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Zweites Kapitel.
Wie man eine Aktiengesellschaft gründet

Während an den Fronten Stahl und Eisen explodierten, häufte sich hinter ihnen das Gold.

Alle Hände rührten sich emsig – alle Gehirne arbeiteten mit Hochdruck; die Postzüge verkehrten vollgeladen trotz strenger Zensur; die Telegraphendrähte vibrierten vor Überanstrengung und Lügen; die Zeitungen verbuchten ungeheure Einnahmen durch mystische Inserate.

Frankfurt und Amsterdam umspannten Europa, bis es einem Riesenkokon ähnelte; Kopenhagen, Stockholm und Christiania fingen an, sich bemerkbar zu machen; die Gassen von Lemberg und Warschau spieen ihren lebendigen Inhalt über ganz Europa aus.

Als Wenzel Furustolpe an einem Aprilmorgen des Jahres 1916 in Kopenhagen landete, unterschied er sich bei weitem von den dunkelhäutigen Söhnen Rußlands und Galiziens, die sich seit anderthalb Jahren in der dänischen Hauptstadt angesammelt hatten.

Dunkle Erinnerungen an die Landung Gustav Adolfs auf Rügen durchzogen sein Gehirn.

So wie Gustav Adolf in dem großen Deutschland mit nur einigen tausend Mann landete, so landete er in diesem fremden Lande mit nur einigen tausend Kronen. Wie Gustav Adolf war er, mit Alltagsaugen gesehen, schwach, aber stark in seinem Glauben. Wie Gustav Adolf glaubte er an das Ziel, das er sich gesteckt hatte.

Das hatte er von Jugend auf getan, und darin lag seine Stärke. Solange er als Lehrer für die geistig Armen in Finnland wirkte, war er ganz aufgegangen im Glauben an diese Mission.

Aber jetzt fühlte er sich zu höheren Aufgaben berufen, und er brannte vor Eifer und Begeisterung.

Es ist besser, Wunden zu heilen, als Wunden zu schlagen.

Derjenige, welcher ein Geschäft macht, ist größer, als der, welcher eine Schlacht gewinnt. Denn was ist eine Feldschlacht anders als tausend abgerissene Lebensfäden? Knüpft man nicht durch ein gut gelungenes Geschäft die Fäden zusammen, die Volk mit Volk verbinden? Wohl bemerkt, ein ehrliches Geschäft. Denn mit anderen wollte er sich unter keinen Umständen und niemals befassen.

Furustolpe fuhr durch Nyhavn und Ströget.

Kopenhagen rollte an ihm vorbei mit Kanälen, roten Häusern, grünen Dächern, einer schmalen, sich schlängelnden Hauptstraße, Autos, Autobussen und Cafés. Außerdem gab es Frauen, Massen von Frauen, zu Fuß und zu Rad.

Sie hatten schlanke Taillen, runde Hüften und hübsche Beine, die sie gerne zeigten, sie waren blond und lächelnd und glitten durch die Straßen wie flüchtige Sonnenstrahlen.

Furustolpes Entschluß, sein Heil in Kopenhagen zu versuchen, festigte sich zusehends in der Wärme dieser Sonnenstrahlen. Er hatte keine besondere Sehnsucht nach Frauen; diese war in der drückenden Atmosphäre der düsteren finnischen Kleinstadt, wo er studiert hatte, erstickt.

Aber er trug eine unbestimmte Sehnsucht nach Licht und Wärme in sich, wie sie allen Nordländern eigen ist. Kopenhagen kam ihm vor, wie eine jener bunten südlichen Städte, von denen man in Reisebeschreibungen liest.

Kopenhagen hatte Sonnenschein, helle Farben, leichte Luft, lachende Menschen.

Furustolpe starrte die Menschen an, die elegant und lächelnd vorbeizogen, und lachte vor Freude laut in seinen Bart. Er sah aus wie ein Riesenbär, der soeben aus dem Winterschlaf erwacht und noch ganz schlaftrunken und verwirrt in die Frühlingssonne blinzelt.

Jetzt fuhr das Auto über einen großen, offenen Platz mit schlanken Türmen und flatternden Tauben, und Furustolpe wähnte sich für einen Augenblick auf dem Markusplatz in Venedig.

Das Auto bog rechts ab und hielt vor Hotel Meyer.

Furustolpe verspürte nicht die geringste Lust auszusteigen. Er wollte zurück nach Ströget, zu den frohen Menschen und lachenden Mädchen.

Die Wagentür wurde von einem langen, hageren Mann in Uniform aufgeschlossen, und eine schwermütige Stimme fragte ihn, ob er ein Zimmer wünsche.

Furustolpe kam wieder zu sich und dachte daran, daß er zunächst sein Wanderleben beschließen und einen festen Platz haben müsse, wenn er Reichtümer erwerben wolle.

Er stieg also aus dem Auto und folgte dem Uniformierten.

Hotel Meyer war ein altes Haus, voller Gänge und Zimmer, wie ein Labyrinth, aber ansehnlich und solid. Am Eingang hing eine schwere, vergoldete Traube als Hinweis auf die Qualitäten des Weinkellers. Die Halle war nicht viel größer als ein gewöhnlicher Fahrstuhl, und der Fahrstuhl, anscheinend erst kürzlich installiert, groß wie eine Hundehütte.

Gegenüber dem Fahrstuhl war die Portierloge in den Miniaturmaßen eines Starkastens. Der Uniformierte kroch in die Loge, holte ein großes, schwarzes Buch heraus und ersuchte Furustolpe mit düsterer Stimme, sich einzutragen.

Furustolpe tat dies, der Portier nahm mit gerunzelter Stirn das Buch in Empfang und öffnete die Tür zum Fahrstuhl. Furustolpe stieg ein, und der Portier setzte den Fahrstuhl in Gang. Furustolpe betrachtete den Portier mit offenkundigem Erstaunen. Die Geographie schildert die Dänen als wohlgenährte, satte und lächelnde Menschen. Der Portier schien jedenfalls nicht in die beschriebene Kategorie hineinzugehören. Jetzt hielt der Fahrstuhl.

Der Portier öffnete eine Tür im Korridor und stellte ihn einem Bett, einem Sofa, einem Schrank, einem Tisch, einer Wasserkaraffe und einem Glas vor mit den Worten:

»Nr. 217!«

Dann stellte der Portier die Reisetasche auf ein Holzgestell und verließ tief aufseufzend das Zimmer.

Wenzel Furustolpe packte sein weniges Gepäck aus, schaute durchs Fenster, das auf einen freien Platz führte, und setzte sich dann auf das Sofa. Er fühlte sich, als ob er einen neuen Anzug bekommen hätte.

Er freute sich, das Leben lächelte ihn verheißungsvoll an. Er brannte vor Lust, etwas zu unternehmen, was beweisen sollte, daß er der Mann sei – leider war er sich noch nicht im klaren, was … Mechanisch griff er an die Brusttasche, schaute vorsichtig zur Tür und holte die schwarze Brieftasche heraus, die er vor Teelemainen gerettet hatte.

Er legte den Inhalt auf den Tisch. Sie enthielt genau das, was sie enthalten sollte: 12 000 finnische Mark, 1500 Rubel und 300 schwedische Kronen. Von den 14 200 Mark hatte er der Besatzung der »Britannia« anstatt der zweitausend, die er Teelemainen versprochen hatte, 500 gegeben. Hatte er unrecht getan, daß er nicht den ganzen Betrag, den er Teelemainen versprochen hatte, der Besatzung gab? Nein, warum denn eigentlich? Teelemainen hatte versucht, ihn auszuplündern und zu ermorden. Er wollte in allen Geschäften ehrlich handeln, und so hatte er es auch in diesem Falle getan. Die Besatzung war mit den 500 Mark äußerst zufrieden gewesen.

Man hatte ihn in einem kleinen Fischerdorfe an der schwedischen Küste an Land gesetzt. Er hatte der Dorfbevölkerung von den Leiden Finnlands ergreifend zu erzählen gewußt und war daraufhin von den mitleidigen Leuten an die nächste Bahnstation gefahren worden. Von dort hatte er den Zug nach Stockholm genommen. Aber diese Stadt flößte ihm Angst ein. Sie lag zu nahe an Finnland, zu nahe am Bottnischen Meer, wo der tote Teelemainen jetzt von den Wellen hin und her geschleudert wurde. Nach eintägigem Aufenthalt fuhr er nach Kopenhagen weiter.

Er hatte der Besatzung der »Britannia« überlassen, den Tod Teelemainens den Behörden in Finnland zu melden. Genau genommen war ja Teelemainen in verbotenen Geschäften unterwegs gewesen, und um seinen Angehörigen, wenn er welche hatte, keine Ungelegenheiten zu bereiten, hielt Furustolpe es für geraten, daß sein Name in der Angelegenheit ungenannt blieb. –

Gedankenvoll ordnete er die bunten Scheine in Reihen – sie leuchteten wie Blumen in der Sonne.

Sollte das wohl eine gute Vorbedeutung sein? Sollte das Geld unter seinen Händen wachsen und Früchte tragen, manche dreißigfältig, manche fünfzigfältig, manche hundertfältig?

Er starrte die Scheine an – seine Augen sogen sich an ihren Farben und Zeichnungen fest.

Ja, ja, die Sonne war eine Vorbedeutung. Das Geld war seine Saat, er würde sie in guter Erde säen, – nur in guter; sie würde unter seiner Pflege gedeihen und Früchte tragen. – – – Träumerisch schloß er die Augen halb. In diesem Moment verschwand die Sonne hinter einer Wolke; ein Luftzug ging durch das Zimmer, obwohl das Fenster geschlossen war, und es schien ihm, als höre er das Echo eines höhnischen Lachens. Mit weitaufgerissenen Augen fuhr er auf. Nichts zu sehen! Niemand war im Zimmer. Das Fenster war geschlossen, ebenso die Tür. Und doch …

Er fuhr sich durch die Haare.

Ach was! Dummheiten. Es war natürlich Einbildung. Das Zimmer um ihn war Wirklichkeit, und Wirklichkeit war auch die Sonne, die wieder schien, Wirklichkeit die Scheine, die auf dem Tisch zerstreut lagen. Ach ja, das Geld! Wie sollte er es vermehren? Die erste Bedingung war erfüllt – er hatte jetzt Sicherheit und Halt. Aber was weiter? Sollte er an der Börse spekulieren? Dabei konnte man schön verdienen. Witwen und Waisen, die Aktien auf irgendeinen alten morschen Kahn gehabt hatten, waren über Nacht Millionäre geworden. Die Börse hatte bestimmt ihre guten Seiten.

Komisch – er hätte beschwören können, daß er eben jemand lachen hörte, und das Lachen war ihm sogar bekannt vorgekommen. Daß Einbildung so lebendig sein kann …

Na – vor der Börse wollte er sich doch lieber bis auf weiteres in acht nehmen. Das Börsenspiel hatte ihm eine zu große Ähnlichkeit mit Hazard – und mit Hazard wollte er nun einmal nichts zu tun haben. Später, wenn er etwas davon verstand, würde er vielleicht an der Börse spielen, aber bis dahin …

Wieder strich ein schwacher Luftzug durch das Zimmer. Aber diesmal kam er von der Küche und duftete nach gebratenem Speck. Essen! Das war es! In Stockholm hatte er gelernt, zu essen, nicht nur, um satt zu werden, sondern aus Genuß. Er vergaß seine Zukunftspläne, raffte die Scheine zusammen und eilte die Treppe hinab, dem lockenden Duft entgegen.

Der Eßsaal des Hotel Meyer lag dem Starkasten des Portiers gegenüber. Es war ein langer, schmaler Raum mit Möbeln von gelbem Birkenholz mit blauen Bezügen und grünen Tapeten.

Die eine Seite des Zimmers nahm ein langer Tisch ein, der sich unter der Last der aufgetürmten Leckerbissen fast bog. Furustolpes Augen glänzten, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen.

Er wurde jetzt einer üppigen Brünetten ansichtig, die hinter dem Büfett stand. Eine Reihe von bauchigen Flaschen verschiedenster Form und Inhalts bildeten einen reizvollen Hintergrund.

»Sie wünschen?« Ein Kellner stand neben ihm und reichte die Speisekarte. Furustolpe strich sich durch den Bart. Das Leben in den großen Restaurants war ihm fremd. Aber eine Erinnerung wurde in ihm wach. Was war es doch gleich, was man in den Restaurants von Stockholm vorgesetzt hatte, sobald man an seiner Sprache hörte, daß er Finnländer war? Jetzt hatte er's.

Mit leuchtenden Augen sagte er zu dem Kellner:

»Matjeshering natürlich! Und Kartoffeln und Schnaps!«

Der Kellner verschwand. Furustolpe sah mit einem strahlenden Lächeln zu dem Mädchen hinüber und sagte mit einer bezeichnenden Handbewegung nach den Flaschen:

»Was für eine reiche Auswahl! Langweilen Sie sich nicht so ganz allein mit all den Flaschen?«

Das Fräulein lächelte und musterte Furustolpe einschätzend von oben bis unten. Trotz ihrer Menschenkenntnis konnte sie aus Furustolpe nicht recht klug werden. Er trug einen Gehrock und gestreifte Beinkleider, die eigentlich gut aussahen, aber seine Absätze waren schief getreten, und die eine seiner grauen Socken war auf den Stiefel gerutscht. So beschloß sie, abzuwarten.

Der Kellner kam mit einem Tablett, wo außer dem bestellten Essen drei Flaschen und ebenso viele Gläser standen. Furustolpe brummte zufrieden und stürzte sich über das Essen. Der Kellner schenkte ein Glas voll eisigkalten Aquavits und wollte sich wieder mit den Flaschen entfernen.

Furustolpe brüllte auf wie eine Löwin, der man das Junge wegholen will, griff eilends die Flasche und pflanzte sie vor sich hin.

»Sind Sie des Teufels?« schrie er den Kellner an.

Höchst eigenhändig füllte er alle Gläser aus den verschiedenen Flaschen und leerte sie eins nach dem andern. Dann schlug er mit dem Messer an ein Glas.

»Der Herr wünscht?«

»Sie sind doch wirklich zu dumm. Das ist es ja gerade, was ich wissen möchte!«

Der Kellner schnurrte eine Reihe verschiedener Gerichte herunter und schwieg dann abwartend.

Furustolpe sah ihn verständnislos an.

»Ja, zum Teufel, was soll ich denn von alledem essen?«

Der Kellner wiederholte: »Flundern, Kalbsbraten, Filet mit Spiegeleiern.«

»Was war das letzte gleich?«

»Filetbeefsteak mit Spiegeleiern.«

»Gut, her damit!«

Der Kellner verschwand. Furustolpe betrachtete die Gläser, die vor ihm standen und wandte sich dann mit einem breiten Lächeln der Brünetten hinter dem Schanktisch zu.

»Schmeckt das aber gut! Das ist doch etwas ganz anderes als bei uns in Finnland.«

»Es gefällt Ihnen wohl gut in Dänemark?« sagte sie, ohne den Blick von dem heruntergerutschten Strumpf abzuwenden.

Furustolpe richtete sich auf, seine Augen leuchteten.

»Ich sage nur das eine: Jahrhundertelang hat das finnische Volk unter dem fremden Joch geseufzt – aber bei alledem hat es nicht aufgehört, den Blick auf die Brüder im Westen zu richten. Und heute bin ich hergekommen, um die Bande der Freundschaft mit dem dänischen Volk fester zu knüpfen. Darum leere ich jetzt mein Glas auf Dänemark und die dänischen Frauen!«

Er leerte beide Gläser und lächelte der Brünetten wieder zu, die mit einer Mischung von Staunen und Respekt zugehört hatte.

Der Kellner tauchte wieder auf. Auf einer silbernen Platte lag ein riesengroßes, brodelndes Filetbeefsteak, ganz versteckt unter zwei Spiegeleiern. Es schwamm in brauner Butter und war garniert mit kleinen Bergen gebratener Kartoffeln.

Furustolpe begann zu essen. Er verschlang große Bissen und stärkte sich ab und zu mit einem Glase aus den eisgekühlten Flaschen. Der Kellner beobachtete ihn mit großem Erstaunen. Er hatte es nie für möglich gehalten, daß irgend jemand die Leistung vollbringen könnte, eins der stadtbekannten Filetbeefsteaks von Hotel Meyer zu bewältigen; ehe er sich versah, war das Wunder hier geschehen. Das Beefsteak war verschwunden.

Furustolpe schaute mit verschleierten Augen auf.

»Na – und weiter?«

»Der Herr wünscht?«

»Sie sind wirklich zu dumm! Ich will natürlich wissen, was ich jetzt essen soll!«

Der Kellner reichte ihm stumm die Karte, doch Furustolpe schob sie ungeduldig weg. Im selben Moment fiel sein Blick auf ein Plakat mit der Aufschrift: »Austern – echter Porter.«

»Was ist das? Schmeckt das gut?«

»Die Austern sind prima – ganz frisch!«

»Gut, bringen Sie mir das!«

»Wieviel darf ich bringen?«

»Was meinen Sie jetzt? Genügend natürlich!«

Die Brünette hinter dem Schanktisch sah wieder erstaunt zu Furustolpe hin, er merkte es nicht. Er saß und blickte mit feuchten Augen und abwesendem Lächeln vor sich hin. Und plötzlich stand auf dem Tisch eine große silberne Platte, auf der eine Menge, runde, feuchte Dinger lagen, die er nie zuvor gesehen hatte.

Er blickte sie zögernd an, schaute auf und bemerkte, daß der Kellner ihn beobachtete. Wie in aller Welt sollte man dieses merkwürdige Gericht essen? Eine Gabel, geformt wie der Dreispitz Neptuns, zog seine Aufmerksamkeit auf sich, und er bekam eine glückliche Inspiration. Und schon hatte er die erste Auster von der Schale gelöst und mit Wohlbehagen verschluckt. Der Kellner schenkte den schäumenden Porter ein. Das war eine Sprache, die Furustolpe verstand.

Nach einer knappen Viertelstunde waren die ersten vierundzwanzig Austern verschwunden. Furustolpe lehnte sich grunzend in den Stuhl zurück.

»Na – und nun?«

Die Augen des Kellners wurden zusehends größer. »Der Herr wünscht?«

»Was ich wünsche? Ich bin ja noch nicht satt! Also – was weiter?«

Ehrfurchtsvoll reichte der Kellner die Speisekarte.

»Weg damit! Ich verstehe ja doch nichts davon. Bringen Sie mir irgend etwas! Aber es soll gut schmecken und satt machen, verstanden!«

Der Kellner verneigte sich. Furustolpe schloß die Augen halb und summte vor sich hin.

Er hatte die Beine weit ausgestreckt. Der graue Strumpf war noch weiter heruntergerutscht und zeigte einige Millimeter von einem behaarten Bein. Seine Augen, die in die Zukunft schauten, wanderten hin und wieder zu seiner gewölbten Brusttasche, und sein Blick wurde dabei hell. Die Brünette war ein Opfer wechselnder Empfindungen. Ihre Augen wanderten unaufhörlich zwischen Furustolpes behaartem Bein und seiner majestätischen Stirn. Plötzlich wurde Furustolpe aus seinem Sinnen erweckt. Wieder stand der Kellner vor ihm, diesmal mit einem sich fast biegenden Tablett, beladen mit Braten, Sauce, gebräunten Kartoffeln, Gurkensalat und Kompott.

»Lammkeule,« sagte er stolz. »Sie ist hervorragend, das gibt es in ganz Kopenhagen nicht wieder. Wenn ich unseren Burgunder empfehlen dürfte?«

Furustolpe nickte stumm. Er fiel wie ein hungriger Wolf über die Lammkeule her und sprach dabei eifrig dem tiefroten Burgunder zu. Den Blick starr auf ein und denselben Punkt in der blaugrünen Tapete gerichtet, aß er wie ein Ausgehungerter mit fast fanatischem Eifer. Es schmeckte prachtvoll – er hatte noch nie so Gutes gegessen, und es war so viel, daß er es kaum noch bewältigen konnte. Aber während er müde das letzte Bratenstück auf den Teller legte, wurde eine Erinnerung in ihm wach, und er sagte mit dicker Stimme zu dem Kellner:

»Gefüllte Omeletts!«

Furustolpe hatte den Speisesaal um 1 Uhr betreten – es war 3 Uhr, als er von den Omeletts zu Mokka und Benediktiner überging.

Es wurde 8 Uhr, und der Speisesaal füllte sich mit Gästen. Furustolpe fühlte sich verpflichtet, mit ihnen zu dinieren. Gewissenhaft aß er die sieben Gänge der Table d'hote durch und sprach fleißig dem Aquavit und Burgunder zu.

Darauf trat der Benediktiner wieder in seine alten Rechte ein.

Furustolpe dachte nicht, seinen Platz aufzugeben. Er saß sehr gut und war glücklich, vielleicht zum ersten Male in seinem Leben voll und ganz glücklich, restlos. Er hatte das befriedigende Gefühl, daß er sich in der großen, bösen Welt gut und bequem zurechtfand. Die Gedanken an die Zukunft hatte er auf den nächsten Tag verschoben.

Eine beruhigende innere Überzeugung sagte ihm, daß die Zukunft große Möglichkeiten böte und er der richtige Mann sei, um jede Chance in der Flucht wahrzunehmen. Die Brünette hinter dem Schanktisch hatte sich längst ein festes Urteil über ihn gebildet. Er übte eine nahezu beängstigende Anziehungskraft auf sie aus. Nach ihren Begriffen war er keiner von den gewöhnlichen Schweden, die sie so oft sah, die nur herüberkamen, um gut zu essen und zu trinken. Über diesem da lag ein geheimnisvoller Zauber. Wieder und wieder sah sie König Christian IV. vor sich, so wie er auf den Denkmälern stand, oder einen der Kirchenfürsten. Dann und wann murmelte er mystische Worte vor sich hin, wobei seine Augen strahlten. Und ab und zu verbeugte er sich leicht gegen sie, hob sein Glas und sagte: »Die dänische Frau ist die schönste Blume Dänemarks. Ich trinke auf das Wohl der dänischen Frau«.

Jetzt war die Brünette verschwunden. An ihrer Stelle stand hinter dem Schanktisch eine magere und farblose Erscheinung von fünfunddreißig Jahren. Ihre Blicke ruhten auf Furustolpe mit einem Ausdruck noch größerer Ehrfurcht als die der Brünetten. Likör nach Likör verschwand aus der Flasche, ohne irgendwelche bemerkbare Wirkung auf Furustolpe; ein Gast nach dem anderen verließ den Saal, ohne daß er es bemerkte. Jetzt war er mit ihr und dem Kellner allein. Die Uhr zeigte auf halb zwei. Der Kellner wagte sich mit der phantastisch langen Rechnung an ihn heran.

»Wir müssen schließen!«

Furustolpe fuhr irritiert und gestört auf und schaute den Kellner scharf an.

»Schließen? Warum diese Eile!«

»Es ist schon halb zwei Uhr, mein Herr! Bitte um Zahlung.«

»Na ja – wenn's sein muß!«

Furustolpe bezahlte die Rechnung, und die Bleiche hinter dem Schanktisch verschwand, ihm noch einen langen Blick zuwerfend. Die Summe von zweihundertzehn Kronen für eine Person steigerte ihre Bewunderung ins Unermeßliche. Auch der Kellner quittierte mit einer ungewöhnlich tiefen Verbeugung die vierzig Kronen Trinkgeld. Er begann das Licht auszuknipsen und wartete dann auf Furustolpes Weggehen. Aber er hatte sich geirrt. Furustolpe blieb stumm und unbeweglich wie ein Götzenbild im Sofa sitzen.

»Es ist gleich zwei Uhr, mein Herr. Wir müssen jetzt schließen, unsereiner muß doch auch einmal ins Bett kommen!«

Furustolpe reagierte darauf nicht. Jetzt ging die Geduld des Kellners zu Ende. Wütend knallte er mit der Serviette auf den Tisch und rief:

»Na, dann bleiben Sie eben!«

Im nächsten Augenblick war der Raum in Dunkel gehüllt. Nur durch das Fenster fiel der matte Schein einer Straßenlaterne. In dem ungewissen Licht sahen die auf die Tische gestülpten Stühle aus wie lange Reihen phantastischer Gestalten.

Das nächtliche Brausen der Großstadt sank Oktave um Oktave im Gleichmaß der fliehenden Minuten. Es war drei Uhr, als Furustolpe sich regte und rein mechanisch mit der Hand über den Tisch tastete. Aber der Tisch war leer. Furustolpe erwachte halb, strich sich abwesend über die Stirn und merkte plötzlich, daß sein Kopf merkwürdig schwer war. Er schaute sich schläfrig um. Wo war er denn eigentlich? Allem Anschein nach war es Nacht, und er saß und schlief in einem Lagerraum. Das gefiel ihm gar nicht! Vergeblich suchte er aus seiner Umgebung klug zu werden. Er stand schwerfällig auf. Durch die Glasscheibe einer Tür sickerte ein schwaches Licht, und wenn er sich nicht irrte, tönte von fernher ein schleppender Gesang. Die Stühle um ihn herum gewannen neue Bedeutung. Befand er sich vielleicht in einer Kapelle, in der man eine nächtliche Versammlung abhielt? Tastend ging er zur Tür und öffnete sie mit einiger Mühe. Er befand sich in einer sehr kleinen Halle und ihm gegenüber in noch kleinerem Gelaß saß ein blasser, hagerer Mann und sang; auf dem Tisch vor ihm reihte sich eine stattliche Anzahl von Bierflaschen, und neben ihnen lag eine betreßte Mütze.

In Furustolpes Kopf begann es zu dämmern. Er befand sich weder in einem Lagerraum, noch in einer Kapelle – sondern im Hotel Meyer, und der singende Mann mit den Bierflaschen war der Portier des Hauses. Furustolpe ging auf ihn zu und sagte:

»Warum waren Sie, als ich heute früh ankam, so brummig?«

Der Mann starrte ihn einen Moment an und gab ihm dann singend zur Antwort:

»Das war ich nicht, sondern mein Bruder!« Er nahm einen tüchtigen Schluck aus einer Bierflasche und sang dann weiter: »Er ist Tagportier, und ich bin der Nachtportier.«

Das gelöste Rätsel interessierte Furustolpe nicht mehr. Mit einer Stimme, die beinahe ebenso singend wie die des Portiers war, sagte er:

»Jetzt will ich ins Bett! Zeigen Sie mir den Weg!«

Der Portier erhob sich, setzte die Mütze auf und trat in die Halle hinaus. Er öffnete die Tür des Fahrstuhls und sang auf die Melodie eines Wiegenliedes:

»Steigen Sie in den Fahrstuhl ein, mein Herr! Der wird Sie ins Bett fahren.«

Furustolpe taumelte in den Fahrstuhl, der nicht erleuchtet war und sank auf eine Bank. Er hatte erwartet, daß der Portier ihn begleiten würde, aber er hatte sich getäuscht. Der Portier schloß die Tür des Fahrstuhls von außen und drückte auf einen Knopf. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung und glitt durch die Finsternis. Furustolpe stieß einen Schrei aus – der Fahrstuhl stieg immer weiter. Jetzt fuhr er am ersten Stockwerk vorbei; es leuchtete matt durch die Scheibentür. Wie sollte denn das enden – er wurde plötzlich ganz wach und suchte in allen Taschen nach Streichhölzern; fand natürlich keine. Aufstehend tastete er nach dem Kontaktknopf. An allen Gliedern zitterte er vor Likör und Nervosität.

Da geschah's! Ein unklares, aber unüberwindliches Gefühl, daß er nicht allein im Fahrstuhl war, beschlich ihn.

Kalter Schweiß lief ihm über die Stirn. Es rührte sich etwas zu seinen Füßen – etwas tastete an seinem Körper entlang. Der wilde Angstschrei, der sich über seine Lippen bahnte, wurde durch einen eisernen Griff am Halse erstickt.

Das Blut in Furustolpes Adern erstarrte. Der Fahrstuhl hielt. Und was nun folgte, spielte sich blitzschnell ab.

Die Tür des Fahrstuhls wurde aufgerissen, Furustolpe flog aus dem Fahrstuhl heraus wie ein Kolli aus einem Gepäckwagen. Um seinen Hals fühlte er noch immer den unbarmherzigen Griff, der ihn hinderte, den geringsten Laut von sich zu geben. Sein rechtes Handgelenk war wie in einem Schraubstock festgekeilt. Aber er war wenigstens nicht mehr im Dunklen. Eine Glühbirne erleuchtete matt den Korridor. Das genügte, um die blinde Angst, die ihn im Fahrstuhl gepackt hatte, zu verjagen.

Ein blonder Hüne mit einem glattrasierten Priestergesicht, hellen Äuglein und einer blonden Haartolle hielt ihn gepackt und würgte ihn. Seine kleinen Augen rollten wild – er hatte eine riesige Nase und darunter einen unwahrscheinlich schmalen Mund – die Lippen zitterten vor Aufregung. Langsam dämmerte etwas wie Verständnis in seinem Blick – der Griff um Furustolpes Hals lockerte sich ein wenig und er fuhr Furustolpe an:

»Was zum Teufel suchen Sie in meinem Schlafzimmer, Herr …«

Er sprach norwegisch. Furustolpe konnte immer noch kein Wort herausbringen. Der Hüne schüttelte ihn wie ein Hund eine Maus.

»Antworten Sie doch, Herr … Was Teufel machen Sie hier in meinem Schlafzimmer!«

Furustolpe zitterte an allen Gliedern und stotterte:

»Ich … ich wußte ja nicht, daß dies Ihr Schlafzimmer ist!«

Der Hüne drehte sich um und schaute ihn an. Dann ließ er Furustolpe los und strich sich über die Stirn. Furustolpe schöpfte Mut.

»Wenn ich geahnt hätte, daß dies Ihr Zimmer ist, wäre ich doch niemals hineingegangen.«

Der Hüne rollte mit seinen kleinen bläulichen Augen und explodierte:

»Zum Donnerwetter – – –«

Er starrte auf die Fingerabdrücke an Furustolpes Hals und holte tief Atem.

»Der verflixte Whisky!«

Furustolpe nickte streng und sagte in belehrendem Tone:

»Ja, ja, der Wein ist ein böser Schelm – – –«

Der Riese schüttelte sich wie ein nasser Bär.

»Donnerwetter, Donnerwetter …«

Er überlegte.

»Nein, jetzt müssen wir noch ein Glas zusammen trinken. Wo sind wir denn eigentlich? Im dritten Stock. Gut! Ich wohne in Nr. 313.« Er unterbrach sich und fixierte Furustolpe, dabei mit Betonung wiederholend: »Ich wohne wirklich in Nr. 313.«

Er packte Furustolpe am Arm. Dieser bebte wie Espenlaub bei der Berührung.

»Nur keine Angst, mein Lieber! Mein Name ist Stangeland. Ich bin Journalist. Ich bin heute mit einem Kollegen auf dem Bummel gewesen, sonst hätte ich nicht versucht, Sie zu erwürgen. Und jetzt trinken wir noch ein Glas zusammen. Sind Sie Finnländer?«

Furustolpe vergaß seine eigenen Leiden über die seines Volkes.

»Jawohl,« antwortete er, »ich bin Finnländer. Ich bin aus meinem armen Vaterland hergekommen, um die Bande der Freundschaft und der Verbrüderung mit den freien Völkern fester zu knüpfen. Ich bin Geschäftsmann. Und darum« – er erinnerte sich plötzlich wieder des Unrechts, welches ihm soeben widerfahren war – »und darum sitze ich nicht die halben Nächte auf und trinke. Nein, so etwas mache ich nicht. Das ist eine schlechte Angewohnheit, von der ich nichts wissen will. Gute Nacht!«

Der Griff des anderen um seinen Arm wurde fester, und er zog Furustolpe mit sich den Gang entlang.

»Sie sind Geschäftsmann – das ist ja großartig! Ich mache auch Geschäfte, so oft ich nur kann. Ich möchte, ich könnte es öfter machen. Wir zwei müssen eine Aktiengesellschaft gründen.«


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