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»Sollte das denn möglich sein?« wiederholte Alkyon Argyropoulos zum viertenmal.
»Nicht nur möglich, sondern sogar sicher«, entgegnete der Detektiv, Mr. Kenyon. »Sehen Sie sich doch diese Papiere an, und dann sagen Sie mir, ob Sie noch irgendwie zweifeln können.«
»Solch ein treuer, solch ein ehrbarer Diener«, murmelte der Millionär. »Mein Herz sträubt sich, das zu glauben.«
Niedergeschlagen und wie betäubt blätterte er in den Papieren, die Mr. Kenyon ihm vorgelegt hatte. Es waren vier Menükarten, zwei davon auf Pergament gedruckt, mit griechischen Friesen und dem Namen des Hotels, zwei auf Zeitungspapier. Er blickte von einem zum anderen, buchstabierte sie durch und murmelte Worte, die von dem englischen Detektiv ergänzt wurden.
»Die erste«, sagte Mr. Kenyon, »ist die, auf die er mich selbst mit seiner Unverfrorenheit in der Hotelhalle aufmerksam gemacht hat. Er fragte mich, ob es mir nicht aufgefallen wäre, daß die Anfangsbuchstaben das Wort ›Homeros‹ bildeten. Ich glaubte zunächst, daß dies ein Zufall wäre. Da gab es nun eine zweite Sache, auf die er mich nicht aufmerksam gemacht hatte. Wäre sie mir damals aufgefallen, dann hätte ich die ganze Affäre sofort lösen können. Jede Speise auf einem Menü ist nach irgend etwas benannt. Wenn man nun die Anfangsbuchstaben dieser Speisen à la verfolgt, dann bilden sie in der ersten Karte das Wort ›Manuskript‹. Es war das Menü, das in der Hotelhalle angeschlagen war, als Sie eben im Begriff waren, Kortschagin und seiner Bande ein Homermanuskript abzukaufen. Sie erkennen, was das bedeutet?«
Der Millionär starrte auf das fragliche Menü, ohne zu antworten.
»Wenn Sie es nicht erkennen«, fuhr der Detektiv fort, »wenn Sie nicht einsehen, daß derjenige, der das Menü zusammenstellte, auf diese Weise einen Komplicen über Ihre Pläne verständigen wollte, dann betrachten Sie sich einmal das nächste Menü. Es war in der Halle angeschlagen, kurz nachdem man Kortschagins Bande verhaftet hatte. An diesem Tag beschlossen Sie, in ein gewisses Lokal in Paris zu gehen: Folies Bergère, im Pariser Slang, Fol' Berg' geheißen. Und was sagen die Anfangsbuchstaben der Speisekarte?«
Der Millionär antwortete nicht.
»Falls Sie noch immer daran zweifeln, daß sich sonderbare Dinge rings um Sie abgespielt haben«, rief Mr. Kenyon, »dann habe ich noch zwei Dokumente zu dieser Angelegenheit; die waren nicht in der Hotelhalle angeschlagen, sondern sind in einem Blatt erschienen, das so ziemlich jeden Artikel annimmt, wenn er nur von einem Scheck begleitet ist. Es war die gleiche Zeitung, von der später die Kampagne ausging, die zum Diebstahl der griechischen Göttin führte. Sie wissen doch – die mytilenische Venus?«
Er sah zu dem Millionär auf, ohne daß dieser es für nötig zu halten schien, den Blick zu erwidern.
»Unmittelbar bevor jene Kampagne begann«, setzte Mr. Kenyon fort, »enthielt das ehrenwerte Presseorgan dieses Menü. Ich glaube, daß es jedermann ein oppulentes Lunch nennen muß. Es bestand aus nicht weniger als acht Gängen. Aber ein Menü muß ja auch reichhaltig sein, wenn es zwei Worte zu acht Buchstaben mitteilen soll.«
»Welche Worte?« fragte Alkyon Argyropoulos, ohne von den Papieren aufzublicken.
»Aphrodite und Mytilene«, entgegnete der Detektiv. »Wenn Sie die Gerichte von oben nach unten lesen, erhalten Sie das Wort ›Aphrodite‹, und wenn Sie die Bezeichnungen à la lesen: ›Mytilene‹.«
»Es – es sieht so aus, als ob Sie recht hätten«, räusperte sich der Millionär. »Aber was habe ich damit zu tun?«
»Ich gebe zu, daß ich nicht verstehe, was Sie mit dem Diebstahl der Venus von Mytilene zu tun haben könnten. Daß er und seine Freunde dahinter steckten, daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt. Aber sie werden die Statue wohl kaum gestohlen haben, um sie Ihnen zum Geschenk zu machen. Deshalb erwähne ich die Angelegenheit nur als Beweis dafür, daß in Ihrer Nähe Dinge vorgehen, von denen Sie keine Ahnung haben.«
Gedankenvoll trommelte der Detektiv mit den Fingern auf den Tisch. »Nun zum letzten Menü: Sagen Sie mir sind Sie irgendeinem Angriff von Seiten einer Frau ausgesetzt gewesen?«
Der graubärtige Grieche fuhr auf. »Was sagen Sie, einer Frau? Weshalb fragen Sie?«
»Antworten Sie auf meine Frage! Waren Sie irgendeinem Angriff ausgesetzt, in den eine Frau verwickelt war? Hat man sich nicht entblödet, solche Mittel gegen Sie zu verwenden?«
Alkyon Argyropoulos errötete. »Ich – ich habe keinen Anlaß, zu glauben – eine solche Frage zu – also, was meinen Sie? Und warum fragen Sie mich danach?«
»Weil«, erwiderte der Detektiv mit eiskalter Stimme, »weil das Menü, das vor drei Tagen veröffentlicht wurde, nicht weniger als drei Nachrichten nach jenem System enthält: Verrat – Perlen – Frauen. Sehen Sie sich das näher an, dann werden Sie selbst darauf kommen. Also nochmals: haben diese Leute nicht einmal davor zurückgeschreckt, solche Waffen im Kampf gegen Sie zu verwenden?«
Alkyon Argyropoulos senkte den Kopf noch tiefer und schwieg lange, so daß der Detektiv schließlich mit den Achseln zuckte.
»Ich verstehe«, meinte er und zog den Mundwinkel herab, »daß ich richtig geraten habe. Ich bedaure Sie – das ist alles, was ich sagen kann. Sie sind drei besonders frechen Schurken in die Hände gefallen, und Sie haben die Hilfe, die ich Ihnen gewähren wollte, abgelehnt. Ich – hm – ich gebe zu, daß Sie zunächst die Oberhand hatten. Aber als Sie meine Hilfe ablehnten, haben Sie das in so verletzender Weise getan, daß ich nun das Recht habe, Genugtuung zu verlangen.«
»Welche«, fragte leise Alkyon Argyropoulos.
»Ich halte es für erwiesen, daß Ihr Küchenchef mit einem guten alten Freund von mir identisch ist. Ich halte es für erwiesen, daß er ein Doppelspiel getrieben hat. Einerseits hat er Sie ausspioniert; andererseits hat er seine Menüs in ganz bestimmter Weise abgefaßt, um seine Genossen von Ihren Plänen und Ihren Angriffsmöglichkeiten zu unterrichten. Warum sie sich nicht mündlich miteinander verständigt haben? Sie dürfen nicht vergessen, daß sie von der Polizei verfolgt wurden und nie sicher waren, ob sie nicht unter Beobachtung standen. Sie können sagen, daß dies bloße Theorie wäre. Was ich nun von Ihnen verlange, ist: ich möchte diese Theorie erproben. Die erste Vorbedingung dafür: lassen Sie Herrn Henry hereinrufen.
Der Millionär strich mit geistesabwesendem Blick den Bart, dann drückte er auf einen Knopf und läutete. Der Sekretär erschien.
»Basilides. Rufen Sie Herrn Henry.«
Der Sekretär entschwand. Mr. Kenyon reichte seinem Gastgeber ein Stück Papier.
»Bestellen Sie für morgen dieses Lunch und warten Sie die Wirkung ab. Ich werde erst im letzten Augenblick eingreifen. Aber dann rufen Sie alle Ihre Diener. Er ist stark.«
Der Millionär nickte zerstreut. Im gleichen Augenblick trat der Küchenchef über die Schwelle. Mr. Kenyon hatte sich mit dem Rücken gegen das Zimmer an das Fenster gestellt.
»Schaffer«, sagte Alkyon Argyropoulos, »ich finde, daß ich zu sehr alle Arbeit auf deine Schultern bürde. Ich habe mich entschlossen, mein Menü für morgen selbst zu bestimmen.«
»Wie Sie wollen, mein Herr«, sagte der Küchenchef und strich über seine Schürze. »Womit wünschen Sie zu beginnen? Hors d'oeuvres?«
»Nein. Der erste Gang soll Endives sein.«
»Endivien, als Salat, gratiniert, oder –«
»Egal. Kurz und gut, Endives. Der nächste Gang: navettes.«
»Rüben nach Endivien? Sind Sie denn Vegetarianer geworden?«
»Der nächste Gang«, fuhr der Millionär fort, »Porterhouse steak.«
»Ah Sie sind also doch nicht Vegetarianer geworden, mein Herr! Um so besser, denn das wäre eine traurige Religion. Porterhouse steak, gut! Und dann?«
»Der nächste Gang: Roastbeef.«
»Roastbeef nach Porterhouse steak? Wie konnte ich nur einen Augenblick glauben, Sie seien im Begriff, Vegetarianer zu werden.«
»Der nächste Gang: Irish stew.«
Herr Henry machte einen Schritt zurück. »Drei Fleischspeisen hintereinander! Ich –«
»Danach«, setzte der Millionär mit unerschütterlicher Ruhe fort, »wünsche ich Salat, dann Omelette und zum Schluß Navarin de mouton. Hast du alles vorgemerkt? Laß mich sehen.«
Herr Henry reichte seine Karte hin, die folgendermaßen aussah:
Endives * Navettes * Porterhouse steak * Roastbeef * Irish stew * Salade * Omelette * Navarin de mouton |
Alkyon Argyropoulos gab sie zurück und sah seinem Küchenchef in die Augen.
»Was hältst du von dieser Mahlzeit, Schaffer?«
Herr Henry strich den Schnurrbart und schielte nach dem Fenster. Rätselvoll wie der Rücken der Sphinx zeichnete sich Mr. Kenyons Rücken gegen den Frühlingshimmel ab.
»Was ich von diesem Menü halte«, sagte Herr Henry gedankenvoll. »Daß Koliken die Folge sein werden, und ich möchte dafür nicht die Verantwortung übernehmen. Darum wäre es wohl am besten, wenn ich sofort meinen Posten kündige.«
Mr. Kenyon hatte das Fenster lautlos verlassen. Als der Küchenchef sein letztes Wort sprach, stand er schon an seiner Seite.
»So, Sie wollen also Ihren Posten kündigen?« sagte er höhnisch. »Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn Sie ihn gar nicht erst angetreten hätten. Wer hat Ihnen übrigens Ihre Empfehlungen verschafft? Der Betreffende muß nicht sehr gewissenhaft gewesen sein.«
»Ich habe die Stelle bei Cesarini durch einen guten Freund erhalten«, entgegnete Herr Henry mit kaltem Ton, »und ich verbiete Ihnen, sich über ihn oder mich in einem derartigen Ton zu äußern –«
»So, so! Sie verbieten sich! Nun, genug der Dummheiten! Ihr Freund war vermutlich niemand anderer als der geschätzte Herr Lavertisse, der seine Verbindungen so ziemlich überall hat. – Ich glaube übrigens, ich sah ihn im blauen Zug im Gespräch mit dem Chef von Cesarini und Sie« – Mr. Kenyon faßte die Hand des Küchenchefs mit eisenhartem Griff – »und Sie sind kein anderer als mein alter Bekannter Henry Graham!«
Mit der freien Hand griff er nach dem Schnurrbart des Küchenchefs und riß daran. Der Schnurrbart blieb zwischen seinen Fingern. Verblüfft starrte der Millionär auf das neue Antlitz, das er vor sich sah. Als aber Herr Henry zum Angriff überging, klingelte er nach der Dienerschaft. Diese strömte herbei und stürzte sich auf Seiten des Detektivs in den Kampf. Angesichts der fünffachen Übermacht mußte sich der Küchenchef ergeben. Binnen kurzem lag er an Händen und Füßen gebunden auf dem Diwan.
Mr. Kenyon winkte den Dienern, zu gehen.
»Das war Graham«, sagte er grimmig. »Nun erübrigt es sich, Lavertisse und den Professor zu finden. Sobald sie aus dem Menü ersehen, daß ihr werter Kompagnon ›en prison‹ ist, dann zweifle ich nicht, daß wir sie in längstens zwei Tagen hier zu Besuch haben werden – und ich werde bereit sein, sie zu empfangen.«
Graham wurde in einem Zimmer des obersten Stockwerkes untergebracht, in einem Raum, der lediglich eine Art Atelierfenster in der Zimmerdecke besaß, sonst aber ohne jede andere Fensteröffnung war. Eine einzige Tür war noch vorhanden, und diese wurde auf Mr. Kenyons Anordnung mit Querstangen und einem Hängeschloß versehen. Dahinter residierte Mr. Graham, ledig aller Fesseln.
»Durch das Atelierfenster in der Zimmerdecke kann er nicht ausbrechen«, erklärte der Detektiv. »Ein Mann, von dem Gewicht Grahams kann keine drei Meter hohe nackte Mauer emporklettern, außer wenn er das Gesetz der Schwere aufgehoben hat. Die Matratze, auf der er liegt, kann er unmöglich als Strickleiter verwenden, falls er kein Fakir ist – wonach er mir nicht aussieht. Die Wache draußen wird alle drei Stunden abgelöst, und ich werde selbst kontrollieren, daß dieser Auftrag ausgeführt wird.«
Alkyon Argyropoulos überlegte. »Ich muß Ihnen eine Sache erzählen. Vor einiger Zeit kaufte ich ein Perlenkollier – ein besonders wertvolles Stück. – Ich ließ rings um das Haus Wache halten, da ich fürchten mußte, es könnte mir gestohlen werden. Nichtsdestoweniger bin ich bestohlen worden.«
»Dann hat die Wache geschlafen!«
»Die Leute schwuren hoch und teuer, sie hätten nicht geschlafen.«
»Dann waren sie selbst die Diebe!«
»Auf keinen Fall. Nein – ich glaube, es war eben der Mann, dem wir jetzt nachjagen.«
»Der Professor? Was veranlaßt Sie dazu, das zu glauben?«
»Das – das gehört nicht zur Sache. Ich glaube es jedenfalls und darum erzähle ich es Ihnen. Konnte er damals in das Haus einbrechen, trotzdem es bewacht war, so kann er es jetzt auch.«
Der Detektiv lachte trocken. »Ich weiß, daß Sie keine besonders hohe Meinung von mir haben. Aber Sie dürfen doch auf keinen Fall vergessen, daß Ihre Wächter diesmal nicht allein sein werden. Ich werde nicht schlafen! Dafür garantiere ich Ihnen!«
Kenyon verbrachte den Tag damit, nachzudenken, auf welche Art ein ungebetener Gast in die Villa eindringen könnte. Der einzige Weg, der zu Mr. Graham führen konnte, war der über die eine oder andere Treppe des Hauses. So stellte Mr. Kenyon vor allem an diesen beiden strategisch wichtigen Punkten Wachen auf. Außerdem gab es noch die Möglichkeit, daß ein besonders gelenkiger Mann die Dachrinne aufwärts klettern könnte. Um das zu verhindern, wurden auch im Garten Wachen aufgestellt.
»Und ein Aeroplan!? Wäre es den frechen Schelmen nicht möglich, sich in einem Aeroplan dem Hause zu nähern?«
»Gewiß«, sagte der Detektiv in kaltem Ton, »das wäre vielleicht möglich – aber in diesem Fall würden die Schelme nicht nur das Haus, sondern den ganzen Häuserblock aufwecken. Sie haben wohl noch nie den Motor eines Aeroplanes gehört, wenn Sie das nicht wissen?«
Die Nacht kam heran. Aber nichts geschah, was die Maßregeln des Detektivs gerechtfertigt hätte. Nichts störte den Frieden, weder eine verdächtige Erscheinung, noch ein verdächtiges Geräusch. Hie und da machte Mr. Kenyon einen kleinen Ausflug in das Zimmer unter dem flachen Dach. Er wurde jedesmal von seinem Landsmann mit Flüchen empfangen, die bewiesen, daß Mr. Graham noch vorhanden war und die Aufmerksamkeit solchen Besuches entsprechend zu schätzen wußte.
Als nach durchwachter Nacht der Morgen dämmerte, konnte der Detektiv seinem Gastgeber nur die Nachricht bringen, daß sich nichts ereignet hatte.
»Wir haben im ersten Menü gefangen geschrieben«, sagte Mr. Kenyon verbissen. »Schön – schreiben wir in das nächste ausgehungert.«
Alkyon Argyropoulos zuckte zusammen. »Meinen Sie wirklich, Kyrie, daß er eine solche Strafe –«
»Hat er Sie nicht wochenlang ausspioniert, hat er nicht Ihre Absichten und Ihre Geheimnisse seinen Komplicen mitgeteilt? Seien Sie ganz ruhig, er hat noch ganz andere Schurkenstreiche auf dem Gewissen. Das Menü, das ausgehungert verkündet, soll heute erscheinen – und für die Nacht habe ich eine besondere Überraschung für meinen Freund, den Professor, vorgesehen! Menschliche Augen sehen gut, aber die Elektrizität –«
Das Mittagsblatt enthielt folgendes Menü:
Antipasta * Friture de goujons * Foie de veau * Artichauts * Mousseline de marrons |
Nachmittags ließ Kenyon rings um das ganze Haus elektrische Alarmleitungen legen. Jedes Fenster und jede Tür wurde mit dem Treppenabsatz des 1. Stockwerkes in Verbindung gebracht, wo der Detektiv zu wachen gedachte. Ungeachtet dessen wurden die Wachen weder außerhalb noch innerhalb des Hauses eingezogen.
Um 6 Uhr abends begab sich Kenyon in den Raum des Gefangenen und verkündigte ihm seine Vorsichtsmaßregeln und ebenso die Nachricht, die durch das Mittagsblatt weitergegeben worden war. Mr. Graham antwortete nur mit einem Gähnen.
Der Detektiv geriet in Wut. »Sie glauben wohl, daß die neue Mitteilung in der Zeitung nicht stichhaltig ist? Ich kann Ihnen das Gegenteil zusichern.«
»Sie gedenken also, mich auszuhungern?«
»Wenn es nötig ist!«
»Und Sie glauben, daß Ihnen das gelingen wird?«
»Sicherlich!«
Mr. Graham drehte sich auf der Matratze um und kehrte seinem Gast den Rücken zu. Es war nicht möglich, das Ende einer Audienz deutlicher bekanntzugeben.
Kenyon untersuchte die Wände des Zimmers, den Boden, die Schlösser und zog sich dann zurück. Das Lockmittel war in guter Hut. Die angelockte Beute mußte kommen, und wenn die Beute kam, schloß sich die Falle von selbst.
Aber auch diese Nacht ging vorbei, ebenso wie die vorige. Es geschah nichts, was Mr. Kenyons Maßregeln gerechtfertigt hätte, keine verdächtige Erscheinung, kein verdächtiges Geräusch störte den Frieden der Nacht.
Nach dem Frühstück legte sich der Detektiv zur Ruhe, um sich für die Nacht zu stärken. Alkyon Argyropoulos überzeugte sich zunächst davon, daß er schlief, dann begab er sich in das Zimmer mit dem Atelierfenster. Mr. Graham saß auf seiner Matratze und rauchte seine Pfeife. Nach Mr. Kenyons Maßnahmen hatte er vierundzwanzig Stunden gefastet – aber man merkte ihm nichts an. Er sah satt und zufrieden aus.
»Schaffer! Du hast schnöde mein Vertrauen mißbraucht.«
Mr. Graham antwortete nicht.
»Weißt du, daß der Argosbesieger rings um das ganze Haus elektrische Drähte ziehen ließ? Niemand kann sich nähern, ohne daß er augenblicklich davon in Kenntnis gesetzt wird. Erhoffst du noch immer Hilfe von deinen Freunden?«
Mr. Graham rauchte weiter seine Pfeife.
»Weißt du auch, daß du keine Nahrung bekommen wirst, bis der Argosbesieger deine Freunde in der Gewalt hat?«
Mr. Graham antwortete nicht.
»Warum hast du mein Vertrauen so schnöde mißbraucht?«
Mr. Graham nahm die Pfeife aus dem Mund: »Sie haben sich über nichts zu beklagen«, sagte er und schwieg dann wie die Wand. Nach einiger Zeit schritt sein Arbeitgeber die Treppe hinab. Seine Stirn war umwölkt. Er blieb ein paarmal stehen und blickte sich um. Er murmelte Worte in sich hinein, die wie Orakelsprüche oder Beschwörungsformeln klangen.
Die Nacht verging ebenso wie die vorhergehenden. Nichts war zu hören, nichts war zu sehen. Als der Morgen kam, war Mr. Graham noch immer da; doch weit entfernt davon, nach achtundvierzigstündigem Fasten erschöpft auszusehen, thronte er mit rosigerem Gesicht denn je auf seiner Matratze. Aber er war auch schweigsamer denn je, als sein früherer Arbeitgeber ihm einen Vormittagsbesuch abstattete.
Der Millionär blickte ihn mit beinahe furchtsamem Ausdruck an. »Du siehst, dein Feind, der Argosbesieger, hält, was er verspricht! Du hast zwei Tage lang nichts zu essen bekommen!«
Mr. Graham rauchte sein Pfeife.
»Weißt du, daß der Argosbesieger neue Drähte bestellt hat, mit denen er das Haus zu umspinnen gedenkt wie die Spinne ihr Opfer?«
Mr. Graham blies eine Rauchwolke vor sich hin.
Hast du nicht Hunger?«
Mr. Graham schwieg.
»Alles in allem –« der Millionär blickte scheu nach der Tür – »alles in allem warst du ein guter Schaffer. Ich könnte vielleicht –«. Abermals blickte er nach der Tür und senkte die Stimme – »ich könnte vielleicht ein wenig Essen an dem Wächter mit den tausend Augen vorbeischmuggeln. Wünschst du das?«
Mr. Graham nahm die Pfeife aus dem Mund. »Sie sind ein netter alter Weihnachtsonkel. Es ist schade um Sie.«
Der Millionär zuckte zusammen. »Was meinst du?«
»Ich meine, Sie sind in schlechte Gesellschaft geraten.«
Er deutete mit der Pfeife nach den Regionen, in denen sich vermutlich der Detektiv aufhielt.
»Aber wenn Sie mir ein Ding versprechen, so läßt sich das Ganze noch in Ordnung bringen.«
»Was soll ich versprechen? Was wünschst du? Etwas zu essen?«
Mr. Graham blies verächtlich eine Rauchwolke von sich.
»Versprechen Sie mir, ihn –« er machte neuerdings eine bezeichnende Geste mit der Pfeife – »nichts tun zu lassen, womit Sie nicht selbst einverstanden sind!?«
»Das würde mir auch nie einfallen. Aber – wünschst du keine Nahrung?«
»Nein.«
Als Alkyon Argyropoulos die Treppe hinabging, blieb er ein um das andere Mal stehen und blickte sich mit erschrockenen Augen um. Ein um das andere Mal murmelte er Worte, die wie Orakelsprüche oder Beschwörungsformeln klangen.
In dieser Nacht gegen 12 Uhr widerhallte das Haus plötzlich von einem schrillen Signal aus einer von Mr. Kenyons Alarmglocken. Der Detektiv sah nach, welche es war und entdeckte zu seinem Erstaunen, daß das Signal vom Dach kam. Er stürzte die Treppe hinauf. Mr. Graham befand sich noch immer in seiner Zelle – denn er sprach mit lauter Stimme – aber anscheinend nicht mit sich selbst. Das Dach! Mr. Kenyon flog die Treppe aufwärts zu dem flachen Dach der Villa und riß die Luke auf, die dort den Zutritt gab.
Auf dem Dach schimmerten die Umrisse eines Gegenstandes, wie er ihn noch nie gesehen hatte. War das ein Aeroplan? Ein Drache? – Eine männliche Gestalt löste sich aus dem Gewirr von Drähten und Tragflächen und schritt in der Dunkelheit auf ihn zu. Der Mann reichte ihm die Hand und sagte, indem er Stanleys berühmte Worte an Livingstone leicht travestierte: »Mr. Kenyon, wenn ich nicht irre.«
In diesem Augenblick erschien ein graubärtiger Kopf in der Dachöffnung der Terrasse. Erst jetzt bemerkte Kenyon, wie ausgedehnt diese Terrasse eigentlich war: beinahe ein Exerzierfeld. Die einzige Unterbrechung der glatten Fläche bildete das Atelierfenster.
»Was ist geschehen?« flüsterte Alkyon Argyropoulos, »wer ist das?«
Kenyon erhob eine elektrische Taschenlampe und ließ deren Licht auf den Besucher fallen.
»Herr Argyropoulos«, sagte er, »ich habe das Vergnügen, mein Wort einzulösen und Ihnen den Mann vorzustellen, dem Sie einen Monat lang nachgejagt haben. – Ihren Freund, Herrn Philipp Collin.«
»Ist er es? Ist er es wirklich?«
»Er ist es; das steht fest – wenn mir auch noch nicht ganz klar ist, wieso er hierher gekommen ist. Ich dachte nicht, daß ein Aeroplan auf einer so kleinen Fläche landen könnte.«
Philipp Collin unterbrach den Detektiv. »Ein Aeroplan kann auf einem Dach landen – wenn das auch infolge der Fahrgeschwindigkeit nicht einfach ist. Aber das hier ist kein Aeroplan.«
»So«, fragte Kenyon ironisch und sah die Maschine an. »Wollen Sie mir sagen, was das hier sein soll, wenn es kein Aeroplan ist?«
»Es ist ein Gleitflieger. Ein Gleitflieger letzten Modells.«
Der Detektiv trat einen Schritt näher. »Ein Gleitflugzeug? Was ist –«
»Haben Sie wirklich noch nie von dem Sport aller Sporte gehört? Ich habe den ganzen letzten Monat geopfert, um ihn zu erlernen. Unterdessen suchten Sie mich in Paris, in Lyon und weiß Gott wo auf der Erde. Aber da ich in der Luft war, ist es nicht weiter verwunderlich, daß wir uns nicht getroffen haben. Ah, der Gleitflug ist ein wunderbarer Sport: man schwebt über der Erde ohne lärmenden Motor, man gleitet mit den Winden auf und nieder, hin und her. Die Luft steht ja niemals still, und wenn man erst die einfache Handhabung des Apparates gelernt hat, dann fliegt man so leicht wie eine Möwe. Man kommt lautlos wie eine Möwe, Mr. Kenyon, oder wie eine Fledermaus –«
»Oder wie ein Dieb in der Nacht«, ergänzte der Detektiv und hob seine Taschenlampe gegen den Apparat. Der Graubart an seiner Seite blickte weniger den Apparat, als dessen Lenker an.
»Ikaros«, flüsterte er, »Ikaros!«
»Sie sind zu liebenswürdig, Herr Argyropoulos, aber mein Lehrer erweist mir die Ehre, mich als seinen besten Schüler zu betrachten. Es ist mir gelungen, mich bis zu fünf Stunden schwebend in der Luft zu erhalten und da ich nun den Apparat gekauft habe und frei darüber verfügen kann, habe ich die Leistung der Landung auf Ihrem Dach dreimal vollbracht – abgesehen von heute abend. Das erstemal galt mein Besuch einem gewissen Perlenkollier. Die beiden anderen Male – doch da fällt mir etwas ein. Einen Augenblick!«
Er trat an das Atelierfenster heran und schraubte eine Scheibe ab, die er offenbar schon öfters geöffnet hatte. Seiner Brusttasche entnahm er ein Paket und ließ es hinab: »Kaltes Huhn, Käse und Rotwein, Graham«, sagte er zum Atelierfenster gewandt, »nehmen Sie damit vorlieb!«
Kenyon wollte anscheinend eingreifen, überlegte es sich aber dann mit einem Achselzucken.
»Ah – deshalb war Mr. Graham so frisch und rosig«, lachte er kurz auf. »Er soll sein Huhn nur haben! Es wird wohl das letztemal für lange Zeit sein. Aber eines müssen Sie mir dafür sagen, mein lieber Professor: wie stellen Sie es an, mit Ihrer Maschine zu starten?«
»Da berühren Sie den richtigen Punkt«, sagte Herr Collin anerkennend. »Ich habe es von Ihrem Scharfsinn nicht anders erwartet. Ein gewöhnlicher Gleitflieger muß von drei oder vier Männern gestartet werden, die ihn gegen den Wind ziehen. Der Konstrukteur dieses Apparates stattet jedoch seine Apparate mit einem kleinen Motor von drei oder vier Pferdekräften aus. Das ist nicht viel, aber es ist genug.«
»Einen Motor! Und wir sollten nichts davon gehört haben, als Sie starteten.«
»Dieser Motor macht ganz wenig Geräusch, und bevor Sie es hören konnten – wenn Sie es hörten – war ich schon über alle Berge.«
Der Detektiv leuchtete mit seiner Taschenlampe zwischen die Tragflächen des Apparates. Alkyon Argyropoulos betrachtete ausschließlich den Lenker des Apparates.
»Ikaros!« murmelte er, »Ikaros!«
Mr. Kenyon wurde ernstlich böse. »Sie stehen in Bewunderung versunken vor dem Mann, der Sie seit Ihrer Ankunft in Paris ausgeplündert und ausspioniert hat! Bei Gott, ich verstehe Sie nicht!«
Der Millionär zuckte zusammen. »Es ist wahr – das ist nicht Ikaros – das ist der Agamemnon der Schelme! Warum haben Sie mich ausspionieren lassen? Und ist es wahr, daß es – wie der Argosbesieger behauptet – durch die Menükarte des Schaffers geschehen ist?«
Philipp Collin wandte sich an den Nachthimmel, als er antwortete.
»Vor wenig mehr als zwei Monaten«, begann er, »trat ein erfreuliches Ereignis auf der Insel Mytilene ein: der Bürgermeister der Stadt Mytilene erhielt eine große Erbschaft aus Amerika. Er war ein Schwärmer und voll ehrgeiziger Pläne – und so nahm er Urlaub von seinem Amt als Bürgermeister. Er nahm Abschied von seiner Gattin, die ihn zu bleiben beschwor, von seinem jungen Sohn, der ihm die Gefahren der Reise vor Augen führte. Er reiste nach Europa und kam zuerst nach Italien. Aber Italien interessierte ihn nicht – nein, Frankreich war sein Ziel und dahin zog es ihn. Kaum war er über die gallische Grenze gekommen, zog er die Aufmerksamkeit von sechs Personen auf sich, die ebenfalls durch diese Gegend reisten. Als sie bemerkten, daß er seine ganze Erbschaft in Form von Banknoten bei sich trug, stellten sie fest, daß es ein Mann nach ihrem Herzen war. Sie zogen Erkundigungen über seine Pläne ein und schmiedeten danach ihre eigenen Pläne – mit dem Ergebnis, daß sowohl er, wie seine Mitreisenden im Zug völlig ausgeplündert nach Paris gelangten.«
Herr Collin hielt einen Augenblick inne. Alkyon Argyropoulos stieß einen heiseren Schrei aus.
»Wieso haben Sie erfahren, wer ich bin?«
»Nichts war einfacher: mit Hilfe des Telegraphen. Doch schon ist der zweite Monat seit der Einschiffung in Mytilene vergangen. In den Straßen der Stadt klagt das Volk nach seinem Lenker, der bei Völkern fremder Zunge verweilt. Der junge Sohn geht jeden Tag hinab zum steinernen Hafen, Ausschau haltend nach dem bauchigen Schiff, das den Vater wiederbringen soll. Daheim weint die treue Gattin, in der Furcht, ihr Gatte könnte sie bei einer Kalypso vergessen haben – oder er könnte von einer Kirke verzaubert sein.«
»Schweigen Sie! Sprechen Sie nicht davon!«
»Auf den Hängen der Berge schwellen bereits die ersten jungen Trauben, die rosenroten Blüten der Pfirsichbäume streben sehnsüchtig der Erde zu, an den äußersten Spitzen der Feigenbäume sitzen die Blättchen wie grüne Schmetterlinge, ein Brausen wie der Ton einer Tuba steigt von tausenden, honigsammelnden Bienen auf, und ein zarter Ton wie der einer Hirtenflöte von tausend leichtsinnigen Grillen. Am Himmel flammt die Sonne, und die blauen Wogen des Meeres warten nur, daß Aphrodite ihrem Schaum entsteigen möge, dem funkelnden Strande zu.«
»Rhapsode! Willst du mich auf den Schwingen deiner Worte hinführen? Ikaros, willst du mich auf deinen Flügeln hintragen!?«
»Nein, aber ich verpflichte mich, sowohl Sie wie die Aphrodite mit Hilfe eines Schiffes hinzuführen.«
»Die Aphrodite!« rief Mr. Kenyon; er kreischte beinahe. »Haha – ich fange an, den Zusammenhang zu verstehen! Die gestohlene Aphrodite!«
»Ich möchte doch daran zweifeln, daß Sie den Zusammenhang verstehen«, sagte Philipp Collin. »Ich komme jetzt zu dem Motiv, das Kyrios Argyropoulos nach Europa getrieben hat: es war das Motiv eines Schwärmers und Phantasten. Die Museen Europas sind voll von Kunstwerken, die man Griechenland für einen Spottpreis abgekauft oder geraubt hatte. Herr Argyropoulos verließ sein Vaterland, um von diesen Kunstwerken zurückzuerwerben, was er nur konnte.«
»Zum vollen Wert?«
»Zu dem Preis, den man ursprünglich dafür gezahlt hatte, zuzüglich der inzwischen aufgelaufenen Zinsen. Unter anderem wollte Herr Argyropoulos die Mytilenische Venus um jene 6000 Franken wiederkaufen, die sie gekostet hatte.«
»Doch man hat sich geweigert, sie für den tausendsten Teil ihres Wertes zu verkaufen? Sehr begreiflich!«
»Man hat den berechtigten Wunsch des Herrn Argyropoulos abgeschlagen – und da habe ich eingegriffen. Um den Leuten Sand in die Augen zu streuen, ließ ich eine Zeitungskampagne los, und in der daraus entstandenen Verwirrung habe ich die Statue entwendet.«
»Haha! Sie waren es also! Das habe ich die ganze Zeit über vermutet! Und nachdem Sie sie gestohlen hatten, machten Sie sie Herrn Argyropoulos zum Geschenk?«
»Ganz richtig. Sie war ja nach moralischem Recht sein Eigentum.«
»Sie ist also hier im Hause?«
»Sie ist hier im Hause.«
»Nun haben Sie die Absicht, Herrn Argyropoulos dabei zu helfen, daß sie aus dem Land gebracht wird?«
»Gewiß – sie, ihn, mich selbst und meine beiden Freunde.«
Hier mischte sich Alkyon Argyropoulos mit bebender Stimme in das Gespräch. »Kyrie« sagte er zu Philipp Collin, »viele Streiche haben Sie mir gespielt, mehr als Poseidon dem Odysseus auf seiner Heimfahrt antun konnte. Es soll alles vergessen sein, wenn Sie das tun, was Sie eben sagten. Aber wie, wie wollen Sie das Bild der Schaumgeborenen an den Wächtern des Gesetzes und den argusäugigen Zöllnern vorbeibringen? Schon das Herausschaffen aus diesem Haus ist ein Wagnis, das meine Phantasie übersteigt.«
»Nichts einfacher als das«, erwiderte Philipp Collin. »Ihre Villa grenzt an die Seine. Auf der Seine liegt in diesem Augenblick ein kleines Fahrzeug, das von meinem Freund Lavertisse für mich gemietet wurde. Es ist ein Kinderspiel, die Statue an Bord des Fahrzeuges zu schaffen. Sie aus dem Land zu schaffen, ist auch nicht schwerer.«
»Aber wie?« murmelte Alkyon Argyropoulos. »Denken Sie doch an den Schwarm der Zöllner!«
»Das Fahrzeug, das ich mietete«, sagte Herr Collin, »ist in mancher Hinsicht etwas altmodisch. Es besitzt eine Gallionsfigur und dieses Gallionsbild ist innen hohl. Muß ich mehr sagen? Hat jemals ein Zöllner ein Gallionsbild durchsucht? Kann es eine würdigere Art für die Schaumgeborene geben, sich Ihrer Insel zu nähern? Doch die Nacht geht zur Neige, bald erhebt sich die Sonne aus den weinfarbigen Wogen, die nur darauf warten, Aphrodite an den glitzernden Strand zu tragen. Sollen sie vergeblich warten?«
Der alte Grieche breitete seine Arme aus, um seinen ungebetenen Gast zu umarmen.
»Kyrie«, sagte er, »mein Volk kennt viele Sagen von dem Listigsten der Listigen, von Ithakas König, dem Liebling der strahlenäugigen Athene, Odysseus. Wisset, daß er mir übertroffen scheint, übertroffen von der Wirklichkeit! Wisset: wenn irgendjemand der Liebling der Strahlenäugigen zu sein scheint, dann seid Ihr es. Wisset, daß –«
Ihn unterbrach das trockene Lachen Mr. Kenyons: »Sie haben zweifellos einen einfallsreichen Kopf, Professor – aber Sie vergessen mich, ich existiere noch! Und ich habe nicht die Absicht –«
Die Finger Herrn Collins hatten sich unbemerkt nahe den Taschen des Detektivs zu schaffen gemacht. Als nun dieser die Hände ausstreckte, um seinen Gegner zu packen, machte Philipp Collin eine hastige Bewegung, zuerst nach Mr. Kenyons rechter, dann nach seiner linken Hand. Klick! Ein paar blinkende Stahlarmbänder – aus seiner eigenen Tasche gestohlen – legten sich um seine Handgelenke. Bevor er noch seinen Gefühlen Luft machen konnte, erhob sich durch das Atelierfenster Mr. Grahams Stimme: »Professor! Sind Sie nicht bald fertig mit ihm?«
»Doch lieber Graham«, rief Philipp Collin. »Sie behaupten, Mr. Kenyon, daß wir Sie vergessen hätten. Wir vergessen Sie nicht, wenn wir Sie auch hier zurücklassen müssen. Wenn Herr Argyropoulos gestattet, werden Sie die einsame Klause meines Freundes Graham übernehmen. Bis Sie dort herauskommen, sind wir schon weit über die Grenzen Frankreichs. – Und nun, Kyrie, müssen wir uns beeilen, wenn wir die Statue an Bord des bauchigen wellenbesiegenden Schiffes bringen wollen!«
Dies ist die Geschichte, wie Paris eine Venus verlor. Eine andere wird nie erzählt werden, denn der englische Detektiv, der zwei Tage später zufolge eines Briefes, von Professor Pelotard unterzeichnet, in Southampton aufgegeben, von seinen französischen Kollegen aus einer leeren Villa befreit wurde, schwieg über alles, schwieg wie das Grab.
Und das letzte, was Westeuropa von Alkyon Argyropoulos sah, war eine mächtige Gestalt am Schnabel eines Schiffes mit altertümlichen Gallionsbild. Er stand da, seinen flatternden Bart streichend wie die Saiten einer Harfe, den Blick in die Ferne gerichtet, vorbei an den Säulen des Herkules, eine Insel im Meere suchend.
Ende.