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IV. Kapitel.

Selbstfolterung. – Flagellanten. – Erotische Selbstfolterung. – Masochismus und Sadismus. – Matheo von Casale. – Seine Selbstkreuzigung. – Selbstverstümmlung.

Bevor wir die geschichtliche Entwicklung der Tortur weiter verfolgen, dürfte es geeignet sein, eine kurze Erörterung dessen vorzunehmen, was wir Selbstfolterung genannt haben, was am besten in Verbindung mit der gleichfalls bereits erwähnten, mit jener im Zusammenhang stehenden aktiven Lust an Peinigungen, die wir erotische Tortur nennen können, geschehen dürfte.

Die Selbstpeinigung ist bei religiösen Schwärmern und Fanatikern keine seltene Erscheinung und schon seit langer Zeit zu finden. Es sei hier an die indischen Fakire, mohammedanischen Derwische, die christlichen Säulenheiligen und Einsiedler erinnert, an Fanatiker wie Origenes, der, um die Sinneslust zu töten, an sich selbst die Kastration vornahm, an die Flagellatori in Italien, die Flagellants in Frankreich, die Flegler in Deutschland. Ueber die letztere seltsame Erscheinung schreibt Scherr (a. a. O. Seite 146 ff.): »Die namenlose Rohheit der religiösen Vorstellungen, verbunden mit der Lockerheit der Sitten, welcher sich das höllische Strafgericht drohend in der Ferne zeigte, hatte die Kasteiung des Fleisches durch Geisselung, wie sie insbesondere durch die Bettelorden gangbar gemacht worden war, zu einem beliebten Sündentilgungsmittel erhoben. Es wurde zuerst in Italien in grossem Stile angewandt, indem dort im Jahre 1620 lange Züge von Büssenden erschienen, welche bis zum Gürtel nackt, mit verhüllten Häuptern unter Anstimmung von Busspsalmen einherwandelten und sich bis auf's Blut geisselten. Der Beginn dieses Flagellantismus im grossen, der Anfang der »Geisselfahrten« ist, wenn auch die ganze Erscheinung mit Wahrscheinlichkeit auf den 1231 gestorbenen heiligen Antonius von Padua zurückgeführt werden kann, wohl unzweifelhaft in das genannte Jahr 1260 zu setzen. Damals, wo Italien in Folge der Kämpfe zwischen Kaiser und Papst zur Wüste geworden war, wo die furchtbare Zerrüttung aller sozialen und moralischen Verhältnisse eine schwärmerisch-religiöse Aufregung begünstigte, wo endlich die welfisch-päpstliche Partei nach den Siegen Manfreds und der Ghibellinen einem neuen Impuls mit Begierde nachkam – damals ging von der welfischen Stadt Perugia der Ruf zur Busse und zu einer allgemeinen Geisselfahrt aus, und der Wahnwitz wilder Askese verbreitete sich rasch über die italischen Lande. Unser nüchternes Deutschland wurde von dieser psychischen Seuche erst dann angesteckt, als 1348-50 die furchtbare, unter den Namen »der schwarze Tod« oder »der grosse Sterbent« bekannte physische Pest die Gemüter verwirrt hatte.

Indes nicht nur der Wahnwitz wilder Askese griff zu Geissel und andern Marterinstrumenten, sondern schon im Altertum war dergleichen zur Erregung der Sinnlichkeit in Brauch und in den nachfolgenden Zeiten nicht minder.

Auf der dritten Kupfertafel von Hogarths »Buhlerin« sehen wir über dem Bett der Lustdirne eine Rute hängen und der geistreiche Lichtenberg bemerkt in seinen Erklärungen dieser Bilder: »Wie kommt aber, wird man fragen, die pädagogische Faschine oder der Staubbesen der Philanthropie hierher, und gerade an die Bettwand? Das Problem, ich muss gestehen, ist fürwahr nicht leicht. Ich wünschte, es wäre schwerer, oder gar so schwer, dass es schlechterdings nicht aufgelöst werden könnte. Indessen, wir wollen es versuchen, doch stehen wir hier bei einer Stelle, wo selbst die Moral das Moralisieren verbietet und die gesprächigste Hermeneutik verstummt, oder, wenn sie genötigt wird, zu sprechen, wenigstens nichts weiter sagt als: ›Ich bin stumm!‹

Die Weltweisen haben längst bemerkt, dass Erblinden die Hälfte des Todes sei, und wirklich scheint die Natur diese Meinung zu unterschreiben, welches eben nicht immer der Fall bei Bemerkungen der Weltweisen ist. Ich zweifle nämlich, ob es gegen irgend ein Uebel in diesem Jammerthal mehr Hilfsmittel giebt, als gegen das Nichtsehenkönnen. Bliebe die Sonne aus, gut, so stecken wir Lichter an. Das ist eine Kleinigkeit. Verschliesst der Staar das Fenster, wiederum gut, so macht der Augenarzt den Laden wieder auf. Wird der Mensch Myops (Kurzsichtiger) oder sieht er von dem Universo nichts als die Spitze seiner Nase, oder wird er Presbyt (Weitsichtiger) und sieht den Kirchturm deutlich, aber nicht seinen Nächsten, der vor ihm steht, so ist der ganze Handel mit zwölf Groschen abgethan, die man an den Glasschleifer bezahlt. Mit Hilfe dieser grossen Tripel-Allianz von Lichterzieher, Augenarzt und Glasschleifer hat der Mensch bisher die absolute sowohl als relative Blindheit so kräftig bekämpft, defensiv wenigstens, dass ihre Eingriffe, die sie dennoch hier und da thut, kaum der Rede wert sind ...

Aber ach, wenn es doch auch Telegraphen für die übrigen Sinne gäbe! Allein da sieht es erbärmlich aus. Wer da ein Licht anzünden oder den Staar ausziehen oder eine Brille schleifen könnte! O, es wäre der Stein der Weisen, ich meine des Alters, ohne welche keine Weisheit möglich ist. Man hat es tausendmal versucht, aber mit welchem Erfolg? Der Geist, erst voraus und willig, und das Fleisch hinterdrein und schwach, eröffnen den Zug; dann folgt armselige erzwungene Willigkeit des Fleisches, hinter welches der Geist erbärmlich herkroch und endlich – war gar kein Zug mehr und Geist und Fleisch und Auge und Brille waren verloren. – Aber wir sprechen von dem Edukations-Besen an der Bettwand. Ist denn das eine Brille für – Presbyten? Die Wahrheit zu gestehen, ich weiss es selbst nicht, nur so viel weiss ich, dass sie, wenn es eine ist, nicht auf die Nase appliciert wurde ...«

Mit weniger Humor und auch mit weniger Zurückhaltung haben sich schon viel früher, wie auch noch viel später andere über den sexuellen Flagellantismus geäussert und die Bücher, die über diesen Gegenstand geschrieben wurden, könnten eine ganze Bibliothek für sich bilden. Thatsache ist, dass die Hautreizung bei der Prügelung und wohl auch die Aufregung bei dem Anblick dieser und ähnlicher Zufügung von Körperschmerzen geschlechtlich aufregend wirkt, ein Umstand, der u. a. gegen das Prügeln in der Schule spricht. Rousseau erzählt in seinen »Confessions«, dass er als Knabe, so oft seine Gouvernante seine Kehrseite mit Stock oder Rute bearbeitete, zum »Mann geworden« wäre, so dass sie schliesslich davon erschreckt lassen musste.

Die neueste wissenschaftliche Forschung hat die sexuelle Gier für eigne Körperschmerzen Masochismus, und die gleichartige Gier sie andern zuzufügen oder andere darunter leiden zu sehen als Sadismus bezeichnet, nach den Schriftstellern Sacher-Masoch und Marquis de Sade, die sich mit diesen Problemen in ihren erzählenden Schriften bis zum Ueberdruss häufig beschäftigten. Die psychiatrische und forensische Bedeutung dieser geschlechtlichen Verirrungen erörtert Prof. Dr. R. v. Krafft-Ebing in seinem bekannten Werke »Psychopathia sexualis« worauf hiermit hingewiesen werden soll.

Die Selbsttortur aus religiösem Fanatismus, häufig vom Geschlechtstrieb beeinflusst, war nicht nur im Altertum und Mittelalter, nicht nur in dem phantastisch auflodernden Orient keine seltene Erscheinung, auch in unseren Tagen und in unserer Kultursphäre kommt derartiges nicht selten vor und der von Hitzig und Häring herausgegebene »Neue Pitaval« bringt uns einige merkwürdige Beispiele dieser Verirrung, von denen eines hier vollkommen wiedergegeben werden soll:

Matheo Covet war der Sohn sehr armer Tagelöhner zu Casale im Gebiet von Belluno, wo er im Jahre 1759 geboren wurde. Er ward daher später in Venedig nur der Matheo von Casale genannt. Das Dörfchen lag fern von jeder Strasse, abgeschieden eigentlich von jedem Verkehr. Er sah nur Leute eben so arm wie seine Eltern, die alle im Schweisse ihres Angesichts ihr Brot sich verdienen mussten. Die einzigen, welche nicht hinter dem Pfluge gingen und mit dem Karst auf die Berge mussten, waren der Pfarrer und sein Kaplan. Es waren die einzigen Glücklichen in seiner jugendlichen Vorstellung. Sie besassen alles von Reichtum, Macht und Einfluss, wovon er Kunde hatte in seiner kleinen Welt.

Der Gedanke, diesen Erwählten ähnlich, also auch Priester zu werden, war sehr natürlich. Er ging bei dem Kaplan in Unterricht und lernte von ihm lesen und notdürftig schreiben. Aber die Familie war zu arm, um den armen Studenten nur einigermassen zu unterstützen. Er musste seine Hoffnung aufgeben und erwählte das Schuhmacher-Handwerk, vielleicht weil es seiner Neigung doch näher kam, als der saure, anstrengende Landbau.

Man hat die Bemerkung gemacht, dass das gezwungene Verlassen eines Lebensberufs und die unfreiwillige Wahl eines andern oft auch sonst gesunde Geister aus ihrer Seelenharmonie gebracht und nicht selten traurige Zerrüttungen zur Folge gehabt hat. Matheo wurde kein Genie in seinem neuen Fache. Er arbeitete weder sehr elegant, noch förderte er sein Tagewerk, ohne nur deshalb faul oder träge zu sein. Er war im Gegenteil fleissig, aber er arbeitete ohne innern Trieb.

Die sitzende Lebensart, das beständige Schweigen, wie es die Meister von ihren Lehrlingen und Gesellen in der engen Werkstube fordern, machten ihn zu einem Grübler. Er ward einsilbig und verdrossen. Ein Krankheitszustand mag hinzugekommen sein, seinem beschränkten Geiste die eigentümliche Richtung zu geben, indem er, besonders zur Frühjahrszeit, an einem flechtenartigen Ausschlage litt. Seine beschränkte Erziehung, die ihn nichts Schöneres, Edleres, Erhabeneres kennen lehrte, als den Dienst, zu welchem der Priester berufen ist, war in seinem Handwerksdienst nicht fortgeschritten. Der grübelnde Schuster sann nur den Werken und Satzungen nach, wie er sie buchstäblich von seinem Kaplan und Pfarrer gehört hatte, und sein beschränkter Geist fixierte sich immer mehr, nicht in der Freudigkeit und dem Troste des Christenglaubens, sondern in den trüben Vorstellungen des Martyriums.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte man nichts von Matheo von Casale gehört ohne seinen Tod. Bis zum Juli 1802 verstrich sein Leben so ruhig, wie das irgend eines an seine Bank gefesselten Schuhmachergesellen. Nur durch seine ausserordentliche Frömmigkeit zeichnete er sich aus. Er sprach in der Unterhaltung nur von Predigten, Fasten, Heiligen und Kirchenfesten. Da verschloss er sich eines Tages in seine Kammer, ohne dass jemand an ihm irgend etwas besonderes vorher bemerkt hätte, was einen so ausserordentlichen Entschluss motivierte. Hier ergriff er das erste beste schlechte Schuhmachermesser und vollzog an seinem Leibe die vollständigste Castrierung. Dann öffnete er das Fenster und warf alle abgeschnittenen Teile auf die Strasse.

So wenig als man ihn schreien und wimmern oder später über die rasche That beklagen hörte, weiss man, was ihn zu der grausamen That bewogen hatte. Einige meinten, es sei aus Verdruss geschehen, weil ein junges Mädchen seine Liebesanträge abgewiesen. Wahrscheinlicher ist es, wenn man seine fanatische Richtung betrachtet, dass er schon damals in einem Anfalle von Schwärmerei, erschreckt über die Versuchungen des Fleisches, sich mit einem Male und auf immer des gefährlichsten Feindes, der ihm stets wieder drohen und seiner Heiligkeit schaden konnte, entledigte. Uebrigens hatte er mit vollem Vorbedacht gehandelt. Bevor er an die That ging, hatte er verschiedene Kräuter, welche bei den Landleuten seiner Gegend für blutstillend galten, sich zusammengelegt und kleingehackt, auch alte Leinwand zum Verbande. Diese schwachen Mittel erprobten sich in der That auch dermassen, dass er in kurzer Zeit vollkommen wiederhergestellt war. Ja er spürte nach seiner Heilung nicht die geringste Unbequemlichkeit und Unbehaglichkeit, und ward durch den Verlust in seinen natürlichen Verrichtungen nicht im Mindesten behindert. Ein halbes Wunder für die Aerzte; für ihn selbst wahrscheinlich eine Aufmunterung, im Martyrium fortzufahren. Die That konnte nicht verborgen bleiben. Das ganze Dorf sprach von Matheo. Man wusste nicht, worüber man sich mehr wundern solle, über seine Thorheit, seine Herzhaftigkeit oder das Wunder seiner Heilung.

Matheo hatte die That nicht für die Welt, nicht aus eitler Ruhmbegier vollbracht, sondern um sich selbst zu genügen. Das Aufsehen, welches sie machte, lag ganz ausser seiner Berechnung und seinem Wunsche. Ueberall begegneten ihm spöttische Mienen und die Dorfjugend zog mit lautem Spotte hinter ihm her, wo er sich zeigte. Dies allein war ihm schmerzhaft; er schloss sich deshalb mehrere Tage hindurch ein, und ging selbst nicht zur Messe aus.

Da es nicht besser ward, ging er im Monat November nach Venedig, wo ein jüngerer Bruder von ihm in einer Goldspinnerei als Arbeiter diente. Angelo Covet hatte keinen Platz in seinem Quartier, er mietete den ältern Bruder bei einer Witwe Osgualda ein, wo er sich fast ein Jahr lang anscheinend vernünftig verhielt, und ruhig und fleissig bei einem Schuhmacher arbeitete.

Aber am 21. September des Morgens sahen ihn Leute, welche durch die Calle della croce di Biri gingen, wie er im Begriff war, mitten in der Strasse auf einem hölzernen Kreuze, das er aus den Brettern seiner Bettstelle gezimmert hatte, sich selbst fest zu nageln. Natürlicherweise verhinderten sie es; doch auf alle ihre Fragen, was er denn thun wollte, ob er bei Sinnen sei, wer ihn dazu getrieben, wusste er keine Antwort zu geben. Nur gegen seinen Bruder, der aufs Aeusserste in ihn drang, sich gegen ihn zu erklären, äusserte er im Vertrauen: es sei ja heut das Fest des heiligen Mattheus, seines Patrons; mehr könne er ihm aber nicht sagen.

Der Witwe Osgualda ward nun der stille Mensch unheimlich; sie wollte ihn nicht mehr in ihrem Hause dulden, und kündigte ihm die Wohnung. So sah er sich genötigt, als auch diese seine zweite That ruchbar wurde, ebenfalls Venedig zu verlassen. Er kehrte in seinen Geburtsort zurück, wo er längere Zeit blieb.

Doch finden wir ihn bald darauf wieder in Venedig. Nachdem er bei mehreren Meistern gearbeitet und sich überall ruhig und zu deren Zufriedenheit betragen, mietete er sich, um seinem Meister Lorenzo della Mora näher zu sein, in der Strasse della Monacha eine Kammer in der dritten Etage. Kaum aber war er hier eingemietet und durch sein stilles, verständiges Wesen seinem Wirte lieb geworden, als man ihn oben in seiner verschlossenen Kammer hämmern, sägen und nageln hörte. Er war abermals auf seine Kreuzigungsgedanken zurückgekommen und arbeitete Tag und Nacht daran, sich ein Kreuz zu seinem Martyrium zu bereiten.

Nicht ohne Mühe hatte er sich alle Dinge, welche dazu gehören, verschafft, und nicht ohne erfinderischen Scharfsinn ging er dabei zu Werke. Schon besass er Alles, was notwendig war, die Stricke, Nägel und die Dornenkrone. Das Kruzifix war aus zwei massigen Baumstämmen zusammengepflockt. Die doppelten Querhölzer wurden, zu mehren Haltens, noch durch zwei spitzige Querhölzer an den Stamm befestigt. Aber da er an die Möglichkeit dachte, dass er sich nicht fest genug an das Kreuz nageln und der Gefahr ausgesetzt sein könne, herunter zu fallen, so webte er sich vorsorglich ein grosses Netz, welches, um das Kreuz gespannt, ihn aufhalten sollte. Er schnürte es unten an der horizontalen Kreuzstange fest zusammen, unterhalb der Knagge, auf der seine Füsse ruhen sollten; dann ging es allmählig auseinander, und war oben – das Ganze etwa in Gestalt einer geöffneten Börse – an die beiden Enden der Querstange befestigt.

Das Kreuz, an dem er hing, sollte diesmal selbst frei in der Strasse hängen. Es kostete diese Operation die grössten Vorbereitungen und Berechnungen. Denn an das schon hinausgehängte Kreuz konnte er sich nicht nageln; wenn er sich aber an das in seiner Kammer fertig liegende Kreuz so genagelt hatte, wie er beabsichtigte, war die Schwierigkeit nicht gering, sich und das Kreuz ohne Beihülfe eines Dritten zum Fenster hinaus zu hängen.

Ein Querbalken, der frei durch seine Kammer ging und das sehr niedrige Fenster derselben, halfen ihm über diese Schwierigkeit hinweg. Mit einem starken Stricke, der auf der einen Seite um die Querhölzer und den Stamm des Kreuzes fest geschlungen war, befestigte er das Kreuz selbst oben an den Querbalken. Der Strick blieb aber so lang und frei, dass das Kreuz, welches jetzt auf dem Boden lag, nachher, wenn es zum Fenster hinausgelassen war, frei an der äussern Mauer schweben könnte. Ein anderer Strick von derselben Stärke, gleichfalls oben an den Balken geknüpft, diente dazu, das Netz noch besonders fest zu halten; ein dritter Strick, seinen Leib an den Mast des Kreuzes fest zu binden.

Alle diese Veranstaltungen verrieten keinen geringen Aufwand von Erfindungskraft für den Verstand des armen Schusters. Und nicht, um einer kranken Eitelkeit zu fröhnen geschah dies alles; es galt ihm einzig und allein dieselben Schmerzen wie der Heiland zu empfinden und in derselben Lage wie der letztere vor sich selbst zu erscheinen. Da das Kreuz, an dem er litt, auf der Höhe und im Freien gestanden, da Jesus daran geschwebt und nicht darauf gelegen, verdoppelte der Arme seine Qual, indem er Mittel aussann, statt sich einfach auf das Kreuz zu nageln, was immer schon seine Schwierigkeiten hatte, von einer Höhe herab und im Freien daran herab zu hängen.

Am 19. Juli 1805 in der Morgenstunde waren alle Vorbereitungen fertig. Matheo setze sich die Dornenkrone auf, von der drei oder vier Stacheln in die Stirnhaut drangen. Ein weisses Taschentuch befestigte er um die Lenden und kroch alsdann, fast ganz nackend, in das Netz hinein, dergestalt, dass er auf dem Kreuze vorerst sass. Hier war seine erste Operation, dass er einen der für die Hände bestimmten Nägel, der glatt zugespitzt war, sich in die Fläche der rechten Hand hinein drückte und dann so stark mit der verwundeten Hand den Nagelkopf gegen den Fussboden schlug, bis der Nagel zur Hälfte durch den Rücken der Hand hindurch war.

Dann legte er seine Füsse auf die zu diesem Behufe an den Kreuzmast angebrachte Knagge, den rechten über den linken und bohrte sich einen 15 Zoll langen Nagel, eben so glatt zugespitzt als den vorigen, in beide Füsse. Während seine linke Hand den Nagel hielt, dass er in Richtung blieb, hämmerte er darauf mit einem Hammer mit derselben rechten Hand, welche schon von dem Nagel durchbohrt war! Das Eisen durchschnitt und durchfuhr beide Füsse, und so richtig hatte Matheo gehämmert, dass die Spitze des Nagels, als sie an der untern Fusssohle herauskam, gerade das Loch traf, welches er vorsorglich vorher in die Holzknagge gebohrt hatte. Die Füsse sassen nun fest am Kreuze.

Auch diese furchtbare Operation hatte weder seine physischen noch seine moralischen Kräfte erschöpft. Er sank in keine Ohnmacht, er zögerte auch nicht einen Augenblick, in dem furchtbaren Werke fortzufahren, vielmehr stiess oder schlug er sich den bereit gehaltenen dritten Nagel in die linke Hand mit derselben Ruhe und Sicherheit wie vorhin in die rechte. Dann schnürte er sich – und dies scheint in Anbetracht der beiden durch die Nägel zerrissenen und gelähmten Hände das Merkwürdigste – den dritten Strick, den er schon vorher zweimal um den Kreuzesstamm geschlungen, fest um den Leib und knotete ihn auf der Brust zu.

Noch blieb, um dem sterbenden Heilande gleich zu sein, eine mörderische Operation übrig, der Lanzenstich in die Seite. Zu diesem Behuf lag schon ein Schustermesser bereit. Hier irrte er zum ersten Male, insofern man annimmt, dass er sich alle Wundenmale des Heilands beibringen wollte. Er stiess sich in die linke Seite und nicht in die rechte; auch da nicht an der Stelle, welche die Evangelisten angeben, sondern tief nach unten. Zwar ging der Stich tief, aber nicht todesgefährlich. Aus verschiedenen Richtungen und Ansätzen muss man schliessen, dass er bei dieser Operation länger zauderte. Er wollte sich entweder nicht töten, oder, zum ersten Mal vom Schmerz übermannt, suchte er eine Stelle, wo der Stahl minderen Widerstand fand.

Damit war zwar das blutige Geschäft zu Ende, die That selbst aber noch nicht vollbracht. Matheo musste sich gekreuzigt dem Volke zeigen. Blutend aus fünf Wunden, mit drei Nägeln in seinem Fleische, übte er die letzte Anstrengung, die nach unsern Begriffen in solchem Zustande die ausserordentlichste ist. Die Fensterbrüstung seiner Kammer war, wie gesagt, sehr niedrig. Den Fuss des Kreuzes hatte er schon vorher darauf gelegt; es galt jetzt nun, dass er sich mit demselben hinausschob. Seine Füsse waren angenagelt, sein Körper fest an den Baum geschnürt, ihm blieben nur beide Arme frei, aber mit zwei mit Nägeln durchbohrten Händen! Diese konnte er jedoch nicht frei gebrauchen, da ihn die Eisen hinderten, die ganze flache Hand auf den Fussboden zu stemmen. Somit setzte er die Maus beider Hände auf die Erde, und mit letzter Anstrengung schob er sich und das Kreuz, weiter zum Fenster hinaus. Es gelang nur mit verschiedenen Ansätzen. Glücklich, als die Kräfte ihn schon verliessen, brachte er das Kreuz durch einen letzten Ruck so weit über die Fensterbrüstung, dass der Schwerpunkt draussen war. Es schoss über und er flog hinaus und hing in der Stellung, die er erstrebt.

Noch hatte Matheo seine Besinnungskraft. Es fehlte noch etwas zum vollkommenen Heiland; auch seine beiden durchbohrten Hände mussten an die Querstangen angenagelt sein. Die Löcher waren zu beiden Seiten angebracht. Er hob seine Arme, aber es gelang ihm nur, den Nagel der linken in das Loch zu bringen und sie fest zu machen. Als er mit der rechten den Versuch machte, schwanden seine Kräfte, er vermochte die Stange nicht mehr zu erreichen. Der Arm fiel über das Netz, und der obere Körper und der Kopf senkten sich mit hinüber.

Selbstkreuzigung des Matheo von Casale. Aus »Neuer Pitaval.« VI.

In diesem Zustande bemerkten ihn die zuerst Vorübergehenden; es war gegen 8 Uhr des Morgens. Man stürzte augenblicklich ins Haus hinauf, erbrach seine Tür, hob das Kreuz herein, band ihn los, zog die Nägel aus Füssen und Händen und legte ihn in sein Bett. Glücklicherweise waren die ersten, welche sich Matheo's annahmen, nicht Juristen oder Geistliche, sondern Mediciner. Unter ihnen der venetianische Arzt Cesar Ruggieri, dem wir einen authentischen Bericht über diesen unerhörten Vorfall verdanken, und der sich die körperliche und geistige Sorge für den Kranken besonders angelegen sein liess.

Ruggieri fand ihn mit geschlossenen Augen und einem fieberhaft gehenden Pulse. Er antwortete auf keine Fragen. Erst auf dem Wassertransport nach dem kaiserlichen Klinikum seufzte er, als er seinen Bruder neben sich in der Barke gewahrte: ›Ach ich bin sehr unglücklich.‹ Unter der wundärztlichen Behandlung verhielt er sich ruhig, und tat willig alles, was man von ihm verlangte. Aber während seine Wunden heilten, sprach er mit niemand. Düster und in sich gekehrt, hielt er die Augen fast immer geschlossen. Nur mit Mühe brachte Ruggieri allmählich so viel von ihm über das, was der Tat vorangegangen, heraus, dass man über die Operation des Selbstkreuzigens, die Vielen unbegreiflich schien, das erfuhr, was oben darüber zusammengestellt ist. Auch zu diesen Mitteilungen schien er nur durch die Furcht bewogen zu werden, dass Unschuldige der Verdacht treffen könne, sie hätten das Greuelstück an ihm verübt. Mehrmals beteuerte er, er allein habe es vollbracht und kein anderer ihm geholfen. Ueber seinen Beweggrund gab er keine andere Antwort als, der Stolz der Menschen müsse gedemütigt werden, und er müsse am Kreuze sterben. Ja er war so überzeugt, dass der höchste Wille ihm gerade diese Verpflichtung auferlege, dass er es der Justiz anzeigen wollte, damit sie das vollbringe, was ihm misslungen war.

Matheo klagte nur in den Augenblicken über Schmerzen, wenn er aus seinem dumpfen Hinbrüten erwachte. Während dieses letztern Zustandes verriet nichts, dass er sie überhaupt empfände. Sobald seine Hände so weit waren, dass er ein Buch halten konnte, bat er um ein Gebetbuch und las eifrig darin. Schon zu Anfang August war er ganz geheilt, er konnte Arme und Hände vollkommen frei bewegen, ohne dass er Schmerzen oder nur Unbehaglichkeit empfand. Nun wollte er das Hospital verlassen, weil er nicht anderer Brot, wie er sagte, um nichts essen wollte. Als man es ihm abschlug, und um seine Flucht zu verhüten, seine Kleider inne hielt, entsprang er im blossen Hemde. Aber die Wächter des Hospitals holten ihn wieder.

Dorthin gehörte er nicht mehr, denn er war gesund. Aber wohin? Dreissig Jahre später hätte man wahrscheinlich einen Canonisationsprozess begonnen; denn ohne Wunder war seine Tat und seine Rettung nicht, wunderbarer vielleicht als die mancher wirklich heilig gesprochener Märtyrer. Aber das Italien vom Jahre 1805 hatte kein Verlangen und Bedürfnis nach neuen Heiligen. Man erklärte ihn nicht für einen Heiligen, sondern für einen Narren und brachte ihn in das Irrenhaus von San Servolo.

Hier war Matheo die ersten acht Tage hindurch ruhig und anstellig. Von da ab verfiel er wieder in sein dumpfes Schweigen und weigerte sich Nahrung und Trank zu nehmen. Keine Vorstellungen und Drohungen hatten Macht über ihn. Einmal fastete er so, ohne einen Bissen oder Tropfen einzunehmen, sechs, ein andermal 14 Tage. Man musste ihn durch Nährstoff enthaltende Klystiere beim Leben erhalten. Da er sich keine andern Martern antun konnte, stellte er sich wenigstens in die heisse Sonne hin, bis das Blut unter seiner Haut kochte. Man musste ihn oft mit Gewalt in den Schatten reissen.

Endlich war seine physische Kraft erschöpft, ein Brustübel machte sich bemerkbar, und er starb, nach einem kurzen Todeskampfe am 2. April 1806.

Selbstmörder wollen ihre Qualen durch den Tod enden. Matheo von Casale war kein Selbstmörder, denn er suchte Qualen, nicht den Tod. Auch solcher Schwärmer hat die letztere Zeit einige hervorgebracht, keinen aber, der mit gleichem Vorbedacht, so nüchtern ohne Beihülfe und Aufmunterung ähnlich fanatisierter Glaubensgenossen, und mit solcher Ausdauer das Attentat gegen sein eigen Fleisch und Blut ins Werk setzte. Der italienische Märtyrer, der nur unter denen Indiens seines Gleichen sucht, war den Aerzten seines Vaterlandes ein Problem, für das sie eine Erklärung nur in der Beobachtung fanden, dass Wahnsinnige in der Regel schwer zu reizen und gegen den Schmerz unempfindlich sind. Ihr immer auf einen Gedanken gerichteter Geist wird von den Eindrücken, den andere Dinge hervorbringen können, weniger berührt und ihr Nervensystem ist ein mangelhaftes. So ertrugen die Märtyrer der Vorzeit die entsetzlichsten Folterqualen, weil ihr ganzes Empfindungsvermögen aufging in der Ahnung und Vorwonne der himmlischen Seligkeit. Ruggieri wollte in Matheo's krankhafter Leibesbeschaffenheit besondere Symptome entdecken, welche nicht allein die Haut, sondern auch den ganzen Körper unempfindlich machen. Es war ein Glück, dass die Untersuchung den Aerzten allein überlassen blieb.«

Auch aus den heimatlichen deutschen Gefilden liessen sich Vorfälle von Selbsttortur mehrfach anführen und selbst aus der unmittelbaren Gegenwart, die von den Frommen aller Landen als besonders ungläubig verschrieen wird. Wir haben es eben bei Fällen dieser Art mit zwei Gefühlsgrossmächten zu tun, die alles andere überwinden und stets überwunden haben: dem religiösen Fanatismus und dem Geschlechtstrieb. Beide werden wir später noch, bei Erörterung des Hexenwesens, ihren unheilvollen Einfluss ausüben sehen.

Noch einer nicht selten vorkommenden Selbsttortur oder Selbstverstümmlung sei hier gedacht, der Selbstverstümmlung nämlich, Abhacken eines Fingers und dgl., die junge Leute vornehmen, um sich der Pflicht des Militärdienstes zu entziehen. Es kommt noch heutzutage vor, allerdings seltener als vor einigen Jahrzehnten noch, wo der Militärdienst viel strenger und von längerer Dauer war.

Wir glauben diesen nur als Ergänzung hier eingefügten Abschnitt nun abschliessen zu können.


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