Heinrich Heine
Vermischte Schriften
Heinrich Heine

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Vorwort zu A. Weill's »Sittengemälden aus dem elsässischen Volksleben«

(1847)

Herr A. Weill, der Verfasser der elsässischen Idyllen, denen wir einige Geleitzeilen widmen, behauptet, daß er der erste gewesen, der dieses Genre auf den deutschen Büchermarkt gebracht. Es hat mit dieser Behauptung vollkommen seine Richtigkeit, wie uns Freunde versichern, die sich zugleich dahin aussprechen, als habe der erwähnte Autor nicht bloß die ersten, sondern auch die besten Dorfnovellen geschrieben. Unbekanntschaft mit den Meisterwerken der Tagesschriftstellerei jenseits des Vater Rheins hindert uns, hierüber ein selbständig eignes Urteil zu fällen.

Dem Genre selbst, der Dorfnovellistik, möchten wir übrigens keine bedeutende Stellung in der Literatur anweisen, und was die Priorität der Hervorbringung betrifft, so überschätzen wir ebenfalls nicht dieses Verdienst. Die Hauptsache ist und bleibt, daß die Arbeit, die uns vorliegt, in ihrer Art gut und gelungen ist, und in dieser Beziehung zollen wir ihr das ehrlichste Lob und die freundlichste Anerkennung.

Herr Weill ist freilich keiner jener Dichter, die mit angeborener Begabnis für plastische Gestaltung ihre stillsinnig harmonische Kunstgebilde schaffen, aber er besitzt dagegen in übersprudelnder Fülle eine seltene Ursprünglichkeit des Fühlens und Denkens, ein leicht erregbares enthusiastisches Gemüt und eine Lebhaftigkeit des Geistes, die ihm im Erzählen und Schildern ganz wunderbar zustatten kommt und seinen literarischen Erzeugnissen den Charakter eines Naturprodukts verleiht. Er ergreift das Leben in jeder momentanen Äußerung, er ertappt es auf der Tat, und er selbst ist, sozusagen, ein passioniertes Daguerreotyp, das die Erscheinungswelt mehr oder minder glücklich und manchmal, nach den Launen des Zufalls, poetisch abspiegelt. Dieses merkwürdige Talent, oder, besser gesagt, dieses Naturell bekundet sich auch in den übrigen Schriften des Herrn Weill, namentlich in seinem jüngsten Geschichtsbuche über den Bauernkrieg und in seinen sehr interessanten, sehr pikanten und sehr tumultuarischen Aufsätzen, wo er für die große Sache unserer Gegenwart aufs löblich tollste Partei ergreift. Hier zeigt sich unser Autor mit allen seinen sozialen Tugenden und ästhetischen Gebrechen; hier sehen wir ihn in seiner vollen agitatorischen Pracht und Lückenhaftigkeit. Hier ist er ganz der zerrissene, europamüde Sohn der Bewegung, der die Unbehagnisse und Ekeltümer unserer heutigen Weltordnung nicht mehr zu ertragen weiß, und hinausgaloppiert in die Zukunft, auf dem Rücken einer Idee . . .

Ja, solche Menschen sind nicht allein die Träger einer Idee, sondern sie werden selbst davon getragen, und zwar als gezwungene Reiter ohne Sattel und Zügel: sie sind gleichsam mit ihrem nackten Leibe festgebunden an die Idee, wie Mazeppa an seinem wilden Rosse auf den bekannten Bildern des Horace Vernet – sie werden davon fortgeschleift, durch alle fürchterliche Konsequenzen, durch alle Steppen und Einöden, über Stock und Stein – das Dornengestrüppe zerfleischt ihre Glieder – die Waldesbestien schnappen nach ihnen im Vorüberjagen – ihre Wunden bluten – Wo werden sie zuletzt anlangen? Unter donischen Kosaken, wie auf dem Vernet'schen Bilde? Oder an dem Goldgitter der glückseligen Gärten, wo da wandeln jene Götter . . .

Wer sind jene Götter?

Ich weiß nicht, wie sie heißen, jedoch die großen Dichter und Weisen aller Jahrhunderte haben sie längst verkündigt. Sie sind jetzt noch geheimnisvoll verhüllt; aber in ahnenden Träumen wage ich es zuweilen, ihren Schleier zu lüften, und alsdann erblicke ich . . . Ich kann es nicht aussprechen, denn bei diesem Anblick durchzuckt mich immer ein stolzer Schreck, und er lähmt meine Zunge. Ach! ich bin ja noch ein Kind der Vergangenheit, ich bin noch nicht geheilt von jener knechtischen Demut, jener knirschenden Selbstverachtung, woran das Menschengeschlecht seit anderthalb Jahrtausenden siechte, und die wir mit der abergläubischen Muttermilch eingesogen . . . Ich darf es nicht aussagen, was ich geschaut . . . Aber unsere gesünderen Nachkommen werden in freudigster Ruhe ihre Göttlichkeit betrachten, bekennen und behaupten. Sie werden die Krankheit ihrer Väter kaum begreifen können. Es wird ihnen wie ein Märchen klingen, wenn sie hören, daß weiland die Menschen sich alle Genüsse dieser Erde versagten, ihren Leib kasteiten und ihren Geist verdumpften, Mädchenblüten und Jünglingsstolz abschlachteten, beständig logen und greinten, das abgeschmackteste Elend duldeten . . . ich brauche wohl nicht zu sagen, wem zu Gefallen.

In der Tat, unsere Enkel werden ein Ammenmärchen zu vernehmen meinen, wenn man ihnen erzählt, was wir geglaubt und gelitten! Und sie werden uns sehr bemitleiden! Wenn sie einst, eine freudige Götterversammlung, in ihren Tempelpalästen sitzen, um den Altar, den sie sich selber geweiht haben, und sich von alten Menschheitsgeschichten unterhalten, die schönen Enkel, dann erzählt vielleicht einer der Greise, daß es ein Zeitalter gab, in welchem ein Toter als Gott angebetet und durch ein schauerliches Leichenmahl gefeiert ward, wo man sich einbildete, das Brot, welches man esse, sei sein Fleisch, und der Wein, den man trinke, sei sein Blut. Bei dieser Erzählung werden die Wangen der Frauen erbleichen und die Blumenkränze sichtbar erbeben auf ihren schönlockichten Häuptern. Die Männer aber werden neuen Weihrauch auf den Herd-Altar streuen, um durch Wohlduft die düsteren, unheimlichen Erinnerungen zu verscheuchen.

Geschrieben zu Paris, am Karfreitage 1847

Heinrich Heine



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