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Das laue Wasser strömte in Perlen über eine behaarte Brust und sprühte in Kaskaden über weiß und blau gekachelte Wände. Eine nicht minder behaarte Hand drehte den Duschehahn hin und her, und dabei rezitierte eine erzene Stimme deutsche Verse, wenn auch mit stark fremdländischem Akzent:
»Der Tod, das ist die kühle Nacht,
Das Leben ist der schwüle Tag,
Es dunkelt schon, ich träume …«
Hier verstummte die Stimme, denn die behaarte Hand hatte irrtümlicherweise einen Strahl eiskaltes Wasser entsandt. An Stelle von Poesie kamen unartikulierte Laute. Als die Stimme wieder verständlich wurde, hörte man sie dieselben Verse in etwas veränderter Form skandieren:
»Der Tod, das ist die kühle Dusche,
Das Leben ist das heiße Bad,
Ich bade mich, ich …«
Es wurde energisch an die Badezimmertür gepumpert.
»Drei rekommandierte Briefe zum Unterschreiben – der Briefträger wartet, s'il vous plaît, monsieur.«
»Unterschreiben Sie selber!« rief der Mann im Badezimmer auf norwegisch.
»Monsieur weiß, daß ich nicht schreiben kann!« entgegnete die Stimme auf der anderen Seite der Tür, gleichfalls in norwegischer Sprache. »Ich stehe mit einer Feder in der Hand da!«
Die Tür öffnete sich. Eine feuchte Hand holte die Feder und ein gelbes Heftchen herein und kritzelte ein paar unleserliche Unterschriften hin. Ohne sich abzutrocknen, riß der Besitzer der Hand die drei Briefsendungen auf und las sie mit blinzelnden Augen. Die erste zeigte den Poststempel Oslo und lautete folgendermaßen:
»Herrn Dichter Christian Ebb, Mentone, Frankreich. Im Einvernehmen mit dem Verlag Petré & Petersen, Stockholm, sowie dem Verlag Trier & Delbanco, Kopenhagen, haben wir einen Plan ausgearbeitet, der, wie wir glauben, auf Ihr Interesse rechnen darf.
Sie wissen sicherlich, welchen Erfolg gewisse Verlage in England und Amerika mit ihren sogenannten Crime-Club-Serien gehabt haben, Detektivromanen, die für diese Länder von besonders sachverständigen Persönlichkeiten ausgewählt wurden, unter denen man viele der angesehensten Namen dieser Länder findet. Aus einem mehr oder weniger verachteten Genre sind die Detektivromane die große Tagesmode geworden. Alle Welt liest sie, alle Welt bespricht sie.
Unsere Absicht ist es, einen interskandinavischen Crime-Club ins Leben zu rufen, in dessen Vorstand Vertreter aller drei Länder sitzen sollen.
Sie, lieber Herr Ebb, sind im Augenblick der bewundertste Dichter Norwegens, dessen Lieder auf aller Lippen sind. Aber wir kennen Sie als einen Mann von vielseitigen Interessen, und wir haben uns sagen lassen, daß Sie zu diesen so heterogene Dinge wie Astronomie, Gastronomie und Detektivromane zählen. Wir hoffen daher, daß Sie uns die Ehre erweisen werden, unserem Komitee beizutreten.
Sie dürften auch gleichzeitig von unseren schwedischen und dänischen Geschäftsfreunden hören, aber wir können Ihnen schon jetzt die Namen der von diesen ausersehenen Komiteemitglieder mitteilen. Schweden wird durch Herrn Dozenten Arvid Lütjens und Dänemark durch Herrn Bankdirektor Otto Trepka vertreten sein.
Mit besonderer Hochachtung
Ihre sehr ergebenen
Falk, Foß & Örneland.«
Die zwei anderen Briefe waren ganz richtig aus Stockholm und Kopenhagen und enthielten die Bestätigung der Mitteilungen des norwegischen Verlages.
Ein Brüllen bahnte sich den Weg über die Lippen des Dichters Christian Ebb.
»Ah! So! Dieser Lütjens! Ganz als ob ich mich nicht mehr an die Tranefoßgräber erinnerte! Trepka! Als ob ich die Napoleondebatte im Wochenjournal vergessen hätte! So! Das bilden die sich ein!«
Er begann sich mit einer Energie abzutrocknen, die ihm fast die Haare aus der Brust riß.
»Lütjens! Trepka! Alles hat seine Grenzen! Ja, alles hat seine Grenzen. Das scheinen die geschätzten Verlagsanstalten dort oben vergessen zu wollen!«
Das Handtuch arbeitete etwas langsamer.
Aber wenn, bedachte der Mann, Trepka und Lütjens nicht gewesen wären, dann wäre es etwas anderes! Die Leute finden es vulgär, Detektivromane zu lesen! Das ist dieselbe Art Menschen, die einst über die Chansons de geste die Nase rümpften und in noch früheren Zeiten über die Milesischen Geschichten. Der Detektivroman ist das einzige wirklich neue Genre, das unsere Zeit geschaffen hat. Er ist ein ebenso vollwertiger Ausdruck für uns wie das Sonett für die Renaissance und das Heldengedicht für die Antike! Die Regeln für eine Detektivgeschichte sind ebenso streng wie für ein Sonett und weit strenger als für ein Heldengedicht, denn hier duldet man keine Götter, die im rechten Augenblick herniedersteigen und eingreifen. Ich würde gern selbst einen Detektivroman schreiben. Aber ich kann nur Verse schreiben.
Das Handtuch war mit seiner Tätigkeit zu Ende gekommen. Der Mann kleidete sich an und öffnete die Tür zum Nebenzimmer. Hohe Fenstertüren standen offen und gaben den Blick auf ein dunkelblaues Meer frei. Bücherregale liefen rings um die Wände, und mitten im Zimmer stand ein Schreibtisch, beladen mit Büchern, die von zwei Büsten zusammengehalten wurden. Die eine stellte Buddha dar, die andere Pu-lei, den Gott des Wohlbefindens. An der einen Wand hing eine Sammlung Stichwaffen, Säbel, Floretts, Dolche und ein sichelförmiger malaiischer Kris. Christian Ebb griff nach einem Florett und begann Ausfälle zu machen.
Nichts an seiner hochragenden Gestalt oder seinen schönen, markierten Zügen sprach von den zwei angegriffenen Lungenflügeln, die der Anlaß waren, daß er diese Küste bewohnte. Wenn ein Fremder ins Zimmer getreten wäre, er hätte ihn für einen jungen Studenten gehalten, etwas so Knabenhaftes lag in dem Gesicht unter dem blonden Haarschopf. Und doch war das der Mann, der ein halbes Dutzend Gedichtbände geschrieben hatte, die ihn zu dem beliebtesten Dichter eines Landes machten, in dem man Lyrik nicht nur liebt, sondern sogar tatsächlich kauft. Wie er selbst zu vorgerückter Nachtstunde zu erklären pflegte – »dieses Haus ist für Substantive gekauft, für Adjektive möbliert und verzinst sich mit Verben und Adverben.« Rings um das Haus, das eine so seltsame Entstehungsgeschichte hatte, lag ein kleiner Garten mit Mimosen und Palmen; Pelargonien warfen satte Farbenflecke in das Grün, und auf der anderen Seite einer niedrigen Steinmauer hauchte ein tiefblaues Meer seine nie aussetzenden Atemzüge – das Meer der Meere, das Mittelmeer.
Beinahe ohne daß er darum wußte, hatten Ebbs Finger einen Kontakt aufgedreht. Mit einem Male war der Raum von einer metallisch klingenden französischen Stimme erfüllt, die sagte: »Allo, allo, allo! Ici Radio Méditerranée! Kundmachung an alle Hörer in Mentone! Allo! Allo! Die Polizei von Mentone fahndet nach einem verschwundenen Paket, das Gift in äußerst gefährlicher Form – reines Nikotin – enthält! Ein Tropfen Nikotin in dieser Form ist genug, um ein größeres Haustier zu vergiften! Wer das Paket findet, wird gebeten, es sofort bei der Polizei abzugeben. Das Paket wurde von einem Boten der Pharmacie Polonaise zu Rad verloren. Der Umschlag ist graubraun und trägt den Namen der Apotheke auf einem weißen Etikett. Allo, allo, allo! Ici Radio Méditerranée! Wir wiederholen eine Verlautbarung der Polizei in Mentone. Ein Paket, enthaltend ein äußerst gefährliches Gift …«
Christian Ebb brachte die Stimme durch eine Fingerbewegung zum Schweigen. Seine blauen Augen waren mit einem Male träumerisch geworden. Ein Giftpaket von einem unachtsamen Radler verschlampt! Es ist der Tod, der dem Finder den Arm bietet. Es ist »die kühle Nacht«, die sich plötzlich auf den heißen, strahlenden Tag herabsenkt.
Ein sorgloser Mensch oder vielleicht ein gewissenloser Mensch findet das Paket, das von einem dummen Jungen verloren worden ist, und die Tragödie ist en marche – die Sonne verliert ihren Glanz, das Meer hört auf, seine hexameterklingenden Wellen an den Strand zu rollen, die würzigen Blumen duften nicht mehr …
»Nanu, Herr Ebb, wollen Sie keen Frühstück nich?«
Die Tür des Zimmers hatte sich geöffnet, um eine seltsame Erscheinung einzulassen, eine Frau, so um die Sechzig, beinahe ebenso breit wie groß. Um das zu ersetzen, was ihr in der vertikalen Dimension abging, trug sie einen krausen Negerhaarwald, der sich mindestens dreißig Zentimeter in den die Erde umgebenden Luftkreis erhob. Sie hatte Korallenringe in den Ohren und einen Seidenschal um die Schultern. Aber wirkte dieses Exterieur seltsam, so war es doch ein Nichts gegen den Effekt, den sie erzielte, wenn sie den Mund aufmachte. Denn anstatt Mentonesisch entströmte ihm das krasseste Osloitisch, das je außerhalb des Viertels Grönland der norwegischen Hauptstadt erklungen ist. Vor zehn Jahren hatte Geneviève – so hieß die Besitzerin des üppigen Haarwuchses – Mentone verlassen, um dritte Köchin der französischen Gesandtschaft in Oslo zu werden, und da die Norweger das mit den Engländern gemeinsam haben, daß sie nur ungerne eine andere Sprache als ihre eigene erlernen, und da Geneviève eine liebesbedürftige Natur war, hatte sie sich langsam, aber unwiderstehlich genötigt gesehen, Norwegisch zu sprechen. Nunmehr tat sie es mit einer Wortwahl, die einen abgehärteten Seebären erbleichen lassen konnte. Ihr Ton war unnachahmlich, wenn sie eine französische Straßenbahn »oller Klapperkasten« benannte, ihr »da schlag doch gleich der Deibel drein« machte selbst der erregtesten Debatte auf dem Markt von Mentone ein jähes Ende.
»Ja, Geneviève, was gibt's zum Frühstück?«
»Eier, Haferbrei und Kakao!«
Der Dichter Ebb zuckte zusammen, als hätte sie ihm ein unanständiges Wort ins Gesicht geschleudert.
»Eier, Haferbrei und … Hören Sie mal, Geneviève! Ich war gestern abend mit Vanloo beisammen …«
»Aha, mit Vanloo! Da wird es nicht wenig spät geworden sein! Das kann ich mir denken! Aber wenn Sie glauben, Herr Ebb, daß Sie deswegen was anderes kriegen als Eier, Haferbrei und Kakao, dann irren Sie sich!«
»Es ist aber diesmal besonders spät geworden. Ich dachte mir, daß vielleicht ein Salzhering und …«
»Sie wissen ganz gut, Herr Ebb, was der Doktor gesagt hat. Eier, Haferbrei und …«
»Der Doktor! Der größte Esel, der mir je untergekommen ist, war Doktor! Wissen Sie, Geneviève, was er behauptet hat? Daß es ganz egal ist, was man trinkt, da alle ›berauschenden Getränke‹ ein und dasselbe enthalten, nämlich Äthyl-Alkohol! Alle Bücher sind ja auch mit Lettern gedruckt, aber darum hat die Bibel doch nicht dieselbe Wirkung wie Boccaccio …«
»Sie wissen, Herr Ebb, daß ich nicht lesen kann. Sie kriegen also Haferbrei und …«
»So wahr dieses Haus mein ist …«
»So wahr ich versprochen habe, auf Sie aufzupassen.«
Wie lange die Debatte noch in dieser Weise hätte fortgehen können, weiß niemand, aber in diesem Augenblick ertönte ein schrilles Signal von der Eingangstür. Als Geneviève wieder zurückkehrte, brachte sie auf einem Tablett zwei zusammengefaltete blaue Papiere, und alle Schroffheit war aus ihrem Wesen gewichen. Denn ihr langjähriger Aufenthalt im hohen Norden hatte ihr nicht jenen angeborenen Respekt der Südländer vor dem Telegraph zu rauben vermocht. Ein Mann, der Botschaften empfing, die oben in der Luft durch Drähte gingen, ja, die angeblich sogar direkt durch die Luft kommen konnten – ein solcher Mann war kein gewöhnlicher Sterblicher.
Sie zuckte bei einem Lachen zusammen, das in Anbetracht dessen, daß es aus zwei kranken Lungenflügeln kam, ungewöhnlich dröhnend klang.
»So! Das glaubt ihr, meine Herren! Sie kommen morgen abend nach Mentone, Herr Trepka, und würden gerne mit mir über eine Sache konferieren, von der ich vermutlich schon gehört habe! Ja, besten Dank – ich habe von der Sache gehört! Und Sie, Herr Doktor Lütjens, kommen ebenfalls nach Mentone und möchten gerne mit mir über eine Sache sprechen, von der ich vermutlich schon gehört habe! Wenn Sie glauben, daß …«
»Sie sollten nicht so viel lachen, Herr Ebb«, wagte Geneviève zu bemerken, »das ist nicht gut für Ihre Lunge.«
»Ich soll nicht lachen, wenn zwei Herren, die ich weder kenne noch zu kennen wünsche, mir drahten, daß sie morgen nachmittag herkommen!«
Genevièves Haarmähne stellte sich auf.
»Da schlag doch einer lang hin!« rief sie in schmetterndstem Osloitisch. »Die wollen sich hier breitmachen? Mit denen lassen Sie nur mich fertig werden, Herr Ebb! Wie schauen sie aus?«
»Das weiß ich nicht«, räumte der Dichter ein. »Ich habe sie nie im wirklichen Leben gesehen, nur in den Zeitungsspalten. Aber wir sprachen ja vom Frühstück, Geneviève.«
»Sie kriegen Eier, Haferbrei und Kakao«, erwiderte Geneviève mit eiskalter Stimme. »Wenn Sie glauben, Herr Ebb, daß ich vergesse, was man mir aufgetragen hat, nur weil Sie …«
»Schon gut. Dann gehe ich in die Stadt essen!«
»Bitte sehr! Gehen Sie nur!«
Die Antwort des Dichters Ebb bestand drin, mit kerzengerader Haltung geradeswegs durch die Tür in den Garten hinauszugehen. Er wartete auf ein kleines Wörtchen, auf das Wörtchen Hering mit Kartoffeln. Aber es kam nicht. Er straffte den Rücken noch gerader und öffnete das Gartengitter. Hinter ihm blieb alles stumm. Nur das Meer murmelte zu seinen Füßen. Und aus den Fenstern einer Nachbarvilla kam eine metallisch klingende französische Stimme:
»Allo! Allo! Ici Radio Méditerranée! Die Polizei in Mentone fahndet nach einem verschwundenen Paket mit überaus gefährlichem Inhalt – reines Nikotin! Ein Tropfen Nikotin genügt, um …«
Er schlug den Weg zu den »Deux Lézards« ein.
»Die zwei Eidechsen, Bar – Teesalon – Bar« besagt ein Schild auf der Strandpromenade Mentones, die sich eine halbe Meile lang wie ein Band aus Kalkstein und Zement von der italienischen Grenze im Osten zum Cap Martin im Westen zieht. Wenn ein vernünftig planender Geist von Anfang an für ihre Anlage gesorgt hätte, wäre sie zweifelsohne ebenso berühmt geworden wie die Strada di Ghiaia in Neapel. Nun erinnerte sie am ehesten an eine strahlende Unschuld vom Lande, wie sie in Boccaccios Geschichten den Lockungen der Kultur zum Opfer fallen. Jahrzehnte hindurch durften sämtliche Baumeister der Riviera diesen wunderbaren Uferstreifen mit den Ausgeburten ihrer Phantasie beschmutzen. Vergeblich würde man nach zwei Häusern suchen, die den gleichen Stil haben. Ja sogar vergeblich nach einem, das überhaupt Stil hat.
»Die zwei Eidechsen« gehören zwei Schwestern, den Fräuleins Titine und Lolotte. Lolotte ist ständig blond, Titine zuweilen blond, zuweilen rot, zuweilen schwarz. Lolotte ist gefühllos, Titine frivol. Lolotte hat die Aufgabe, die alten teetrinkenden Damen zu unterhalten, die die Grundlage des Wohlstandes der Riviera bilden, das Plankton, von dem ihre vielen Raubfische letzten Endes leben. Titines Aufgabe ist es, den männlichen Besuchern der Bar Ersatz für weiblichen Umgang zu bieten. Niemand kann eine harmlose Klatschgeschichte interessanter erzählen als Lolotte. Niemand eine pikante Anekdote mit unschuldsvollerer Miene servieren als Titine.
Der Dichter Ebb kam über die Promenade heran. Er war wütend auf die Frauen im allgemeinen und Geneviève im besonderen. Das Kirchenkonzil in Lyon, das mit einer einzigen Stimme Mehrheit der Frau eine unsterbliche Seele bewilligte, hätte es sich mindestens zweimal überlegen sollen, ehe es diesen verhängnisvollen Entschluß faßte. Eier und Haferbrei – gab es eine vernunftwidrigere Diät für einen Mann, der bis spät in die Nacht aufgeblieben war? Bewies das nicht zur Genüge, daß besagtes Kirchenkonzil – hallo, was war da los?
Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße schlenderte ein Mann heran, ein gut gekleideter Mann von englischem Typ. Er war in Begleitung eines ebenfalls gut gekleideten Jünglings. Der ältere der beiden hatte eine Habichtnase und einen krankhaft gelben Teint, der Jüngling war lockig wie ein junger Poet. Aber nicht ihre Gesichter hatten Ebbs Aufmerksamkeit erregt, sondern ihr Gebaren. Der Junge – er mochte wohl ungefähr achtzehn Jahre alt sein – trug einen Eimer und einen Kleisterpinsel in der Hand, sein Begleiter einen Stoß blutroter Plakate. Bei einer Mauer blieben sie stehen. Der Junge fuhr ein paarmal mit seinem Pinsel darüber hin, der Ältere hielt ein Plakat in die Höhe. Im nächsten Moment klebte es an seinem Platz. Von weitem konnte Ebb die Worte »öffentliche Protestversammlung« lesen. Sie prüften mit einem raschen Blick den Effekt und gingen dann weiter.
Ebb wußte nicht, was er denken sollte. Zwei Engländer, die Plakate anklebten! Zwei gut angezogene junge Engländer! Das stand in Widerspruch zu allem, was er von dieser Rasse zu wissen glaubte. Das verlangte beinahe, daß man in Erfahrung brachte, wogegen sie protestierten. Aber der Gedanke an eine morgendlich trockene Kehle erlangte die Oberhand, und er eilte weiter. Da war die Bar, und da war Titine.
»Guten Morgen, Monsieur le Poète!« rief Fräulein Titine, die heute weißhaarig war wie eine Marquise des Ancien Régime, nachdem sie tagsvorher rothaarig gewesen wie eine leichtfertige Soubrette. »Ah, das ist aber reizend, daß Sie zu mir kommen, was für ein strahlendes Wetter, man könnte sich mitten im Sommer glauben, nicht wahr, und dabei haben wir erst Anfang März, wo die Liebe erwacht; es ist Ihnen sicherlich aufgefallen, wie schön alle Damen heute sind, aber natürlich ist es Ihnen aufgefallen, Monsieur le Poète, sonst wären Sie ja kein Dichter, oh là là, haben Sie gesehen, wer da kommt – was, Sie kennen die schöne Madame Delarue nicht, von der die ganze Stadt spricht, ist das möglich? Ihr Mann spielt im Städtischen Orchester, und haben Sie ihren Pelzmantel gesehen? Aber Monsieur le Poète, wo haben Sie denn Ihre Augen, sehen Sie nur Blumen und Sterne wie Victor Hugo, ja natürlich aber Monsieur Delarue hat tausend Francs monatlich als Mitglied des Städtischen Orchesters, und ein halbwegs echter Chinchillapelz kostet seine guten achttausend, das steht felsenfest, aber Madame Delarue hat auf einer Auktion in Nizza den ihren für so gut wie nichts ergattert – ist das nicht Glück, und hätte man nicht Lust, auch nach Nizza hinüberzufahren?«
Während Titine, ohne auch nur ein einziges Mal Atem zu schöpfen, diese Tirade von sich gab, hatten ihre Hände Anschovisschnittchen, Radieschen und Käsestangen aufgetischt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Strandpromenade schwebte eine junge Dame vorüber, die junge Dame, von der Titine soeben gesprochen hatte. Sie war klein, hatte aber jene unnachahmliche Art, sich zu bewegen, die den Französinnen eigen ist. Ihr Haar war platinblond, ihre Augenbrauen durch zwei Tuschlinien ersetzt, ihr Mund orangerot, ihre Wangen mandarinenfarben und ihre Augenwinkel geheimnisvoll grün. Obwohl es ein strahlend warmer Tag war, hatte sie sich in einen üppigen Chinchillapelz gehüllt. Von den Trottoirtischchen folgten ihr viele Blicke. Christian Ebb sagte:
»Wissen Sie, woran ich denke, wenn ich Französinnen sehe, Fräulein Titine? Ich denke an Champagner.«
»Ach, wie charmant! Sie sind ein echter Poet, eine Nachtigall wie Victor Hugo!«
»Und zwar warum?« fuhr Ebb fort. »Nicht nur weil Champagner so teuer ist. Sondern weil die Trauben, aus denen man Champagner herstellt, eigentlich weder dem Aussehen noch dem Geschmack nach besonders sind. Aber wenn man sie richtig behandelt, so werden sie zu Champagner, und Champagner aus feineren Trauben zu bereiten geht nicht.«
»Pfui, pfui, pfui!« rief Fräulein Titine und stampfte mit ihren hochhackigen Schuhen auf. »Nein, wie boshaft Sie sind, ich werde Ihnen nie verzeihen, aber wissen Sie, was man von Madame Delarues Mann erzählt? Gestern war Mittagskonzert vor dem Kasino, und man spielte die Traviata, und im Trinklied kommt doch eine Pause vor, wo alle Instrumente auf einmal verstummen, bevor sie dann mit voller Kraft wieder einsetzen. Der arme Monsieur Delarue hatte die Pause vergessen, und plötzlich sagt er ganz laut, so daß alle seine Kollegen es hören: ›Gott im Himmel, so geht das nicht weiter, ich werde ja noch zum Gespött der ganzen Stadt!‹ Sie sind doch Dichter, was würden Sie da dichten, wenn nicht ›L'Adultère?‹ Oder ist es wirklich so, daß man sich außerhalb von Frankreich nicht so viel mit Ehebrüchen befaßt?«
»Oh, doch«, antwortete Christian Ebb, »auch wir haben schon angefangen, ein bißchen mitzumachen. Der Fortschritt ist en marche, und nichts kann ihn aufhalten.«
»Dann werden Sie mich verstehen, wenn ich Sie frage, ob Sie gehört haben, was man sich alles in der Stadt von einem gewissen Herrn erzählt … Sie haben doch einen Freund, der auch hier Stammgast ist …«
»Meinen Sie Martin Vanloo? Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß er es ist, der Pelze zu Ramschpreisen abgibt? Denn wenn Sie das sagen, glaube ich Ihnen nicht.«
»Sie sind so aufbrausend, das habe ich doch gar nicht gesagt, es gibt ja noch andere Mitglieder dieser Familie …«
»Meines Wissens besteht die Familie aus einer uralten Großmutter, ferner aus zwei Brüdern namens Arthur und Allan, die ich nicht kenne, und einem jungen Verwandten aus einer Seitenlinie, der angeblich dem englischen Dichter Shelley, auch Englands Christian Ebb genannt, ähnlich sehen soll. Wer von diesen ist derjenige, der Pelze ausverkauft? Ich bin ein Christenmensch und verlästere meinen Nächsten ebenso gerne wie irgend jemand, aber bevor ich es tue, will ich Tatsachen haben.«
»Pfui, pfui, pfui!« rief Fräulein Titine mit Marquisenstimme. »Es ist häßlich, seine Mitmenschen zu verlästern! Ist ein Pelz nach einem Armband mit Rubinen keine ausreichende …«
Sie brach ab und ging mit dem natürlichsten Tonfall der Welt in eine Begrüßung über:
»Guten Morgen, Monsieur Vanloo! Hat es Ihnen nicht in den Ohren geklungen? Wir, Monsieur le Poète und ich, sprachen eben von Ihrer Familie!«
»Von meiner Familie?« sagte eine heisere Stimme auf der anderen Seite von Ebbs Schultern. »Begnügen Sie sich damit, von ihrem einzigen anständigen Mitglied zu sprechen, ich meine mich selbst! Und was trinken Sie da, Ebb? Bier? Fräulein Titine, wollen Sie uns nicht eine große Flasche Schampus bringen, aber etwas plötzlich, wie man in Italien sagt.«
Wer war der Neuankömmling?
Einem Physiognomiker, wie man vor hundert Jahren sagte, wäre es schwergefallen, diese Frage zu beantworten. Er war untersetzt und muskulös. Er hatte sprödes schwarzes Haar, das tief in die Stirn hineinwuchs, und etwas schräge Brauen über blinzelnden Augen. Insofern konnte er gewissen Typen gleichen, die man rings um das Mittelmeer findet und deren Ursprung sich in der Nacht der Geschichte verliert – Typen, die ihre Herkunft ebensogut auf Ägypten wie auf Phönizien oder eine andere der hundert Völkerschaften zurückführen können, die sich an diesen Küsten drängten. Aber seine Augen waren dunkelblau. Und außerdem sprach er Englisch – nicht jene Sorte Englisch, die man in den Häfen des Mittelmeers hört, sondern jene andere, unverkennbare Sorte, die hervorzubringen ebenso lange Zeit erfordert wie ein englischer Rasen – ein Englisch, dessen Konsonanten so schlaff im Hauch der Zungenspitze wehen wie das Seegras in den Meeresströmungen der sieben Ozeane, die England zu beherrschen vorgibt.
»Hallo, Vanloo«, sagte Ebb. »Wie geht's?«
»Elend«, antwortete der Mann mit der heiseren Stimme, »›Hang-over‹ wird die Krankheit von unseren amerikanischen Vettern genannt, mit denen wir alles gemeinsam haben bis auf die Sprache. Kennt man das Leiden in Skandinavien?«
»Gerüchtweise«, gab Ebb zu. »Aber wir sind Kleinbürger, und das prägt sich auch in unserer Sprache aus. In Norwegen und Dänemark nennt man die Krankheit Zimmermann, in Schweden Kupferschmied.«
»Es hat für mich etwas Faszinierendes, von den Sitten wilder Volksstämme zu hören. Ihre drei Länder sind ja der letzte Hort des Idylls in Europa. Bei euch kann es doch unmöglich irgendwelche Streitfälle geben?«
Ebb brach in ein schallendes Gelächter aus.
»Da irren Sie! Heute vormittag erwarte ich den Besuch zweier Skandinavier, die ich stante pede hinauszuschmeißen gedenke. Der eine ist Spezialist in der Geschichte Napoleons und der andere in den Begräbnissitten der megalithischen Völker.«
»Wie können Sie nur in aller Frühe so schwere Worte aussprechen?« sagte Mister Vanloo bewundernd und machte einen tiefen Schluck aus dem Glase, das Titine vor ihn hingestellt hatte. »Ich ahne nicht, was das ist, die megalithischen Völker – klingt wie eine bösartige Form von Geisteskrankheit. Aber den alten Boney kenne ich aus dem Effeff. Sie wissen doch, daß wir Engländer Napoleon so nannten, bis wir ihn besiegt hatten. Nachher wurden wir höflich und nannten ihn General Buonaparte. Hudson Lowe, der ihn auf Sankt Helena bewachte, hielt sehr genau darauf, ihn nie anders zu nennen. Kamen Briefe an den Kaiser Napoleon, so retournierte er sie mit der Aufschrift ›Adressat hierorts unbekannt‹. Sie können mir glauben, ich habe genug von dem alten Boney gehört! Meine Familie kommt ja aus Sankt Helena!«
Ebb riß die Augen auf.
»Wirklich? Sie hat zu seiner Zeit dort gewohnt?«
»Wir sind unmittelbar nach seinem Tode nach Europa gekommen.«
»Heißt Ihre Villa in Mentone darum Longwood?«
»Vermutlich. Es war mein Stammvater, der sie erbaut hat. Begabter alter Bursche. Seither ist die Familie degeneriert …«
»Degeneriert?« sagte Ebb in dem spöttischen Ton, den er sich Martin Vanloo gegenüber angewöhnt hatte. »Was meinen Sie? Sie, lieber Freund, rezitieren Shakespeare und Swinburne, so daß einem die Tränen in die Augen kommen, namentlich zu vorgerückter Nachtstunde, Sie haben einen jungen Verwandten, der Shelley ähnlich sehen soll, und einen Bruder, der die Musik fördert, wie man mir soeben gesagt hat …«
Er unterbrach, doch zu spät.
»Was sagen Sie?« fragte Martin Vanloo und richtete sich auf seinem Sitz auf. »Einen Bruder, der die Musik fördert?«
Ebb wurde der Mühe, zu antworten, enthoben. In diesem Augenblick bog Madame Delarue um die Ecke, blendend in ihrem Pelzmantel und ihren mondsichelförmigen Augenbrauen. Alle Blicke folgten ihr. Martin Vanloo warf seine halbgerauchte Zigarette weg.
»Aha, jetzt verstehe ich, was Sie meinen! Wie kann mein guter Bruder auch glauben, daß man sich so etwas in Mentone erlauben darf? Das muß mit einem Skandal enden, und ich verabscheue die Skandale. Ich verabscheue sie in demselben Sinne, in dem ich schlechte Verse verabscheue. Ich verlange Stil – ob es sich nun um Lyrik, Ehebrechen – oder andere Verbrechen handelt!«
Er schwieg, und Ebb, der sich durchaus nicht berufen fühlte, etwas zu sagen, folgte seinem Beispiel. Die ersten Worte, die fielen, kamen von Martin.
»Doch! Die Familie degeneriert! Wollen Sie noch weitere Belege dafür haben, brauchen Sie nur quer über die Straße zu schauen!«
Sein Ton war so eigentümlich, daß Ebb zusammenzuckte. Seine Augen hatten sich zu schmalen Spalten zusammengezogen, das Gesicht glich einer Maske. Alles Englische war von ihm abgefallen, es fehlte ihm nur ein Fächer in der Hand, und er hätte wie ein morgenländischer Sultan ausgesehen, der mit Henkersknechten und Torturinstrumenten im Hintergrunde Gericht hält. Wer war es, über den er im Geiste zu Gericht saß? Wer, wenn nicht die zwei Personen, die Ebb vor einer Weile gesehen hatte – der Mann mit den blutroten Plakaten und der schöne Knabe mit dem Kleistertopf! Sie klebten gerade noch in einiger Entfernung ein Plakat an, bevor sie über die Esplanade verschwanden.
»Ist es möglich, Sie kennen meinen Bruder Arthur nicht?« fragte Martin. »Sollten Sie noch nie im Gefängnis gesessen haben, Ebb?«
»Merkwürdigerweise«, erwiderte der norwegische Dichter etwas reserviert, »bin ich bis jetzt immer noch daran vorbeigekommen.«
»Hahaha – verstehen Sie mich doch recht! Ich meine natürlich politisches Gefängnis! Wären Sie da eingesperrt gewesen, wohlgemerkt in einem Lande, das nicht demokratisch regiert wird, dann wären Sie sofort der Gegenstand des Interesses für meinen Bruder Arthur geworden. Dann hätte er unverzüglich Protestversammlungen einberufen und Resolutionen verfaßt, um Ihre Freilassung zu erwirken. Ob Sie schuldig gewesen wären oder nicht, hätte ihn nicht im geringsten berührt – wenn er nur Gelegenheit gefunden hätte, ›gegen die Schwarze Reaktion‹ zu demonstrieren und die ›Welt zu verbessern‹. Es ist ganz unglaublich, wieviel Weltverbesserer es heutzutage gibt. Eines vergessen aber die meisten von ihnen, nämlich, sich erst selbst zu verbessern!«
Ebb schwieg. Bisher hatte er Martin Vanloo nur als einen umgänglichen jungen Mann, der Sinn für Poesie und gute Weine hatte, kennengelernt. Und plötzlich entpuppte er sich als ein Mann mit sozialer Einstellung und einem ansehnlichen Fonds von Haß im Herzen. Denn an einer Sache war nicht zu zweifeln, seine Gefühle für den Bruder Arthur glichen auffallend einem soliden, alteingewurzelten Haß.
Martin hatte seinen privaten Gedankengang weitergesponnen.
»Vielleicht fänden Sie es unlogisch von mir, spräche ich so auch über Allan, der nichts will, sondern nur alles verlangt, worauf er Lust hat. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß ich den einen dem anderen vorziehe! Ein stupider Genußmensch ist mir genau so unsympathisch wie ein stupider Fanatiker. Sie sind meine Brüder. Was ist das für ein altes Vorurteil, daß man besondere Rücksicht auf gewisse Personen nehmen soll, nur weil man zufällig gemeinsame Eltern mit ihnen hat? Wenn ich die Welt verbessern sollte, wüßte ich, womit ich anfangen würde. Und dabei bin ich gezwungen, solange die Großmutter lebt, unter einem Dache mit ihnen beiden zu hausen! Sie machen sich keinen Begriff von der Langweile daheim in der Villa! Und Langweile, Ebb, ist die Mutter aller Laster.«
»Wer war der junge Mann in Gesellschaft Ihres Bruders?« fragte der Dichter, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
»Was?« rief Vanloo in völlig verändertem Ton. »Sie haben den jungen Shelley nicht aus der englischen Literaturgeschichte erkannt? Mit anderen Worten den Stolz der Familie, den jungen John! Übrigens ein netter Kerl, wenn auch noch grün wie ein Bäumchen im Frühling und zu jeder Form der Heldenverehrung bereit, wie zum Beispiel, Arthur bei seinem Kreuzzug gegen die Hausmauern Mentones die Kleistertöpfe nachzutragen!«
In diesem Augenblick wurde ihr Gespräch von einer metallisch klingenden französischen Stimme, die aus dem Innern der Bar drang, unterbrochen:
»Allo, allo, allo, ici Radio Méditerranneé! Die Polizei wiederholt eine Verlautbarung. Es wird nach einem Paket gefahndet, das einem Boten zu Rad abhandengekommen ist. Das Paket enthält eine Flasche Nikotin in reiner Form. Schon die minimalste Dosis dieses Giftes kann tödlich sein! Allo, allo, allo, ici …«
Martin schenkte den Rest aus der Flasche ein und lächelte – ein sonderbares Lächeln.
»Ein abhandengekommenes Giftpaket!« murmelte er. »Wir wollen hoffen, daß es nicht bei den beiden plakateaufklebenden Mitgliedern der Aktiengesellschaft Organisierter Haß landet! Sie scheinen mich nicht zu verstehen! Können Sie sich einen besseren Namen für den politischen Kommunismus ausdenken als Aktiengesellschaft Organisierter Haß? Ich nicht. Übrigens habe nicht ich den Namen erfunden, sondern ein ehemals roter Schriftsteller namens Aldous Huxley. Hallo! Zwölf Uhr!«
Die Kanone des alten Forts am Hafen von Mentone hatte eben den Schuß abgegeben, der täglich die Mittagsstunde anzeigt und zugleich ganze Scharen erschrockener Tauben in die blaue Luft hinaufscheucht. Vanloo winkte Fräulein Titine.
»Fügen Sie diese Flasche dem Sündenregister an«, bat er. »Will versuchen, mir nächster Tage Sündenablaß zu verschaffen. War mir ein Vergnügen, Sie zu treffen, Ebb. Aber jetzt muß ich gehen. Wenn die Mahlzeitstunden in Frage kommen, ist Großmutter so streng wie die Ephoren Spartas. A propos – Sie müssen uns mal in der Villa besuchen! Sie hören noch von mir. Good-bye!«
Er verschwand im Eilmarsch über die Promenade. Fräulein Titine nahm sofort die Unterhaltung mit Christian Ebb wieder auf.
»Ah, ein entzückender Mann, Monsieur Martin, nicht wahr, Monsieur le Poète, nicht solch ein Ekel wie dieser andere, der mit den Plakaten vorbeiging, ja, wohin soll das noch führen, wenn un fils de famille nichts Gescheiteres zu tun weiß, als das Volk aufzuwiegeln? Sollte man nicht meinen, daß es genug Wahlagitatoren gibt, und dabei wird er doch Millionär, wenn die Großmutter einmal die Augen zumacht. Es kann ja ohnehin nicht gar so lange mehr dauern, sie geht ja schon ins Achtundsiebzigste. Ja, was sind wir Menschen, Staub und Asche, wie man so sagt. Aber daß sie weiß, was ihre Enkel drunten in der Stadt treiben, kann man kaum glauben, obwohl sie für ihr Alter noch sehr rüstig sein soll, ja, was würde sie zu Pelzmänteln sagen und zu Plakaten, die zum Aufruhr aufhetzen?«
In Ebbs Kopf hatte die ganze Zeit ein Gedanke rumort: Martin hatte seinen Champagner nicht bezahlt. Wenn er an ihre früheren Zusammenkünfte zurückdachte, so waren sie alle in der gleichen Weise verlaufen. Die konsumierten Getränke – und es waren nicht wenige gewesen – waren immer »aufgeschrieben« worden.
»Und was würde die Großmama sagen, wenn sie nach Allans Pelzmänteln und Arthurs Plakaten noch von Martins Champagner hörte?«
Diese Bemerkung fand eine äußerst ungnädige Aufnahme.
»Fi donc«, sagte Fräulein Titine und zog die Augenbrauen unter ihrem weißen Marquisenhaar zusammen, »wie können Sie nur in dieser Weise sprechen, Monsieur le Poète, gönnen Sie uns anderen armen Menschen nicht das Recht, zu leben, und braucht der liebe arme Martin nicht eine kleine Stärkung nach all den Verdrießlichkeiten in der Villa, haben Sie gehört, was die Leute sagen, was sein Bruder Allan zu tun gedenkt, nein, ich will es gar nicht aussprechen!«
»Sprechen Sie es aber doch aus!« bat Ebb.
»Man sagt, er beabsichtigt, seine Geliebte zu heiraten!« flüsterte Fräulein Titine sozusagen mit gesperrten Lettern.
»Der Gedanke ist unleugbar haarsträubend für Frankreich«, räumte Ebb ein. »Aber bald ist er ja, wie Sie sagen, Millionär, und da kann er sich ja alle möglichen Extravaganzen erlauben.«
»Und wer hat gesagt, daß er seine Großmutter beerben wird?« fragte Fräulein Titine und warf triumphierend den Kopf zurück. »Und wenn es nicht so kommt, ist er dann Millionär? Denken Sie doch einen Augenblick nach, Monsieur le Poète, blicken Sie nicht immerzu in die Wolken, wo die Vögel singen. Die alte Dame ist im Besitz des Familienvermögens, und was im Testament steht, weiß kein Mensch!«
»Sie haben recht«, sagte Christian Ebb gedankenvoll, »Sie haben sicherlich unbedingt recht. Das Geld regiert die Welt, und, wie ein römischer Kaiser vor langer Zeit bemerkte, es riecht nicht!«
»Was meinen Sie damit?« fragte Fräulein Titine.
»Nur, was ich sagte«, antwortete Ebb. »Geld riecht nicht. Und wenn Blut, Feuer und Gift daran klebt! Man nimmt es ebenso gern in der Bank und in den Pelzgeschäften und in den Bars. Au revoir, Fräulein Titine, wir sehen uns bald. Bei Ihnen erspare ich das Geld für eine Morgenzeitung. Sie haben viel mehr Neuigkeiten als ›l'Eclaireur‹!«
Das Marquisenprofil lächelte huldvoll über das Kompliment. Ebb überquerte die Straße, um das Plakat zu studieren, das Arthur Vanloo und sein junger Verwandter angeklebt hatten. Nachdem er es durchgelesen, runzelte er nachdenklich die Stirn. Es war die Aufforderung zu einer Protestversammlung. Protest wogegen? Gegen die Verhaftung gewisser Demagogen in den französischen Kolonien, die sie von dem »kapitalistischen Joch« befreien und denen sie »Selbstverwaltung« geben wollten …
Als er heimkam, wartete ein Heringsimbiß auf ihn. Außerdem wartete Geneviève, um ihm mit grimmiger Miene und in ihrem schmetterndsten Grönländisch zu erklären, daß das »bei allen Deibeln« das letztemal war, daß sie solchermaßen mit ihrem Gewissen paktierte.
»Und morgen, wenn diese zwei Fatzkes kommen, die sich hier mausig machen wollen, dann werde ich ihnen den Standpunkt klarmachen!«
Christian Ebb sah träumerisch zum Fenster hinaus.
»Nein, Geneviève, das überlassen Sie mir! Es haben sich gewisse Dinge ereignet, die … aber seien Sie unbesorgt, ich werde ihnen schon meine Meinung sagen!«
Geneviève sah ihren Arbeitgeber lange an. Ihr Gesichtsausdruck war beredt. Und noch beredter war das Zuschmettern der Tür, mit dem sie in die Küche verschwand.