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Der Doktor starrte blinzelnd über die Place de la Republique – ehemals Kaiserplatz genannt. Von Herrn della Croce war nichts zu sehen, und das war ja auch kaum zu erwarten gewesen. Aber einige Schritte weiter weg, an der Ecke der Avenue de la Liberté – die noch vor einigen Jahren den Namen Kaiser-Wilhelm-Straße geführt hatte – hielt ein einsames Auto. Er brauchte nicht lange Zeit, um es zu erreichen.
Das Auto war ein kleiner offener Fiat. Der Chauffeur ging daneben auf und ab und stampfte von Zeit zu Zeit auf den Boden.
»Haben Sie einen schlanken dunklen Herrn von kaum dreißig Jahren aus der Bibliothek herauskommen sehen?«
Der Chauffeur nickte.
»Haben Sie gesehen, welchen Weg er eingeschlagen hat?«
»Er hat sich ein Auto genommen und ist die Straße dort hinauf gefahren.«
»Ist das der Weg zum Bahnhof?«
»Ja.«
»Fahren Sie zum Bahnhof, aber schnell wie der Blitz!«
Der Doktor sprang in das Auto, und sie sausten davon. Sie brauchten kaum fünf Minuten, um zum Bahnhof zu kommen. Als sie beim Eingang vorfuhren, stieß der Chauffeur einen Ruf der Befriedigung aus.
»Da steht sein Auto! Ich kenne den Chauffeur.«
Der Doktor warf ihm eine Note zu und stürzte in die Bahnhofshalle. Mit wilden Blicken starrte er um sich. Kein Herr della Croce! Er war auf dem Wege zum Billetschalter, um dort Erkundigungen einzuziehen, als er hinter sich eine Stimme hörte:
»Bitte schön!«
Er drehte sich um. Es war der Chauffeur.
»Was ist denn?«
»Er ist nicht hier. Er ist nicht mit dem Zug abgereist.«
»Was sagen Sie? Woher wissen Sie das?«
Der Chauffeur schmunzelte.
»Ich weiß es, weil mein Kamerad, der mit ihm hierher gefahren ist, gesehen hat, wie er durch den Eingang zum Telegraphenamt wieder herauskam und in ein anderes Auto stieg. Er hatte den Rockkragen bis über die Ohren aufgeschlagen, aber mein Kamerad hat ihn doch erkannt.«
Der Doktor unterbrach ihn mit einem Ausruf, der am ehesten wie der Schrei eines zuschanden geschossenen Hasen klang.
»Das hätte ich mir denken können! Der Zug ist nicht das Richtige für ihn! Rasch! Versuchen Sie herauszubringen, wohin er gefahren ist. Können Sie das, dann bekommen Sie ...«
Der Chauffeur war schon zur Türe hinaus. Der Doktor folgte keuchend seinen Spuren. Er fand ihn im Gespräch mit ein paar anderen Chauffeuren. Sie schüttelten die Köpfe und deuteten in der Richtung der alten Stadt.
»Er ist zur St.-Peters-Brücke zu gefahren«, erklärte der Chauffeur des Doktors. »Eine Adresse hörten sie ihn nicht angeben, aber das Auto, das er genommen hat, ist ein Tourenauto.«
»Sieht so aus, als dächte er, über die Grenze zu kommen, nicht?« schrie der Doktor. »Wie heißt die nächste Grenzstation?«
»Kehl«, erwiderte der Chauffeur. »Sollen wir ...«
»Auf nach Kehl!« rief der Doktor. »Erwischen wir ihn, so verspreche ich Ihnen hundert Frank extra!«
Sie saßen schon im Auto. Der Chauffeur wendete sich halb um, während sie den halbkreisförmigen Bahnhofsplatz umfuhren, und warf dem Doktor einen Blick aus dem Augenwinkel zu.
»Der hat wohl etwas angestellt, nicht?«
»Das hat er!« bekräftigte der Doktor mit einem Fluch. »Fahren Sie wie der Blitz, und wenn wir ihn einholen, dann setzt es nicht nur hundert Frank – nein – zweihundert!«
Sie rollten durch die pittoreske alte Stadt, vorbei an der Peterskirche und den Weinhallen. Vor der großen Kathedrale zögerte der Chauffeur einen Augenblick.
»Es gibt zwei Abfahrtsstraßen«, erklärte er. »An der Börse vorbei und an der Universität vorbei. Später vereinigen sie sich, aber ...«
»Nehmen Sie den Weg an der Universität vorbei!« rief der Doktor. »Dies ist eine Jagd im Dienste Minervas.«
Der Chauffeur gehorchte. Bald sausten sie zum Stadttor hinaus über den Illkanal. Die Straße nach Kehl lag vor ihnen. Plötzlich brachte der Chauffeur das Auto zum Stehen. Sie waren am Zoll.
»Ist ein großes grünes Tourenauto gerade jetzt hier vorbeipassiert?«
Der Zollbeamte schüttelte den Kopf.
»In der letzten halben Stunde ist hier kein Auto durchgekommen.«
Der Chauffeur sah seinen Passagier fragend an. Der Doktor antwortete mit einer Frage:
»Ist es denkbar, daß wir vor ihm da sind?«
Der Chauffeur schüttelte den Kopf.
»Er ist in rasendem Tempo fortgefahren, haben meine Kollegen am Bahnhof gesagt. Er müßte schon längst hier gewesen sein. Sollen wir warten oder ...«
»Lassen Sie uns einen Augenblick warten!«
Sie warteten. Kein Auto kam. Der Chauffeur räusperte sich. Es war unverkennbar, daß die beiden Hundertfrankscheine seinem inneren Blick vorschwebten.
»Ist es sicher, daß er nach Kehl fährt?« fragte er.
»Sicher?« rief der Doktor. »Ich habe keine Ahnung, wohin er sich gewendet hat. Ich weiß nur, daß er allen Anlaß hat, unbemerkt zu entkommen, und daß ich das um jeden Preis verhindern muß!«
Der Chauffeur hob den Zeigefinger.
»Dann weiß ich, was er getan hat. Er ist einfach von der Grenze weggefahren, anstatt zu ihr hin! Bei der Grenze stehen eine Menge Zollbeamte und Polizisten. Und er hat doch etwas angestellt, nicht wahr?«
Der Doktor bestätigte es mit einem neuen Fluch.
»Aber wohin kann er sich dann gewendet haben?«
»Nach Wasselonne«, erwiderte der Chauffeur. »Oder nach Neuf-Brisach. Über Wasselonne kommt man nach Nancy und Metz und über Neuf-Brisach nach dem Süden.«
»Ich wette zehn gegen eins auf Neuf-Brisach«, sagte der Doktor. »Was sollte er im Inneren Frankreichs anfangen? Er ist auf dem Wege zu einem Grenzübergang, und den findet er am ehesten zur Schweiz! Los! Lassen Sie uns keinen Augenblick verlieren!«
Sie rollten zur Stadt zurück. Am Börsenplatz bog der Chauffeur südwärts ab, und binnen kurzem hielt er vor einem neuen Oktroi. Da stellte er dieselbe Frage wie früher, aber diesmal lautete die Antwort anders.
»Ein großes grünes Tourenauto ist vor einer Viertelstunde hier durchgekommen«, erwiderte der Zöllner. »Es war offenbar auf einer längeren Tour, denn es hat dort drüben in der Garage getankt.«
Er winkte ihnen, zu passieren, und der Doktor sank mit einem Seufzer der Erleichterung zurück.
»Das ist wirklich das erstemal, daß ich den Zweck einer Maut verstehe«, sagte er. »Er hat Benzin gefaßt, er ist auf einer langen Tour! Wie steht es mit uns? Haben wir genug?«
Der Chauffeur nickte selbstsicher. Zum erstenmal sah der Doktor ihn sich näher an. Es war ein hochaufgeschossener, stumpfnasiger, blondhaariger, sommersprossiger junger Mann mit einem angenehmen Wesen und einem Gassenbubenlächeln, das ungewöhnlich weiße Zähne entblößte. Seine Art zu fahren hatte dem Doktor schon Vertrauen eingeflößt; und es stand in den Sternen geschrieben, daß dieses Vertrauen im Laufe der nächsten Zeit gerechtfertigt werden sollte.
Das Auto flog südwärts; von Herrn della Croces Wagen war keine Spur zu sehen. Als der Doktor nach einiger Zeit einen Blick auf seine Uhr warf, konstatierte er, daß es auf jeden Fall zu spät sein würde, das Manuskript noch heute zurückzugeben. In diesem Augenblick wurde die Bibliothek in Straßburg geschlossen. Er drückte die Augen zu, um das Bild, das sich ihm aufdrängen wollte, zu verscheuchen – das Bild der Szenen, die sich jetzt im Bibliothekssaal abspielten. Er fühlte, wie ihm eine leichte Röte in die Wangen stieg. Was sagten wohl die frommen Hüter der Bücher in diesem Augenblick über Dr. Joseph Zimmertür aus Amsterdam? Mit welchen Epitheta versahen sie seinen Namen, und welche Wünsche sprachen sie für seine Person aus? Die Röte verbreitete sich, bis sie den Haaransatz erreichte, und er segnete die Dämmerung, die einen barmherzigen Schleier über seine Züge breitete. Und all dies wegen eines elenden Italieners und eines Manuskripts, das er, was den Wert seines Inhalts betraf, auf keine zwanzig Frank einschätzte! Er fluchte anhaltend in sich hinein, und der Chauffeur schien für Gedankenübertragung empfänglich zu sein. Denn er wandte plötzlich den Kopf und fragte mit Sympathie in der Stimme:
»Wäre es nicht das klügste, nach Basel zu telegraphieren?«
Der Doktor stieß einen Pfiff aus. Der blondhaarige Jüngling hatte recht!
»Bravo!« rief er und fischte in seiner Brusttasche, wo seine Banknoten in einem Wirrwarr ohne Portefeuille ruhten. »Diese Idee taxiere ich auf hundert Frank extra. Und wo können wir telegraphieren?«
Der Chauffeur grinste erfreut, zwei Finger am Mützenschirm.
»Ich werde beim ersten Telegraphenamt halten«, sagte er.
Kurz darauf hielten sie vor dem kleinen Telegraphenamt des Städtchens Sélestat, und der Doktor gab eine Depesche nach Basel auf, mit einem so ausführlichen Signalement von Signor della Croce und dessen Auto, als er zustande bringen konnte. Er erwähnte es dem Chauffeur gegenüber, als er herauskam. Was er nicht erwähnte, war, daß er das Telegramm mit den Worten Dupont, Detektivpolizist Straßburg, unterzeichnet hatte, anstatt mit dem Namen Dr. Joseph Zimmertür, Amsterdam. Er hatte ein Gefühl, daß dieser letztere Name vielleicht im Augenblick nicht den guten Klang hatte, der ihm gebührte.
Aber auch der Chauffeur hatte eine Neuigkeit zu berichten, und diese Mitteilung übertraf die des Doktors bei weitem an Effekt. Einige Sekunden, bevor der Doktor aus dem Telegraphenamt herausgekommen war, war ein Auto vorgefahren. Es hielt, und ein junger Mann wollte eben aussteigen, als der Doktor auf der Schwelle des Telegraphenamtes erschien. Im selben Augenblick ließ der junge Mann die Wagentüre krachend zufallen und rief dem Chauffeur eine Order zu. In der nächsten Sekunde sauste sein Wagen weiter – ein großer grüner Tourenwagen, gerade der, dem sie nachjagten!
»Meinen Sie, daß er es war?« rief der Doktor. »Das ist doch unmöglich! Da müßten wir ja rein an ihm vorbeigefahren sein, ohne es zu bemerken!«
Der Chauffeur schüttelte energisch den Kopf.
»Bestimmt nicht! Wir haben ihn nur eingeholt. Er hat sich hier im Ort aufgehalten, um Einkäufe zu machen. Ich sah einen Korb mit Eßwaren und Flaschen im Wagen. Er weiß, daß er einen weiten Weg vor sich hat. Wenn nur der Herr ...«
»Rasch weiter!« rief der Doktor. »Haben wir ihn einmal eingeholt, so wird es auch ein zweites Mal gehen. Wie heißen Sie, mein Freund? Sie haben Augen für uns beide.«
»Schmidt, Etienne Schmidt«, stellte sich der Chauffeur vor.
Sie fuhren durch die Straßen Sélestats und weiter auf der Straße nach Basel. Der Geschwindigkeitsmesser stieg von sechzig auf siebzig, achtzig und neunzig, aber das grüne Auto schien sich über die Situation völlig im klaren zu sein und die entsprechende Geschwindigkeit eingeschaltet zu haben, denn es war keine Spur von ihm zu sehen.
»In diesem Tempo«, rief Schmidt über die Achsel zurück, »sind wir in etwas über einer Stunde in Basel!«
Die Berechnung erwies sich als richtig. Gegen sieben Uhr hatten sie Neuf-Brisach hinter sich, eine knappe halbe Stunde später Banzenheim, und die Uhr zeigte gerade acht, als sie St. Louis zurollten, dem letzten Ort auf französischem Boden vor Basel. Noch immer keine Spur des grünen Autos! Schmidt kratzte sich den Kopf und verlangsamte das Tempo.
»Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, erklärte er. »Wenn wir sie schon nicht eingeholt haben, so müßten wir doch wenigstens irgendeine Spur von ihnen sehen. Die Landstraße ist ja gerade wie ein Lineal, und er kann nicht mehr machen, als wir gemacht haben! Ist der Herr ganz ganz sicher, daß er aus dem Lande will?«
»Haben Sie nicht selbst den Eindruck, daß er das gerne möchte?« fragte der Doktor trocken.
Der Chauffeur spuckte nachdenklich in sein Taschentuch. In diesem Augenblick waren sie an der Maut von St. Louis, und er hielt an.
»Ist kürzlich ein großes grünes Tourenauto durchgefahren?«
Der Beamte schüttelte den Kopf.
»Seit einer Stunde passierte kein Personenauto«, teilte er mit.
»Gibt es irgendeinen anderen Weg nach Basel?« rief der Doktor.
»Nein, keinen direkten«, erwiderte Schmidt.
Der Doktor starrte grübelnd vor sich hin. Plötzlich stieß er einen leisen Ausruf aus.
»Ich habe es! Als er mich auf den Stufen des Telegraphenamtes in Sélestat sah, merkte er, was ich im Schilde führe! Er sagte sich, daß ich seinen kleinen Plan mit der Schweizer Grenze durchschaut habe, und daß er mir direkt in die Falle läuft, wenn er hinfährt! So muß es sein! Und folglich ist er landeinwärts gefahren. Welchen Weg kann er genommen haben? Sagen Sie mir das, Schmidt, und sprechen Sie die Wahrheit, dann wächst Ihr Konto um zwei neue Hunderter!«
Der Chauffeur zögerte keinen Augenblick mit der Antwort.
»Bei Banzenheim zweigt die Straße nach Mühlhausen – Mulhouse – ab«, berichtigte er sich mit einem Schmunzeln. »Von dort geht die Nationalstraße 83 nach Belfort, Besançon und Lyon.«
» Die hat er genommen«, rief der Doktor. »Kein Zweifel! Die Hunderter gehören Ihnen, Schmidt. Aber können wir ihm den Weg abschneiden, ohne umzukehren?«
Statt aller Antwort bog der Chauffeur in einen Seitenweg ein.
»Über Altkirch«, erwiderte er lakonisch.
Von St. Louis nach Altkirch ist die Distanz 27 Kilometer, von Altkirch nach Belfort 33. Sie brauchten etwas mehr als eine Stunde, um diese Entfernung zurückzulegen, und als sie nach Belfort kamen, war es gut neun Uhr abends.
»Lieber Schmidt«, sagte der Doktor, »ich weiß, daß es unsere Pflicht ist, die Verfolgung fortzusetzen, und ich weiß, daß es unsere Pflicht wäre, uns den berühmten Belforter Löwen anzusehen, aber augenblicklich gibt es eine Sache, die für mich wichtiger ist als alles andere, und das ist, ein bißchen warmes Essen und eine Flasche Rotwein zu bekommen. Teilen Sie meine Gefühle?«
Der Chauffeur salutierte militärisch, erhob aber einen Einwand.
»Wäre es nicht besser, sich zuerst an der Maut zu erkundigen, ob sie durchgekommen sind?«
»Sie haben recht, aber machen Sie rasch!«
Der Wagen umfuhr die Festungswerke, die undeutliche Profile zum Nachthimmel erhoben, und schwankte in die engen Gäßchen der inneren Stadt ein. Vor einem Restaurant blieb Schmidt stehen.
»Wenn der Herr essen will, so fahre ich weiter und erkundige mich!« Der Doktor klopfte ihm auf die Schulter.
»Wohl gesprochen, mein Freund! Die Belohnung harrt Ihrer, wenn Sie zurückkommen.«
Mit einem Seufzer des Wohlbehagens sank der Doktor auf einen Sessel. Er bestellte ein Respekt einflößendes Menü, und er tat dies mit um so größerem Appetit, als er sich im klaren war, daß dies die letzte Mahlzeit sein konnte, die er auf freiem Fuße einnahm. Wären sie nach Basel weitergefahren, dann hätte er sich in diesem Augenblick außerhalb des französischen Rechtsprechungsgebietes befunden und hätte ohne Damoklesschwert über seinem Haupte soupieren können – aber sie waren nicht nach Basel weitergefahren. Die Jagd, wie sie jetzt fortgesetzt wurde, war ebensosehr eine Jagd, um sich der Gerechtigkeit zu entziehen, wie eine Jagd im Interesse der Gerechtigkeit. Um diese Zeit hatten sicherlich die Telegraphendrähte seinen Namen und sein Signalement schon nach allen Windrichtungen vibrieren lassen – und die einzige Grenzstation, die das Signalement des wirklichen Verbrechers bekommen hatte, war die Station in Basel. Um diese Zeit hatte vermutlich die Grenzstation Basel sich bereits in Straßburg nach dem Detektiv Dupont erkundigt, der telegraphiert hatte, aber ewig nicht kam ... Weiß Gott, welche Antwort sie jetzt aus Straßburg erhielten!
Schmidt trat mit der Mütze in der Hand zur Türe des Restaurants Danjean herein. Sein Gesicht strahlte respektvolle Pfiffigkeit aus.
»Sie sind passiert!« teilte er mit. »Sie kamen über die Straße von Mühlhausen, und sie haben fünfundvierzig Minuten Vorsprung vor uns.«
Der Doktor nickte.
»Sie sind quer durch die Stadt gefahren«, fuhr der Chauffeur fort, »und zum Stadttor hinaus gegen Besançon zu – ganz wie der Herr gemeint hat.«
Der Doktor winkte ihm, am Tisch Platz zu nehmen.
»Setzen Sie sich, Schmidt, setzen Sie sich, und lassen Sie uns die Dinge besprechen!«
Der Chauffeur warf einen Seitenblick auf die Dienerschaft.
»Ich habe für zwei bestellt«, sagte der Doktor einfach. »Machen Sie keine Geschichten! Setzen Sie sich – so ja! Weißer oder roter Wein? Bier? Das ist recht – wenn wir die ganze Nacht fahren sollen, ist es am besten, einen klaren Kopf zu haben. Aber nehmen Sie ein Gläschen Kirsch gegen die Nachtkälte, das habe ich auch getan!«
Schmidt goß mit sichtlichem Wohlbehagen seinen Kirsch hinunter und fühlte sich sofort sicherer im Sattel.
»Nun, haben Sie irgendeinen Plan, Schmidt?«
»Wäre es nicht das beste, zu telegraphieren?«
»Telegraphieren?«
»Ja, an die Polizeistationen an der Strecke. So wie in Sélestat. Der Herr ist doch Detektiv, nicht wahr? Und jetzt, wo wir wissen, welchen Weg er fährt ...«
Dr. Zimmertür fühlte, wie ihm eine leise Röte in die Schläfen stieg. Detektiv! Wenn der brave Schmidt wüßte, welchen Mißbrauch sein Passagier bereits mit diesem achtunggebietenden, schreckeneinjagenden Titel getrieben hatte! Und wie wenig Recht er besaß, ihn zu führen!
»Ich bin nicht Detektiv«, beeilte er sich zu sagen. »Kein richtiger Detektiv«, fügte er hinzu, als er die verdutzte Miene des Chauffeurs sah. »Ich bin Doktor und – hm – Privatdetektiv auf der Jagd nach einem Menschen, der ... der mich um ein kostbares Manuskript bestohlen hat. Natürlich könnte ich an die Polizeistationen der ganzen Strecke telegraphieren, das könnte ich selbstverständlich – aber« – er hatte eine Eingebung – »sehen Sie Schmidt, ich will die Ehre haben, ihn mit eigenen Händen zu fangen! Ich hoffe, Sie können meine Gefühle verstehen!«
Das konnte Schmidt. Er aß Kalbskotelettes mit einem Appetit, über den das Personal die Nase rümpfte.
»Was glauben Sie, daß sie zu tun gedenken, Schmidt? Die Nacht durchfahren oder schlafen?«
»Bißchen schlafen, bißchen fahren«, murmelte der Chauffeur, indem er sich einen neuen Kirsch einschenkte.
»Das ist auch meine Meinung«, sagte der Doktor. »Von hier nach Besançon sind, wie die Karte sagt, neunzig Kilometer. Ich glaube, Besançon wird ihr heutiges Ziel sein. Vermutlich auch unseres.«
Der Chauffeur nickte zustimmend. Kurz darauf rollten sie durch das Stadttor beim Fort Denfert Rochereau hinaus. Die Nationalstraße 83 Straßburg – Lyon lag wie ein breites Silberband vor ihnen. Der Mond hatte sich über dem Horizont erhoben, und sie hatten eher das Gefühl, über einen rasch dahingleitenden Strom zu sausen als über festen Boden. Ungefähr zwanzig Kilometer nach Belfort passierten sie einen Hohlweg zwischen zwei dunklen, bewaldeten Hängen. Ein Auto hielt im Schatten, offenbar havariert, und Schmidt verlangsamte mechanisch das Tempo.
»Kann man helfen?« rief er, aber er bekam nur ein abweisendes Grunzen zur Antwort. Beide Passagiere des Autos standen ganz vornübergebeugt, die Köpfe im Innern des Wagens begraben. Schmidt knurrte gerade, daß Leute eigentlich danke sagen könnten, aber daß sie es selten tun, als der Doktor sich mit leuchtenden Augen auf seinem Platz aufrichtete.
»Schmidt«, sagte er, »das waren sie!«
Der Chauffeur bremste so plötzlich, daß sie alle beide vornübergeworfen wurden. Mit weit offenem Munde starrte er seinen Passagier an.
»Unmöglich!« murmelte er und wollte wieder rascher fahren. Der Doktor hielt ihn zurück.
»Ich bin sicher, daß er es war!« rief er. »Das Auto und den Chauffeur habe ich nie gesehen, aber ihn sah ich wiederholt. Diese breiten Schultern und die Tänzertaille sind nicht zu verkennen.«
Er sah wehmütig an seiner eigenen Gestalt herab.
»Er war es! Sie haben eine Panne gehabt und – Schmidt! Sagen Sie mir eines: Gibt es hier in der Nähe keinen Grenzübergang in die Schweiz?«
Der Chauffeur studierte seine Karte.
»Von Baume-les-Dames geht ein Seitenweg nach Neuchâtel in der Schweiz«, erklärte er. »Aber der ist beschwerlich.«
»Wenn er in die Schweiz hineinschlüpfen will, macht er sich aus der Beschwerlichkeit nichts«, sagte der Doktor. »Wir fahren zu diesem Seitenweg und warten dort. Dann kommen wir wenigstens über seine Pläne ins klare!«
Sie sausten weiter, und an Ort und Stelle angelangt, blieben sie ein kleines Stückchen unterhalb des erwähnten Weges stehen. Das Gebirgsdörfchen Baume schlief friedevoll am Gestade des Flusses Doubs, dessen Forellen seinen einzigen Anspruch auf die Aufmerksamkeit der Welt darstellen. Die Zeit verging, und die Uhr der Kathedrale verkündete diese Flucht in silbernen Tönen. Plötzlich wendete sich Schmidt mit einer Frage an seinen Arbeitgeber.
»Eines verstehe ich nicht. Wenn Sie so sicher sind, daß er es war, warum haben Sie ihn dann nicht gleich arretiert?«
Der Doktor war auf die Frage vorbereitet.
»Lieber Schmidt, zu einer Arretierung brauche ich die Assistenz eines richtigen, gesetzlichen Polizisten. Ich bin nur – hm – Privatdetektiv, und ich kann keinen Menschen arretieren.«
»So?« Die Stimme des Chauffeurs drückte tiefe Enttäuschung aus. Es war klar, daß die Detektivromane, die er gelesen hatte, ihm einen anderen Glauben beigebracht hatten.
»Nein, das kann ich nicht. Und ich lege auch gar keinen Wert darauf. Dieser Mann hat mir etwas gestohlen, das ich wieder haben will. Bekomme ich es, so bin ich zufrieden. Sind Sie stark, Schmidt?«
Schmidt ballte im Mondenschein eine Faust, die alles ausdrückte.
»Ich bin Leichtgewichtschampion in unserem Klub in Straßburg«, sagte er mit dem entsprechenden Nachdruck, »aber ich habe Stentz, der Schwergewichtler ist, in zwei Runden be...«
Er wurde unterbrochen. Ein Auto auf der Straße von Belfort tutete wie wahnsinnig. Es sauste im Mondlicht an sie heran und blieb dann, unschlüssig über den Weg, stehen. Eine Straßentafel gab den Weg nach Besançon an, eine den Weg zur Schweizer Grenze. Welchen würde Herr della Croce nehmen? Daß es della Croce war, der im Auto saß, sah der Doktor jetzt ganz deutlich, und daß es das grüne Auto war, bekräftigte Schmidt, der bei dem Anblick seiner Beute keuchend wie ein Bulldogg atmete. Nun bog das grüne Tourenauto ab, und zwar nach Besançon. Also war es nicht seine Absicht gewesen, in die Schweiz zu fliehen! Aber wohin wollte er denn? Der Doktor hatte nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln. Sein getreuer Schildknappe Schmidt ging für seine Rechnung zur Tat über.
Mit einem Handgriff schleuderte er sein Auto zu dem grünen vor. Offenbar war es seine Absicht, ihm den Weg zu versperren, herauszuspringen, einen kurzen Faustkampf zu liefern, die gestohlene Beute zurückzuerobern und den Feind im ungestörten Besitz der Walstatt zu lassen – offenbar, denn die eine Hand ruhte auf der Bremse, die andere war drohend zum Angriff geballt. Der Doktor begriff seine Absicht und ballte seine eigenen rundlichen Hände ebenfalls zum Kampf. Aber es stand geschrieben, daß Schmidts Feldzugsplan fehlschlagen sollte. Beim Knattern seines Motors stutzten die zwei Männer in dem grünen Auto, und als das kleine panzergraue Auto mit einem Raubtiersprung aus dem Schatten in den Mondschein herausschoß, erhoben sie sich halb von ihren Plätzen. Aber sie brauchten nicht lange, um die Situation zu erfassen. Das rundliche Antlitz des Doktors war überall leicht kenntlich, und Herr della Croce identifizierte es auch sofort. Er legte seinem Chauffeur die Hand auf die Schulter und murmelte etwas. Das grüne Auto sauste vorwärts, wie aus einer Schleuder geschossen. Der Italiener richtete sich zu seiner vollen Höhe auf und drehte sich nach seinen Verfolgern um.
Sein schönes Gesicht zeigte, wie er so auf den Doktor hinuntersah, einen halb amüsierten, halb drohenden Ausdruck. Das graue Auto fuhr jetzt mit Vollgas und war nur ein paar Wagenlängen hinter dem grünen zurück. Signor della Croce lächelte ironisch über Schmidts rasende Anstrengungen. Dann führte er die Hand zum Mund, wie um ein Gähnen zu maskieren, und setzte sich wieder hin. Eine Zeitung erhob sich über dem Rand der Karosserie des grünen Autos. Signor della Croce lag zurückgelehnt da, in Lektüre vertieft, ohne Interesse für seine Verfolger!
»Ah, diese Italiener!« murmelte der Doktor. »Und wenn sie auf der Folterbank lägen, sie hätten noch Zeit zu einer Geste für die Zuschauer übrig. Er hält uns für unwürdige Feinde, und er zeigt das in derselben Weise, wie man in italienischen Theatern den Schauspielern andeutet, daß sie in ihren Rollen unmöglich sind – indem man die Zeitung liest!«
Schmidt errötete, so daß sein sommersprossiges Gesicht im Mondschein ganz dunkel aussah. Er arbeitete am Volant wie ein Galeerensklave. Baumes-les-Dames lag schon hinter ihnen, eine Silhouette gegen den östlichen Himmel.
»Tausend Frank, wenn wir ihn einholen, und zweitausend, wenn wir ihn dazu bringen, seine Zeitung zu vergessen!« sagte der Doktor.
Schmidt antwortete nicht. Seine Augen waren in den weißen Papierbogen verbohrt, der im Wind vor ihnen flatterte und knallte. Sachte, sehr sachte kroch das graue Auto näher an das grüne heran. Der Weg schlängelte sich wie eine getretene Schlange. Er eignete sich nicht für Wettrennen, und der Chauffeur des grünen Autos erkannte das offenbar, denn er beobachtete eine gewisse Vorsicht beim Fahren. Aber Schmidt war taub gegen die Gebote der Pflicht, taub für die Warnungen des Doktors und blind für alles außer dem weißen Papierbogen. Sie passierten die Kurven auf zwei Rädern und flogen bei jeder Unebenheit der Straße in die Luft – aber sie kamen näher heran. Ja, merklich näher! Jetzt waren sie kaum drei Wagenlängen hinter dem grünen Auto, jetzt kaum zwei. Schmidt tutete ironisch anhaltend, wie um seinen Kollegen zu ersuchen, die Passage freizugeben. Und plötzlich verschwand die Zeitung.
Über dem Rand der Karosserie erschien ein bleiches Antlitz mit zwei starrenden schwarzen Augen. Ein Mund machte rasende Grimassen und rief etwas. Trotz des Motorlärms glaubte der Doktor die Worte zu hören: »Hüten Sie sich!« Dann schnellte Herr della Croce zu seiner vollen Höhe auf. Seine rechte Hand schwang eine schwere Burgunderflasche. Er zielte und warf mit voller Kraft. Die Flasche sauste durch die Luft auf Schmidt zu, der unwillkürlich bremste. Anstatt der Stirn des Chauffeurs nahm der Mantel des Kühlers das Projektil auf. Es zerschellte in tausend Scherben, die über den Weg tanzten. Schmidt fluchte so anhaltend, daß es beinahe aussah, als wäre er außer sich, daß er dem Wurfgeschoß entronnen war. Der Doktor ahnte, weshalb: die Gummireifen! Dann zeigte sich Herr della Croce zum zweitenmal über der Karosserie. Offenbar war er über den Effekt seines ersten Wurfes nicht ganz beruhigt, denn diesmal hielt er einen Revolver in der Hand. Einen Augenblick wies er auf den Doktor, dann auf Schmidt. Aber das war nur Anschauungsunterricht. Denn nun senkte sich die Waffe. Es kam eine Serie von Explosionen, die beinahe in dem Motorlärm untergingen, als der Inhaber des Manuskriptes M 33 in 9 b 28 alle sechs Schüsse des Revolvers in Dr. Zimmertürs Autoreifen hineinfeuerte.
Schmidts Flüche gingen in ein unsinniges Lachen über:
»Überflüssig, mein Freund! Deine Flasche hat schon ihre Wirkung getan. Ich hörte den rechten Reifen zischen, bevor du noch geschossen hattest. Du hättest dir deine sechs Patronen für das nächste Mal sparen können!«
Er bremste so heftig, daß der Doktor wie ein Ball in die Höhe flog.
»Nicht so unnötig, wie Sie meinen, lieber Schmidt«, brachte der Doktor mit Mühe hervor. »Einen geplatzten Reifen hätten Sie reparieren können, aber zwei Reifen, die von einem halben Dutzend Bleikugeln durchbohrt sind, das geht über Ihre Kraft.«
Sie hielten mitten auf der Nationalstraße Nr. 83 in einer plötzlichen Stille, die nach dem Trommelwirbel der letzten Minuten beinahe unnatürlich wirkte. Hundert Meter vor ihnen verschwand die rückwärtige Laterne des grünen Autos um eine Wegbiegung. Ein weißer Papierbogen winkte ihnen ein letztes Lebewohl zu. Der Doktor ballte eine rundliche Hand zum Gruße.
»Wink du nur, mein Freund! Wir haben unsere Rechnung noch nicht abgeschlossen, wenn du es auch glaubst. Au revoir!«
Schmidt sah von den Ruinen zweier guter Michelinreifen auf.
»Ich will ja gerne glauben, daß der Herr recht hat«, sagte er ingrimmig, »aber es fällt mir schwer. Heute nacht kommen wir nicht weiter. Soviel steht fest. Was er auch ist, mit einem Revolver versteht er umzugehen. Sehen Sie nur!«
Er zeigte auf eine Serie von drei Löchern in jedem Reifen. Der Doktor nickte.
»Er ist sicher in allem, was zu seinem Beruf gehört, erstklassig«, gab er zu. »Und heute nacht holen wir ihn nicht mehr ein. Aber da wir wissen, wo er hin will, macht das ja nichts.«
»Wir wissen, wo er hin will?« Der Tonfall des Chauffeurs wurde tief mißtrauisch.
»Ja, das wissen wir. Das habe ich mir soeben auskalkuliert. Er hat den Seitenweg in die Schweiz bei Baume nicht genommen, und das kann nur eines bedeuten: er glaubt, daß ich an alle Schweizer Grenzstationen telegraphiert habe. Darum ist er auf dem Wege nach Italien, seinem Heimatlande!«
Schmidt stieß einen Pfiff aus.
»C'est ça! Er fährt nach Italien! Wir treffen uns, mein Freund, wir treffen uns!«
Auch er ballte die Faust gegen das verschwundene Auto.
»Und nun«, sagte der Doktor, »haben wir nichts anderes zu tun, als uns ein Nachtquartier zu suchen, wenn wir es in dem Dörfchen dort drüben finden können. Wir haben beide ein paar Stunden Schlaf sehr nötig, lieber Schmidt.«
Sie verließen das Auto und begaben sich in das erwähnte Dörfchen, das einige hundert Meter weit weg im Mondschein schlummerte. Es zeigte sich, daß sein Name Roulans war. Sie fanden ein einfaches Gasthaus, und so nach und nach gelang es ihnen auch, den Besitzer herauszutrommeln und ein Obdach für die Nacht zu bekommen.
Die Uhr zeigte am nächsten Morgen kaum sechs, als Schmidt schon an die Türe des Doktors pochte und ihm mitteilte, daß alles zum Start bereit wäre. Er hatte eine Reparaturwerkstätte ausfindig gemacht und zwei neue Reifen erworben, die der Doktor ohne jeden Protest bezahlte. Aber auf dem Wege zum Auto hatte er eine Attacke jener Anwandlung, die Napoleon ›le courage de deux heures du matin‹ nannte.
Das ist ja eigentlich der lichte Wahnwitz, dachte er. Ich, ein angesehenes Mitglied der ärztlichen Gilde in Amsterdam, irre in den westlichen Verzweigungen der Alpen herum, auf der Jagd nach einem italienischen Halunken, der ein Manuskript gestohlen und meine Autoreifen mit sechs Revolverkugeln und den Scherben einer Burgunderflasche perforiert hat. Unterdessen werde ich selbst von der französischen Polizei gejagt, die mich für den Manuskriptdieb hält. Es ist tatsächlich ein Wahnwitz. Handelte ich nur einigermaßen vernünftig, ich führe nach Baume-les-Dames zurück und von dort über die Grenze nach Neuchâtel.
Aber der Rhythmus des Autos und das Rauschen des Morgenwindes verscheuchten bald diese gesunden, richtigen Erwägungen.
Die Jagd macht mir Spaß, dachte der Doktor. Ich habe das Vorgefühl, daß sie mich zur Lösung des Problems führen wird, das mich in Straßburg beschäftigt hat. Was kümmert es mich, wenn sie mich gleichzeitig in riskante Abenteuer stürzt? Bin ich nicht der Sohn eines Volkes, das vierzig Jahre lang eine Wolkensäule durch die Wüste verfolgte?
Er kicherte bekräftigend bei diesem Gedanken und bekam einen erstaunten Blick von Schmidt, der unwirsch und zugeknöpft dasaß. In Besançon, wo sie kurz vor sieben Uhr eintrafen, zog der Chauffeur seine gewohnten Erkundigungen bei der Maut ein. Einige Schritte davon entfernt sah der Doktor einen Zeitungskiosk. Er beschloß, die Gelegenheit zu benützen und zu sehen, was inzwischen in der Welt passiert war.
Die erste Rubrik, die er in ›Le Républicain du Doubs‹ sah, war danach angetan, seiner Eitelkeit zu schmeicheln, denn sie bewies, daß sein Name bereits auf den Flügeln des Ruhmes durch ganz Frankreich getragen wurde. Das Hauptorgan der Stadt Besançon nannte ihn un savant escroc – einen gelehrten Schwindler –, bezeichnete sein Mißgeschick mit dem Manuskript als ein ›ungewöhnlich freches Attentat auf ein unschätzbares Nationaleigentum‹ – Coup de main d'une rare audace – und nahm dies zum Anlaß, eine Revision der Einwanderungsgesetze zu befürworten – zu viele ausländische Filous, Escrocs, Voleurs und Fripons waren im Schutz der jetzigen Gesetze in der Lage, das schöne Frankreich auszuplündern. Der Doktor errötete verschämt über so viele heroische Epitheta und merkte plötzlich, daß jemand über seine Schulter mitlas und sein Interesse teilte. Es war der lange Chauffeur.
»Na, Schmidt?« sagte der Doktor und steckte die Zeitung hastig in die Tasche. »Was sagt der Oktroi der Stadt Besançon?«
Sein Versuch, den Unbefangenen zu spielen, war nicht völlig geglückt. Er merkte es selbst, und merkte auch einen neuen eigentümlichen Ausdruck in den Augen des Chauffeurs.
»Sie sind heute nacht durch das Stadttor gekommen«, sagte Schmidt kurz. »Vermutlich sind sie jetzt schon weitergefahren. Die Nationalstraße 67 führt in die Schweiz. Die Nationalstraße 83 nach Poligny und zur italienischen Grenze. Welche sollen wir nehmen?«
»Nummer dreiundachtzig«, antwortete der Doktor ohne Zögern. »Er ist auf dem Weg nach Italien. Kein Zweifel.«
Der Chauffeur nickte.
»Was war denn das für ein Artikel über einen Diebstahl in Straßburg?« fragte er. »In der Bibliothek?«
»Diesem Dieb jagen wir doch eben nach«, murmelte der Doktor und ging auf das Auto zu.
»Mir scheint doch, es stand da, daß der Dieb ein Gelehrter ist«, fuhr Schmidt unerbittlich fort. »Ein Doktor, war es nicht so? Ist der junge Mann, der mit dem Revolver schoß, Doktor?«
»Jedenfalls ist er in seinem Fach ganz ausgelernt«, erwiderte Dr. Zimmertür und stieg in das Auto. »Finden Sie nicht auch, Schmidt? Rasch, wir haben keine Zeit zu verlieren!«
»Ich bin sicher, daß der Herr ihn überlistet«, sagte Schmidt langsam und ließ den Motor an.
Der Doktor murmelte eine Anerkennung dieses Lobes. Er benützte die erste Gelegenheit, ›Le Républicain du Doubs‹ unbemerkt zu ›verlieren‹, aber er fühlte, wie Schmidts Blick aus dem Augenwinkel auf ihm ruhte.
An Besançons südlichem Oktroi fanden sie die Vermutung des Doktors bestätigt. Das grüne Auto war gegen halb sieben Uhr auf dem Weg nach Savoyen und der italienischen Grenze hier passiert.
Herr della Croce hatte nach Besançoner Zeitrechnung einen Vorsprung von einer Stunde, und Besançon ist wegen seiner guten Uhren berühmt. Daß Herr della Croce selbst über die Unzulänglichkeit eines solchen Vorsprungs im klaren war, daß er volles Vertrauen zu ihrer Fähigkeit hegte, trotz Burgunderflaschen und Revolverkugeln seinen Spuren zu folgen, dafür sollten dem Doktor und Schmidt in der nächsten Zukunft nicht weniger als drei Beweise werden. Der erste Beweis ließ freilich noch ein wenig auf sich warten. Die ersten hundertfünfzig Kilometer legten sie genau so wie Herr della Croce auf der großen Nationalstraße Straßburg-Lyon zurück, die wenig Gelegenheiten zu Überraschungen bot; aber bald nach der Stadt Bourg bogen sie auf seiner Spur in einen Seitenweg ein, der sich durch enge Täler nach Chambéry und der Perle Savoyens, Aix-les-Bains, hinaufschlängelt. Die ganze Strecke betrug etwas mehr als hundert Kilometer. Sie hatten bereits drei Viertel davon zurückgelegt, als sie den ersten Wink erhielten, daß ihre Anwesenheit in diesen Gegenden unerwünscht war.
Vor dem Hotel eines kleinen Städtchens namens Belley hatten sie haltgemacht und erwogen gerade, ob sie weiterfahren oder über Nacht bleiben sollten. Der Weg war sehr beschwerlich, und es dämmerte schon. Der Vorsprung des Italieners war auf anderthalb Stunden angewachsen; aber andererseits waren noch zweihundert Kilometer bis zur italienischen Grenze durch ständig steigendes Terrain zurückzulegen.
Während sie noch sprachen, sammelte sich eine Schar von Straßenarbeitern rings um ihr Auto an. Sie musterten den Doktor und seinen Chauffeur aufmerksam, allmählich wurde ihre Aufmerksamkeit immer auffallender. Sie glotzten die Fremden an und wechselten Worte in einem unverständlichen Dialekt. Ein Kreis begann sich um das Auto zu schließen. Das Gemurmel wuchs an.
»Hören Sie, Schmidt«, sagte der Doktor. »Das will mir nicht gefallen. Wenn ich mich nicht täusche, sprechen diese Menschen hier ein italienisches Patois. Was sollte hindern, daß unser guter Freund della Croce ...«
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als der erste Stein heransauste. Er zerschmetterte eine der beiden Laternen. Wie auf ein Signal erhoben sich ein Dutzend Hände mit weiteren Steinen. »Fahren, Schmidt, fahren!« rief der Doktor.
Der Chauffeur kurbelte an und tutete. Aber niemand im Kreise machte Miene, zurückzuweichen. Ein neuer Steinhagel kam. Glücklicherweise ging der Weg bergab. Schmidt gab Vollgas, und die Kurbelstange schwingend, fuhr er geradewegs in die Masse hinein. Endlich wich sie zur Seite; aber zwei oder drei schwärzliche Individuen sprangen auf die Wagentritte, und die Autoräder gingen etlichen anderen über die Zehen. Drei oder vier Hände griffen nach Schmidt. Der Doktor bekam einen heftigen Schlag auf den Nacken. Er fuchtelte wild mit beiden Armen um sich, deren Kürze er in diesem Augenblick tief beklagte. Schmidts Kurbelstange fiel knirschend auf etwas Weiches nieder, worauf sich ringsum ein rasendes Geheul erhob. Aber sie waren jetzt aus dem Haufen heraus und sausten mit voller Geschwindigkeit die Straße hinunter. Schmidt bog auf zwei Rädern um eine Ecke. Zwei schwärzliche Individuen, die sich an dem Doktor angeklammert hatten, fielen der Zentrifugalkraft zum Opfer, verloren den Halt und rollten wie eine Lawine ein enges Gäßchen hinunter, aus dem die Kinder schreiend flüchteten. Zwei Minuten später hatten sie Belley hinter sich und begannen den Anstieg nach Chambéry.
»Das wäre um ein Haar schief gegangen«, pustete der Doktor. »Kein Zweifel, da steckt er dahinter! Er hat einer Schar seiner Landsleute unser Signalement gegeben, und sie haben seine Erwartungen nicht enttäuscht. Sie haben sich famos gehalten, Schmidt! Ihr Bankkonto wächst!«
»Vielleicht auch andere Kontos«, murmelte der Chauffeur. »Ich glaube, der linke Arm dieses Kerls mit dem Bart wird eine Reparatur nötig haben. Natürlich schwören sie bei der Polizei falsch und sagen, daß wir angefangen haben – aber ihr Zeugnis gilt und unseres nicht, da wir davongefahren sind. Ich glaube, es wird nicht lange dauern, bis unser Signalement ausgeschickt wird.«
»Wenn es nicht schon ausgeschickt ist«, fuhr Schmidt mit einem Seitenblick auf seinen Begleiter fort.
Die Wangen des Doktors nahmen die schöne Farbe der Erdbeere an, und er pries die Dämmerung, die dies einigermaßen verbarg. Mit nur einer brauchbaren Laterne krochen sie langsam die Gebirgstäler Savoyens hinauf. Die Straße, auf der sie fuhren, war eine einfache Departementsstraße, die weder Felsvorsprüngen noch Hohlwegen auswich. Und in einem solchen Hohlweg wurde ihnen die zweite Mahnung, daß Herr della Croce es vorzog, ohne diensttuende Suite zu reisen.
Quer über den dämmrigen Weg, in gleicher Höhe mit ihren Köpfen, war ein dicker Stahldraht gespannt!
Der Doktor war es, der ihn im letzten Moment erblickte. Der Hohlweg lag am Fuß eines Hügels, sie hatten gute Fahrt, und das Licht war so matt, daß der Plan des Italieners unfehlbar geglückt sein würde, wenn der Doktor nicht nyktalop gewesen wäre. Seine Augen, die am Tage nur mittelmäßig waren, wurden bei Nacht katzenhaft; und er entdeckte oder richtiger ahnte den Stahldraht als einen Streif zwischen zwei Baumstämmen, ein oder zwei Sekunden, bevor es zu spät war. Indem er Schmidt zurief, sich zu ducken, packte er die Handbremse. Der Wagen blieb stehen, und der Draht vibrierte über dem Kühler.
»Das Damoklesschwert hing solider«, sagte der Doktor, aber seine Stimme war belegt. Schmidt schwieg, aber sein Blick war beredt, als er den Stahldraht von den Bäumen löste und ihn, nachdem er ihn zusammengerollt hatte, in die Tasche steckte.
Diese Nacht schliefen sie in Chambéry. Sie hatten gehofft, Signor delle Croce in einem der Hotels zu finden, doch diese Hoffnung wurde enttäuscht. Er hatte es vorgezogen, sein Nachtquartier ein Stück weiter auf dem Wege nach Italien zu suchen. Während sie schliefen, wurde das Auto gegen Extrabezahlung repariert, und schon gegen fünf Uhr am nächsten Morgen rollten sie weiter in das Gebirge hinauf. Die erste geahnte Glut des Sonnenaufgangs zitterte wie eine Tempelflamme auf den Alpenfirnen; die Täler waren wogende Fluten von opalfarbenem Nebel. Alles atmete Reinheit und Frieden. Der Kampf und die Mißgunst der Menschen war ein grotesker Traum – und doch sollten sie bald den Beweis erhalten, daß dieser Traum ein Wahrtraum war. Gegen sieben Uhr fuhren sie in das kleine Städtchen St.-Jean-de-Maurienne ein, und hier überreichte Signor della Croce seine dritte und letzte Visitenkarte.
Sie hatten kaum an der Maut haltgemacht, um ihre gewöhnlichen Fragen zu stellen, als der Zollbeamte einen Ruf ausstieß. Zwei Gendarmen tauchten aus der in der Nähe gelegenen Wachtstube auf. Der Anblick des Doktors schien sie mit Entschlossenheit zu erfüllen. Sie stürzten auf das graue Auto los, legten dem Gelehrten die Hände auf die rundlichen Schultern und fragten mit einer Stimme:
»Geben Sie zu, daß Sie Doktor Joseph Zimmertür aus Amsterdam sind?«
Bevor der Gefragte antworten konnte, riefen sie automatisch:
»Es nützt Ihnen gar nichts, wenn Sie zu leugnen versuchen! Wir haben Ihr Signalement! Sie sind wegen Diebstahls französischen Nationaleigentums verhaftet.«
An Schmidt gewendet, fügten sie hinzu: »Und Sie, mein guter Mann, sind als Mitschuldiger und Helfershelfer arretiert!«
Der Doktor senkte den Kopf, um den Augen des treuen Helfershelfers nicht zu begegnen. Dann schlug er den Blick zu den Gendarmen auf.
»Gestatten Sie mir eine Frage: Hat Sie jemand darauf vorbereitet, daß ich hier zu erwarten war?«
»Ja«, erwiderten die Handlanger der Gerechtigkeit aus einem Munde. »Ein Herr in einem grünen Auto, der vor einer Stunde hier vorbeifuhr, sagte uns, daß Sie vermutlich kommen würden. Er hat in einer Zeitung von dem Diebstahl gelesen und Sie nach dem Steckbrief erkannt. Er vermutet, daß Sie auf dem Wege nach Italien sind.«
»Dieser Herr war der Dieb«, sagte der Doktor. »Ich jage ihm schon seit Straßburg nach. Ich bin unschuldig, das schwöre ich!«
Die Gendarmen hatten dafür nur ein Hohnlachen. Aus dem Augenwinkel fühlte der Doktor Schmidts forschenden Blick. Er hatte den Mund noch nicht aufgemacht, um ein Wort zu sagen. Jetzt tat er es.
»Der Herr hätte doch wenigstens gegen mich ehrlich sein können«, war alles, was er sagte.
»Schmidt, lieber Freund, ich bin ehrlich gewesen! Er ist der Dieb, und die dummen Gendarmen arretieren uns! So geht es hier in der Welt.«
Er wurde in brüllendem Ton aufgefordert, den Mund zu halten. Unmittelbar darauf führte man ihn und Schmidt in den Arrest von St.-Jean-de-Maurienne ab. Der war in der Wachtstube untergebracht, aus der die Gendarmen herausgestürmt waren. Das verbrecherische Auto wurde in eine nahe gelegene Garage gebracht.
Saturn, der Planet des Kerkers und der Gefangenschaft, stand rot und majestätisch in dem Erniedrigungshause des Merkur.