aber ich fühle, wie meine Mundwinkel nervös zusammenzucken; ich werde hilflos.

Mit dem kläglichen Mut, der mir zu Gebote steht, räuspere ich mich und höre mich selber seufzen, als hätte ich eine Rede gehalten. Der Zustand ist umso quälender, je mehr ich ihn beobachte. Ein Fußscharren lege ich mir zurecht und probiere es aus. Es verfehlt nicht seine Wirkung. Der Beamte erscheint in der Tür und verwundert fragt er:

»Was stehen Sie denn noch immer da?«

»Verzeihung, wohin muß ich mich wenden? Ich habe die Tür vergessen.«

Er zeigt mit dem Finger:

»Können Sie denn nicht lesen? Da steht doch ›Aufnahmezimmer‹ weit und breit.«

»Weit und breit?« Schwarz auf weiß meint er natürlich. Ich bin pedantisch. Hier muß alles stimmen, denke ich, und klopfe und trete in ein überheiztes Bureau.

Hier ist es so gemütlich, daß ich mich am liebsten setzen möchte, um vorläufig nicht mehr ans Weggehen zu denken. Aber das ist wohl ein Wunsch, der, anschaulich dem Herrn vorgetragen, nicht in Erfüllung gehen wird.

Ein Regulator hängt an der Wand.

»Vier Uhr zwanzig beginnt Ihre Strafe. Heut' ist der einundzwanzigste Dezember. Am einundzwanzigsten Januar, vier Uhr zwanzig, werden Sie entlassen.«

Ich sehe auf die Uhr. Vier Uhr achtzehn Minuten. Am siebzehnten Januar habe ich Geburtstag.

Mein Name wird eingetragen. Wie, wenn ich Ophelia Polonius hieße? Aber so weit werde ich es ja nie bringen …

»So, jetzt gehen Sie in das Zimmer da nebenan.«

Das sind ineinandergehende Zimmer. Ich klopfe an. Niemand sagt »Herein«.

»Gehen Sie nur hinein,« sagt der Beamte.

Ich trete in ein Zimmer: Breite Schränke an den Wänden. Zwei große weißgescheuerte Holztische. Ein Küchenstuhl neben der Tür. Und ich erwartete: ein Wachsfigurenkabinett.

Eine ältere Frau, streng bürgerlich, untersucht Kleider, faltet Röcke zusammen. Streng bürgerlich.

»Grüß Gott,« sage ich.

»Na?« fragt sie näselnd, streng und gedehnt.

Warum denn »Na?« Weiß sie nicht, was ich soll?

»Ich habe hier eine Strafe zu verbüßen. Man hat mich an Sie gewiesen.«

Sie räumt die Kleider in den Schrank:

»Na, da büßen Sie man los.«

Sie packt immer weiter. Ich warte.

»Wie lange haben Sie denn?«

»Einen Monat.«

»Ist nicht lange.«

»Nein.«

»Weswegen denn?«

Hat sie danach zu fragen? Das möchte ich gerne wissen. Aber wahrscheinlich darf sich hier jeder die Frage erlauben.

»Wegen Diebstahls,« sage ich nebenbei und so gleichgültig wie möglich.

»Sind Sie schon vorbestraft?«

»Nein.«

»Vier Wochen ist wenig.«

»Ich war vier Wochen in Untersuchungshaft.«

»Ist aber doch sehr wenig.«

Ich denke, es kommt auf die Umstände an. Doch das sage ich nicht. Denn es würde nur ein Durcheinander geben. Ich würde mich nur aufregen: ich bin nämlich der Ansicht, daß ich nicht gestohlen habe.

Die Frau lacht so eigentümlich, als dürfte sie sich nur erlauben, spärlich zu lachen.

»Zieh'n Sie sich aus,« gebietet sie.

Diese Zumutung kommt mir sehr plötzlich. Vor einer halben Stunde stand ich noch auf der Straße. Dann fällt mir ein: vier Uhr zwanzig vorbei, ich befinde mich im Bußzustand. Hab's sehr eilig und reiße mir die Kleider vom Leib. Das geht so fix wie damals, wenn wir als Kinder zum Baden gingen.

»Das Hemd auch ausziehen?« frage ich. Gilt hier denn keine Konvention mehr? Aber Hemmungen werden hier nicht beachtet.

»Hemd, Strümpfe, Maschen, Nadeln, alles runter!«

Ich stehe nackt vor dieser Kleiderfrau und habe nichts anderes mehr, meine Nacktheit zu verdecken als ein Lächeln. Die Frau mustert mich, als sei sie mit meiner Figur nicht zufrieden.

»Legen Sie Ihre Kleider zusammen.«

Ich ordne ein kleines Bündel und lege es auf den Küchenstuhl. Es ist mir entsetzlich unangenehm, mich zu bewegen, und ich kann nicht vergessen, daß nebenan ein Herr am Schreibtisch sitzt. Die Tür ist nicht verschlossen.

Die Frau mustert mich. Sie überlegt wohl, welche Kleider mir passen. Ob ich ihr sagen darf, daß ich Kleidergröße Nummer 40 habe? Das ist die größte Kindernummer. Vielleicht sage ich Nummer 42?

Sie wirft mir ein riesiges Hemd und eine Hose zu.

Ich fange die Sachen auf und schlüpfe eilig hinein. Die Sachen sind viel zu groß für mich, aber ich bin froh, etwas am Körper zu tragen. Ich lache hell auf und erschrecke darüber. Um Gotteswillen! Daß mir das passiert!

Sie wirft mir einen Rock zu und eine Jacke, beides grau wie Sackleinwand. Ich sehe wohl aus wie ein Bauernmädchen. Einen Augenblick ist mir, als ziehe ich mich an für eine Komödie, und ich lache noch einmal.

Jetzt wird die Kleiderfrau böse:

»Warum lachen Sie? Was fällt Ihnen denn ein? Hier gibt's nichts zu lachen.«

»Verzeihen Sie, ich kann nichts dafür. Es ist wirklich sehr dumm. Verzeihen Sie nur,« und weine. Es stößt mich in der Brust und ich könnte jetzt gründlich und lange weinen. Aber ich schlucke und schlucke und ziehe unterdessen die dicken weißen Baumwollstrümpfe an.

»Nehmen Sie sich dort oben ein Paar Pantoffel,« sagt sie, und ich steige auf eine Trittleiter, um mir ein Paar Pantoffel zu holen.

Meine Kleider werden in einen Leinensack verstaut. Ich bekomme einen Zettel, auf dem mein Name steht und die Nummer 88. Der Zettel wird am Sack befestigt. Dann hänge ich den Sack und mit ihm meine Persönlichkeit in den Schrank.

»Haben Sie eine Zahnbürste?«

»Ja, aber die ist zu Hause. Ich habe mir nicht erlaubt, sie mitzubringen.«

»Na, das hätten Sie ruhig tun können. Bessere Leute haben doch ihre eigene Zahnbürste.«

»Bin nichts Besseres.«

»Gut,« sagt sie. »Hier haben Sie Handtuch, Taschentuch und ein Stück Seife.«

Nachdem ich so ausgestattet bin, führt sie mich ab.

*

Am andern Morgen schellt es lange durch das Haus.

Das Erwachen an einem kalten, dunklen Wintermorgen ist trostlos. Aber allein in einer dunklen Zelle zu erwachen, ist zum Sterben traurig. Wie mag es den Lebenslänglichen zu Mute sein?

Ich taste nach meinem Rock, nach meiner Jacke. Wie fremd sind mir diese Kleider. Sie schmiegen sich nicht an.

Ich höre schon, wie man die Zellen aufschließt. In der Dunkelheit kann ich Strümpfe und Pantoffel nicht finden. Der Strohsack gleitet vom Holzbrett. Ich tappe ein paar Schritte und stoße an die Mauer.

Nur wenige Dinge sind in diesem Raum. Aber ich fürchte, ich werde diese wenigen Dinge in Unordnung bringen.

Es gelingt mir, den Strohsack auf das Brett zu balanzieren. Man schließt meine Zelle auf, und es wird hell. Oben an der Decke ist eine schwache elektrische Birne. Sie leuchtet in eine kalte Trostlosigkeit.

Es ist seltsam, aber ich bin mißtrauisch gegen jede Einrichtung. Daß das Licht aufblitzt, kommt mir verdächtig vor, obgleich ich mir sage: es ist in diesem Augenblick draußen eingeschaltet worden.

»Kübel rausstellen!« ruft die Aufseherin. Die Eisentür bleibt weitgeöffnet stehen. Schnelles Weitergehen von meiner Tür zur nächsten.

Muß ich der Aufseherin nicht nachrufen: »Sie haben vergessen, die Türe zu schließen?«

Ich gehe mit nackten Füßen auf den Korridor hinaus und sehe, daß alle Türen geöffnet sind. Gefangene laufen in größter Eile auf dem Korridor hin und her mit Kübeln, Besen, Wischlappen. Der Korridor riecht nach Unrat. Es ist zum Umfallen und kalt.

Eine ruft mir im Vorübergehen zu:

»Sie, zieh'n S' die Strümpfen an. Ist verboten, barfuß zu gehen, noch dazu im Dezember.«

Ich trete sofort zurück in meine Zelle und ziehe mir Strümpfe und Pantoffel über. Kaum bin ich damit fertig, kommt eine andere:

»Sie müssen Ihr Waschwasser holen. Kübel vor die Tür stellen und die Pritsche in Ordnung bringen.«

Ich hätte alle diese Verrichtungen gerne gemacht, aber ich wage nicht, ohne Befehl mich zu rühren. Strafgefängnis klingt mir wie Folterbank.

Ich bin mit der Pritsche beschäftigt, aber ich weiß nicht, wie man sie hochklappt. Ich versuche an den Schrauben zu drehen und fürchte plötzlich, ich habe den Mechanismus verdorben; erwarte, daß nun das ganze Gestell auseinanderfällt.

Der Angstschweiß bricht mir aus der Stirne. Ich überschlage, wieviel die Pritsche wohl kosten kann.

Eine Gefangene geht vorüber. Sie sieht, wie ich mich abquäle und kommt in meine Zelle.

Ich sage:

»Sie werden mich ja nicht verraten. Aber unter uns gesagt: diese Pritsche ist ein Unfug. Ich glaube, sie ist schon hinüber. Wie teuer kann die Pritsche sein? Ich fürchte, ich werde einen Monat arbeiten müssen, um die lädierte Pritsche zu bezahlen.«

Die Gefangene lacht. Ich setze mich auf die Pritsche und weine.

»Dafür habe ich jetzt einen Monat lang zu singen. Oder meine Strafe wird verdoppelt, passen Sie auf. Ich, gerade ich bekomme solche wackelige Pritsche!«

Wir untersuchen die Pritsche gemeinsam.

»Ich kenne mich auch nicht so genau aus,« sagt das Mädchen. »Bin selbst erst einige Tage da; aber ich will mal versuchen.«

Wir schieben und suchen das Gestell hochzuklappen. Ich strenge mich an, als gelte es mein Leben. Bis zu halber Höhe bringen wir's, aber weiter rückt die Pritsche nicht.

»Ich bleibe hier stehen,« sage ich, »bis jemand kommt, und sollte ich noch so lange stehen! Man wird sehen, daß wir alles tun, was in unseren Kräften steht.«

Das Mädchen sagt:

»Ich möchte nicht hier stehenbleiben. Denn was wird die Aufseherin sagen, wenn ich mich um fremde Pritschen kümmere. Aber wenn ich jetzt loslasse, dann wird es Ihnen zu schwer werden.«

Ich keuche schon jetzt:

»Ist mir ganz gleich. Und sollte ich zusammenbrechen.«

Zu unserer Erlösung kommt eine andere Gefangene, die im Nu die Pritsche hochklappt.

Die Tür ist noch immer geöffnet. Ich benutze die Gelegenheit, um etwas von meiner Nachbarschaft zu sehen.

Ich habe Glück. In der Tür nebenan steht ein Mädchen in lässiger Haltung, wie in Kleinstädten Töchter an den Haustüren stehen, um sich die Straße zu besehen oder die Vorübergehenden zu mustern.

Meine Nachbarin, verklebte, halbgeöffnete Augen, hat ihr Haar noch nicht gekämmt. Lang und unordentlich hängt es um den Kopf. Die untere Hälfte der Haare ist strohgelb, die obere pechschwarz. Sieht eigentümlich gescheckt aus. Haare, die vor Monaten gefärbt wurden und die jetzt wachsen können, wie sie Lust haben. Wir sehen uns eine Sekunde lang an, als überlegten wir, was wir einander wohl sagen könnten.

Schritte auf der Steintreppe. Wasserkrüge klirren. Die Aufseherin erscheint am anderen Ende des Korridors.

Meine Nachbarin macht einige seltsame Fingerbewegungen, die mir unheimlich sind. Ist sie verrückt? Ist sie taubstumm? Wagt sie nicht zu sprechen? Wahrscheinlich das letztere.

Ich nicke beschwichtigend, hebe meine Hand ein wenig hoch und lasse vier Finger sich neigen. Eine Art Verbeugung, denke ich mir.

Meine Nachbarin macht dieselbe Bewegung und verschwindet in ihrer Zelle. Auch ich trete in meine Zelle zurück, denn die Aufseherin kommt, um zu verschließen.

*

Zwei Tage bin ich hier. Ich habe noch immer keine Beschäftigung. Der Tag ist endlos lang. Ich beneide die Sträflinge, die draußen den Korridor putzen dürfen; die Sträflinge, die die Kübel ausleeren. Am Morgen bin ich traurig, daß der Schlaf zu Ende ist; ich wünsche, es möchte schnell wieder Abend werden.

Nachts träume ich von Draußen. Ich darf dann gehen, wohin ich will. Plötzlich macht mir das keine Freude mehr. Ich werde verfolgt, werde lahm, kann nicht weiter und werde eingefangen. Ich komme ins Gefängnis zurück, kann jetzt plötzlich wieder gehen und laufen, darf aber nicht.

Am dritten Morgen holt mich die Kleiderwärterin.

»Kommen Sie mit,« sagt sie und geht schnell voraus. Ich folge ihr, aber es fällt mir schwer. Ich habe ein krankes Gefühl in den Beinen, als hätte ich eine starke Influenza. Ich habe fast nichts gegessen. Es ist dieselbe Uebelkeit wie in den ersten Tagen meiner Untersuchungshaft. Aber damals ging es vorüber, so hoffe ich, daß es auch diesmal vorübergeht. Hätte ich nur eine Beschäftigung.

Gefangene haben mir erzählt, daß sie gemeinsam in der Waschküche arbeiten. Das würde mir sehr gefallen, und ich erlaube mir, die Aufseherin anzusprechen:

»Ich kann sehr gut waschen,« sage ich ihr, »auch grobe Wäsche, und es würde mich freuen, eine Beschäftigung zu erhalten.«

»So? Was sind Sie denn von Beruf?«

»Kabarettistin bin ich.«

Sie öffnet die Tür zur Besenkammer, denn wir sind inzwischen im Parterre angelangt, wo sich die Räume für das Arbeitsmaterial befinden. Sie öffnet mir die Tür, läßt mich vorangehen. Sie ersucht mich, Besen, Schaufel und Wischlappen aus dem Schrank zu nehmen.

»So, Kabarettistin?«, fragt sie. »Was ist denn das?«

Ich wundere mich, daß sie das nicht weiß, wage aber nicht, ihr ein Kabarett zu beschreiben und sage nur:

»Ich singe den Leuten etwas vor.«

Sie sieht mich an, als sei hohe Skepsis angebracht. Mir selbst kommt es in diesem Augenblick sehr unglaubwürdig vor, daß ich je den Leuten ›etwas vorgesungenen‹ habe.

»Und da wollen Sie waschen können?«

Ich bin traurig, daß sie auch das bezweifelt und sage:

»Waschen kann ich.« Angestrengt suche ich ihr einen praktischeren Beruf zu nennen, damit mir das Waschen nicht entgeht, und mir fällt ein:

»Ich war Reisende in Desinfektionsapparaten, einem der unentbehrlichsten Artikel. Die beste Erfindung auf diesem Gebiet. Blühende Wiesen im Winter. Wer sich dran gewöhnt hat, läßt ungern davon.«

Ach, ich spüre den Naphthalingeruch, sehe die Pakete vor mir, die roten Pakete mit Goldbuchstaben. ›Wer sich daran gewöhnt hat, läßt ungern davon‹; sehe den Kölner Dom, in dem ich meine Reisetasche kontrollierte und meine Bestellungen und Prozente berechnete; habe eine Sehnsucht, wieder durch die Straßen zu jagen.

Die Tränen springen mir aus den Augen.

»Das paßt doch gar nicht zusammen,« forscht die Wärterin.

»Mir gefällt die immerwährende Veränderung,« gestehe ich.

»So, da nehmen Sie die Sachen, auch den Kübel und den Schrupper und kommen Sie mit!«

Ich bin ganz stolz auf diese Gegenstände, denn jetzt soll die Arbeit kommen.

Da wirft sie mir das Staubtuch über die Schulter. Es streift mein Gesicht. Und es kränkt und verletzt mich, daß sie mich für einen Aufhänger hält. Sie lacht, weil das Staubtuch mir die Schmutzflocken ins Gesicht weht, und ich möchte still beiseite gehen; wünsche, diese Frau möge mich nie mehr ansehen, obgleich ich gewillt bin, selbst unter ihren Augen jede Arbeit zu verrichten.

Wir treten auf den Korridor. Ein junger Mann – kein Gefangener, sondern ein freier Arbeiter – untersucht die elektrischen Birnen. Er steht auf einer Trittleiter, sieht lachend zu mir herunter.

Ich sehe zu ihm hinauf, und mir ist, als müsse er mich doch aus diesem Hause mit fortnehmen. Aber er lächelt mich nur halb neugierig, halb gutmütig an.

Die Wärterin ist vorausgegangen und steht in der vierten Tür. Aber ich bin so beladen und trage den Eimer mit heißem Wasser, so daß ich gar schnell nicht gehen kann.

Das Wasser schüttelt beim Gehen hin und her, klatscht über den Eimer und benetzt den sauberen Korridor gerade dort, wo die Trittleiter steht.

»Sofort aufwischen!« schreit die Wärterin.

Die Kiefer knacken mir vor Scham und Empörung, daß ich angeschrien werde in Gegenwart eines freien Mannes. Es zuckt in mir, und ich fühle einen plötzlichen Zwang, ihr das heiße Wasser ins Gesicht zu schleudern.

Da rutscht der junge Mann von der Leiter herunter, um mir Platz zu machen. Fest und ruhig sieht er mir in die Augen, und ich werde wieder ruhig und lahm.

»Vorwärts, mal bißchen fix,« schreit sie mir zu.

Ich wische, auf den Knien, eilig den Fußboden auf und höre nicht und gehe so taub in das vierte Zimmer.

Hier wohnt die Wärterin, und ich muß Ordnung schaffen.

Es riecht nach alten Weibern, nach Jungfer riecht es. Es riecht vegetarisch, und das kann ich, wenn es so stark betont ist, nicht ausstehen. Es verursacht mir Uebelkeit.

Unter dem Bett hat sie viele Kartons und Hutschachteln, die ich herausholen und abstauben muß.

Rasch wäre ich fertig damit, stünde die Wärterin nicht hinter mir, um mir mit infamer Seelenruhe zuzusehen, wie ich unter das Bett krieche. Wird Sie mich zu ihrem privatesten Vergnügen an den Beinen ziehen, weil ich mich ungeschickt anstelle?

Es riecht nach Staubflocken und eingetrocknetem, schmutzigem Aufwaschwasser.

Ich fege mit dem rechten Arm eine eingedrückte Hutschachtel hervor. Abwechselnd bäumt sich in mir eine Woge der Empörung, die bis zur Wut anschwillt und dann plötzlich umkippt: das Empfinden meiner Ohnmacht.

Ich lasse meinen Kopf auf dem linken Arm ruhen. Ich schließe die Augen, um die staubigen Kartons nicht länger sehen zu müssen; für einen Augenblick nur. Oeffne den Mund, um den Staub nicht riechen zu müssen. Dann reiße ich meine Augen auf, gewaltsam, denn hinter mir steht doch auch Gewalt. Diese einfach aussehende Frau, gekleidet wie eine schlichte Hausfrau – wie kommt sie zu diesen grausamen Augen, zu diesen unbarmherzigen, kalten Augen? Wer hat ihr die Gewalt gegeben?

Ich schleudere den zweiten Hutkarton unter dem Bett hervor. Hat sie vergessen, daß auch ihr einmal jemand gütig war?

Mein Rücken ist heiß und kalt, und ein feuchter Schauer überrieselt mich. Hat sie niemals eine zärtliche Regung gefühlt und empfangen?

»Na, wie lange dauert denn das noch?«

Der letzte Karton fliegt seitwärts, vor die Füße der Wärterin. Ich raffe alle Kraft zusammen und krieche hervor; springe automatisch auf die Beine, und das Blut steigt mir in den Kopf.

Bunte Luftringe verhüllen jeden Gegenstand, auf den mein Auge fällt. Ringe werden regenbogenfarben. Wohin meine Augen sehen, sind kleine bunte Ringe.

Wie betäubt lehne ich mich an das Bett:

»Verzeihen Sie,« und: »ich kann es Ihnen doch nicht länger verheimlichen,« und: »das passiert mir sonst niemals,« und »bin der gesundeste Mensch von Haus aus.«

Ich weiß, es ist aus, alles aus, und die Wäsche werde ich nun wohl auch nicht bekommen. Hab' mir alles verdorben.

»Was ist denn eigentlich los mit Ihnen? Sind das Arbeiten wohl nicht gewöhnt?«

»Doch, doch, bin's gewöhnt. Nur ein vorübergehender Schwindelanfall. Ist schon wieder vorbei.«

Vom Korridor erschallt eine Stimme:

»Fräulein W., einen Augenblick bitte!«

»Jawohl, Herr Zuberbühler,« und sie eilt hinaus.

Herr Zuberbühler wird mir unvergeßlich bleiben. Ich lasse mich sofort auf das Bett sinken, lege meinen Kopf auf das »Gott schütze dich!« des Paradekissens und fühle mich sogleich »möbliertes Fräulein« in einem soeben bezogenen Zimmer.

Dann kommt mir wieder zu Bewußtsein, wo ich bin. Ich konstatiere: der Fußboden ist sehr blank. Sie wird nicht unterscheiden können, ob ich geputzt habe oder nicht. Ich werde mir über die Stirne fahren, als habe ich mich sehr angestrengt und werde ihr sagen: »Der Fußboden ist fertig.«

Ueber dem grünen ripsbezogenen Sofa hängen Bilder. »Herz Jesu« und »Herz Mariae«. Ich sehe mir die »Königin der Nacht« an, die malerisch in einer Mondsichel sitzt, und die »Grotte von Lourdes«. Ueber dem Marienbild hängt ein gehäkelter Beutel mit ausgekämmten grauen Haaren.

Ich höre die Aufseherin draußen schwatzen und lachen. Ich wische mit dem Staubtuch über die Mondsichel und die Heiligenbilder. Ich hoffe, daß man sich auf dem Korridor gut unterhalten und mich vergessen möge.

Auf der Kommode stehen viele Fläschchen und Salbennäpfe. Ich untersuche alles genau. Vielleicht ist eine Medizin dabei, die meiner Gesundheit zustatten kommt. Die Aufseherin sieht sehr gesund aus. Sie wird wohl nicht alles für sich verbrauchen.

Die Aufseherin hat ein blaurotes Gesicht, in dem viele Aederchen geplatzt sind. Ob von der Kälte oder vor Wut?

Ich rieche an einem weißen Porzellannäpfchen. Sieht von außen recht appetitlich aus. Es enthält ranzig gewordene Pomade. Auf dem Deckel steht: »Haarwuchsmittel«.

Eine Flasche mit einer hellen, ölartigen Flüssigkeit. Ich lese: »Terpentinöl innerlich«. Und darunter steht: »Für Gicht und Rheumatismus«.

Ich probiere einen kleinen Schluck, weil nichts Passenderes für mich da ist. Es riecht ähnlich wie Bohnerwachs und schmeckt auch so. Aussicht auf Besserung meines körperlichen Befindens.

Ich reibe mir mit der Packtuchschürze den Mund und die Zähne. Ertappt sie mich trotzdem, so werde ich mich auf Selbsterhaltungstrieb hinausreden.

Um alle Annehmlichkeiten des Zimmers auszukosten, besehe ich mich im Spiegel und entdecke, daß ich entsetzlich elend und mager aussehe. Die Haare hängen mir welk über die Ohren. Wohl liegt ein Kamm auf dem Waschtisch und ich könnte mir bei dieser Gelegenheit die Haare in Ordnung bringen. Aber ich bin traurig, und es fehlt mir jede Lust dazu.

Rasch stelle ich alles wieder an seinen früheren Platz, und nachdem dies geschehen ist, finde ich, daß sich hier nichts geändert hat, die Terpentinflasche ausgenommen.

Draußen flötet die Stimme der Aufseherin:

»Ja, ist schon recht, Herr Zuberbühler.«

Es klingt wie das Endresultat eines Gespräches. Rasch kniee ich auf den Fußboden nieder und scheuere so eifrig, als hätte mich nie etwas anderes beschäftigt.

Wie, wenn ich jetzt zu der Aufseherin sagte: »Der Fußboden interessiert mich gar nicht. Neugierig bin ich, was in den Pappschachteln ist, die ich abgestaubt habe?« Oder: »Weil ich diese Arbeit gemacht habe, möchte ich mich nun auch in Ruhe umschauen können? Uebrigens bezweifle ich, daß Sie mich für Ihre persönlichen Zwecke benutzen dürfen, und ich wünsche den Beweis, daß ich hierzu verpflichtet bin?«

Aber eine zunehmende Unaufrichtigkeit nimmt von mir Besitz. Ich versuche mir ein Beispiel an meinen Genossinnen zu nehmen. Wollte ich ehrlich gegen mich sein, so hätte ich mich bereits am ersten Tage meiner Gefangenschaft umbringen müssen. Auch finde ich es traurig, eher an anderen Menschen sterben zu wollen als an sich selber, und daher verführe ich mich immer wieder zu dem Gedanken: Alles ist nur ein Irrtum.

Für alle Qual, die das Gesetz mir verursacht hat, wird die Entschuldigung sein: Der Irrtum. Der Mensch irrt. Bösen Willens kann er nicht sein. Wäre es dennoch so, ich möchte nicht einen Augenblick länger leben. Das Böse erscheint mir so sinnlos, so unvernünftig.

Der Sinn ist der Grund, die Ursache, das Fundament; der Stein, auf dem alles sich aufbaut. Der Sinn ist die Brücke.

Alles aber ist Liebe. Und was alles ist, kann nicht fehlen.

Die Einrichtung, die ich nicht kenne, schreckt mich. Auf welche Art mag meine Tür verschlossen sein?

Es ist ein eiserner Riegel und ein Schloß, aber den Mechanismus kenne ich nicht. Zu wissen, wie alles funktioniert, wäre mir eine Beruhigung.

Ich erinnere mich, daß man im Mittelalter den Hexen die Folterwerkzeuge erklärte, bevor man sie anwandte. Ich zweifle, daß es aus Grausamkeit geschah. Jeder Mensch hat wenigstens Anspruch auf das Recht, zu wissen, was mit ihm geschieht.

Ein zum Tode Verurteilter soll wissen, wie die Guillotine entstanden und aufgebaut ist; genau wissen, ob sein Kopf schnell und schmerzlos oder mit Hemmungen fällt; denn es handelt sich um sein Leben. Der Scharfrichter müßte den letzten Liebesdienst, das Köpfen, sorgfältig erklären und etwa beweisen: Alle Dinge dienen zum Besten. Verlangt nicht das verantwortungsvollste aller Geschäfte, das Töten, die größte Gewissenhaftigkeit? Es ist der Stolz eines jeden Abdeckers, ein Tier schmerzlos vom Leben zum Tod zu befördern. Es ist seine Handwerksehre. Man kann es Korrektheit nennen.

Woher kommen mir diese Gedanken? Ich empfinde, daß an mir eine Prozedur vollzogen wird, deren Zweck ich nie begreifen werde. Es handelt sich um mehr als um eine vorübergehende Freiheitsberaubung. Etwas in mir wird hingerichtet. Man macht mich verantwortlich und straft mich. Aber bin ich verantwortlich? Konnte ich meine Motive begründen, erklären, bekennen? Wer behauptet, daß er das kann, ist eine Figur aus Holz, die für ihre Dauerhaftigkeit garantiert.

Vor Gericht hätte ich behaupten wollen: »ich bin unschuldig« es wäre ebenso anmaßend gewesen, als wenn ich behauptet hätte: »ich bin schuldig«; denn ich bin nicht allein schuldig geworden. Hätte mein Kläger nicht auch zur Rechenschaft gezogen werden müssen? Aber mein Kläger war gar nicht da. Er ließ sich entschuldigen, hatte keine Zeit. Er ließ sich vertreten. Aber wie kann er sich vertreten lassen, wenn er sich benachteiligt, vergewaltigt oder beleidigt fühlt? Ich komme über die Ungenauigkeit nicht hinweg. Und bei welchem Gericht kann ich mich über die Ungenauigkeit des Gerichtes beschweren?

Wer hält mich für umständlich, wo man so umständlich mit mir verfährt? Man macht sich die Mühe, sich drei Vierteljahre mit mir zu beschäftigen – mein Kläger darf spazieren gehen. Warum wird er nicht bestraft, daß er sich mit mir eingelassen hat. Die Einseitigkeit ist beunruhigend. Man müßte Verführer und Verführte bestrafen: die Gelegenheit und den Dieb. Würde ich mich befassen mit solch zwecklosen Dingen als da sind: Sünder bestrafen und Buße verschreiben, ich wäre gründlicher gewesen bei Abfassung der Gesetze. Man nehme das schutzloseste Geschöpf, ein Straßenmädchen. Wenn es verboten ist, sich Liebesstunden bezahlen zu lassen, muß es verboten werden, Liebesstunden zu kaufen. Aber die Erfahrung lehrt, daß der Mensch ohne Liebesstunden nicht leben kann. Also müßte die Liebe anders organisiert werden. Aber »organisierte Liebe« klingt so peinlich. Dennoch kommt man darüber nicht hinweg. Der Gerichtshof besteht aus Männern, und es erfordert weniger Kraftaufwand, das schwache Geschlecht zu bestrafen, als Männer zur Rechenschaft zu ziehen, die ihre stärksten Neigungen geheim zu halten wünschen. Ich wünschte, die vergewaltigten Männer könnten einmal die verächtlich lächelnden Gesichter ihrer Verführerinnen sehen, die auf dem Korridor der Strafanstalt leise plaudernd die Geheimnisse ihrer Kläger preisgeben. Im Hofe des Untersuchungsgefängnisses sah ich die lächelnde Ueberlegenheit auf den Gesichtern der Frauen und Mädchen, die die Straße machen; der Mädchen, die siegen und graziös genug sind, sich für besiegt zu erklären. Diese Höflichkeit scheint gefährlich zu sein, denn man sperrt sie in fußdicke Mauern.

Wissen möchte ich das Geheimnis, den Schlüssel für mein Gefängnis. Ich stehe vor dem Guckloch, durch das ich nicht hindurchsehen kann.

Kinderstimmen höre ich auf dem Korridor. Wessen Kinder das sind, weiß ich nicht. Was die Kinder hier zu tun haben, weiß ich nicht. Vielleicht sehen sie in diesem Augenblick durch das Guckloch. Ich weiß, die kleine Klappe vor dem Guckloch kann man von draußen unhörbar schieben. Ich kenne den Mechanismus nicht, aber ich denke mir das.

Es ist mir fürchterlich, daß ich von draußen beobachtet werden kann. Jeder, der vor der Zelle 88 steht, kann mich sehen. Freilich die Gelegenheit dazu muß er haben. Und welcher Mensch wird diese Gelegenheit nicht fliehen wollen?

Ich höre immer Stimmen von draußen. Weiß nicht warum, doch fühle ich: Es wäre wohl gut, die Menschen zu meiden; denn dann kann mir ja nichts geschehen.

Ich bin allein, und niemand hört mich, wenn ich vor dem Guckloch sage: »Ich habe ja alles gestanden. Jetzt gestehet auch mir …«

*

Die Aufseherin fragt mich, ob ich an Anfällen leide. Ich denke, sie will mich in eine andere Abteilung bringen, weil ich nicht arbeiten kann. Ich weiß gar nicht, was ich ihr antworten soll und sage ihr schließlich:

»Ich habe von meinen Anfällen nichts bemerkt.«

»Aber Sie rumoren doch nachts. Der Wärter hat es gemeldet. Nächstens kommen Sie in die Krankenabteilung. Da ist auch die Arbeit nicht so streng.«

Sie ist besorgt um mich, jetzt weiß ich es, und ich sage: »Ich wäre ja gerne bei Ihnen geblieben« und: »Die Arbeit schadet mir nicht.« Es sei nur die erste Zeit. Auch in Untersuchung sei es mir so ergangen.

»Es ist aber doch besser, wenn Sie fortkommen,« sagt sie, und darauf wage ich nichts zu erwidern. Die Gründe kenne ich nicht, aber sie meint es gewiß sehr gut.

Ich freue mich, daß ich nicht mehr allein sein werde. Gleichgültig, mit wem ich zusammenkomme, wenn ich nur nicht mehr allein bin.

Ich hätte so gerne diese Aufseherin behalten. Den ersten Tag machte sie sich lustig über meine kurzen Haare. Als sie mich sah, rief sie: »Heiliges Kreuz!« und schlug die Hände zusammen. Gefangene waren dabei, die es hören mußten, und ich biß mir auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen. Heute spricht sie so gut zu mir, und ich weiß nicht, wie die nächste Aufseherin sein wird.

*

Der Heilige Abend wird hier nicht gefeiert. Um sechseinhalb Uhr ist die Zelle dunkel. Dann beginnt schon die Nacht.

Ich hülle mich in meine rauhe Decke und bin so fern von aller Welt. Eine Kirchenglocke läutet, und andere Glocken fallen ein. Töne vermengen sich, mahnend, feierlich, läuten das Christfest ein am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezember. Ich habe nichts zu tun damit, bin nicht dabei. Mir ist, als läge ich fremd in einem Grab, und fremd berührt mich meine Zelle.

Vom Korridor her fällt Licht durch die Türspalten.

Aber dieses Licht leuchtet nicht, sondern gibt der schwarzen Eisentür nur einen strahlenden Rahmen, und wenn ich meinen Kopf, den ich unter der Decke verborgen halte, hervorstrecke, sehe ich die schwarze Türplatte in feuriger Einfassung.

Oft schon habe ich darüber nachgedacht, weshalb das Licht meine Zelle nicht erhellt und woran das wohl liegen mag. Immer wieder komme ich auf die Menschen zurück, die alles vorbedacht haben; Menschen, die dafür sorgen, daß man das einbrechende Licht nicht etwa für einen Weihnachtsbaum hält.

Die Glocken von der Stadt her vernimmt man deutlich. Daß man die Glocken in der Zelle hören kann, ist seltsam. Geht wohl irgendwo ein Mensch, der an uns Gefangene denkt? Steht wohl einer vor Glitzerläden, vor einem hellen Schaufenster mit bunten Herrlichkeiten? Oh, die bewegte hastende Straße, auf der Menschen gehen dürfen, rasend im beseligenden Gefühl ihrer Freiheit! Wer denkt an die Gefangenen?

Weiter dröhnen die Glocken, und sie läuten die frohe Botschaft von der Befreiung der Menschheit.

Das sind wohl die Kinder des Oberaufsehers, die ich singen höre. Ich lausche angestrengt. Und ganz leise, aber deutlich höre ich:

»Vom Himmel hoch, da komm' ich her.«

Und ich weine: wie ist es möglich? Wie kann man in diesem Hause singen? Einen Augenblick ist mir, als müßten alle Türen aufgetan werden. Aber es geschieht nicht.

Ich warte. Ich will bis hundert zählen. Ich spiele, fühle mich in eine Hoffnung hinein. Ungeduldig will ich nicht werden; zähle noch einmal. Die ersten Hundert gelten nicht.

Ich komme bis dreihundert. Das Lied ist schon zu Ende gesungen.

Es sind nur zwei Kirchenglocken noch, und auch die läuten nicht mehr lange. Sie verhallen, und alles ist aus. Und ich höre nur noch ein Schluchzen, und das bin ich ja selbst. Und dann klopft es plötzlich den bekannten Gruß, den ich vom Untersuchungsgefängnis her kenne, und ich werde nicht müde, dieses Freundschaftszeichen zu erwidern.

Und wenn meine Nachbarin eine Weile zögert, klopfe ich nacheinander: einen Schlag, Pause, und drei kurze Schläge. Das wiederhole ich einigemal.

Das Klopfen meiner Nachbarin klingt bestürmend, wie Liebe heischend. Ich antworte eilig. Das wird immer rascher, wir klopfen zusammen. Genau weiß ich, wo ihre Hände sind. Da sind auch meine Hände.

Die Mauer trennt uns, und trennt uns doch nicht. Das ist der Trommelwirbel der Kameradschaft. Er wird von allen Gefangenen verstanden.

*

Am ersten Weihnachtsmorgen werden wir bereits um sieben Uhr aus den Zellen geholt, um in die Kirche geführt zu werden. Es ist noch dunkel und sehr kalt. Eben haben wir noch unsere Brennsuppe gegessen. Gleich darauf werden alle Türen aufgetan.

Wir stellen uns auf im langen Korridor, zwei für zwei. Es wird leise geplaudert.

Klingen unsere Gespräche nicht festtäglich, froher als sonst? Das Sprechen ist verboten.

»Nu, was ist?« schreit die Aufseherin, »seid's mal ruhig. Ihr war't wohl in der Stadt, daß ihr gar so viel zu erzählen habt?«

Alle lachen, finden den Witz ausgezeichnet.

Wir warten, bis die Gefangenen von den andern Etagen geholt sind. Ach, wir bekommen uns heute alle zu sehen. Es gibt so viele Gefangene, eine lange Reihe vor mir. Und hinter mir: nicht leicht zu überblicken. Alle tragen Gebetbücher in den Händen, Rosenkranz um die Finger geschlungen. Gesichter von Bekannten, die um einen Schein blasser geworden sind. Viele schwermütige Augen, junge Augen, die wohl am Weihnachtsabend nicht einschlafen konnten.

Gestern vor Jahren … Was schwebt vor uns? Kindheitserinnerungen … Walnüsse und Aepfel … Kinder, die wir bleiben. Und: »daß ich es soweit gebracht habe,« überwältigt es ein Mädchen. Sie tritt einen Schritt aus der Reihe, einen Schritt seitwärts … lehnt sich an die getünchte Wand, die mit Reif bedeckt ist.

Die Tür zum Hof ist schon geöffnet. Wintermorgen und Frost ziehen herein.

Unruhiger langer Chor. Aufseherinnen laufen hin und her, arrangieren den Zug. Strenge Lehrerinnen ordnen einen Ferienzug; schieben Gefangene hin und her wie Gegenstände.

Einige Reihen vor mir: Mädchen an der bereiften Wand, Mädchen steht mit geschlossenen Augen da, geschlossenen Augen, aus denen die Tränen gleiten. Niemand beachtet es. Aufgegebener, müder Gang, den man draußen sorgsam verfolgen und behüten würde, ist hier alltäglich, und wird doch empfunden von allen. Alle gehen ja ähnlichen Gang. Wir alle sind gleich.

Edles und verkommenes Gesicht, beide haben denselben befangenen Ausdruck.

»Ordnung einhalten!« schreien die Aufseherinnen. Sie sprechen miteinander.

»Wie war's denn gestern abend?«

Das angeregte Gesicht der Befragten lächelt.

Wir beobachten es genau.

»Mein Bräutigam kam noch, ganz unerwartet. Wir dachten erst, er sei unabkömmlich. Eine Pelzstola hat er mir geschenkt.«

Gefangene machen große Augen, sehen wie vierjährige Kinder aus, denen man etwas zeigt, was sie nie sahen.

Die Aufseherin flüstert der andern etwas ins Ohr. Die nickt und kichert in sich hinein; kneift die andere amüsiert in den Arm. Ihr Auge geht unbeteiligt über uns hin. Ausgemergelte Gesichter in langer Reihe, und sie fühlt sich wohl in einer Erinnerung. Ich beobachte: sie fühlt sich maßlos wohl.

Am Ausgang ordnet man den Zug. Gefangene Männer gehen über den Hof. Wir müssen warten, bis sie in der Kirche sind; denn wir Frauen dürfen mit Männern nicht zusammenkommen. Ich entdeckte einmal auf dem Gesicht einer Aufseherin völlige Ratlosigkeit und Bestürzung, als wir mit einem Zug männlicher Gefangener kollidierten. Kopflos war die Aufseherin vor Schreck, und ich dachte mir: es muß sehr gefährlich sein, wenn Männer und Frauen im Gefängnis aneinandergeraten.

Endlich setzt sich unser Zug in Bewegung. Wir gehen über den verschneiten Hof. Oh, der stahlblaue klare Himmel! An vier Ecken stehen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett und blaugefrorenen Gesichtern, die uns neugierig mustern. In die reine kristallene Luft tragen wir den Geruch unserer Sträflingskleider. Geruch von Armseligkeit und Sodaseife, spärlich angewandt.

Wie ich die Stufen der Kirche betrete, wende ich mich um. Eine lange Reihe grauer Gestalten erstreckt sich schräge über den ganzen Hof; hustend und schwankend, lumpig und grau, wandelnde graue Fahnenprozession.

In der Kirche ist es eisig kalt. Ueberall kalt. Ein Tannenbaum ist da mit brennenden Lichtern. Kinder singen im Chor. Man kann sie nicht sehen.

»Jesus, dir leb ich,
Jesus, dir sterb ich,
Jesus, dein bin ich
Im Leben und im Tod.«

Neben mir kniet ein altes Mütterchen mit abgearbeiteten Händen. Sie singt zaghaft mit.

Dann kommt die heilige Messe. Mit großen Augen hängen die Gefangenen an der heiligen Hostie. Alle Hände sind hoch erhoben. Gott wird uns gezeigt … tiefer senken sich die Köpfe.

Es schellt dreimal … Still und kalt ist es. Husten und gefrorener Atem. Hände schlagen an die Brust … In meiner Reihe flüstern Lippen: »Durch meine Schuld … durch meine Schuld …« So sehr durchfroren, ich fühle mich kaum. Alle Hände sind hoch erhoben.

Das Weihnachtslied wird gesungen:

»Stille Nacht, heilige Nacht.«

Lichter tanzen und schwimmen. Meine Kniee zittern. Die Betschemel sind schmal und hart.

Ein hohes Gitter ist vor uns. Wie ein großes Netz. Die Muttergottes ist durch ein Gitter geschützt vor den Augen der zu ihr Flehenden.

»Auch euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids.« Auch euch ist heute …

Das Jesuskind steht auf einem Sockel über dem Altar, von Lilien und Lichtern umgeben. Das Jesuskind streckt mir die kleinen Hände entgegen. Sein Kleid ist weiß und licht. Sonnenstrahlen um die blonden Locken.

Und ich sehe an mir hinunter … ich trage ein graues, kurzes Kleid, eine Schürze aus Sackleinwand und plumpe, schlechte Holzpantoffel.

Auch die andern sehen alle grau und unendlich ärmlich aus. Das sind keine Sträflinge, die da knieen. Das sind ja sehnsüchtige Waisenkinder, die alles verloren haben; die ihre Zuflucht zum Unsichtbaren nehmen, zu Gott; Kinder, die ihr Spottkleid vergessen haben. Die Gefangenen beten an …

Die Aufseherinnen sind adrett gekleidet. Sie haben gestreifte Hemdblusen. Jede von ihnen hat eine schöne Brosche.

Die Aufseherinnen tragen schwarze Schürzen, die mit Seide eingefaßt sind. Die Blicke der Aufseherinnen gleiten über unsere geneigten Köpfe hinweg. Sie tragen das Haar glatt zurückgestrichen, kühn. Auf ihren Stirnen steht geschrieben: »Herr, wir sind nicht wie diese hier. Wir können uns nie vergessen.« Wie kann man nur so sicher sein? …

Unnahbar sind die Aufseherinnen. An ihrer Seite hängt eine Stahlkette, und daran ein großes Schlüsselbund. Ach, wenn das mein wäre! Alle Schlüssel mein …

Weihrauch steigt auf. Alles flimmert und flirrt. Vor mir kniet ein junges Mädchen. Das halbe Ohr fehlt ihr. Ist von der schlimmen Krankheit zerfressen. Ihr Haar ist leicht gewellt. Nachts trägt sie es in kleine Zöpfe geflochten. Ihr Gesicht ist fahl und hat blaue und rote Flecke. Sie stiert vor sich hin, gedankenlos.

Die Litanei schreit:

»Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich unser!«

Da bricht eine ohnmächtig zusammen und wird vom Betschemel weggetragen. Der Soldat, der den Kirchenausgang bewacht, stellt sein Bajonett beiseite und nimmt die Ohnmächtige eilig auf seine Arme. Wir wenden die Köpfe dem Ausgang zu. Die Kirchentür wird aufgeschlossen.

Schlotternd hängen die Arme der Ohnmächtigen über die Schultern des Soldaten. Der blasse Kopf liegt kindlich auf dem Achselstück der Uniform. Und leise wird die Tür wieder verschlossen.

Die unsichtbaren Kinder singen:

»Harre meine Seele« und
»Rette auch meine Seele, du treuer Gott.«

Leises Schluchzen, unterdrückt. Männer, unsichtbar, räuspern sich.

Der Priester auf hoher Kanzel predigt hinter einer Gitterbarrikade. Er ist gut gedeckt. Er spricht von der frohen Botschaft, durch einen Eisenzaun, der allerdings in Anbetracht des Ortes goldbronziert ist.

Man kann sein Gesicht nicht sehen, und ich habe die Empfindung, das ist kein lebendiger Mensch, der da spricht, sondern eine Konstruktion. Die menschliche Stimme hinter dem Gitter ist mir unheimlich und tief verdächtig. Einige der Gefangenen rutschen gefoltert hin und her, können sich nicht mehr aufrecht halten.

Ich sehe nur noch auf das Jesuskind und bin froh, als die Kinder noch einmal singen wie am Anfang:

»Jesus, dir leb ich …«

Alles ist zu Ende. Die Priester in Mönchsgewändern haben die Kirche verlassen. Die Orgel spielt weiter.

Die Gefangenen können sich nicht losreißen von der Madonna, die ihren Mantel ausbreitet; den blauen Mantel, unter den alle Armen sich flüchten. Ein letzter Blick auf das weiße Jesuskind, und die Schlüssel klirren.

Die Kirchentür wird aufgeschlossen. Holzpantoffel klappern. Wir verlassen die Kirche.

Und wieder gehen wir über den Gefängnishof. Wir atmen tief die frische Luft. Ich spüre dankbar eine kleine Weihrauchwelle an meinem Kleid.

Wir sehen die beiden Mönche heimgehen, die bei der Messe ministrierten. Sie tragen schöne große Bücher in den Händen, ach, so sauber.

Die Mönche gehen ruhigen Schrittes. Die Augen gesenkt. Wir sehen ihnen nach, solange wir können. Die gehen fort, und wir bleiben da. Müssen wohl dableiben. Wir werden in unsere Zellen geführt, um sie heute nicht mehr zu verlassen. Heute ist Sonntag.

Wir grüßen uns mit den Augen: »Auf Wiedersehen.«

*

Ich befinde mich jetzt in der dritten Etage und teile meine Zelle mit der Köchin Marie.

Marie hat einen dicken Filzschuh am rechten Fuß und einen Gefängnispantoffel am linken. Marie hat sich anläßlich ihrer Verhaftung vor Schreck das kochende Kaffeewasser über den Fuß gegossen. Sie war in einer Hotelküche engagiert, und in dieser Hotelküche ist die »Knochenabfallkasse« ausgeraubt worden.

Ich höre die Geschichte, unter der Marie zu leiden hat, wenigstens einen Teil der Geschichte, täglich. Es ist beinahe ein Jahr her. Sie erzählt:

»Weil die Kasse erbrochen wurde, war es Einbruchsdiebstahl, und das ist schwerer als einfacher Diebstahl. Ich bin ja unschuldig, aber der das Geld genommen hat, hätte auch zugleich die Kasse nehmen sollen. Dann brauchte ich nicht ein halbes Jahr hier zu sitzen. Die Kasse war ein gewöhnlicher Blechkasten. Wäre die ganze Kassette gestohlen worden, so hätte ich nur vierzehn Tage bekommen. Was so ein Stück Blech alles ausmacht! Ich glaube, der Küchenchef selbst hat die Kasse erbrochen.«

Ich frage sie dann immer wieder, warum sie den Diebstahl eingestanden hat, wenn sie doch unschuldig ist.

»Ich war so erschrocken über die Beamten und über die Ausfragerei, daß ich einfach gestanden hab'. Muß man denn nicht sagen, was die Beamten hören wollen? Ich hab's nicht sofort gestanden. So einfach war's nicht. Hab' einen Anfall gehabt und in dem Anfall soll ich gestanden haben. Ich konnte mich später gar nicht an das Geständnis erinnern. Hab's auch gesagt, aber das glaubt mir niemand. Das heiße Wasser hab' ich mir über den Fuß geschüttet, damit ich invalid werde.«

Ich mache sie darauf aufmerksam, daß sie sich das Wasser doch vor Schreck über den Fuß gegossen habe.

»Ja, auch vor Schreck,« sagt sie, »aber auch, damit ich invalid werde. Ich hätte es auf alle Fälle gemacht, glaube ich. Ich hatte es mir fest vorgenommen. Aber als die Beamten mich verhafteten, hatte ich es ganz vergessen und hab' mir trotzdem das Wasser über den Fuß geschüttet.«

Ihr Fuß sieht ganz schlimm aus, ein Knäuel von rohem Fleisch, und es tut mir weh, ihn anzusehen.

Obgleich wir uns in der Krankenzelle befinden, ist es hier viel kälter als im Parterre. Auf dem langen Zentralheizkörper steht ein Gefäß mit lauwarmem Wasser, in das wir mitunter die Hände tauchen, das wir aber nie ausgießen, weil wir fürchten, das Wasser wird nicht wieder warm. Wir kauern mit Vorliebe auf der Zentralheizung, deren Röhren leider sehr hoch sind. Das ist ein Nachteil; denn die Aufseherin erwartet, daß wir an der Tür stehen, wenn sie kommt, und wir können nicht so schnell herunter.

Um elf Uhr bekommen wir die Suppe. Nach dem Essen bleiben wir allein bis am Abend. Den ganzen Nachmittag über sitzen wir klappernd vor Frost nebeneinander auf der Zentralheizung. Dabei stricken wir Strümpfe.

Marie ist sehr fromm. Sie erzählt von Teufelsaustreibungen. Ist sie mit ihrer Erzählung zu Ende, so sieht sie zum Kreuz hinüber, das groß und schwarz an der kahlen Wand hängt. »Ja, mein Heiland,« sagt sie dann, »wir wissen, daß ich unschuldig bin. Du und ich, wir wissen schon Bescheid.«

Der Beichtvater weiß auch Bescheid. Marie hat ihm ausführlichst dargelegt, daß sie unschuldig ist. Aber er hat sie getröstet mit »unserem Heiland«, der ja auch unschuldig gelitten habe. Daran solle sie sich ein Beispiel nehmen. Ich äußere Bedenken: Jesus hat allen geholfen. Aber Marie? Wem hilft sie, indem sie sechs Monate in der Strafanstalt verbringt? Was empfindet der Pharisäer, wenn er mit Genugtuung liest: »N. N. wurde wegen Einbruchs zu acht Monaten Gefängnis verurteilt?«

Marie sagt täglich: »Ich leide unschuldig wie unser Herr Jesus Christus. Aber mit ihm, das muß ich ja sagen, war doch ein anderer Betrieb.«

An der großen Wand, über den sechs Eisenpritschen, die aufgereiht nebeneinander stehen, hängt am schwarzen Holz ein extradürrer, leidender Christus. So kläglich und jammernd sieht er aus, daß es mir unmöglich ist, etwas von ihm zu erbitten. Dennoch fasziniert mich dieses Kreuz, und ich sehe oft hin und denke an die, für die er doch auch gestorben sein soll, die Gerichtsdiener, Gefängnisaufseher und Verwalter, für so viele Menschen, die einander verfolgen, die ewig sich martern und quälen wollen. Ist er nicht gestorben für alle? Aber wer deutet und glaubt es so? Haben sich nicht Menschen darauf verlassen: Christus für uns gestorben? Und wurden gerade dadurch bequem und träge? Verließen sich auf die Gnade und das unendliche Opfer blindlings; sündigten tapfer.

Dieses behäbige Bauen auf Gnade, muß es nicht in die Grausamkeit führen? Christus am Kreuz, der so elend an unserer Wand hängt, so heruntergekommen, freiwillig herabgestiegen zu Sündern – wie kann man es wagen, Dich täglich zu opfern? Einmal bist Du gestorben für uns. Dieses eine Mal müßte genügen. Genügt es aber nicht; ist dann nicht alles verfehlt?

Wer bringt die Bestialität auf, das Höchste immerwährend zu zerfleischen? Göttliches Leben und Blut täglich zur Schlachtbank zu führen? Man sperrt Dich zur Erholung in den Hostienschrein, um Dich am andern Morgen auf dem Altar, der Folterbank, wieder zu opfern.

Wie oft erschien mir dieser Hostienschrein wie ein Gefängnis, in dem der gemarterte göttliche Leib ruhen durfte bis zum anderen Tage, als müsse er sich erholen von seinen Wunden. Zu sehr gewohnt sind wir den Anblick des Gottmenschen am Kreuze. Wir gehen vorüber, ohne zu schaudern vor unserer eigenen Grausamkeit. Wie kommt es, daß wir nicht sagen: »Genug! Wie konntest Du nur? Für so etwas von Mensch Dich opfern?«

Wo ist der Gott der Gerechtigkeit? Hier in diesem Gefängnis wünsche ich einen kritisierenden Gott. Aber vielleicht sind wir unter aller Kritik, und die Menschheit verdient, insgesamt ignoriert zu werden.

Sind wir verlassen, weil wir uns auf die Gnade verlassen haben? Wer läßt sich begnadigen? Gnade macht verächtlich und menschenunähnlich, wie das Mitleid verlegen macht und beschämt. Wer mich bedauert, sagt mir: »Sie haben kein Glück mit sich gehabt. Ihre Unbegabtheit tut mir leid.« Aber die Unfähigkeit zum Glück fordert schreiend die Gerechtigkeit. Und hat die Gerechtigkeit nicht das sichere Auge?

Die Gerechtigkeit. Ich nenne sie die kalte Liebe. Die Liebe, die sich ereifert, ist egoistisch und nimmt Partei. Die Liebe aber, die von oben kommt, die gerechte Liebe, ist kalt. Sie trägt den heiligen Zorn in sich, sie kann töten. Liebe zur Gerechtigkeit, durchdringe mich!

*

Die halben Nächte plappert Marie litaneienhaft vor dem Kruzifix. Ich kann nicht schlafen. Erwache ich aus dem Halbschlaf, ist es mir unheimlich, Mariens gebeugte Gestalt zu sehen. In ihrer gestreiften Jacke, den Kopf mit den bäurisch gelben, wassergestrählten Haaren erschöpft zur Schulter gesenkt, liegt sie auf den Knieen. Armer Kopf, der bettelnd sich vorschiebt! Hände neigen sich ermüdet, erholen sich, und erheben sich wieder, noch ein wenig höher.

Sie legt den Kopf in den Nacken, um zum Kreuz hinaufsehen zu können, das so hoch angebracht ist. Mir ist dann, als müsse ich das Kreuz niedriger hängen. Aber die Nägel sind durch das Kreuz in die Wand gedrungen, und es wird wohl ewig an derselben Stelle bleiben.

Marie aber quält sich ab und windet sich, als wolle sie etwas erzwingen. Und es ist doch so kalt. Ganz erstarrt muß sie sein vor Kälte, und ich rufe sie leise an: »Marie!« Aber sie hört nicht. Versunken kniet sie weiter, denn sie ist so.

Seltsam: wir halten zusammen und verstehen uns nicht. Wir seufzen zusammen und schweigen. Mir ist, als liege auf unseren Lippen das Geständnis unserer gegenseitigen Abneigung. Das Verständnis unserer Verständnislosigkeit. Mir scheint, daß wir gezwungen zusammenleben, das ist es, was uns bedrückt. Aber wir sprechen nicht darüber.

Wie lange muß ich noch in diesem Hause bleiben? Dreiundzwanzig Tage.

Die Luft ist so kalt, wie eingefroren. Unaufgeklärtes trennt uns wie dichter Nebel.

»Ich möchte gerne, daß Therese zu uns kommt,« bricht Marie das Schweigen. »Das wäre nett. Haben Sie gesehen, wie krank sie aussieht? Ganz gelb ist sie im Gesicht. Sie hat mir gesagt, sie möchte so gern in unserer Zelle sein.«

»Wir haben wenig Aussicht, daß sie kommt. Es liegt doch kein Grund vor, sie in unsere Zelle zu lassen.«

»Ich werde die Aufseherin bitten«, sagt Marie, »sie wird einen Grund finden, daß Therese kommen kann.«

»Ich würde nicht darum bitten. Die Aufseherin wird doch keine Freundschaften unterstützen.«

»Halten Sie sie denn für so böse?«

»Es ist ihr Beruf.«

»Sie drücken sich aber vorsichtig aus!«

»Inwiefern vorsichtig?«

»Ich könnte es ihr doch wieder sagen.«

»Wie Sie wollen werden. Es wäre mir gleichgültig. Ueber das Wesen ihres Berufs kann die Frau nicht im Irrtum sein. Sie übernimmt es, uns einzusperren und zu kommandieren. Warum tut sie es? Nur um versorgt zu sein? Ums liebe Brot, oder für die liebe Seele? Denkt sie darüber nach? Sperrt sie uns mit Inbrunst ein? Ich weiß nicht, was trauriger ist. Das eine oder das andere?«

»Ich glaube, sie tut es ums Geld.«

»Ja, das Geld macht uns gemein. Ach, daß man es braucht.«

Wir seufzen beide.

»Emma, es ist doch merkwürdig mit Ihnen. Sie sind gefällig und dennoch …« Sie zögert.

Ich: »Sprechen Sie weiter. Und dennoch? Ich glaube, wenn man sich die Wahrheit gesteht, ist es leichter.«

Marie: »Welche Wahrheit? Und was ist schwer?«

Ich: »Gibt es denn verschiedene Wahrheiten? Es gibt eine oder keine. Aber was uns schwer wird, ist deshalb doch wahr. Fällt Ihnen das Leben leicht? In dieser Zelle? Woran leiden wir? Wir sind gezwungen, miteinander zu leben. Wir essen zusammen, schlafen zusammen in einem Raum, wir kennen alles zusammen, wir waschen uns mit demselben Stück Seife, alles gezwungen. Es müßte doch anders sein.«

»Nein, das ist schrecklich,« stöhnt sie gequält.

»Müßte ich nicht jetzt die Zelle verlassen, damit Sie allein wären? Ich kümmere mich auch um Ihren verbrannten Fuß so sehr, als gehöre selbst der mir zur Hälfte.«

Draußen auf dem Korridor geht der Wächter die Runde. Geht mit harten Schritten an unserer Tür vorbei. Die Etagentür schlägt er wuchtig ins Schloß, und seine Schlüssel klirren. Wir schweigen, solange die Schritte zu hören sind.

Die Uhr schlägt eins.

»Um diese Zeit habe ich draußen den Kaffee gekocht für das Personal,« sagt Marie. »Wir saßen in der warmen Hotelküche um den weißen Holztisch. Wir tranken so guten Kaffee. Damals hatten wir noch den französischen Koch. Den haben wir dann hinausgeekelt, als der Krieg kam.«

»Warum das?«

»Das können Sie doch wohl einsehen. Der Krieg kam doch. Da kann man doch keinen französischen Koch mehr haben. Daß Sie das nicht verstehen! Sind Sie nicht Deutsche, und ich bin aus Bayern?«

»Dafür können Sie doch nicht. Es ist doch nicht Ihr Verdienst, daß Sie aus Bayern sind. Was haben Sie dazu getan?«

»Jetzt muß ich Ihnen aber sagen: ich bin aus Bayern und will aus Bayern sein!«

»Ich habe ja nichts dagegen. Aber Sie vergessen, daß auch das Gefängnis zu Bayern gehört.«

»Ja, das schon,« sagt sie kleinlaut, schweigt einen Augenblick und beginnt dann wieder:

»Sind Sie eigentlich unschuldig?«

»Ich bin es nicht mehr. Ich bin gewiß nicht unschuldig. Ich bin ja auch verurteilt worden. In diesem Hause habe ich erst darüber nachgedacht, was Schuld und was Unschuld ist. Wenn man darüber nachzudenken beginnt, ist man doch wohl nicht mehr unschuldig. Eine bewußte Unschuld – gibt es das wohl? Wer weiß, ob es eine bewußte Schuld gibt. Und was ist Sühne? Ungeschehen läßt sich das einmal Geschehene nicht mehr machen.«

Und ich denke für mich: Es gibt wohl eine Pflicht dem Menschen gegenüber: an ihn zu glauben, wie man an sich selber glaubt. Man müßte uns Gefangenen Gelegenheit geben, etwas Gutes zu tun. Und Ehre, indem man uns vertraut. Aber diese Pflicht, so selbstverständlich, daß sie keiner Erwähnung bedarf – wer übt sie noch? Wie kam das Wort Schuld in die Welt? Das Natürliche ging uns verloren. Vermag ich wiederzufinden meine Harmlosigkeit? Alle andern müßten sie auch besitzen.

Was hilft es mir wohl, daß ich mich quäle? Komme ich weiter? Verstricke ich mich in ein Netz von Irrtümern? Ich möchte wohl zu Menschen kommen, werbend. Zu ihnen kommen; denn wer kommt zu mir? Ich will kommen und willkommen sein. Denn, daß man mir entgegenkommt – kann ich darauf wohl warten?

Auf einer Pritsche, mir gegenüber, liegt ein Mensch, dem ich näher sein möchte.

Ich richte mich auf. Schläft sie schon? Ich horche auf ihre Atemzüge. Unten, tief unten, im Hof geht eine Wache auf und ab, deren gleichmäßige Schritte man bei der Stille der Nacht deutlich hören kann. Liegen unsere Fenster nach dem Hof hinaus? Ich weiß es nicht … Wir werden bewacht, und dennoch denkt man nicht an uns …

Es muß Vollmond sein, denn unsere Zelle ist halbhell. Ein Lichtschein fällt auf Mariens Gesicht. Schwarz schimmern die Eisenstangen durch die Mattscheiben.

So hart ist mein Lager, ohne Kopfkissen. Soviel Fremdes haftet an meiner Decke, die mir nie vertraut werden wird. Ich finde mich nicht in die Wirklichkeit, und alles ist mir wie ein lang andauernder Traum. Teile ich diesen Traum nicht mit einem lebenden Menschen?

Ich horche in die Stille.

»Marie?«

Ja, sie atmet. Ich täusche mich nicht. Und ich flüstere mir zu: sie lebt …

Da regt sie sich, setzt sich aufrecht. Sieht zu mir herüber … Kann sie mich bei der Dunkelheit sehen? Wie ich sie sehe?

»Emmy?«

»Ja?«

»Schlafen Sie schon?«

»Können Sie mich denn sehen, Marie?«

»Ja. Können Sie mich denn auch sehen, Emmy?«

»Ja, ich kann Sie auch sehen.«

»Das ist gut.

»Ja. Das ist sehr gut.«

Ich bin so glücklich, und tief durchdringt es mich: ich kann nie ganz unglücklich werden. Ich kann nicht verzweifeln. Ich kann nie zugrunde gehen, solange ich noch einen Menschen sehe außer mir. Und ich glaube das Wort, das in der Bibel steht: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.«

Mitmensch. Das ist es, was mich hält; was mich immer von neuem verführen wird zum Leben.

»Warum schlafen Sie denn nicht, Emmy?«

Mir ist so … so eigen ums Herz,
Eigen ums Herz …
Weiß nicht, wie mir geschieht …

Verlegen bin ich, aber Marie muß doch wissen, alles … Sie hat mich doch gefragt.

»Marie, ich will Ihnen sagen, was es ist. Es ist ja das Einzige: Sie sind es. Sie sind da und, verstehen Sie mich recht: ich kann nicht untergehen. Sie lassen mich nicht versinken … Begreifen Sie? Sie sind es. Sie allein.«

Sie lächelt, so zaghaft, als wage sie noch nicht zu glauben.

»Ich bin es? Ach … ja das wußte ich ja gar nicht. Ach, daß ich das nicht früher bemerkt habe … Nicht? Das ist aber doch …«

»Ich hatte es wohl vergessen, daß Sie es sind. Ich mußte es sagen. Und begreifen Sie, Marie, wie ich Ihnen dankbar bin? Das ist es, was ich Ihnen sagen wollte. Sie sind … Sie sind …«

Ich komme nicht weiter, komme nicht über dieses »Sie sind« hinweg.

Und dann höre ich:

»Sie sind es ja auch. Sie ja auch. Wirklich. Sie auch. Wir sind es beide …«

*

Eine Blinde ist zu uns hereingeführt worden. Ich schätze ihr Alter auf siebzig Jahre. Sie darf ihre Zivilkleider anbehalten. Die sehen grau und ärmlich aus. Billigster Baumwollrock riecht nach Schnupftabak. Ihr Kopftuch hat sie gleich abgenommen, sorgfältig zusammengelegt und zu uns gesagt:

»Kinder, hebt mir das gut auf, damit es nicht verloren geht und damit mir keine Fettflecke drankommen.«

Wir haben gesagt:

»Hier ist so wenig in der Zelle, daß es nicht verloren gehen kann; es müßte denn sein, daß wir es versehentlich in den Kübel werfen, und das werden wir nicht tun. Von Fett ist hier nicht die Rede, Mutterle.«

Die Blinde hat tiefe Runzeln im Gesicht, die ausgefüllt sind mit grauem Schmutz. Sie hat eine knurrige, verdrießliche Stimme. Die Augen hält sie geschlossen. Wenn sie spricht, zittern die Augenlider.

Als sie hereinkam, suchte sie sofort nach einem Stuhl, stieß mit der Hand an die Zentralheizung und fragte böse:

»Was ist das?«

Da bemerkten wir erst, daß sie blind ist.

Marie sagte:

»Das ist eine Zentralheizung, Mutterle.«

Sie brummte ein wenig, hatte aber sonst nichts gegen die Zentralheizung einzuwenden.

Am Abend bekommt sie eine Suppe. Wir geben ihr den Löffel in die Hand, rücken ihr den Stuhl zurecht und bringen ihr viereckig geschnittenes Papier. Diese Papierschnitte sind Lektüre, dann Servietten, schließlich Toilettenpapier, und das ist die ursprüngliche Bestimmung.

Wir sorgen freundlich für die Blinde und fragen:

»Brauchen Sie etwas, Mutterle?« und »Wollen Sie Wasser trinken, Mutterle?« »Wollen Sie Ihre Hände im Heizungswasser wärmen, Mutterle?«

»I bin nit 's Mutterle für die Lumpenmenscher.«

Wir lachen und sagen, daß wir keine Lumpenmenscher sind.

»Na, da könnt ihr von mir aus »Mutterle« sagen. Es dauert ja eh nur zwei Tag. Dann holt mich meine Begleiterin wieder ab. Die kriegt allein achtzig Pfennig, daß s' mi daheraufg'führt hat. Is a schöner Blödsinn, daß di mi alt's Weiberl daherzitieren. Aber di ham wohl nix anders zu tun.«

Wir legen ihr das Brot hin. Sie probiert es und schneidet ein sauersüßes Gesicht.

»Des is nix,« sagt sie und legt es wieder hin.

»Sie scheinen verwöhnt zu sein, Mutterle.« Ich sitze auf der Zentralheizung, von der ich jetzt geschickt und geräuschlos herabzugleiten verstehe.

Die Blinde beurteilt uns nach der Stimme. Sie sagt, sie sei im allgemeinen gar nicht neugierig aufs Sehen.

»Bin ganz zufrieden,« sagt sie, »i möcht den Schwindel gar nit sehen.«

Nachts schläft sie in Kleidern und Stiefeln. Wir fragen sie, ob wir ihr beim Auskleiden behilflich sein können. Aber sie lehnt ab:

»Naa, i kleid' mi net aus. Des geht scho so. Aber auf Toilett muß i. I kenn mi mit dene Räumlichkeiten net aus.«

Morgens in aller Frühe kommt eine junge Frau zu uns. Sie weint, schluchzt, kann kaum gehen.

Sie läßt sich sofort aufs Bett fallen. Wir ziehen ihr die Haarnadeln aus dem vollen Haar, das wundervoll schwarz ist und lang wie ein Mantel.

Nachdem sie sich eine Weile beruhigt hat, sagt sie unter Tränen:

»Gott sei Dank, daß ich hier bin. Eine Nacht bin ich unten gewesen in Einzelhaft. Oh, das hält ja kein Mensch aus. Wie kann man das aushalten! Und mein Kind … Kind … das Kind … ich vergehe in Sorge um das Kind …«

Sie tut uns sehr leid. Wir versuchen, sie zu beruhigen, fragen, wie lange sie hier bleiben muß.

»Acht Tage! Acht Tage und acht Nächte! Wie werde ich das überleben!«

»Acht Tage ist doch eigentlich nicht lange«, sagt Marie ganz schüchtern, und auch ich suche die acht Tage zu überdenken. Aber das kann man ja nicht. Ich denke immer: wenn die Gerichtsherren wüßten, in welch tobender Unruhe diese Frau ist, sie würden sie sofort entlassen; denn sie hat nichts weiter verbrochen, als einen Hausierschein nicht erneuert. Wie unsinnig erscheint es mir, daß ein Mensch eines Hausierscheins wegen körperlich und seelisch ruiniert wird.

Diese Frau, Hanna heißt sie, kann nachts nicht schlafen. Wir infolgedessen auch nicht.

Wir unterhalten uns. Nur die Blinde schläft und schnarcht beinahe ununterbrochen, Tag und Nacht. Sie benutzt ihren Aufenthalt im Gefängnis, um sich gründlich auszuschlafen, und wir preisen sie glücklich, daß ihr das so gut gelingt.

Um zehn Uhr werden sämtliche Türen unserer Etage aufgeschlossen. Der Arzt kommt.

Er ist immer in größter Eile. Wir müssen uns vorher überlegen, was wir ihm zu sagen haben.

Wir sind es, die zuerst grüßen. Er selbst ist so in Eile, daß er gar keine Zeit hätte, ›Guten Morgen‹ zu sagen, selbst wenn er grüßen wollte.

Die Aufseherin begleitet ihn. Sie überprüft uns der Reihe nach und schaut zu ihm auf, als erwarte sie als persönliches Lob ein Urteil über uns, ihre Geschöpfe, die sie gemacht hat: schmutzige, unartige Kinder, die sich wenigstens so hohem Besuche gegenüber einigermaßen menschenwürdig benehmen sollten.

Wir stehen denn auch, soweit es uns möglich ist, nebeneinander ziemlich aufrecht da, und bei dieser Musterung sind plötzlich alle Schmerzen verschwunden, selbst wenn man noch kurz vorher sehr gelitten hat. Wir wundern uns darüber stets, wenn der Arzt uns wieder verlassen hat. Zehn Minuten später kehren die Magenschmerzen zurück, das typische Gefängnisübel.

Der Arzt blickt alle der Reihe nach an und fragt: »Na, wie geht's denn hier?«

Und Marie bekommt sofort einen roten Kopf, als habe der Arzt nur sie gemeint.

Selten sagen wir, was wir sagen wollten, was wir vorher gründlich besprochen hatten. Und wenn eine Klage über unsere Lippen kommt, lautet sie:

»Ach, ich hab' solche Schmerzen, Herr Doktor«, und: »Mir geht's gar nicht recht gut, Herr Doktor«, und: »Wenn ich nur nicht diese Seitenstiche hätte!«

Was wir vorbringen, klingt unwahrscheinlich.

Der Arzt wendet sich an Marie:

»Ach, Sie haben das Geschwür.«

»Nein, den verbrannten Fuß.« Sie ist dabei sehr verlegen und setzt plötzlich hinzu: »Hohes Fieber habe ich auch.« Das stimmt dann nicht. Der Arzt fühlt den Puls: »Ausgezeichnete Temperatur. Lassen Sie mal den Fuß sehen.«

Während sie den Strumpf auszieht, wendet er sich an mich:

»Na, und was haben Sie?«

»Nichts, danke. Es geht mir sehr gut.«

»Na also. Ist ja alles ausgezeichnet. Und Sie da im Bett?«

»Gallensteine, Herr Doktor.«

»Aber das haben Sie nicht erst hier drinnen bemerkt?«

»Nein nein, gewiß nicht, Herr Doktor.«

Die Aufseherin zeigt mit dem Kopf gegen mich:

»Sie haben doch neulich den Anfall gehabt in der Früh. Mit Schaum vorm Mund.«

»Davon weiß ich gar nichts,« sage ich.

Marie: »Ja, mit Schaum vorm Mund.«

Mir ist die Szene sehr unangenehm.

»Ist doch egal, ob mit oder ohne Schaum,« sage ich widerwillig zu Marie.

»Ja, sie soll Schaum vorm Mund gehabt haben«, sagt die Aufseherin. Sie sagt es so wichtig und fachmännisch.

Es ist mir unverständlich, weshalb sie dem Schaum eine solche Bedeutung beilegt. Im übrigen interessiert sie sich nicht im geringsten um mich; denn ich mußte bei stark entzündetem Finger der rechten Hand die Zelle reinigen, und sie ließ mich dabei den Verband abnehmen.

»Haben Sie schon früher diese Anfälle gehabt?« fragte der Arzt.

»Nein, nur hier. Morgens, wenn wir uns ankleiden, ist die Zelle noch finster, und dann ist mir, als ziehe mich der Teufel am Rock. Ist mir schon öfters so gewesen. Ich war nicht auf das Rockziehen vorbereitet und bin vor Schreck umgefallen.«

»Gewissermaßen Herrenbesuch,« scherzt der Arzt. Und zur Aufseherin: »Wissen Sie, Frl. D., für derartige Anfälle sind Ohrfeigen sehr gut.«

Ich versuche einen Einwand, aber er wendet sich schon zum Gehen. »Also Ohrfeigen.« »Und was ist das mit dem Fuß? Na, es wird schon werden. Machen Sie nur weiter Umschläge.«

Er bemerkt die Blinde, die unbeteiligt auf der Bettkante sitzt, den Rücken dem Arzt zugewendet.

»He, Sie! Guten Morgen!«

Knurren als Antwort.

»Sie, wollen Sie denn nicht aufstehen?«

»I siech nix.«

Der Arzt tippt sie an die Schulter:

»Aber ›Guten Morgen‹ sagt man. Verstehen Sie mich?«

Die Blinde brummt verdrießlich.

»Wie lange sind Sie denn schon blind?«

Die Blinde vollkommen ablehnend:

»Ah, scho' lang …«

*

Die Blinde ist hinausgekommen. Es goß in Strömen vom Himmel. Ihre Begleiterin blieb aus.

Mutterle wollte noch länger bei uns bleiben, aber ihre Zeit war abgelaufen. Sie mußte uns verlassen. Ich sehe sie im Regen vor dem Gefängnistor stehen …

In fünf Tagen hat der König Geburtstag. Wir erwarten alle Begnadigung. Auf dem Gefängnishof sprechen wir leise von der Amnestie. Wir freuen uns und hoffen alle.

Therese sagt:

»Der König begnadigt keine Sittlichkeitsverbrechen.«

»Ja, weshalb denn nicht?« fragt ein kleines Mädchen.

»Weil er des net mag,« sagt eine schmale Schwarze. »Er kann's halt net leiden.«

»Ja, des is scho' fad,« seufzt eine andere enttäuscht, »er is halt a alter Mann.«

Die kleine Hübsche, deren Vater auch im Gefängnis ist, fragt schüchtern und sehr besorgt:

»Wie er wohl über Blutschande denkt?«

»Nix is,« belehrt Marie, »Blutschande, des is do aa a Sittlichkeit …«

Therese, die wir so gerne bei uns haben wollten, befindet sich in der Zelle gegenüber.

Therese ist Hausiererin. Sie hat eine große Anzahl Hausierstrafen abzubüßen. Sie ist schon sehr lange im Gefängnis, ich glaube, seit sieben Monaten. Sie sagt, es sei Zeitersparnis, die vielen kleinen Strafen in einer Schnur abzusitzen. Aber sie hat ihre Kraft überschätzt. Gebrochen ist sie und krank und klagt über allgemeine Schmerzen. Sie weiß nicht genau, was ihr fehlt.

Sie ist eine Frau von etwa vierzig Jahren. Ihr dünnes schwarzes Haar hat einige schneeweiße Fäden. Das graue Gefängniskleid sitzt ihr so gut, daß man meinen könnte, es sei ein Hauskleid. Die graue Sackleinwandschürze hat sie sauber gebunden.

Therese hat zwei Schwestern. Die eine ist in einem Trappistenorden, die andere im Krankenhaus. Beide haben für Therese Begnadigungsgesuche an den König eingereicht. Sie ist überzeugt, daß die Gesuche bewilligt werden, weil ihre elfjährige Tochter beim Hofballett engagiert ist.

»Wenn der König meine Tochter tanzen sieht, muß er mich begnadigen.«

Das Kind hat der Mutter einen Brief geschrieben, den wir alle gelesen haben:

 

»Meine liebe Mutter!

Ich denke immer an dich und bin so traurig um dich. Wenn du wieder draußen bist, mußt du alles vergessen. Und dann sollst du sehen, was für Fortschritte ich gemacht habe. Ich kann schon auf den Fußspitzen stehen.

Auf Wiedersehen und viele innige Grüße von deiner usw.«

 

Therese meint:

»Froh bin ich, daß ich soviel gestrickt hab' hier im Gefängnis. Sechzig Paar Strümpfe. Die Socken hab' ich gar nicht gezählt. Pro Paar zehn Pfennige. Das gibt ein schönes Geld. Dann steh' ich doch nicht bloß und dürftig da, wenn ich hinauskomme.«

Mitunter ist sie sehr besorgt:

»Wenn nur nicht die Motten in meinen Pelzmantel kommen. Ich habe nämlich einen wunderbaren Pelzmantel unten. Mit Halbseide gefüttert. Er war ja sehr teuer, aber ein Pelzmantel ist doch eine Kapitalanlage. Schließlich: meine Tochter ist beim Ballett. Da muß man sich ja entsprechend anziehen.«

Therese ist mit einer Irren zusammen und mit einer Person, die wegen Kindesmißhandlung da ist.

Die Irrsinnige jodelt und schmettert, wenn sie nicht gerade schläft. Eine Beschäftigung wird ihr nicht anvertraut. Sie ist sehr ungeniert und hat durchgesetzt, daß sie ihre roten Pantoffel tragen darf, die sie mit hereingebracht hat. Die passen sehr hübsch zu ihrem naturkrausen Zigeunerhaar. Ihre Augen funkeln bedrohend lustig.

Beim Spaziergang benimmt sie sich, als sei sie imstande, jeden Augenblick etwas Ungewöhnliches anzurichten. Wäre die Gefängniseinrichtung nicht so solide, kein Gegenstand bliebe heil. Den Haferbrei wirft sie an die elektrische Birne mit der Begründung: »Ich bin doch verrückt, danach muß man sich richten.« Auf dem Hof wirft sie ihre Jacke in die Luft und ruft: »Verkaufts mei' Gwand, i fahr in' Himmel eini!«

Sie hat eine Uhr gestohlen, und der Arzt, der sie als Kranke behandelt, hält ihr vor, das sei nicht schön von ihr. Darauf antwortet sie: »Es ist nicht schön von den Leuten, daß sie uns so verlockende Auslagen vor die Nase führen. Nächstens gebe ich dort einen Zettel ab: ›Führ' uns nicht in Versuchung.‹ Mehr kann man nicht verlangen von mir.«

»Wo ist mein Hausbrot?« schreit sie. »Na, das werden wir gleich haben,« und in steigendem Vierklang singt sie: »Ha–a–aus–brot!« und hält das hohe C an, bis schimpfend die Aufseherin hereinfährt.

»Hausbrot«, singt sie dann plötzlich ganz zierlich und spitz.

»Benehmen Sie sich mal ordentlich,« sagt die Aufseherin, »sonst kommt was anderes.«

»Was anderes? Darauf warte ich schon lange.«

Oder sie streut das Brot auf dem Boden herum.

»Heben Sie mal die Brotkrumen auf!« herrscht die Aufseherin sie an. »Wissen Sie nicht, daß das Brot heilig ist?«

»Lassen Sie doch die Hühner kommen,« lächelt die Irre, »die picken die ganze Heiligkeit auf.«

Die Aufseherin schüttelt den Kopf und blinzelt uns zu, was ganz gegen ihre Gewohnheit ist. Dann schlägt sie die Tür ins Schloß, und indem sie uns hinüber in unsere Zelle weist, sagt sie: »Ein ganz unglaubliches Frauenzimmer.«

*

In der Nacht. Großer Lärm in der Zelle gegenüber. Wir hören Theresens klagende Rufe. Pritschen knacken. Aufgeregte, beratende Stimmen.

Wir stehen im Hemd an unserer Tür, zitternd vor Kälte, und lauschen. Mitten im Lärm singt die Verrückte:

»Droben stehet die Kapelle,
Schauet still ins Tal hinab.«

Dann schlägt die Glocke an. Die Glocke, die nur in Lebensgefahr zu benützen ist.

Eilige Schritte auf dem Korridor. Drüben wird aufgeschlossen. Stimmen rufen durcheinander, minutenlang. Dann fällt die Tür wieder ins Schloß. Schritte verhallen. In der Zelle bleibt es unruhig.

Wir unterhalten uns noch eine Weile über Theresens Zustand. Dann schlafen wir ein.

Die »wegen Kindesmißhandlung« erzählte uns später:

»Am andern Morgen kamen zwei Krankenwärter mit einer Tragbahre. Therese wurde aufgeladen. Hohes Fieber, phantasiert hat sie von der Amnestie und vom Hoftheater, vom König in der Loge und von einem Hausierschein, der ein Drittel vom Verdienst kostet, den das Hausieren einbringt. Rote Flecke hatte sie im Gesicht. »Ich komme jetzt raus,« sagte sie, »am sechsten hat der König Geburtstag.« »Ich komme weg von hier, ganz weg komme ich.« Man brachte ihr die Zivilkleider herauf. Wir haben sie ihr in der Zelle anziehen müssen. Ein altes Kattunkleid hatte sie und eine geflickte Baumwollschürze. Da ist sie sehr unruhig geworden, große Augen hat sie gemacht, obgleich sie den Kopf kaum drehen konnte. ›Das stimmt ja gar nicht‹ hat sie gerufen, ›um Gotteswillen, das kann ja nicht stimmen! Das ist doch nicht mein Mantel!‹ und hat auf die Baumwollschürze gedeutet. ›Mein Pelzmantel ist ja ganz anders!‹ Wir haben sie beruhigt, so gut es ging: ›Eine Verwechslung,‹ sagten wir, ›bei den vielen Kleidern kommt das leicht vor.‹ Wir würden alles tun, daß sie zu ihrem Eigentum kommt. Da hat sie geweint und sich willig hingelegt, und dann hat man sie weggetragen.«

Das Begnadigungsgesuch war abgelehnt worden. Wir wußten es nicht. Aber sie wird wohl begnadigt werden, wenn auch nicht vom irdischen König.

*

Nur acht Tage noch werde ich hier sein. Ueber meinem Bett habe ich Striche eingeritzt mit der Stricknadel. Jeden Abend grabe ich einen Strich in die Kalkwand.

Jeden Abend, wenn ich im Bett liege, fährt draußen die Straßenbahn vorüber und wirft ein fliegendes Licht an meine Wand. Dann sehe ich meine Striche erleuchtet. Dann zähle ich die kleinen Striche, vergangene Tage. Ein Strich ist so schnell gemacht, und doch freue ich mich wie über eine vollbrachte Arbeit. Nur noch wenige Striche, und ich darf gehen, wohin ich will. Darf das graue Kleid ausziehen … Ach, wie ich mich freue auf meine anschmiegende blaue Wollbluse! Ich freue mich wie ein Kind auf das Sonntagsgewand.

Viele Aufträge haben meine Genossinnen für mich bereit. Ich muß Mariens Bruder aufsuchen. Er hat eine Gastwirtschaft in einem entlegenen Viertel, das ich nicht kenne. Aber ich werde mich schon zurechtfinden. Ich kann mit der Elektrischen fahren.

Ich soll dem Bruder Mariens Unschuld versichern, und er soll der Mutter schreiben, irgend etwas erfinden. Die Mutter darf nicht erfahren, daß Marie im Gefängnis ist. Marie selbst kann gar nichts erfinden.

Mathilde hat mich gebeten, ihren Geliebten aufzusuchen. Sie weiß nicht, was sie ihm sagen soll. Tagelang hat sie nachgedacht und nichts gefunden als einen Gruß.

»Ja, einen Gruß könntest du bestellen. Nicht wahr? Einen Gruß … Ja … was könntest du sonst noch bestellen?«

Sie denkt nach, wird verlegen und sagt mit Tränen in den Augen und müder Stimme: »Weiter weiß ich nichts. Ich lass' ihn grüßen. Nicht wahr?«

Ich habe viele solche Missionen zu erfüllen und ich werde dafür tun, was ich vermag.

»Vergessen Sie uns nicht,« ist die Bitte jedes Gefangenen an diejenigen, die in Freiheit leben.

»Haben Sie einen weiten Weg nach Hause?« fragt mich Marie.

An den Weg habe ich noch gar nicht gedacht. Ich weiß nicht, wohin ich gehen werde. Doch nach Hause führt jeder Weg, den ich freiwillig gehe.

Vier Uhr zwanzig stehe ich vor demselben Tor, durch das ich vor einigen Wochen schweren Herzens ging …

Ich halte einen Zettel in der Hand, auf dem geschrieben steht, daß ich meine Strafe verbüßt habe. Ich stecke diesen Zettel in die Tasche, sorgfältig, wie man mit einer hohen quittierten Rechnung umgeht.

Es ist ein trüber Tag, Dämmerung und kalt. Ich weiß nicht, nach welcher Richtung ich mich wenden soll, aber es ist ja gleichgültig. Irgendwohin werde ich schon kommen.

So eigentümlich ergeben bin ich in mein Schicksal. Kann ich der Welt entfliehen? So ist es ja gleichgültig, wohin ich mich wende. Und ich gehe über das zarte Schneefeld, das weit ausgebreitet liegt vor meinen hemmungslosen Augen.

Je länger ich gehe, desto freier fühle ich mich. Tief atme ich die kalte, reine Luft.

Langsam wird es dunkler. Ich fürchte mich nicht. Der Schnee leuchtet. Ich bin so allein. Und niemand begegnet mir. Niemand sieht mich.

Ich breite meine Arme aus vor Glück. Ich habe die Stadt noch nicht erreicht und die Menschen …

 


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