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Am 6. September 1880 kam ich in das Haus des Herrn Oberförsters Nordmann. Zehn Minuten vom Dorf Zülla lag das Forsthaus am Rand der großen Waldungen. Wunderschön fand ich das alte massive Gebäude, von Eichen und Tannen umstanden; ich meinte, der Friede müßte leibhaftig hier wohnen, und wußte doch, daß er schon lange aus diesen Mauern gewichen war.

Herr Nordmann hatte mich in Magdeburg mit folgenden Worten engagiert: »Ich habe zwei Töchter, eine ist zwanzig Jahre alt, die andere siebzehn. Die erstere braucht Sie nicht mehr als Erzieherin, sie ist sozusagen, fix und fertig, aber die Kleine, die muß jemand haben, jemand, die ihr die Mutter ersetzt, ich bin nämlich Witwer. Außerdem natürlich – Sprachen und dergleichen. Karoline war in einer sehr guten Pension, Johanna kann ich nicht in eine solche geben. Es ist einsam bei uns, aber Sie haben den Wald und das Kind.«

Ich war äußerst begierig, die jungen Mädchen zu sehen. Als ich eintraf, wurde ich von einem Stubenmädchen, das mich neugierig musterte, in die »Gute Stube« geführt mit dem Bemerken, das Fräulein Karoline werde gleich kommen, der Herr Oberförster sei nicht daheim.

Ich hatte das Gefühl, daß mich wohl jemand von der Station hätte abholen können; aber ich überwand diese erste Täuschung und wartete geduldig in dem ungemein spießbürgerlich ausgestatteten Raum. Nach einer halben Stunde etwa tat sich die Tür auf und Karoline Nordmann erschien. Sie war ungefähr zwanzig Jahre alt, schlecht gewachsen und geschmacklos angezogen. Um ein blasses rundes Gesicht lagen die farblosen Haare in einer für die damalige Mode unerhört einfachen Frisur; ein Paar hellgraue, von fein gezeichneten Brauen überwölbte Augen sahen mich prüfend an.

»Sie müssen entschuldigen, Fräulein, daß ich allein komme, Johanna ist, wie gewöhnlich, nicht zu finden,« sagte sie. Kein Wort von einem Willkommen ließ sie fallen und musterte mich nur mit kalten Blicken.

»Wollen Sie mir nicht mein Zimmer anweisen lassen, Fräulein Nordmann?« bat ich.

»Ja, gleich! Aber nebenan steht der Kaffeetisch bereit, trinken wir doch erst, nachher kommt auch Vater wieder.«

In einem anstoßenden Raum, dessen weißgetünchte Wände Hirschgeweihe und Rehkronen schmückten, stand in der Mitte eine große Tafel, an deren oberem Ende zum Kaffee aufgedeckt war. Vor dem mächtigen, mit Leder bezogenen Stuhl am Kopf des Tisches fehlte die Tasse.

»Dort ist Vaters Platz,« erklärte Karoline Nordmann. »Bitte, nehmen Sie doch den Platz an seiner linken Seite, zwischen ihm und Johanna!«

Ich folgte ihrer Anweisung, und wir begannen dem Kaffee zuzusprechen, ein Gespräch kam aber nicht in Fluß; die Tochter hatte eine merkwürdig wortkarge Art.

Auf einmal tat sich mir gegenüber ein Spalt der hohen Flügeltür auf und herein lugte ein Mädchenkopf von herzgewinnender Lieblichkeit, der all das in mir aufgestaute Eis ins Schmelzen brachte.

»Es ist wahrhaftig zum Erstaunen, daß du erscheinst!« rief Karoline der Schwester entgegen. »Bitte, bemühe dich gefälligst her, wir haben nicht Lust, deinetwegen bis zum sinkenden Abend hier zu sitzen.«

Da kam Johanna heran, schlank und mit großen, schönen braunen Augen; ihre goldigbraunen Haare waren in zwei starken Flechten um den feinen Kopf gelegt. Sie trat zu mir heran und machte einen Schulmädchenknicks. Bemerkte sie nun die Freude über ihre Erscheinung in meinem Gesicht, oder mochte sie lange Zeit niemand so freundlich angesehen haben, in ihre Augen trat etwas wie ein frohes Erstaunen.

»Das ist schön, daß Sie gekommen sind,« sagte sie; »wenn ich's gewußt hätte, wäre ich Ihnen entgegengelaufen bis Zülla, aber mir hat niemand gesagt, daß Sie heute erwartet werden.«

»Trink nur,« mahnte Karoline, die ein etwas spöttisches Lächeln über mein unverhohlenes Entzücken nicht unterdrücken konnte, »und dann wirst du Fräulein Maaßen ihr Zimmer zeigen und ihr sagen, wie weit du im Lehrplan bei Herrn Pastor gekommen bist. Sie müssen nämlich wissen,« wandte sie sich an mich, »Johanna wurde bisher von Pastor Brinkmann unterrichtet; daß sie viel kapiert hat, glaube ich nicht, es ist auch nicht nötig, sie hat ohnehin Anlage, wie ihre Mutter zu werden, die eine Art Schöngeist war und damit unsern Vater nicht gerade beglückt hat.«

Das junge Kind neben mir zuckte zusammen, das Teelöffelchen klirrte in ihrer Hand, sie sah mich an wie um Erbarmen flehend. Dann stand sie auf, ließ ihre Tasse unberührt und fragte mit vor Erregung zitternder Stimme: »Darf ich Sie jetzt in Ihr Zimmer begleiten, Fräulein Maaßen?«

Ich bejahte sofort, und Johanna führte mich nun über eine breite Treppe aus Eichenholz in den oberen Stock.

»Hier wohnen Sie, Fräulein,« sagte sie, »und dicht nebenan bin ich; Karoline haust auf der andern Seite.«

Sie hatte mich in ein etwas finsteres, aber ungemein gemütliches Zimmer mit getäfelten Wänden geleitet, in dem ein riesiger Ofen und ein ebenso riesiges Himmelbett standen.

»Mama hat hier gewohnt,« sagte sie, »das hat sie sich alles so eingerichtet. Die alten Rokokomöbel und der venezianische Spiegel, die gehören jetzt mir, aber Ihnen lasse ich sie gern, und Abends, nicht wahr, darf ich doch manchmal hereinkommen, wie zu Mütterchen früher, als ich noch klein war?«

Ich nahm ihren schönen kleinen Kopf in die Hände und küßte sie auf die Stirn. »Alles dürfen Sie,« sagte ich ergriffen, »und sehr lieb sollen Sie mich haben, Johanna!«

»Oh, ich habe Sie schon lieb,« versicherte sie, und während eine lichte Röte der Verlegenheit ihr klares Gesicht überflutete, fügte sie hinzu: »Ich habe immer so große Sehnsucht nach jemand, der mich gern hat!« Und nun, im jähen Überschwang ihres jungen Herzens kam unaufhaltsam und unter strömenden Tränen alles heraus, was sie bedrückte: Karoline sei nicht lieb gegen sie, wolle sie nicht verstehen, mache sie lächerlich, wo sie könne, und Vater – ja, sie wisse nicht, aber das Justchen sage immer, Vater sei halb und halb gemütskrank seit dem Tod der Mutter; jedenfalls sei er noch trauriger und verschlossener als er vordem schon war. Mutterchen aber sei eines Tages, hier stockte sie, ertrunken – wissen Sie! – und Juste meine, weil sie der verstorbenen Mutter so ähnlich sehe, fürchte sich Vater, sie anzublicken und gehe ihr aus dem Wege. Karoline aber habe einmal gesagt: »Deine Mutter hat nichts getaugt, sie ist eine Selbstmörderin.«

Das letzte klang wie ein verzweifelter Schrei, und das Mädchen lag an meiner Brust und weinte und schluchzte und versicherte immer wieder, das könne sie nicht vergessen, das könne nicht wahr sein, Mutterchen sei doch so seelengut gewesen, das sagten alle Leute, die sie gekannt hätten.

So gut ich vermochte, beruhigte ich in dieser ersten Stunde meines Hierseins das erschütterte Gemüt des armen Kindes.

*

Schwer wurde es mir, in diesem gemütskalten Hause mich einzuleben, und daß Johanna recht hatte mit ihren Behauptungen, sah ich auch bald ein. Nach Kräften habe ich dem armen Kind aber Liebe und Zärtlichkeit geschenkt, wenn auch nur unter vier Augen, denn Herr Nordmann mochte nicht, daß sie verzärtelt werde, wie er mir bemerkte.

Eines Tages rief er mich nach der Mahlzeit in sein Zimmer und eröffnete mir, daß ich hauptsächlich darauf zu wirken habe, daß Johanna begreife, sie sei ein ganz armes Mädchen. »Hören Sie, Fräulein, ein ganz armes Mädchen, das einst auf sich allein gestellt sein wird! Ich bin lediglich auf mein Gehalt angewiesen,« erklärte er, »und Johannas Mutter war arm wie eine Kirchenmaus. In meinem Hause ist nur Karoline vermögend durch ihre Mutter – meine erste Frau war sehr wohlhabend – und vor kurzem hat Karoline, als ihre Erbtochter, noch ein großes Vermögen durch den Tod ihres Onkels, des Bruders ihrer Mutter, hinzugeerbt. Sie ist allein die Besitzende und weder geneigt, noch verpflichtet, Johanna etwas abzugeben. Der Pflichtteil, der mir zufiel beim Ableben meiner ersten Frau, ist in meiner zweiten Ehe verbraucht worden; also: Johanna ist arm, sie hat aber leider einen merkwürdigen Instinkt für die Annehmlichkeiten des Daseins, für eine feinere Lebensführung. Gewöhnen Sie ihr dies möglichst ab, zu ihrem Besten, ich bitte darum.«

Der große finstere Mann, der sonst nur in kurzen, barschen Worten sich ausdrückte, sagte das alles mit einer ungewöhnlich weichen Stimme; er sah dabei an mir vorüber auf seine beiden Dachshunde, die auf ihrem Teppich neben dem Ofen schliefen.

Ich versprach, seinem Willen nachzukommen, und sann den ganzen Tag über den Charakter des Oberförsters nach. Seine Art, mit Johanna zu verkehren, war fast unfreundlich, und doch las ich seine Angst um die Zukunft des Kindes deutlich auf seinem Gesicht.

Die Wirtschafterin Auguste, hier kurzweg »Justchen« genannt, war eine schlichte, herzensgute Person von ungefähr fünfzig Jahren, und von Grund ihrer Seele Johanna zugetan, aber auch nur heimlich; vor Karoline hatten sie sämtlich Angst. »Der Herr liebt Johanna, er liebt sie,« sagte sie in ihrem heimischen Dialekt, »er darf's man bloß nicht zeigen, Karoline jönnt es dem Kind nicht, sie hat dann immer was an Johanna auszusetzen.«

Um mich, die ich als Erzieherin, zugleich auch als Ehrendame der jungen Mädchen gelten sollte, kümmerte sich Karoline gar nicht. Sie ging aus, sie fuhr aus und kam wieder, wenn es ihr paßte. Als ich ihr sagte, daß ich mich auf Wunsch ihres Vaters meinerseits bekannt machen möchte in der Nachbarschaft, nannte sie mir kurz ein paar Häuser, mit denen man zu verkehren pflegte, und meinte, Johanna könne mich ja zu den Leuten begleiten.

So trat ich denn eines Tages mit Johanna diese Wege an. Karoline hatte den Wagen für sich in Anspruch genommen, sie wollte in der Stadt ein Kleid kaufen und zur Schneiderin besorgen. So waren wir auf unsere Füße angewiesen. Es war gegen drei Uhr und ein wundervoller Oktobertag, als wir aus der Oberförsterei traten. Wir wohnten hier sehr schön, das Haus liegt etwas hoch, vor uns das saftige Wiesenland, das sich bis an Klein-Zülla heranzieht, von dem klaren Züllbach durchrauscht; hinter uns, sanft ansteigend, das Gebirge. Der Wald leuchtete unter der blassen Herbstsonne in prächtigen Farben, die Buchen rotgelb, die Birken wie Gold und der Ahorn purpurrot, dazwischen die dunklen Tannen. Der kurze Waldweg war mit Ebereschen eingefaßt, deren korallenfarbene Fruchtbüschel eine freudige Stimmung in das Herbstbild zeichneten. Der Weg bis zum Pfarrhaus, das inmitten des Dorfes Groß-Zülla lag, war in Zeit von einer halben Stunde zurückgelegt, es sollte dies das erste Haus sein, das wir besuchen wollten. Ein Fachbau, weiß mit rostbraunen Balken und vielen kleinen, blitzblanken Fenstern, hinter denen weiße, duftige Gardinen schimmerten, lag es einladend vor uns, beschützt von einer mächtigen Linde.

Die braun gestrichene Pforte führte in den Garten, die Haustür war von einer Laube überwölbt, von der rot leuchtende Ranken des wilden Weins wie Festkränze herabhingen.

Die rundliche, lebhafte Frau Pastorin kam uns entgegen, küßte Johanna, sagte mir, daß sie schon längst auf meinen Besuch gewartet hätte, und führte uns in ihre Wohnstube, die niedrig, aber groß war und mich so behaglich anmutete, als wäre ich bei Großmütterchen zu Besuch.

»Geh, Johannchen,« meinte die Pastorin, indem sie mich auf das Sofa nach sich zog, »hol meinen Mann, er gräbt im Garten sein Pensum im Schweiß seines Angesichts. Der Doktor hat's ihm nämlich verordnet, Fräulein Maaßen.«

Johanna lief wie ein Kind hinaus, und wir begannen uns zu erzählen über das Woher und Wohin unseres Lebens.

Die Pastorin war auch einmal Erzieherin gewesen, eröffnete sie mir als erstes, hatte in dem gräflichen Hause, wo sie das einzige Töchterchen erzog, in dem Hauslehrer der fünf Knaben ihren künftigen Mann gefunden und war ihm seinerzeit in ein Pfarrhaus Schlesiens gefolgt. Dort waren ihnen drei Töchter geboren, von denen nun schon zwei verheiratet und glückliche Mütter heranwachsender Kinder waren, die älteste unverheiratete lebte als Oberschwester in einer Privatklinik. Der einzige Sohn aber, ein kleiner Spätling, wäre in Zülla geboren, jetzt aber sei er schon Student der Theologie in Halle.

»Liebes Fräulein Maaßen,« fuhr sie dann fort, als wir wieder auf unsern Beruf zurückkamen, »Sie werden die Haupttugenden einer Hauserzieherin, unter die ich in erster Linie neben der pädagogischen Veranlagung feinsten Takt und eine gewisse Diplomatie rechne, in Ihrer jetzigen Stellung nötiger haben als je. Verlieren Sie die Geduld nicht, wenn nicht alles gleich so ist, wie Sie denken.«

»Ich gebe mir alle Mühe, aber es ist schwer wandern, wenn man ein Terrain so wenig kennt,« sagte ich der liebenswürdigen Frau. »Und es ist schwer, Ihnen zu raten und zu helfen,« meinte sie nachdenklich, »aber die Hauptsache will ich Ihnen doch mitteilen, das halte ich für Pflicht. Der Oberförster ist ein herzensguter Mensch, aber durch das, was er erlebte, eingeschüchtert, tief verbittert, in seinem Gleichgewicht vollkommen erschüttert. Wir kennen ihn nun an die zwanzig Jahre; er kam, jung verheiratet, hierher, und Karoline ist drei Tage nachdem sie hier eingezogen waren, geboren. Ob die Ehe glücklich gewesen von Grund aus, wissen wir nicht. Die Oberförsterin war eine reiche Bauerntochter aus dem Harz und konnte ihm in geistiger Beziehung wohl kaum genügen. Er hatte neben dem offenen Auge für die Schönheiten der Natur noch allerhand andere Interessen – mein Mann behauptet, es habe früher zu seinen erlesensten Freuden gehört, mit dem klugen, schlichten Mann zu disputieren; jetzt ist das alles anders geworden. Der Oberförster besaß nie die natürliche, fröhliche Derbheit eines Forstmannes; er ist der Sohn eines verstorbenen Hallenser Professors der Theologie, und so war ihm ein gut Teil Stubengelehrtheit angeerbt. Dazu paßte die gute einfache Frau Nordmann wenig; ihr Wissen und Verstehen ging nicht hinaus über die Pflege ihres Kindes und ihr Tun in Küche und Keller. Trotzdem sind sie friedlich miteinander ausgekommen, und als wir sie da drüben – sie wies mit der Hand nach der Kirche – begruben, hat der Oberförster sie ehrlich und aufrichtig beweint.

Bis dahin war der Lebensgang Nordmanns recht bürgerlich schlicht verlaufen, und dann kam auch über ihn die Wucht einer Leidenschaft. Die Karoline war nun so weit, daß sie eine Gouvernante brauchte, das Kind sollte feiner erzogen werden als seine Mutter, sollte glücklich werden, glücklich machen, es war ja eine Erbin. Ich übernahm es also, auf seine Bitte, die geeignete Persönlichkeit zu besorgen, und fand nach einigem Hin- und Herschreiben ein junges Mädchen, deren Zeugnisse brillant, deren Feinheit und Liebenswürdigkeit besonders gerühmt wurden. Sie ward also nach Rücksprache mit dem Oberförster engagiert, auch ausgemacht, daß Fräulein Winning – so hieß sie – zuerst bei mir absteigen sollte, ich wollte sie dann in die Oberförsterei einführen.

Sie kam denn auch zur bestimmten Zeit an mit einem Zweispänner, auf dem hinten ein Reisekoffer aufgeschnallt war, anstatt mit dem Postomnibus. Mein Mann und ich gingen ihr bis an die Gartenpforte entgegen, und wir sind beide wie erschlagen gewesen, als wir sie erblickten. Unerlaubt hübsch und schick, sage ich Ihnen, liebes Fräulein. Und ich habe ihr, als ich mich hier am Kaffeetisch erholt hatte von meinem Schrecken, gründlich auseinandergesetzt, daß sie zwar in ein behagliches, aber doch recht schlicht bürgerliches Haus komme. Das hübsche Ding lachte mit all ihren blanken Zähnchen über meine Predigt, und wen sie anlachte, der war gewonnen. Übrigens, Johanna sieht ihr ähnlich. – – Der Oberförster war, als ich sie am Nachmittag hinüberbegleitete, vollkommen verblüfft, er stand ohne ein Wort vor ihr und starrte sie an, und dann stieg ihm langsam eine dunkle Röte ins Gesicht bis unter die Haarwurzeln, und ich dachte, als ich das sah: Lieber Gott, was wird das geben? – Nun, es gab endlich eine Hochzeit; mein Mann hat ein halbes Jahr später das Paar getraut.

Die junge Frau war lebenslustig, besaß allerlei gesellige Talente, sie sang, spielte Klavier, verstand zu plaudern, und die beiden Leute schienen anfänglich auch recht miteinander zufrieden; die Kleine kam, und nun war das Glück vollkommen. Dann glaubten wir auf einmal das Wetter zu spüren, das sich über dem Forsthause zusammenzog, jedenfalls bemerkten wir des öfteren Mißstimmungen zwischen den Eheleuten; anfänglich suchten sie es zwar noch zu verbergen vor uns, dann sprachen sie sich aus. Das erste Mal, als die Oberförsterin klagte über ihren Mann, tat sie es unter heißen Tränen, später war nur noch ein dumpfer Groll in ihr.

Er redete weniger davon, nur einigemal hat er meinem Mann gegenüber geäußert, es gehe nicht länger so weiter, was er nur machen solle. Später äußerte er einmal: ›Es ist offenbar, Brinkmann, sie kann mich nicht mehr leiden; sie ist zuweilen renitent, zuweilen vollkommen apathisch; ich glaube, sie will einen Bruch, und ich kann doch nicht von ihr lassen – ich kann nicht!‹ Brinkmann ist darauf zur Oberförsterei gegangen und hat mit ihr ein ernstes Wort gesprochen. Aber außer strömenden Tränen und den gestammelten Bitten, doch den Oberförster bewegen zu wollen, sich in gutem von ihr zu trennen, hat er nichts von ihr erfahren können über das Weshalb. – Darauf ist der Arzt an die Reihe gekommen; der hat gemeint, die Frau sei in der Einsamkeit des Forsthauses geistig erkrankt, melancholisch geworden, man solle sie einige Zeit in eine Nervenanstalt tun und, wenn sie gebessert zurückkehre, müsse Nordmann entschieden ein übriges tun, und ihr Anregung und Zerstreuung verschaffen.

Der Oberförster kam am selben Abend, als Mamsell Juste mit der armen Frau nach einer Anstalt abgereist war, zu uns, ein tief niedergeschlagener Mann. ›Frau Pastorin, der Gedanke bringt mich um, daß ich an ihrem Zustand schuld sei,‹ sagte er, ›ich habe gedacht, wenn Erie – sie hieß Erika – ihr niedliches Kind hat, ihren Wirkungskreis, mein Karolinchen ist ja auch noch da, ihr Leben könnte ausgefüllt sein – aber sie kümmert sich um nichts mehr. Stundenlang kann sie am Fenster stehen und mit sehnsüchtigen Augen den Waldweg entlang blicken; und dann wieder die übernatürliche Lustigkeit! Sehen Sie, in der Manöverzeit letzten Herbst, da war sie wie umgewandelt; na ja, sie ist eine Offizierstochter, aber solch übertriebene Begeisterung. Vom jüngsten Leutnant ließ sie sich erzählen, wie man jetzt tanzt, wie man sich frisiert, ob noch immer kurze Reitkleider getragen werden. Und gelacht hat sie, und fein angezogen hat sie sich – ich war nur immer aufs neue erstaunt, habe mich tief gekränkt darüber, und als sie, noch freudig erregt, abends ins Schlafzimmer trat und wie in alter Zeit lachend mir um den Hals fallen wollte, habe ich mit ernsten Worten ihr Verhalten getadelt. Darauf ward sie blaß und kühl und sprach lange kein Wort mehr mit mir, als sei ihr die tödlichste Beleidigung widerfahren.‹

›Das war auch recht töricht von Ihnen, lieber Nordmann, das verträgt eine so junge Frau nicht,‹ sagte ich. ›So ein junges, schönes Geschöpf, das soll nicht lachen? Und eifersüchtig brauchen Sie doch wohl auch nicht zu sein, selbst wenn sie einmal scherzt mit so einem jungen Leutnant.‹

›Herr Gott,‹ brauste er auf, ›liebste Pastorin, ich bin doch nun mal ein ernsthafter Mensch, ich kann nicht so mitmachen, wie sie will, es geht mir gegen den Strich. Eine Frau, die ihren Mann liebt, wird doch wohl versuchen können, sich in seine Lebensführung zu schicken!‹

Ich blieb ihm die Antwort schuldig. ›Eine Frau, die ihren Mann liebt.‹ Da lag ja der Hase im Pfeffer. Als ob die Erie Nordmann nicht lediglich eine Versorgung gesucht hätte! Das hatten mein Mann und ich doch gleich vermutet, als wir von der Verlobung hörten. – Na, nun war das Unglück da, und es ließ sich auch nicht aufhalten.

Sie kehrte zurück aus dem Sanatorium, anfänglich war sie überglücklich und ließ ihr Kind kaum aus den Armen; auch er strahlte, und seinem dem Arzt gegebenen Versprechen gemäß fing er einen geselligen Verkehr an, ihr zuliebe. Na, das war danach! So ganz, wie er es verstand. Ein Lump gibt mehr, als er hat! Nun ja, das klingt hart, aber es war so. Fast ausnahmslos ältere Leute umfaßte der Kreis, gesetzte Menschen, wenigstens solche, die sich nicht mehr verstanden auf jugendliche Vergnügungen oder nie verstanden hatten. Und zwischen denen saß dann die schöne Erie wie ein Paradiesvögelchen unter einer Schar Krähen, und auf ihrem Gesichtchen lag die Abspannung von Arbeit und tödlichster Langeweile.

Bald gab's auch wieder Verstimmungen und verweinte Augen, aber klagen tat Erie nicht mehr. Sie pflegte neuerdings mit der kleinen Johanna lange, einsame Waldspaziergänge zu machen, und einmal, da kam Förster Busch aus dem Wald und trug die kleine sechsjährige Johanna auf dem Arm, im patschnassen Kleidchen, frierend und weinend. Er habe das Kind bei der Hainbuche gefunden, sagte er; und als der Oberförster eine Viertelstunde später heimkam aus der Stadt, wo er einen Termin gehabt hatte, da ging die Suche nach der Frau los, lieber Gott, das ganze Dorf war im Aufruhr!

Im Goldbachteich haben sie sie dann gefunden, und sie meinten alle, sie habe das Kind mit sich ertränken wollen, im letzten Augenblick aber habe ihr der Mut dazu gefehlt, und sie habe das Kind wieder ans trockene Ufer gebracht – und dann habe sie das Grausige getan –

Seitdem hat dann Mamsell Juste das Hauswesen besorgt; Karoline war vom zwölften bis siebenzehnten Jahre in einer Pension. Der Oberförster hatte gewollt, Karoline solle dann die Hausfrau spielen, und sie tut es ja auch mit großer Energie, kann ich Ihnen sagen, selbst Juste kuscht vor ihr. Sie wissen, Fräulein Maaßen, daß Johanna meines Mannes Schülerin ist? in allem, außer in den neueren Sprachen.«

Ich bejahte.

»Nun, darin konnte er ihr leider nicht genug geben, und ich bin so außer Übung gekommen, und so haben wir Sie herbekommen, liebes Fräulein. Wie macht sich denn die Kleine, wie gefällt es Ihnen überhaupt draußen?«

Ich kam nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn der Herr Pastor, in dessen Arm sich Johanna gehängt hatte, trat ein und begrüßte mich herzlich.

»Da haben Sie Ihre Mimose wieder, liebes Fräulein,« sagte er, »nicht wahr, so was Ähnliches ist sie doch? Sie hat mir eben allerhand von ihren Kümmernissen erzählt, ich habe ihr aber gesagt, sie dürfe nicht empfindlich sein, Karoline ist nun einmal so, sie kann nicht anders. Es gibt bekanntlich Naturen, die wie Igel sind, schließlich sitzt doch eine ganz weiche Seele unter den Stacheln, so wird's bei Karoline auch sein. Paß mal auf, Johannchen.«

Johanna ließ beschämt den Kopf hängen und sah den Fußboden an. Ein Weilchen stand sie noch neben dem geistlichen Herrn, der ihr mit einem Ausdruck besorgter Väterlichkeit über die braunen Flechten strich, dann setzte sie sich auf einen Stuhl ans Fenster und starrte ins Freie.

Der Pastor fragte indessen, ob ich mich für den Garten interessiere, und lockte mich hinaus, und dann gingen wir einige Male plaudernd auf und ab, wie Leute tun, die sich zum ersten Male begegnen und sich kennenlernen wollen.

Mitten in einem Gespräch blieb er stehen, und einen Busch Herbstastern betrachtend, kam er plötzlich auf das, was ihm am meisten auf der Seele brannte. Er sagte ganz unvermittelt: »Nie habe ich ein so weiches Seelchen unter den Händen gehabt und nie so viel heißes Zärtlichkeitverlangen daneben gesehen. Sie würde eine Sünde begehen um ein wenig Liebe.«

»Herr Pastor!« sagte ich erschrocken.

Er nickte noch immer, wie bestätigend. »Sehen Sie zu, daß Sie das Kind ein wenig stählen; auch ich will es versuchen; ob es helfen wird? Gott gebe es!«

*

Nach einem Weilchen standen wir wieder auf der Dorfstraße. Ich bog unwillkürlich dahin um, wo ich im Hergehen ein paar stattliche Giebel aus üppigen Parkbäumen hatte aufragen sehen. Wußte ich doch, daß wir jetzt der Frau Rhoden, der Herrin von Zülla, einen Besuch machen wollten.

»Wir müssen links gehen,« sagte Johanna.

»Aber dort sah ich vorhin das Schloß?« wandte ich erstaunt ein.

»Das ist Klein-Zülla,« erklärte Johanna, »und wir wollen nach Groß-Zülla, wo Frau Rhoden wohnt.«

»So nahe liegen die Güter nebeneinander?« fragte ich, nun neben ihr schreitend. Zwischen zwei Bauernhäusern waren wir auf einen großen Wiesenplan gelangt und gingen längs einer Parkmauer, die diese begrenzte, dahin. Rechts, am Ende dieser großen Wiese, sah ich wieder die Zackengiebel auftauchen, das war also Klein-Zülla, und dieser Park, den wir zu umgehen hatten, gehörte zu Groß-Zülla.

Johanna nickte auf meine Frage. »Nicht wahr, sehr nahe beieinander,« sagte sie, »zwei große Güter. Sie gehören beide Frau Rhoden, die das einzige Kind ihrer Eltern war; sie hat ihrem Mann Klein-Zülla als Mitgift zugebracht. Der verstorbene Amtsrat hatte, so sagt Vater, kein Verständnis für Wald, und da Klein-Zülla hauptsächlich Waldgut ist, so hat er es verpachtet. Frau Amtsrat ist eine geborene von Corde, und ihr Vater soll es gar nicht gern gesehen haben, daß sie den bürgerlichen Nachbarn heiraten wollte, denn er wünschte, Klein-Zülla solle Kordisch bleiben. Aber die Tochter setzte es durch und wurde Frau Rhoden. Vater sagt, die beiden seien das schönste Paar gewesen, landaus, landein.«

Dann sprach sie nichts mehr, als »Ja« und »Nein«, wenn ich sie fragte. Sie ging mit gesenktem Kopf neben mir in ihrem marineblauen, halblangen Kleide mit dem gleichen Jäckchen; unter dem großen blauen Filzhut sah das feine Gesicht blaß und grüblerisch hervor.

Durch eine Tür in der Parkmauer, deren Vexierschloß Johanna zu öffnen verstand, gelangten wir in das stattliche Groß-Züllaer Herrenhaus und wurden von einem Diener in veilchenfarbenen Samtbeinkleidern und ebensolcher Weste in einen äußerst vornehmen und behaglichen Salon geführt. Die Frau Amtsrat Rhoden kam nach einer kurzen Weile, uns zu begrüßen, eine schlanke, elegante Frau, aber mit leidendem Gesichtsausdruck und wunderschönen traurigen Augen.

Johanna machte einen Knicks und wurde mit einem gütigen: »Nun, sind wir denn auch fleißig bei dem neuen Fräulein, kleine Trauerweide?« angeredet.

»Sie müssen nämlich wissen, Fräulein Maaßen, daß ich mich für die kleine Johanna sehr interessiere,« wandte sie sich an mich, »ich habe ihre Mutter gut gekannt und deren frühes Scheiden tief beklagt. Sie war so schön, Ihre Mutter, liebes Johannchen, und ich liebe alles, was schön ist – sehr – sehr!«

Sie sprach dies alles mit einer leisen, klanglosen Stimme und lag mehr, als sie saß, in dem großen Stuhl, der mit altem kostbaren Gobelin bezogen war. Ich glaubte ihr aufs Wort, daß sie alles liebte, was schön ist, denn Zimmer und Geräte, Teppiche, Vorhänge und selbst ihr Kleid, waren aufs feinste zueinander gestimmt. Die Stores am Fenster von Seide in einer verblichenen rosa Farbe schufen die rechte Beleuchtung für diese vornehme Frau in dem weichen, teegrünen Hauskleid.

Johanna hatte Tränen in den Augen, als sie von ihrer Mutter sprechen hörte, und Frau Rhoden beeilte sich, von andrem zu reden. »Ohne Ihnen nahetreten zu wollen, Fräulein Maaßen,« fuhr sie fort, »Ihre Gegenwart ist ja durchaus nötig in dem Nordmannschen Hause, für Johanna hätte ich aber eine Pension besser gehalten als häusliche Weiterbildung, gerade für sie. Ich habe schon oft mit meiner lieben Karoline darüber gesprochen, ohne Erfolg freilich, aber – sehen Sie, Johannchen ist so darauf angewiesen, selbständig zu werden, und im Privatunterricht kommt man nicht so weit wie in einem Seminar, oder doch nur sehr langsam – der gute Oberförster indes ist so vollständig dagegen – –«

Johanna war tief erblaßt und sah mich mit großen entsetzten Augen an. Ich antwortete der Frau Rhoden, daß ich dazu gar nichts sagen könne, sondern mich den Wünschen des Vaters fügen müsse.

»Ja, ja! Natürlich,« nickte Frau Rhoden, »und sie hat ja auch die liebe Karoline, die wird ihr Schwesterchen nicht verlassen, sie ist ein so fester energischer Charakter, eigentlich für ihr Alter fast zu ernst. Ich liebe dieses schlichte unscheinbare Mädchen mit dem goldenen Herzen: wem sie nahesteht, wen sie liebt, der ist geborgen. Ich freue mich auch schon auf den heutigen Abend, der sie mir bringt. Das liebe Kind kam auf dem Wege nach der Stadt bei uns vor und fragte, ob sie für mich etwas besorgen könne. O, sie ist so praktisch, eminent praktisch! Ja, und da haben wir verabredet, daß sie heute abend bei mir speist, es ist mir dann immer, als hätte ich ein Töchterchen.«

Wir erhoben uns nun und nahmen Abschied; Frau Rhoden küßte Johanna auf die Stirn und entließ uns, mitten im Zimmer stehen bleibend und liebenswürdig und lebhaft mit der Hand winkend. Der Diener begleitete uns durch den Park bis zu dem Pförtchen. Nun schritten wir den Weg entlang, der an der ganzen Länge der Wiese neben dem Züllbach direkt nach Klein-Zülla führte.

»Frau Amtsrat ist noch heute eine entzückend liebenswürdige Frau,« sagte ich endlich.

Johanna nickte. »Karoline schwärmt für sie, aber ich kann mir dieses Gefallen aneinander gar nicht erklären, sie sind wie Batist und Hausmacherleinen nebeneinander – das heißt – das sage nicht ich, das sagt Frau Hildebrandt. Ach, Fräulein Maaßen, lassen Sie uns doch gleich noch zu der alten Dame gehen – ja?«

Sie machte vor Freude ein paar Tanzschritte, ich bejahte, und wir gingen rascher zu, um Zeit zu gewinnen.

Das Klein-Züllaer Herrenhaus erwies sich beim Näherkommen als ein schöner alter Giebelbau aus dem 17. Jahrhundert. Die beiden Seitengebäude in reinster deutscher Renaissance, die Giebel, nach der Frontseite gewandt, hielten einen Kuppelbau umschlossen, den recht stilwidrig das 18. Jahrhundert eingefügt haben mochte.

»In der Rotunde befindet sich der Festsaal,« erklärte Johanna, »der geht durch zwei Stockwerke und bildet unten die sogenannte Halle, aber das sieht alles öde aus. Der Saal hing noch vor ein paar Jahren voll Hirschgeweihe und Rehkronen, die hat Frau Rhoden alle nach und nach verkauft. Vaterchen sagt, es sei eine wahre Schande, dem Georg Rhoden, das ist ihr einziger Sohn, solche Schätze einfach hinterrücks zu verschleudern, er ist doch auch passionierter Jäger und war doch schon großjährig, als sie die Dinger veräußerte.«

»Wo ist denn der junge Herr Rhoden jetzt?« fragte ich.

»O, der ist noch kaum zu Hause gewesen. Als ich noch ein ganz kleines Mädchen war, habe ich ihn einmal gesehen, da trug er eine blauweiße Gymnasiastenmütze und tat schrecklich hochmütig, auch gegen Karoline, und dann hat er studiert in Bonn und Heidelberg und später eine Reise um die Welt gemacht mit Fritze Breitenfeld, und als er wiederkam, hat er seiner Mutter wohl versprechen müssen, die Güter zu bewirtschaften, und hat in Halle studiert auf der landwirtschaftlichen Schule, und jetzt lernt er praktisch. Aber Frau Hildebrandt sagt, er käme noch gar nicht gern zurück, er wäre lieber nochmals auf Reisen gegangen.«

»Warum muß er denn kommen?« fragte ich; »er wird doch zuverlässige Beamte haben, und Rhodens müssen nach allem, was ich sehe, sehr reich sein.«

»Ach, ich weiß nicht, Fräulein Maaßen,« rief Johanna aus; »die Leute sagen doch, Frau Rhoden hätte Sorgen, ich glaube auch, sie hat schrecklich viel verbraucht, mit Umbauten, mit Möbeln und Equipagen.«

Wir waren unterdes bei dem Haus angelangt, hatten eine kleine Brücke überschritten, die über den Bach führte, und gelangten nach einigen Schritten zu der Tür im Seitenflügel. Hier, auf dem schmalen Boden zwischen Haus und Flüßchen standen mächtige alte Rüstern, tiefen Schatten gebend, aber aus der Tiefe des Gartens, der sich vor dem Hause ausbreitete, leuchtete ein Flor von Astern in allen Farben.

Wir betraten das Schloß. Im Hausflur roch es stark nach Äpfeln, und dieser Duft wurde noch stärker, als wir eine breite, blendendweiß gescheuerte Treppe emporstiegen.

An einer sehr großen Flügeltür, die der Treppe gerade gegenüberlag, war ein Glockenzug befestigt, und bald nach unserem Klingeln öffnete eine alte, freundliche Dame mit schneeweißem Häubchen über dem weißen Haar und schlug freudig in die Hände, als Johanna ihr die Arme um den Hals schlang und sie küßte.

»Mein Püppchen, mein goldenes! Endlich kommst du einmal wieder,« sagte sie herzlich, und auch mich willkommen heißend, führte sie uns durch das große Gemach, das recht kahl aussah und nur als ein überflüssig Ding bezeichnet wurde, in ihre Wohnstube, deren Fenster nach der Wasserseite hinaus lagen. Auch recht groß und tief war dieser Raum, aber doch ein liebes Altfrauenstübchen mit tausend Erinnerungen und Bildern.

»Ach, wir haben ja viel zu viel Platz,« klagte Frau Hildebrandt, »dieser ganze Flügel ist unsere Wohnung, man müßte ein Möbelmagazin plündern, um ihn einigermaßen einzurichten; aber wir haben uns nur jedes zwei Stuben möblieren können, eine zum Wohnen und eine zum Schlafen, mein Junge drüben und ich hüben von dem großen Zimmer, durch das wir eben gekommen sind, und darin wir essen, wenigstens im Sommer; alles andere ist zugeschlossen. Manchmal fürchte ich mich, wenn Karl verreist ist zum Beispiel, und ich sehne wirklich die Zeit herbei, wenn die Frau Amtsrätin erst mal hier wohnt, in dem nördlichen Flügel drüben, dann wird's doch hier nicht mehr so ganz einsam sein.«

»Ist denn Aussicht vorhanden, daß die Dame hierher übersiedelt?« fragte ich, das lebhafte kleine Frauchen unterbrechend, die mich in das Sofa gedrückt hatte und während ihres Erzählens hin und her lief, um die Kuchendose, Glastellerchen, Gläser und eine Karaffe Südwein zu holen.

»Ja, freilich, sobald der junge Herr heiratet, und das wird wohl kommen. Gottchen, wie kurz die Tage schon werden, gleich soll die Lampe gebracht werden. Nun langen Sie aber zu, Fräulein Johannchen.«

»Wo ist denn Herr Hildebrandt?« fragte Johanna, deren ganzes Gesicht glänzte unter der harmlosen Freundlichkeit der lieben alten Frau.

»Ja, sag nur mal, Kind, ich weiß es auch nicht, wie er dazugekommen ist heute? Er ist ganz plötzlich nach der Stadt geritten – –«

»Karoline ist heute auch in der Stadt,« sagte Johanna. Das Gesicht der alten Frau veränderte sich plötzlich, das Lächeln erlosch und ein erschrockener Ausdruck glitt darüber. »So! So!« machte sie, dann saß sie einen Moment schweigend da, wischte sich hastig über die Stirn und fragte mich, offenbar sich von irgend einem schweren Gedanken losreißend, wie es mir in Zülla gefalle. Zugleich merkte ich, wie sie immer hinaushorchte und mehreremal zusammenzuckte, wenn eine Tür ging da draußen.

Ich sah, wie sehr sie in Unruhe war, und wir verabschiedeten uns, obgleich Johanna sich ein bißchen sträubte gegen den raschen Aufbruch.

Als wir die Treppen hinuntergingen, trat der Erwartete ins Haus, ein starker blonder Mann in graugrüner Joppe und Lodenhut. Er grüßte sehr artig, ohne uns anzureden, und sah aus, als ob er einen schweren Ärger trage. Hastig ging er die Stufen hinauf.

Eben legte ich die Hand auf die Klinke der Tür, da scholl von oben der angstvolle Ruf der alten Frau: »Um Gottes willen, Junge, wie siehst du denn aus?«

Ich schob Johanna, die unwillkürlich lauschend stehen geblieben war, hinaus, sie hing sich auch sofort an meinen Arm, und bald schritten wir auf dem Waldweg unserem Heim zu.

Beim Abendessen – es verlief sonst immer ziemlich schweigsam – begann diesmal der Oberförster zu sprechen. Er fragte nach den Eindrücken, die mir heute geworden, lobte die Pastorsleute als gute treue Nachbarn, zuckte die Schultern, als ich berichtete, daß Frau Rhoden ihn bereden wolle, Johanna wegzugeben, und streifte mit einem scheuen Blick das Kind, das ein ganz trostloses Gesicht zeigte.

»Karoline meint es ja auch,« murmelte er.

»Frau Rhoden sagt immer nur, was Karoline sagt,« erklärte Johanna. »Wann kümmert sich Frau Rhoden wohl sonst um mich?« Und als der Oberförster noch immer schwieg, fuhr sie fort: »Ja, Karoline muß es doch besprochen haben mit Frau Rhoden, daß ich einer Seminarausbildung bedarf.«

»Aber, wie käme sie dazu?« fragte der Oberförster unsicher und setzte dann ablenkend hinzu: »Wie ging es denn der Frau Hildebrandt?«

»Ich glaube, es hat da was gegeben mit Karl Hildebrandt,« antwortete Johanna. »Er war in der Stadt gewesen und rannte an uns vorüber, ohne uns anzureden, und seine Mutter schrie ihn an, wie er denn aussähe.«

Der Oberförster sah nachdenklich vor sich hin, und ganz gegen seine Gewohnheit fragte er: »Hat Frau Rhoden gesagt, daß ihr Sohn Ende des Monats kommt?«

Wir verneinten.

»Hm! Ich kann mir's auch nicht denken,« murmelte er, damit beendete er sein Verweilen am Tisch, drückte seine Serviette in einen Knäuel zusammen und verließ uns.

Ich konnte an diesem Abend nicht einschlafen, alle jene Menschen, die ich heute kennenlernte, bewegten sich vor meinen Augen, die netten Pastorsleute in ihrem urgemütlichen Heim, die Frau Rhoden, die mir vor der Hand völlig rätselhaft verblieben war, die muntere kleine Frau Hildebrandt. – Alle diese Personen irrten durcheinander vor meinen Blicken, von keinem wußte ich, was der andere für ihn bedeute, vielleicht ausgenommen die Beziehung zwischen der Oberförsterei und dem Pastorat.

Am folgenden Tage hörte ich aber doch allerlei. Johanna sagte mir in ihrem höchst mangelhaften Französisch – es war gerade ein Tag, an dem sie nicht Deutsch reden durfte, und wir unterhielten uns während eines Spazierganges im Wald – » Mademoiselle, je le sais – ich weiß es jetzt, warum Frau Hildebrandt gestern ihren Sohn so erschrocken anrief; denken Sie nur, er hat gestern in der Stadt, in der Konditorei bei Merbitz, Karoline gefragt, ob sie sich mit ihm verloben wolle – natürlich war er ihr deshalb nachgeritten, und Karoline – elle a refusé – refusé – refüsiert – mein Gott, wie heißt es doch – na kurz – sie hat Karl Hildebrandts Werbung ausgeschlagen, und vor zwei Wintern, seit der Tanzstunde schon, hat sie sich fürchterlich von ihm den Hof machen lassen; damals fuhr sie jede Woche nach der Stadt, und er immer hinterdrein, und dann kamen sie miteinander heim im Omnibus, und dann hier erst, und bis vor kurzem noch ...«

»Na, kleine Johanna, das Tanzstundenamüsement von damals ist am Ende doch kein Grund, daß Karoline ihn heute heiraten soll?«

»O,« sagte Johanna tief empört, »wenn sich zwei Menschen aber küssen?«

Ich hielt es nicht für ratsam, das Thema weiter zu verfolgen.

Mittags erfuhren wir von Karoline, daß Tante Rhoden sie eingeladen habe, auf acht Tage mit ihr nach Halle zu reisen; Tante Rhoden wollte dort zu einem Arzt und dann nach Berlin.

»Ist nicht Georg Rhoden in der Nähe von Halle?« fragte Johanna.

Karoline warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, und ihr blasser Teint rötete sich ein wenig. »Ich glaube nicht, daß wir ihn sehen werden,« sagte sie gemacht gleichgültig; »sobald Frau Rhoden den Arzt gesprochen hat, fahren wir nach Berlin.«

Der Oberförster runzelte ein wenig die Stirn. »Hast du für bestimmt angenommen?«

»Ja, natürlich!« erklärte Karoline.

»Nun,« sagte der Oberförster, »es ist ja gleichgültig, wohin du reist, wenn es unter passendem Schutz geschieht; jedenfalls ist es gut, wenn du einige Zeit von hier fortgehst, bis Karl Hildebrandt ...«

»Ja, was kann ich für Karl Hildebrandt?« fuhr Karoline ärgerlich auf. »Um den würde ich mich nicht rühren, da soll er doch fortgehen! Warum setzt er sich denn solche Dinge in den Kopf, ich habe ihn nicht ermutigt.«

Bei diesen Worten richtete Johanna sich auf. »Du!« stieß sie zornig hervor, »du, schäme dich!«

Ich zupfte sie am Ärmel, aber sie achtete nicht darauf in ihrer Empörung. »Du bist es gar nicht wert, daß er unglücklich um dich ist!« sprudelte sie los. »Ich habe es doch selbst gehört, wie du vor anderthalb Jahren mit ihm Pläne machtest, daß ihr euch Klein-Zülla von Rhodens kaufen und dort zusammen wohnen wolltet nach eurer Hochzeit ...«

Karoline blieb ganz ruhig. »Wo hast du das gehört? Es wäre wirklich interessant, das zu erfahren, ich weiß nämlich nichts davon.«

»Im Wagen! Als Karl Hildebrandt Nachts, nach deinem Tanzstundenball, dich und mich nach Hause brachte; ihr habt gedacht, ich schliefe und ...«

»Das wirst du wohl auch getan haben, und geträumt hast du noch obendrein! Die ganze Geschichte existiert lediglich in deiner Phantasie.«

Der Oberförster räusperte sich jetzt, und die Antwort Johannas unterblieb. Sie wandte nur mit einem verächtlichen Achselzucken den Kopf von Karoline weg und blickte starr auf ihren Teller.

»Wann reist ihr?« fragte der Oberförster, der mit gerunzelter Stirn dem Disput seiner Töchter zugehört hatte.

»Übermorgen!«

»Du kannst dir das Reisegeld morgen von Neumayer holen,« sagte er. Neumayer war der Bankier in der Stadt, der Karolinens Vermögen verwaltete, sie bekam aber bis zu ihrer Mündigkeit das Geld nur auf die Unterschrift ihres Vaters.

»O danke!« antwortete sie, »bin noch reichlich versehen.«

»Desto besser! Ich dachte nur, weil du gestern zu mir sagtest, du seist nicht bei Kasse.«

»Ach so. Ach ja!« Karoline wurde verlegen, »du weißt ja, Vater, ich bin grundsätzlich gegen so etwas, und du wolltest doch nur wieder eine Unterstützung für irgend wen, ich werde so furchtbar oft angebettelt, gewiß für Wilde, nicht wahr?«

»Ganz recht, aber es macht nichts, ich habe mir schon geholfen,« antwortete er ruhig. »Gesegnete Mahlzeit!« Er entschwand hinter seiner Tür, von den beiden Dackelchen gefolgt.

Kaum war er verschwunden, so sprang Johanna auf und lief zur entgegengesetzten Tür hinaus. Karoline sah ihr mit kalten Augen nach, dann sagte sie: »Sie sollten Johannas Naseweisheit tadeln, Fräulein Maaßen, von mir läßt sie sich ja doch nichts sagen; wenn Sie dazu immer schweigen, so wie der Vater stets schweigt, muß sie ja glauben, daß sie recht hat.«

»Ich werde nachher mit Johanna sprechen,« erwiderte ich; »so junge Mädchen, wie sie eins ist, kennen das Leben nicht und übertreiben leicht.«

»Warum haben Sie ihr denn nicht gleich den Mund gestopft?«

»Ich tadle nie in Gegenwart andrer,« sagte ich kurz, »und Johanna erscheint mir ganz besonders leicht verletzlicher Natur.«

»So! Wenn Sie sich nur nicht irren,« unterbrach mich Karoline aufstehend. »Jedenfalls werden Sie ja sehr bald selbst erkennen, was es mit der besonderen Zartheit auf sich hat.«

Ich suchte Johanna überall im Haus und klopfte schließlich auch bei Mamsell Justchen an, die um diese Zeit einer bescheidenen Ruhe in ihrem Stübchen sich hingab. Die gute Seele war in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen, erwachte aber und bat mich, doch einen Augenblick Platz zu nehmen.

»Johannchen? Die habe ich auch nicht gesehen, Fräulein, die wird wohl in den Garten gelaufen sein. Lassen sie man, die kommt schon wieder,« sagte sie auf meine Frage nach dem Kinde. Und dann brachte sie gleich die Rede auf Fräulein Karolinens Reise. »Na, da kann man sich ja was bei denken, da passen Sie man mal auf, Fräulein, die Frau Amtsrätin, die weiß, was sie tut, damit sie ihr eines Tages nicht den ganzen feinen Krempel verkaufen; es wird wohl die höchste Zeit sein. Man bloß dem Jörg, dem hätte ich eine andre gegönnt! Nun, ich meine man, der Jörg ist einer, in den könnte man sich noch selbst verlieben; ich hab'n gesehen, wie ich vergangen Jahr in Dohma gewesen bin, wo er sich belernt. Sehen Sie, Fräulein, mit Groß-Zülla, das ist so – die Leute sagen ja, wenn da nicht Geld geschafft wird, dann – –«

Ich stand auf, denn ich hörte Johanna auf der Treppe.

Ein paar Tage später reiste Karoline mit Frau Rhoden nach Halle; vierzehn Tage blieb sie fort, und Johanna blühte jetzt ordentlich auf, ein lieber mädchenhafter Reiz entwickelte sich in ihr; sie stahl sich täglich mehr in mein Herz hinein. Ein selten anmutiges, kindlich liebes Geschöpf war sie. Wie Sonnenschein ward es im Hause, und selbst der Oberförster lächelte bisweilen über sein Töchterlein, wenn er auch sofort hinterher umso düsterer blickte; es war, als wolle er sich gegen den Liebreiz seines Kindes förmlich verschließen.

Dann kam eines Tages Karoline zurück, und die Sonnenstrahlen, die von Johanna ausgingen, verkrochen sich zitternd hinter den grauen Wolken, die Karolinens Gegenwart herbeirief. Gleich beim ersten Mittagessen schlug das Wetter ein. Karoline hatte eine außerordentlich gute Pension für Johanna gefunden, die Vorsteherin sei gewillt, Johanna auch jetzt noch, mitten im Quartal, aufzunehmen, und sie, Karoline, wolle der Schwester diese Wohltat schenken. Ja, das wolle sie! Natürlich unter der Bedingung, daß Johanna sich unverzüglich reisefertig mache, denn Aufschub sei ein Unding. Johanna werde demnächst siebenzehn Jahre, und es müsse etwas für sie geschehen.

Wir saßen alle wie versteint, als sie mit diesem Projekt herausrückte; Johannas Augen suchten schreckhaft den Blick des Vaters, aber der vermied es, seine Jüngste anzuschauen.

»Das ist sehr gut von dir, Karoline,« murmelte er, »und Johanna wird dir dankbar sein.«

Aus dem Munde Johannas kam nicht ein Widerwort, auch ich schwieg. Als der Oberförster in sein Zimmer ging, folgte ich ihm.

»Wann soll ich Ihr Haus verlassen, Herr Nordmann?« fragte ich.

»Sie?« Er sah mich ehrlich erstaunt an. »Ja, aber ich habe Sie doch in erster Linie gebeten, meinem Haus vorzustehen, nicht allein als Erzieherin, Fräulein Maaßen. Sie bleiben natürlich hier; ich denke, Karoline wird eine ältere Freundin brauchen – in nächster Zeit.«

»Ich glaube nicht, daß Fräulein Karoline einen Anstands-Wauwau nötig hat,« erwiderte ich, »sie ist vollkommen selbständig, den Hausstand führt Mamsell zur vollsten Zufriedenheit, einzig und allein konnte ich Ihrer Johanna bis jetzt etwas von meiner Kraft widmen. Wollen Sie also gestatten, Herr Oberförster, daß ich mit Johanna zugleich Ihr Haus verlasse, ich muß Zeit haben, einen andern Platz zu suchen!«

Er sah plötzlich ganz hilflos aus. »Ich kann Sie nicht halten, Fräulein Maaßen,« begann er dann mit leiser Stimme, »aber Ihr Entschluß macht mir Sorge. Sie wissen doch, daß sich bei Karoline jetzt alles um ihre Verlobung dreht. Ich bin so viel von Hause abwesend, bleiben Sie bei uns, bis Karoline verheiratet ist, sehen Sie, es macht einen schlechten Eindruck, wenn ich das Kind in dieser schwierigen Zeit ohne eine mütterliche Aufsicht lasse.« Er räusperte sich und fuhr mit noch matterer Stimme fort: »Ich bitte Sie herzlich, bleiben Sie hier!«

Verlockend war es nicht, aber der große finstere Mann, der mit gesenktem Kopf neben seinem Gewehrschrank stand, tat mir in dieser Minute aufrichtig leid.

»Ich will es tun, Herr Oberförster, wenn ich irgend eine Tätigkeit übernehmen kann.«

»Eine Tätigkeit?« murmelte er. »Ich werde darüber nachdenken.«

Ich ging zu Johanna, die wie eine Verzweifelte in ihrem Stübchen weinte, und suchte sie zu trösten. Mamsell Juste kam dann in mein Zimmer und fragte ganz verstört, ob es denn wahr sei, und als ich bejahte, wurde die alte ehrliche Seele ganz bösartig: »Ja, als ob ich's nicht wüßte, das Kind soll nur fort, weil es zu hübsch ist! Ja, freilich, so ist's und nicht anders!« –

Jedenfalls half alles nichts; Karoline vertraute mir mit sauersüßem Lächeln eine Summe Geldes an, ich sollte Johanna in die Pension bringen, und ihr alles, was sie noch an Garderobe brauche, in Dresden besorgen. Als der Tag der Abreise kam, war die Kleine beinahe krank vor Kummer, der Abschied von allem, was sie liebte, war geradezu rührend, aber sie weinte nicht. Der Oberförster sagte ihr gar nicht Lebewohl, er war mit Büchse und Hunden verschwunden – er konnte wohl nicht.

Erst als wir vom Bahnhof der Stadt abfuhren und die letzten Spitzen der fernen Berge vor unseren Augen versanken, brach Johanna in Tränen aus. Aber sie war jung, und das Neue wirkte siegreich auf ihre Stimmung; sie staunte über alles, was sie sah, und als wir Abends über die Eisenbahnbrücke in Dresden fuhren, war sie ganz entzückt über die vielen Lichter der Stadt, die sich im Fluß spiegelten und über die langen Zeilen der menschengefüllten Straßen und Plätze.

Wir gingen in ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs, und andren Tages brachte ich Johanna der liebenswürdigen, klugen Vorsteherin des Instituts. Ich schilderte ihr das scheue Wesen des jungen Mädchens, deutete die Verhältnisse an, aus denen sie kam und bat, alles zu tun, was in ihren Kräften stehe, Johannas Vertrauen zu gewinnen.

Man versprach mir alles, und als ich noch Johannas freundliches Zimmer gesehen, das sie mit einer englischen Lehrerin teilen sollte, und dieser sanften hübschen Persönlichkeit mein liebes Mädel noch einmal recht warm ans Herz gelegt hatte, verließ ich abends wieder Dresden.

Mit einem Umweg über meine Heimat Dessau kam ich wieder im Forsthaus Zülla an. Der Oberförster hatte Arbeit für mich gefunden. Mit einer beinahe schamhaften Verlegenheit bat er mich, einige Aufsätze, die er über forstwirtschaftliche Fragen geschrieben, zu kopieren und sie auch ins Französische zu übersetzen, sie sollten in einer deutschen Jagdzeitung erscheinen und zu gleicher Zeit in den Vogesen nachgedruckt werden.

So sagte er, ich glaube aber, daß er mit Mühe und Not diesen Ausweg erst ersann, denn bisher hatte er mühelos und ohne Abschreiben seine Artikel eingeschickt, und diese Übersetzung ins Französische schien mir vollends unwahrscheinlich. Ich nahm den Auftrag aber als vollwertig, und diese schlichten Schilderungen und Berichte haben meine Liebe zum deutschen Wald nur noch erhöht, sowie die Hochachtung vor dem einsamen Mann; es war wirklich ein Stück Poesie, das sich in seinen Arbeiten offenbarte. Der Briefwechsel mit meinem Liebling beschäftigte mich auch sehr angenehm, und liebe gute Freunde fand ich in dem Pastorhaus.

Karoline und ich lebten so nebeneinander her; sie war viel vom Hause fort, mitunter tagelang hintereinander in Groß-Zülla bei Frau Rhoden.

Bei einem sonntäglichen Kaffeestündchen im Pfarrhaus, es war der erste Advent und die Welt lag in Schnee und Eis, erfuhr ich, daß der junge Herr Rhoden Weihnachten erwartet werde.

»Nun bin ich aber neugierig, ob es was wird mit dem Projekt der Mutter,« meinte der Pastor. »Söhne haben ja zuweilen einen andren Geschmack als alte Damen – aber freilich, dieser vergöttert seine Mutter.«

»Wirklich?« fragte ich überrascht, »darauf geht's hinaus?«

»Aber, liebstes Fräulein Maaßen!« fiel die Pastorin ein. »Sie müssen doch merken, wie Frau Rhoden der Karoline den Hof macht.«

»Der arme Junge!« begann der Pastor.

»Na, höre, Mann,« fiel die Pastorin ein, »wenn er nicht will, so –«

»Aber die Mutter, du kennst die Mutter nicht!« unterbrach der Pastor seine Frau. »Was die will, das will sie, und nötig wird's wohl sein, daß Kapital nach Zülla kommt. Was hat diese Dame für Geld aus dem Fenster geworfen! Jedenfalls kommt der arme Junge in ein großes Sorgennest, er büßt für die Eltern, Herr Rhoden hatte die Reformwut. Die Malzfabrik hat gar nicht reüssiert, und die Gestüte, die großartig und mit enormen Kosten angelegt wurden, sind kläglich eingegangen. Mit der Molkerei – na, da spinnen sie auch keine Seide. Wenn nun Hildebrandt fortgeht, der gekündigt hat, dann wird ihnen Klein-Zülla mehr kosten als es einbringt –«

»Und da wäre ja am Ende Karoline als rettender Engel berufen,« meinte die Pastorin, und schob ein frisches Buchenscheit in den Kachelofen.

»Der arme Junge!« betonte der Pastor nochmals, »ja, es ist schwer für einen Landwirt heutzutage, sich zu behaupten.«

»Sie kennen Georg Rhoden natürlich näher?«

Die Augen des geistlichen Herrn leuchteten auf. »Und ob! Ein Kerl von Samt und Seide, ein feines Gemüt und eben drum ...«

»Na, Karoline kann eine sehr gute Frau werden,« beschwichtigte die Pastorin.

»Aber gewiß,« gab ich zu, »sie ist so wirtschaftlich.«

»Ja, ja!« bestätigte der Pastor. »Sie ist wirtschaftlich, aber, wie gesagt ...« Dann schwieg er.

»Johannachen kommt doch Weihnacht, Fräulein Maaßen?«

»Selbstverständlich! Ich denke, doch!«

Wir verabredeten noch Verschiedenes für die Weihnachtsfeier der Dorfkinder im Pfarrhaus. Johanna wollte diesmal in Dresden Einkäufe machen und Sachen besorgen, es bereite ihr gar so viele Freude, in die schönen Läden zu gehen, und sie habe noch ganze vierzig Mark, hatte sie geschrieben. Sie schrieb eigentlich immer zufrieden, und von ihren Literatur- und Kunstgeschichtsstunden teilte sie uns mit, es sei ihr eine Welt von Freude aufgegangen. Darüber freuten sich Pastors ebenfalls sehr, und der alte Herr wiederholte immer wieder: »Sie ist schön an Seele und Leib, wäre sie nur stärker – sie ist nicht stark genug.«

»Ach, Alter,« sagte die Pastorin, »Verstand kommt mit den Jahren; sie ist mir am kleinen Finger lieber als die ganze Karoline, die ist mir etwas zu stark; wir Frauen dürfen ja doch ein bißchen schwach sein, nicht wahr?«

»Ja du!« sagte Pastor Brinckmann weich, »du, Alte! Wer ist von uns der Stärkere, wer stützt sich denn auf den andren, wenn ihm die Wellen über dem Kopf zusammenschlagen wollen, du oder ich?«

Ein ganzer Strom von Zärtlichkeit floß aus seinen guten Augen zu der schlichten Frau hinüber.

»Laß gut sein, Alterchen!« lachte sie wie ein junges Mädchen errötend, »wir stützen uns gegenseitig ...«

Wir freuten uns wirklich auf unser Kind, als wären wir die rechten Eltern, Pastors und ich. Alle möglichen kleinen Überraschungen dachten wir uns aus und waren glücklich, etwas zu ersinnen, womit wir ihr eine besondere Freude machen konnten. Eines Tages lud Karoline mich ein, mit ihr auf Weihnachtskommissionen in die Stadt zu fahren, es war ein köstlicher Wintertag, die Schlittenbahn ausgezeichnet, ganz windstill, und Vollmond stand zu erwarten.

Dieses Wetter wurde natürlich von den Landbewohnern tüchtig ausgenutzt, auch Frau Rhoden war unterwegs und hatte die Pastorin mitgenommen. Den Landauer hatte man auf Kufen gesetzt, denn die zarte Dame wurde von Tag zu Tag hinfälliger, war auch seelisch sehr gedrückt; die Ärzte in Halle mochten ihr wenig Tröstliches gesagt haben, dazu kam ihre Unfähigkeit zu essen. So nahm die Schwäche von Tag zu Tag zu. Heute, als wir im »Bunten Bock« beim Frühstück saßen, so hieß der Gasthof, in dem die Landherrschaften aus Zülla auszuspannen pflegten, erschien sie in der blendenden Schneeluft, die durch die großen Fenster der Gaststube drang, gelber und kränker als je, und die schönen dunklen Augen hatten einen fieberhaften Glanz. Wir aßen an einem gemeinschaftlichen Tisch und wollten alle gleich nach dem Essen die Läden der Stadt unsicher machen. Frau Rhoden wollte zum Goldschmied, Karoline bot sich an, sie hinzuführen, aber sie lehnte mit verstohlenem Lächeln ab. Allein konnte man sie nicht gehen lassen, Frau Pastor wollte noch gern beim Tageslicht einen Kleiderstoff aussuchen, so bot ich mich denn an.

Die alte Dame hing schwer an meinem Arm; als wir über den Markt wanderten, in dessen Schneefläche kleine Wege getreten waren, klagte sie: »Die Luft fehlt mir jetzt immer, es wird mir alles zuviel – Gott sei Dank, daß mein Georg bald kommt!«

Im Laden sank sie kraftlos auf einen Stuhl, den man ihr hinschob. Der Goldschmied brachte ihr sodann das Bestellte, es war eine diamantenbesetzte Kapsel ungewöhnlicher Form an einem zierlichen Kettchen, offenbar ein altes Schmuckstück, das man repariert hatte.

»Und das Bild?«

»Paßt vorzüglich hinein, Frau Amtsrat.«

Der Mann drückte an einer Feder der Kapsel, und die Photographie eines jungen Männerkopfes erschien, ein auffallend schmales, regelmäßiges Gesicht, merkwürdig ähnlich der Frau Amtsrat.

»Schön! Schön! Und das Etui?«

Es war ein neues rotes Juchtenkästchen mit verschlungenem Namenszug. Frau Amtsrat suchte noch eine kleine goldene Brosche aus, sagte dem Mann, er möge die Rechnung Neujahr schicken, und wir gingen wieder auf die Straße.

»Liebes Fräulein Maaßen,« begann die schweratmende Frau während des Gehens, »das Bröschchen ist für Johanna, legen Sie es mit in die Weihnachtskiste, die Sie ihr schicken, das Einpacken fällt mir so schwer.«

»Soll Johanna das hübsche Geschenk sich nicht von Ihnen holen, Frau Amtsrat? Sie kommt doch Weihnachten nach Zülla!«

»Sie kommt?« Die kranke Dame blieb stehen. »Woher wissen Sie das? Wer sagte es? Der Oberförster und Karoline haben mir die Versicherung gegeben, daß sie es für besser halten, Johanna bleibe dort; wo sie ohnehin so wenig Zeit vor sich hat. Ein halbes Jahr, ich bitte Sie, da kann man doch nicht erst noch eine solche Reise machen.«

»Aber, sie versäumt doch nichts!« stotterte ich. »Es sind ja Ferien!«

»Doch! Doch! Sie wird zerstreut, und der Abschied dann wieder – sie will womöglich nicht wieder fort, wenn sie einmal hier ist; glauben Sie mir, der Vater hat ganz recht.«

Mir war auf einmal die ganze Festfreude verlöscht. Verstimmt und ohne zu sprechen, ging ich neben Frau Rhoden. Als wir uns um fünf Uhr in der Konditorei wieder mit Karoline vereinigten, bestätigte mir eine Bestellung, die Karoline dem hübschen, vielbeschäftigten Konditorstöchterlein, das uns den Kaffee brachte, wiederholt einschärfte, die Wahrheit des Gesagten: »Die Christstollen und die Pfefferkuchen sollen rechtzeitig nach Dresden abgesandt werden.«

Das kleine blonde Mädchen gelobte es feierlich und verschwand, die andren Gäste zu bedienen, deren so viele waren, daß sich kaum ein Plätzchen für uns fand in dem Zimmer, dessen Luft vom Geruch der Pfefferkuchen und von Kaffeeduft schwer unter der alten Balkendecke lag.

Karoline war fertig mit ihren Kommissionen und die alte Dame auch; sie sah so leidend aus, daß ich den Vorschlag machte, Karoline möge mit ihr im geschlossenen Wagen fahren, ich würde dann mit der Frau Pastorin im offenen Schlitten nachkommen.

So geschah es denn, und auf dem Heimweg neben der still heiteren Pastorin tropften mir endlich die Tränen der Enttäuschung aus den Augen.

»Weinen Sie nicht, Sie kriegen Eiszapfen,« neckte sie aus ihrem dicken Wollschal heraus, »überlegen Sie lieber, wie Sie dem Kind eine Weihnachtsfreude machen. Wenn ich wäre wie Sie,« fuhr sie fort, »ich nähme Urlaub vom Oberförster und führe acht Tage nach Dresden. Die Vorsteherin nimmt Sie sicher gern und für ein Billiges auf. Die Betten der Pension stehen jetzt leer, und Sie können nach Herzenslust mit Johanna Weihnacht feiern.«

»Das ist ein Gedanke, auf den wäre ich nicht gekommen, aber ich weiß noch was Besseres, liebe Frau Pastorin, ich hole Johanna aus Dresden und gehe mit ihr nach Dessau zu meiner alten Großmutter, die ist so wie so schon unglücklich, daß ich in diesem Jahr nicht zu ihr kommen sollte um Weihnacht. Wir sind noch die einzigen, die von der Familie übrig blieben, ja, das tu' ich!«

Und nun war die Welt plötzlich wieder licht und schön, die dunkelblauen Berge im Westen, der brennendrote Dunststreifen darüber, der als leuchtendes Orange in das frostklare, stählerne Grün des Winterhimmels überging, die verschneiten Felder und traulichen Dörfer mit den kleinen erhellten Fenstern, das Geläute der Schlittenglocken in dieser feierlichen Stille, und die plötzliche Erkenntnis, daß ich das Kind mehr liebte, als ich es meinem armen Herzen noch je zugetraut hatte, lieben zu können, gaben mir zum ersten Male seit langer Zeit wieder ein wirkliches Heimatsgefühl, einen tiefen, seligen Weihnachtsfrieden.

Ich ging, nachdem wir daheim angekommen waren, sofort in die Stube des Oberförsters, der bei der Lampe über seinen Akten am Schreibtisch saß.

»Herr Oberförster, ich höre, Johanna kommt nicht zum Fest?«

Er wandte den Kopf und faßte planlos zwischen Federhaltern und Bleistiften umher. »Nein,« sagte er leise, »es geht nicht ... Karoline meint ...«

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich auf acht Tage verreise?« unterbrach ich ihn.

»Aber bitte, nein, durchaus nicht!« stotterte er. »Wo wollen Sie hin? Ich denke doch, Karoline wird nichts dagegen haben.«

»Fräulein Karoline braucht mich sicher nicht, aber Johanna braucht mich,« sagte ich, »ich gehe zu Johanna und nehme sie zu meiner alten Großmutter nach Dessau mit, drei bis vier Stunden Bahnfahrt von Dresden aus. Nicht wahr, das darf ich? Ich begleite das Kind ja sicher wieder nach Dresden.«

Er sagte kein Wort, er faßte nach meiner Hand und drückte sie, ein sonderbares Zucken ging über sein Gesicht.

Karoline schien nicht davon erbaut, sie fand es unnötig, sprach von einer kleinen Gesellschaft, die sie geben wollte und von zu viel Arbeit für sie allein, aber ich ging nicht darauf ein. Was ich vorbereiten konnte für das Fest, das tat ich, aber ich reiste. Es war ein Tag vor dem Heiligen Abend, als ich abfuhr in aller Morgenfrühe; in Halle mußte ich den Zug wechseln und hatte Aufenthalt dort. Der Wartesaal war gedrängt voll Menschen, die alle heimreisen wollten zum Fest, vergebens suchte ich nach einem Platz. Nicht weit von mir saß ein Herr, er erhob sich, meine Verlegenheit bemerkend, und bot mir den freistehenden Stuhl an seinem Tisch. Ich nahm ihn dankend, legte alles, was ich in der Hand trug, auf den Tisch, um meine Fahrkarte, die ich am Eingang zum Bahnhofsgebäude hatte vorzeigen müssen, wieder in das Portemonnaie zu stecken. Sie fiel durch meine Ungeschicklichkeit zur Erde, er hob sie auf und reichte sie mir. Wohl unwillkürlich mochte er einen Blick darauf geworfen haben.

»Sie kommen dorther, wo ich hin will,« sagte er lächelnd.

»O, ich bin schon anderthalb Stunden Schlitten gefahren,« erwiderte ich vergnügt, nur um etwas zu erwidern. »Wissen Sie, wo Zülla liegt?«

»Natürlich weiß ich es!« Jetzt lächelte er wirklich. »Und gerade dahin will ich.«

Ich faßte ihn näher ins Auge. Ein auffallend hübscher Mensch, etwa siebenundzwanzig Jahre alt, groß, schlank, in dem regelmäßig ovalen Gesicht ein blonder Schnurrbart. Das war das Ebenbild aus Frau Rhodens Medaillon, aber jetzt in der Frische des Lebens viel ansprechender und der schönen Mutter ähnlicher wie die farblose Photographie, nur die sonderbar ernsten, stillen Augen von einem dunklen Blau waren mir fremd.

»Dann kenne ich Sie auch; Herr Rhoden, nicht wahr?« sagte ich auf gut Glück.

Er lüftete den Hut. »Zu dienen – und mit wem habe ich die Ehre?«

Ich erzählte ihm, während ich meinen Kaffee trank, daß ich seine Mutter kennen gelernt habe. Als ich aufsah, war er blaß geworden.

»Ja, meine arme Mutter,« sagte er leise, »und mein liebes altes Zülla.«

»Ihre Frau Mutter scheint leidend,« bemerkte ich teilnehmend.

Er nickte. »Ja, ja! Nun wird das Regieren in Zülla ihr ein wenig zu viel, da will sie den Thronfolger haben,« fügte er hinzu mit einem Versuch zu scherzen, der aber mißlang, so traurig waren seine Augen.

»Ihre Frau Mutter freut sich sicher unbeschreiblich, wenn Sie wieder dort sind, Herr Rhoden.«

»Gewiß! Sie ist doch sehr allein,« sagte er, »so auf dem Lande.«

»Fräulein Nordmann ist viel um sie!« tröstete ich.

»Fräulein Karoline, ja, ich weiß, Mutter schrieb es mir, es ist sehr freundlich von der jungen Dame. Und dabei hat sie selbst so viel auf den Schultern,« fügte er hinzu, als könne etwa seine Anerkennung zu schwächlich ausgefallen sein. »Da ist der sonderbare, melancholische Vater und die kleine Schwester und die Wirtschaft. Aber die Kleine haben Sie ihr wohl nun abgenommen, Fräulein?«

»Johanna ist in Pension,« berichtete ich, »eben will ich zu ihr, um sie abzuholen.«

»So! So! Herrgott ja, der Wurm ist nun wohl auch schon groß geworden? Ich erinnere mich ihrer nur noch als winzig kleines Etwas im weißen Kleidchen, darüber der blonde Kinderkopf, so ein merkwürdiges Blond, wie Gold. Ich weiß das noch so genau, weil ich damals etwas lyrisch angehaucht war und bei dem Anblick des Kindes auf dem grünen Rasenplatz an eine kleine Narzisse denken mußte, und dieses Gleichnis schön fand.«

Er lachte herzlich über sich, und dann sagte er, aufstehend: »Aber da wird eben Ihr Zug gemeldet,« und er wies auf den automatischen Anzeiger der abgehenden Züge, wo just das Wort »Dresden« erschienen war. »Ich habe zehn Minuten länger Zeit als Sie. Fräulein, erlauben Sie, daß ich Sie an Ihr Coupé begleite.«

Er ergriff meine Handtasche, und wir gingen zu dem Perron hinauf. Als ich eingestiegen war, ersah er plötzlich eine Händlerin mit Orangen und Kuchen, die mit gellender Stimme Gnadauer Brezeln ausrief. Er kaufte rasch etwas bei ihr und reichte es mir lose in Papier eingewickelt durch das Fenster meines Abteils. »Nehmen Sie das der kleinen Narzisse mit, der Nachbar lasse sie grüßen,« lachte er.

In diesem Moment war aller Ernst von ihm gewichen; er hatte etwas Sonniges, Lachendes in seinen Augen, wie ein liebenswürdiger Junge es hat, der einen Schelmenstreich beging.

»Haben Sie noch etwas zu bestellen in Groß- oder Klein-Zülla?« fragte er noch, als der Schaffner schon eilig die Tür des Coupés zuschlug.

Ich bat um eine Empfehlung an seine Mutter und wünschte frohe Feiertage. Da setzte sich der Zug auch schon in Bewegung. Ich blickte noch einmal zurück, bevor ich das Fenster schloß und sah eben die mittelgroße, schlanke Männergestalt die Treppe hinuntergehen.

Und den meint Karoline? ging es mir durch den Kopf. Die kleine viereckige Karoline mit der schiefen Körperhaltung und dem Gemüt, das ebenfalls etwas schief zu sein schien? Das Geld, ja das schreckliche Geld, dachte ich traurig. Da fiel raschelnd der Honigkuchen aus dem locker darumgeschlagenen Papier, ich hatte ihn gedankenlos aus der Hand gleiten lassen. Unwillkürlich betrachtete ich das Geschenk. Es war das richtige Pfefferkuchenherz, wie es auf Jahrmärkten feilgeboten wird, rot mit weißen Schnörkeln darauf, und in der Mitte ein Liebespärchen mit folgendem Vers:

»Ich hatte dich noch kaum gesehen,
Da war's schon um mein Herz geschehen.«

Er hatte das Ding natürlich gar nicht näher betrachtet beim Einkauf!

Als mir Johanna Abends mit einem Jubelschrei um den Hals fiel, zerbrach sie das Herz, das ich in der Hand trug, weil ich in der Tasche keinen Platz mehr dafür gefunden hatte; sie nahm es von der Erde auf und hielt lachend die Stücke zusammen. »Wo haben Sie denn das her? Nein, wie komisch der Vers paßt: ›Ich hatte dich noch kaum gesehen, knick, knack, da war's auch schon geschehen!‹« parodierte sie und warf das Papier mit dem Kuchen achtlos auf den Tisch, mich aufs neue umschlingend. »O, Sie liebes gutes Fräulein Annachen, ich wäre ja auch gestorben vor Heimweh, wenn ich allein hätte hier bleiben müssen.«

»Ja, das dachte ich mir, und deshalb komme ich und nehme dich mit in meine Weihnachtsheimat, und übrigens das Herz, das hat mir der Herr Georg Rhoden für dich gegeben, der denkt, du bist noch so ein kleines, ganz kleines Mädchen.«

»O, der!« meinte sie, halb verächtlich, halb staunend, »ist denn der jetzt in Zülla?«

»Nein, den lernte ich in Halle kennen,« und ich erzählte ihr davon.

Sie nahm den Kuchen, besah ihn nachdenklich, wickelte ihn ein und legte ihn in ihre Kommode. »Ja, liebes Fräulein Annachen,« sagte sie und lachte, »den muß ich ja wohl in Ehren halten, er kommt doch wohl von meinem künftigen Herrn Schwager, meinen Sie nicht?«

»Kann sein! Ich weiß nicht, Kind. Und morgen reisen wir nach Dessau.« –

Als wir dort am dritten Feiertag von einer köstlichen Winterpartie, die wir nach Wörlitz gemacht hatten, wieder in das Stübchen meiner alten Großmutter traten, lag neben Johannas Kaffeetasse ein Brief.

»Oh, von Vater!« rief sie überrascht, und während sie las, lächelte sie. »Sehen Sie, ich hatte recht, Fräulein Maaßen, mit meiner Prophezeiung: Karoline hat sich verlobt,« und sie las uns das Schreiben vor:

»Liebe Johanna!

Heute teile ich Dir mit, daß sich Deine Schwester gestern abend mit Herrn Georg Rhoden verlobt hat.

Er kam so um sechs Uhr Abends zu mir und hielt um sie an; Karoline hatte mich schon vorbereitet. Am ersten Feiertag, an dem sie zum Essen in Groß-Zülla war, hat die Mutter von Georg sie gefragt in seinem Namen –«

»Die Mutter?« unterbrach sich Johanna, »Fräulein Annachen, wie finden Sie das – warum hat er sie nicht selbst gefragt?« Dann las sie weiter:

»Karoline sagt mir, daß sie ihn liebe und daß Ostern die Hochzeit sein solle; das hatten sie schon beschlossen, ich brauchte nur in allem noch ›ja!‹ zu sagen. Aber Karoline wird ja in vierzehn Tagen mündig und ihr eigener Herr!

Wie geht es Dir, liebes Kind? Und machst Du auch der Großmutter von Fräulein Maaßen nicht zu viel Last? Bitte empfiehl mich sehr und danke in meinem Namen für alles Liebe, das Dir erwiesen wird von den Damen. Ostern kommst Du zur Hochzeit und bleibst dann hier, dann wird auch Fräulein Maaßen genügend Arbeit haben.

Dein treuer Vater.«

»Sieh, Johanna, da wäre ich am Ende doch recht nötig gewesen jetzt in Zülla,« sagte ich nachdenklich.

»Ach Tante, nein,« meinte diese, »die Karoline vermißt jetzt gar nichts, und Sie wären ja auch hinderlich, wenn sie zeigen will, welch eine wirtschaftliche Hausfrau in ihr steckt.«

Ich mußte dem lieben Mädel recht geben, und wir verlebten noch köstliche Tage im alten Dessau; die Verlobung hatte offenbar gar keinen Eindruck bei ihr hinterlassen, nur die Freude brach zuweilen durch, daß sie dann allein bei ihrem Vater sei.

Ein besonderer Genuß für Johanna war es, Großmutters Truhen zu durchstöbern; sie konnte aufjubeln über einen alten Fächer, über ein Kleid aus der Biedermeierzeit, einen verblichenen Pompadour. Natürlich wurde dann die Geschichte dieser Gegenstände verlangt, und die alte Frau erzählte, was sie konnte und wußte. Johanna hat mir später oft gesagt, es seien ihre schönsten, friedlichsten Tage gewesen, die sie mit mir in der Stadt des alten Dessauers verlebte.

Dann brachte ich das Kind wieder nach Dresden und versprach, sie Ostern heimzuholen. Aber das wollte sie nicht.

»Nur nicht abholen, ich komme schon allein, Tante Anna,« – sie nannte mich jetzt immer »Tante« und »Du«, weil ihr »Fräulein« so fremd vorkam – »und ihr sollt's gar nicht genau wissen, wann ich reise. Denke doch, wie schön das wird! Ich komm' dann auf einmal Nachmittags an die Pforte und klingele, und dann bellen die Hunde, und rasen auf mich zu, und dann kommt Justchen hergestürzt und dann du, und dann schleiche ich in Vaters Stube und lege ihm die Hand über die Augen: ›Nu rate, wer ich bin?‹ Nein, nein – bitte, nicht abholen!«

»Und wie willst du denn den weiten Weg von der Stadt bis nach Zülla machen?«

Sie schwieg einen Augenblick nachdenklich. »Nun,« sagte sie dann ernsthaft, »ich depeschiere an meinen Herrn Schwager: ›Komme dann und dann, bitte, Wagen an der Bahn!‹ Wozu hat man einen Schwager?« setzte sie lachend hinzu.

»Nein, Kind, das wirst du nicht tun!« sagte ich fast heftig. »Bitte, Johanna, versprich mir, komme nicht ohne Anmeldung!«

»Na ja, wenn du so ängstlich bist, Tante Anna, als ob mir etwas passieren könnte. Also hole du mich von der Station ab; Friedrich würde es am Ende auch übelnehmen, wenn er es nicht tun dürfte.«

Die Vorsteherin erlaubte ihr, mich an den Bahnhof zu bringen, und dort stand das Kind plötzlich weinend neben mir. »Ich wollte, es wäre erst Ostern!« gestand sie.

Ein paar Minuten später und ich sah nur noch ihr kleines weißes Tuch aus der Menge winken.

Der Winter im Züllaer Forsthaus stand unter dem Zeichen der Verlobung. In der Oberstube saßen die Näherinnen mit zwei Maschinen, und ich dankte Gott, daß Karoline es offenbar nicht gern sah, wenn ich mich dort zum Helfen anbot. Der Raum war überhitzt, und es roch nach dem brodelnden Kaffeetopf, der beständig in der Ofenröhre sein Quartier hatte, nach Maschinenöl und Petroleumlampen. Wahre Berge von Wäsche türmten sich da oben im Lauf der Wochen auf, und noch immer kamen neue Stücke Leinwand aus den alten Truhen, die noch vom Bauerngut der Großeltern Karolinens stammten, starke, selbstgesponnene Leinwand, die zu festen, derben Gegenständen verarbeitet wurde. »Eben Wäsche fürs Land,« erklärte Karoline, »so spinnewebenfeine Kissenbezüge mit Stickerei, wie Mama Rhoden sie liebt, die sind nichts für die Waschfrauen und kosten zu viel Mühe beim Plätten.«

Die Braut war meistens in sonderbarer Stimmung, ungeduldig, mißlaunig mit einem gespannten, lauernden Zug in dem flachen Gesicht, beständig nervös, und wurde erst erträglicher, wenn Jörg Rhoden den Waldweg daher schritt. Sie hatte ihn schon lange am Fenster stehend erwartet, und ging ihm dann in ihrem rotbraunen Tuchkleid, das ihr ein Schneider in der Stadt, ungeschickt genug, gemacht hatte, ein Tuch flüchtig übergeworfen, entgegen und reckte sich mit gespitztem Mund an ihm empor, worauf er sich niederbeugte, um sie zu küssen. Hatte sie ihn solchergestalt begrüßt, dann gingen ihre Blicke stolz und spähend über die Fensterreihen des Hauses und mit strahlendem Lächeln kam sie an seinem Arm daher.

Er war ein höflicher, aber sehr stiller Bräutigam. Einmal wie allemal brachte er Grüße von seiner Mutter, wobei er mich nie vergaß, und war bald mit seinem künftigen Schwiegervater in tiefstem Gespräch über Waldkulturen und dergleichen. Hildebrandt hatte ihm gekündigt, Klein-Zülla sollte nicht wieder verpachtet werden, sondern Rhoden wollte es selbst mit bewirtschaften. Als der Oberförster eines Tages an Influenza erkrankte und wochenlang mit bedenklicher Lungenentzündung lag, machte ihm Jörg Rhoden, als er in der Besserung war, den Vorschlag, der Vater solle doch den Dienst quittieren, nach seiner Pensionierung in Klein-Zülla wohnen, und ihm helfen, das Waldgut zu bewirtschaften. Der alte Herr versprach, es sich zu überlegen, es schien beinahe, als habe er Lust dazu.

Mitunter brachte Georg Rhoden seiner Braut ein Geschenk mit, Blumen aus dem Gewächshaus oder, wenn er in der Stadt gewesen war, eine Kleinigkeit für ihren Nähtisch oder die künftige Wirtschaft; dann lachte sie vor Freude, ein sonderbares Lachen, das das ganze Zahnfleisch über den großen weißen Zähnen sehen ließ. Einmal aber schenkte er ihr eine Gedichtsammlung – Storms »Hausbuch deutscher Dichter«.

Sie dankte und sagte, daß sie sich freue. Aber das Buch blieb lange unberührt auf dem Tisch liegen, wohin sie es an jenem Tag gelegt hatte, als sie es erhielt. Endlich, als er es merkte und sie fragend ansah, sagte sie: »Ich habe so wenig Zeit, Schatz, nun werde ich aber bald darin lesen.«

Er nickte nur stumm und sprach nicht wieder davon.

Einen um den andern Tag besuchte Karoline ihre künftige Schwiegermutter, und wenn sie wiederkam, sagte sie jedesmal: »Mutter will, daß wir früher Hochzeit machen, sie spricht von Sterben und denkt, sie erlebt es sonst nicht mehr, daß wir Mann und Frau werden, das beunruhigt sie sehr.«

»Wie denkt dein Bräutigam darüber?« fragte der Oberförster.

»O, dem ist's auch recht!« antwortete sie zögernd.

Bei Pastors waren die Ansichten über die wirklich erfolgte Verlobung des jungen Gutsherrn geteilt. Der geistliche Herr war nicht zufrieden, er sprach sich aber nicht näher aus, sondern meinte nur: »Es stimmt nicht mit den beiden, stimmt nicht, ausgenommen die Geschichte mit dem Geldbeutel, und das ist kein Fundament einer glücklichen Ehe.«

»Ach was,« sagte die Pastorin, »die Karoline hat gute Eigenschaften, sie ist eine praktische, solide Person, und die Hauptsache, sie liebt den hübschen Jungen von ganzem Herzen. Ich habe nie eine so stolze Braut gesehen!«

Frau Rhoden auf Groß-Zülla ward immer schwächer; als der März zu Ende ging, wurde die Hochzeit auf vierzehn Tage vorgerückt auf ärztlichen Rat. Ein Fest wünschte Karoline aber trotzdem, der bescheidene Vorschlag des Bräutigams, die Feierlichkeit im engsten Familienkreis zu begehen, mißlang bei ihr. Am dreizehnten April sollte geheiratet werden, aber wie es Recht und Brauch sei: feierliche Fahrt nach der Kirche, viele Gäste, großes Diner, Tischmusik und Tanz.

Nun galt es, sich zu beeilen. Am nächsten Sonntag fand ein zweimaliges Aufgebot statt und am Gemeindehaus hingen die Namen des Brautpaares im schwarzen Kasten aus, den hatte der alte Gemeindediener und Dorfpolizist Ruhland mit einer Girlande geschmückt, Herrn Rhoden zu Ehren und in der Hoffnung auf ein Trinkgeld. In unserm Haus war ein schrecklicher Tumult; ein Glück, daß die alte Frau Hildebrandt auf den Gedanken kam, die Festlichkeit aus den engen Räumen der Oberförsterei nach dem Klein-Züllaer Schlößchen zu verlegen.

»Sehen Sie,« setzte sie auseinander, »da ist die große Küche, und da ist der Kuppelsaal, und wenn der mit Tannengrün austapeziert wird, und die schön hergerichteten Tafeln stehen da drinnen und der Gärtner hilft nach mit Orangerie, da wird das ein Festsaal, wie ihn der Kaiser nicht hat, und unten die Halle und die schöne Auffahrt –«

Georg Rhoden war sehr einverstanden mit dem Vorschlag der heitern kleinen Frau. Sie schien so beglückt über diese Hochzeit, als freite ihr eigener Sohn, der doch seit drei Wochen bereits beurlaubt war von Herrn Rhoden, und nur noch einmal kommen würde, um seine alte Mutter zu holen. Frau Hildebrandt aber war es unschwer anzumerken, daß ihr ein Stein vom Herzen fiel, weil nicht ihr Sohn der junge Ehemann wurde. Und einmal sagte diese kleine wunderliche Frau zu mir, als ich etwas ausmaß im Saal drüben: »Noch brummt er ja, der Karl, sie hat ihn auch arg an der Nase herumgezogen, die Karoline, aber das überwindet so ein Mensch, wie er ist, doch schließlich ganz und gar.«

So war denn der Schauplatz der lärmenden und unruhigen Vorbereitungen zur Wohltat für die Kranke im Groß-Züllaer Schloß und für den noch immer leidenden Oberförster an einen dritten Ort verlegt, und wir hatten tüchtig hin und her zu laufen, damit alles in Ordnung kam. Aus der Stadt war der Kasinokoch mit zwei Gehilfen engagiert, der würde alles mitbringen, Schüsseln und Pfannen, Tafelservice und die Ingredienzien für das Diner, selbst die Diener. Zum Teil waren auch im nördlichen Flügel die Logierzimmer hergerichtet.

Für meinen Liebling war eine Toilette in Dresden besorgt worden, und ich rüstete mich sechs Tage vor der Hochzeit, Johanna von dort zu holen. Aber daraus wurde nichts, der Zufall hatte es anders beschlossen. Es war gegen Abend vor meiner Abreise, ein wundervoller Frühlingstag ging zu Ende, Karoline war zu ihrer Schwiegermutter gegangen, die alte Dame litt mehr als je.

Ich hatte mit dem Herrn Oberförster Kaffee getrunken, dann war Herr Rhoden gekommen, um mit ihm noch etwas zu besprechen. Da ich, was selten vorgekommen war in der letzten Zeit, gerade nichts zu tun wußte, schlenderte ich ein wenig in dem Garten umher, der sich vor dem Haus breitet, und pflückte schließlich ein paar Krokus, die gerade vor mir auf dem Rasen blühten. Es roch alles so lenzlich, so frisch, und mein Herz war voller Freuden auf das Kind, das von nun an bei mir sein würde in ungestörtem Zusammenbleiben. Und in diese Gedanken klang plötzlich eine Stimme, der weiche leise Schrei, so zwischen Jubel und Rührung, wie nur sie ihn hatte. Und da flog sie mir auch schon entgegen, schlank, hoch, mit selig lachenden Kinderaugen, und dann hatte sie mich umgefaßt und schluchzte und lachte durcheinander.

»Siehst du! Siehst du – nun habe ich dich doch überrascht, siehst du! Und nun zu Vater!«

Sie ließ mich stehen und stürmte die Stufen hinauf, die zur Haustür emporführten, und in diesem Augenblick öffnete sich diese – und sie, die denken mochte, es sei der Vater, der ihr entgegeneilte, breitete die Arme weit aus, aber nur einen Moment, dann ließ sie sie jählings wieder sinken und die zwei dicht voreinander sahen sich erschreckt an und verwirrt – Johanna und Georg Rhoden.

Endlich kam Leben in das Mädchen, sie wandte sich zu mir, und er sagte, ohne die Augen von ihr zu lassen, »Fräulein Maaßen, bitte, stellen Sie mich vor als den künftigen Schwager, falls die junge Dame Fräulein Johanna ist.«

Und da reichte sie ihm die Rechte hin. »Habe ich mich aber erschrocken!« sagte sie kindlich dabei, »ich dachte, Vater käme – und –«

»An mich hatten Sie gar nicht gedacht?« fragte er.

»Nein!« gestand sie ehrlich, »aber nun lassen Sie mich, ich will zu Vater.« Sie lief an ihm vorbei die Stufen hinauf und verschwand im Haus.

Er blieb neben mir stehen und starrte ihr nach. Dann fuhr er auf wie aus einem Traum. »Guten Abend, Fräulein Maaßen!« sagte er, »verzeihen Sie, ich bin eilig!« lüftete den Hut und ging mit raschen Schritten aus dem Garten und den Weg entlang.

Drinnen stand Johanna neben ihrem Vater; er sah sie dann und wann mit scheuen bewundernden Blicken an. Sie strahlte in ihrer jungen gesunden Lieblichkeit, in ihrer kindlichen Wiedersehensfreude. Als sie sich endlich von ihm, dem stillen Mann, wandte, um zu Juste und den Hunden zu gehen und ich mit dem alten Herrn allein war, sagte er: »Sie hat sich herausgemacht, nicht wahr?« Er öffnete eine Kapsel, die er seinem Schreibtisch entnahm, und hielt mir das darin befindliche Bildchen entgegen. »Das ist meine zweite Frau, die ganze Johanna, nicht wahr? Möchte ihr die Schönheit der Mutter mehr Glück bringen, als sie jener brachte!«

Nebenher erfuhr ich denn von Johanna, daß die Pension in Dresden wegen Scharlachfiebers, das bei den Kleineren ausbrach, geschlossen werden mußte, und daß alle Gesunden nach Haus geschickt wurden; aber sie hätte so lange gebettelt, bis man das Telegramm nach hier unterließ. Sie habe sich dann von Frau Hildebrandt abholen lassen, und die hätte sie bis an den Anfang des Waldweges gebracht.

Es war, als ob das Haus plötzlich ein andres Gesicht bekommen habe. Alles lachte, alles freute sich, nur Karoline entsetzte sich fast, als ihr Johanna auf der Treppe entgegensprang und sie küßte. »Karoline! Karoline, ich bin schon da, und deinen Bräutigam habe ich auch schon kennen gelernt!«

Karoline stieß ein unwilliges: »Das ist ja gar nicht möglich!« heraus.

»Aber freilich! Aber ja! Hat er dir das nicht gesagt?«

»Nein, er hat mir nichts gesagt – aber das ist ja auch nicht so wichtig.« Sie hatte plötzlich ganz zusammengekniffene Augen und ging eiligst hinauf in ihr Zimmer.

Ich hatte die kleine Szene, auf dem Flur stehend, miterlebt, und ich bog mich nun über das Geländer und rief Johanna, die stehen geblieben war, um der unfreundlichen Schwester nachzublicken. In den Augen des Kindes lag wieder der alte gequälte Ausdruck.

»Warum sagte er Karoline das nicht, Tante Anna?« fragte sie mich, und schüttelte den Kopf.

»Ach, Kind, freilich wird er es Karoline erzählt haben, aber sie hat das vergessen. Eine Braut, wenige Tage vor der Hochzeit, hat andres im Kopf.«

»O du, Tante Anna,« sagte sie jetzt schon wieder fröhlich, »du mußt mein Kleid sehen, es ist so wundervoll!« Und sie führte mich an ihren Koffer, den man indessen gebracht hatte, und ich mußte ein liebes einfaches Kleidchen bewundern aus spinnwebdünner, weicher rosa Seide. Dann erkundigte sie sich nach allem möglichen, und ich mußte erzählen. Einmal, nach einer nachdenklichen Pause, fragte sie: »Wie findest du Georg Rhoden? Ich finde ihn furchtbar nett und hübsch, Tante Anna – nicht?«

»Ja, er ist ein schöner und guter Mensch,« gab ich zu.

Sie schwieg mit ernstem Gesicht und sah vor sich nieder, »die Karoline –« begann sie dann, sprach den Satz aber nicht zu Ende.

»Was ist's mit Karoline?«

»Oh, ich weiß nicht. Ich will nun mal zu Friedrich und den Hunden, ich habe ihnen allen etwas mitgebracht.«

*

Im Krankenzimmer der Frau Rhoden, an deren Chaiselongue wir, Johanna und ich, am nächsten Tage saßen, trafen das Mädchen und Georg sich wieder. Er saß im Schatten der Vorhänge am Kopfende, und sie nahm gegenüber zu Füßen des Lagers Platz, und die warme Beleuchtung der sinkenden Frühjahrssonne umfloß ihr reizendes Persönchen mit einem warmen Goldton. Sie war sehr zurückhaltend und wechselte des öftern die Farbe, und das kam, weil sie der junge Mann dort drüben wie weltvergessen mit brennenden Augen unverwandt anblickte. Ja, mit brennenden Augen und einem ernsten, traurigen Ausdruck des Gesichts.

Als ich Johanna zum Aufbruch mahnte, wir wollten noch zu Pastors, stand er auch auf und fragte, ob wir nicht zusammen gehen könnten, er wolle jetzt auch nach dem Forsthaus. Und als ich ihm erwiderte, daß wir nicht direkt dorthin gingen, sondern noch einen Besuch im Pfarrhaus zu machen gedächten, begleitete er uns nur bis zur Parktür.

Johanna war augenscheinlich verwirrt, aber sie sprach sich nicht aus, und bei ihren lieben Pastors wurde sie bald wieder das vergnügte Kind. Schließlich bettelte sie noch, ob sie Abends bei Onkel und Tante Pastor bleiben dürfe wie in alten Zeiten? Und in der Idee, daß Rhoden vielleicht das selbstvergessene Anstarren fortsetzen könne daheim, und es womöglich von Karoline bemerkt werde, ließ ich sie gern dort mit der Abmachung, daß Friedrich sie um halb zehn Uhr holen solle.

Mit schwerem, vorahnenden Herzen ging ich heim; ich schalt mich töricht und schwarzseherisch, aber mein Angstgefühl wollte nicht schweigen, ich konnte das Benehmen Georgs nicht verstehen. Es war unrecht von ihm, sich dem Eindruck, den Johanna offenbar auf ihn gemacht hatte, so hinzugeben – vier Tage vor seiner Hochzeit! Ein Glück, daß sie noch ein harmloses Kind war!

Im Oberförsterhaus erregte Johannas Fehlen eine Enttäuschung, Rhoden verhielt sich schweigend, und doch kam es mir vor als sei er heiterer wie seit langem, oder – war sein Lachen forciert? Vielleicht auch war seine Stimmung so gut, weil der Oberförster ihm heute mitgeteilt hatte, daß er nun sein Abschiedsgesuch einreichen wolle und zum Juli hoffe, in das Klein-Züllaer Herrenhaus übersiedeln zu können, um Georg mit Rat und Tat beizustehen.

Karoline, die sich emsig mit dem Schreiben der Tischkarten beschäftigte und eben den Namen ihrer Schwester auf ein mit Myrtenzweigen bedrucktes Kärtchen gesetzt hatte, fragte jetzt plötzlich innehaltend: »Auf meine Tischkarte muß ich doch wohl schon schreiben, Karoline Rhoden, nicht wahr?«

Aus dem Gesicht des jungen Mannes wich plötzlich alle Farbe, er beugte sich vor und streifte die Asche seiner Zigarre ab. »Ja,« sagte er fast heiser, »wenn du nicht vorziehst, einfach ›Braut‹ zu schreiben.«

»Du bist doch dann schon mein Mann?« beharrte sie.

»Ja, das bin ich dann schon!« Es klang merkwürdig farblos, er griff nach seinem Glas und stürzte den Rest des Moselweins hinunter.

Der Oberförster gähnte und erhob sich. »Ich möchte etwas Vorrat schlafen,« erklärte er. Und auch Rhoden erhob sich rasch. »Ich habe noch einen Haufen verwirrter Wirtschaftsberechnungen durchzusehen,« sagte er, »entschuldige, Karoline, in den nächsten Tagen würde ich schwerlich Zeit dazu finden.«

Sie lächelte und begleitete ihn bis zur Tür und kam dann wieder zurück. Zehn Minuten später trat Johanna ein, bleich, mit fliegendem Atem, ein sonderbar irres Lächeln um den Mund. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, und ihre Augen hefteten sich mit angstvoll forschendem Ausdruck auf ihre Schwester, als wollten sie diese durchdringen, als habe sie Karoline nie gesehen.

»Nun, Johanna, bist du müde?« fragte ich.

»Ich bin nur so gelaufen!«

»Warum? Friedrich war doch bei dir?«

»Ja, Friedrich war bei mir –«

»War's nett bei Pastors?«

»O ja, Tante Brinkmann läßt grüßen.«

Wir saßen noch ein Weilchen, und wieder dies Starren auf einen Fleck, dann gingen wir hinauf und suchten den Schlaf, ich aber fand ihn nicht.

Und mitten in der Nacht kam Johanna aus ihrem Stübchen und kniete vor meinem Bett nieder und begann bitterlich zu weinen.

»Aber, Herzblatt, was hast du denn?«

Sie lachte wieder, wie wenn Kinder beschämt unter dem Weinen über sich selbst lachen. »Nichts habe ich. Das ist's ja eben,« sagte sie. »Ich weiß nicht, warum, liebe, liebe Tante Anna – halte mich nicht für überspannt, ich muß weinen!« Sie schluchzte noch ein Weilchen, beruhigte sich aber dann und ging wieder schlafen.

Als ich andern Tages etwas suchte in ihrer Kommode, fiel mir, offenbar ganz frisch in rosa Seidenpapier gewickelt, das zerbrochene Pfefferkuchenherzchen in die Hände, das ihr Rhoden damals schickte mit seinem törichten Verschen:

»Ich hatte dich noch kaum gesehen,
Da war's schon um mein Herz geschehen!«

Ja, in rosa Seidenpapier war es gewickelt und sorglich in ein bildgeschmücktes Pappkästchen gelegt, und mir wurde auf einmal das Herz wieder schwer ob dieser kleinen, an sich so harmlosen Entdeckung. Mit zitternden Fingern legte ich das Kästchen wieder unter die Taschentücher. –

Am Polterabend hatten wir das Haus schon voller Gäste, zum Teil bis jetzt ganz unbekannte Verwandtschaft von Karolinens Mutter her, und auch ein paar Vettern und Basen von den Nordmanns. Die Herren waren in Klein-Zülla einquartiert und auch zwei Ehepaare, ein Arzt und ein Forstassessor mit ihren Frauen. Nur die jungen Mädchen behielten wir im Schutz des Hauses, und das war eine übermütige Gesellschaft, den ganzen Tag lachte und kicherte es im Garten und Haus, und beim Brautkuchen stieg die Lust aufs höchste.

Justchen hatte einen Achatring, der von den jungen Damen beim Kaufmann Krüger feierlichst eingekauft war, in eine große Torte gebacken, darauf sehr zierlich mit weißem Zuckerguß Abteilungen gemacht, so viel, wie der Brautjungfern waren. Am Polterabend, während der Kaffeestunde, wurde in dem Kreis von lauter jungen, heiratslustigen, hübschen, lachenden Mädchen feierlich das Backwerk von Karoline zerlegt, und jede von ihnen stopfte eifrig ein Stücklein Torte in den Mund, so daß großes, ein paar Augenblicke dauerndes Schweigen entstand. Verschiedene junge Frauen saßen zwischen ihnen, auch Rhoden und sein Freund Fritz Breitenfeld, der in seiner kleidsamen Kürassieruniform entschieden ein glänzender Punkt in diesem Kreis war.

Auf einmal rief Johanna: »Ich habe ihn!«

»Oh, du? Johanna hat den Ring! Gratuliere! Hättest uns den Vorrang lassen sollen, Kiekindiewelt!« So lachten und schrien die Mädchen durcheinander.

Johanna aber legte den Ring mit ernsthaftem Gesicht vor Karoline auf den Tisch. »Da hast du ihn wieder, ich mag ihn nicht!«

Neues Lachen und Necken.

»Ich heirate nie!« erklärte das schöne Mädel ernsthaft, und setzte sich außerhalb des Kreises in den großen Lehnstuhl hinter dem Ofen, nahm ihren Lieblingshund auf den Schoß und drückte das kluge Köpfchen des Tieres an ihre Wange.

Georg Rhoden stand mit seinem Freund Breitenfeld im halblauten Gespräch unmittelbar an dem Sofa, wo ich saß. Ich hätte mir die Ohren verstopfen müssen, um nicht zu hören, was sie sprachen: »Verdammt schlechte Zeiten sind's,« sagte der Kürassier. »Na, du bist jetzt im Begriff, deine Sorgen loszuwerden, du schwebst ja von jetzt an wohl über dem allen.«

»Ich? Ja, ja!« murmelte Rhoden.

»Ich bin da anders 'reingefallen,« sagte der junge Offizier.

»Wieso?« fragte sein Freund.

»Hab' mich mit einem blutarmen Ding verlobt. Wahnsinn – was?« Der stattliche junge Mann lachte über das ganze Gesicht vor Seligkeit.

»Da gratulier' ich dir, aber herzlich! Ich hatte keine Ahnung – –«

»Wird erst nächste Woche veröffentlicht. Mein Alter ist vorläufig noch höllisch kratzbürstig darüber, macht aber nichts. – Ich soll nun quittieren und auf der Klitsche tätig sein; der Alte sagt: in Scheibendorf freßt ihr euch so mit durch; eine kostspielige Offiziersmenage mit teurer Garnison und bei dem vornehmen Regiment wirft's nicht ab, na – ist mir auch recht!«

»Wer ist sie denn, darf man's wissen?«

»Versteht sich! Die Jüngste vom Obersten von Dettenberg, noch vier ältere Schwestern da; der Alte hat nur seine Pension, eine hat 'ne Stiftsstelle, eine hat 's Lehrerinnenexamen gemacht und die dritte will Diakonissin werden. Aber –«

»Sie ist reizend, gelt?« fragte Georg Rhoden mit einem müden Lächeln.

»Reizend? Ich sage dir, Jörg, wie der leibhaftige Sonntag ist sie! Ach du, das kann man brauchen in dem Werkeltagsdasein eines Landwirts. Aber, sieh – da hast du sie!« Er hatte eine Photographie aus der Brieftasche genommen und Rhoden gegeben. »Blond, braune Augen,« erklärte er dabei. »Übrigens, alter Sohn, wohin macht ihr denn die übliche Hochzeitsreise?«

»Oh, nicht weit – Dresden,« antwortete er, »ich habe wenig Zeit, und Mutter macht mir ernste Sorgen! Ach, und du hast überhaupt keine Ahnung, Fritz, wie es aussieht bei uns,« setzte Rhoden hinzu, »Mutter hätte mich längst rufen sollen.«

»Deine Mutter? Ja, sie hätte dich eher rufen sollen!«

Georg antwortete nicht, seine Augen suchten Karoline, er sah sie an, als prüfte er, ob diese wohl den Sonntag in seinem Leben bedeuten werde? Aber sie stand da neben der großen Bowle mit ihrem kalten ebenmäßigen Gesichtsausdruck, füllte die Gläser und sah nach, ob auch in jedem Glas ein Stücklein Ananas schwimme, und wenn es zwei waren, tat sie eins wieder heraus mit dem Teelöffel; es war in ihr nichts von der freudigen Erregtheit einer Braut.

Ich folgte seinen Blicken mit meinen Augen: Ja, Karoline glich dem Alltag, dem nüchternen, braven, hochgelobten Alltag; weder Orgelton noch Glockenklang, weder Waldesrauschen noch Sonnenschein, weder Lachen noch Weinen kannte sie, sie war nur Prosa, die schlichte, ernste Prosa. Johanna mit ihren Märchenaugen, die hätte wohl eher das Sonntagskind sein können für einen, der sie liebte.

Ich sah mich nach ihr um, aber ihr Platz war leer. Friedrich, der jetzt die Bowle präsentierte, sagte auf mein Befragen: »Fräulein Johannchen, die ist vorhin in den Garten gelaufen mit die beiden Dackel, wie ein Gör, Fräulein, zu kinderig is se noch und doch all so groß.«

Aber auch Karoline erblickte ich nicht als ich hineinlugte, und als ich dann in der Küche draußen Justchen befragte, erfuhr ich, daß Karoline zur Ruhe gegangen sei, um morgen nicht vertanzt auszusehen, und daß sie, Justchen, ihr das geraten habe, denn sie sähe nach Tanzen allemal aus wie Quarkkäse, wo sie so schon immer blaß wäre, und dann gar ein weißes Kleid dazu und das helle Haar, »nee – und das weiß se auch.«

So beruhigte ich mich über die Abwesenheit der beiden.

Als ich die Zimmer wieder betrat, war dort ein Walzer in vollem Gang. Der Kürassierleutnant und Georg Rhoden saßen dicht an der Veranda, um den Tanzenden nicht im Wege zu sein, und als ersterer sich nach einem Weilchen bei mir empfahl, um heimzufahren, begleitete ihn Jörg hinaus.

Auch er kam nicht wieder. Mir fiel das weiter nicht auf, ich hatte auch genug zu tun, um die Honneurs bei der jungen Gesellschaft zu machen, so daß ich auch Johanna beinah vergaß.

Ich hatte Mühe gehabt, das tanzlustige Völkchen ins Bett zu scheuchen, und ordnete dann mit Hilfe der alten Juste und ein paar Frauen, die für diese Tage aus dem Dorf zugezogen waren, die Zimmer wieder. Es war ihnen möglichst lautlose Tätigkeit empfohlen, und sie huschten auch wirklich umher wie die Schatten. Ich hatte das eiligst gewaschene Silberzeug wieder verschlossen, und da ich noch Sehnsucht nach frischer Luft trug, trat ich aus der Verandatür in den Garten. Der Mond, der spät aufgegangen war, erleuchtete alles tageshell, nur an dem hinteren Teil des Parkes unter den Tannen lag dichter schwarzer, samtweicher Schatten.

Eine ganze Weile verharrte ich dort, nichts rührte sich, nur einmal ein Mädchenkichern aus einer der Logierstuben. Die Luft war weich und duftend und tat mir unendlich wohl; im Dorf hörte ich es zwölf schlagen.

Nun wird's ja wohl Zeit, dachte ich, und zugleich fiel mir ein, Johanna wird doch zu Haus sein? Unwillkürlich trat ich ein paar Schritte vor, aber ehe ich noch die paar Stufen hinunter war, schossen die Dackel quer über den großen Rasenplatz an mir vorüber in das Haus, und hinter ihnen kam eine lichte Gestalt – Johanna. Sie ging sehr langsam, den Kopf gesenkt; sie erschrak heftig, als sie mich sah und wandte ihr Gesicht zur Seite.

»Aber, Johanna, ich bitte dich, wo kommst du her? Du wirst doch nicht um Mitternacht allein im Walde gewesen sein?«

»Nein, Tante Anna, ich war auch nicht, ich habe da unten in der Laube gesessen,« antwortete sie. Und nun sah ich, daß sie geweint hatte.

Ich griff ihr leichtes weißes Gewand an, es war taufeucht, und sie schauerte jetzt zusammen. »Es ist so kalt,« sagte sie, »in der Laube merkte man es nicht. Gehen wir jetzt zu Bett?«

»Natürlich! Es ist ja auch erst April, Johanna. Mach nur rasch, ich komme gleich,« sagte ich nur; ich wollte sie nicht fragen, warum sie weinte.

Sie lief rasch, als eile sie von mir fortzukommen, ins Haus, durch den Saal hindurch, und ich hörte, wie sie die Tür oben öffnete und zumachte. Im Begriff die Läden zu schließen, sah ich plötzlich auf dem Waldweg, der dicht an unserm Gartenzaun entlang führte, eine Männergestalt rasch daherschreiten, in dem ungewissen Mondlicht glaubte ich deutlich Georg Rhoden zu erkennen, und ich erschrak. Aber – das war ja doch nicht möglich! Der mußte längst daheim sein! Es war vermutlich irgend einer unserer jungen Gäste, der eine Mondscheinpromenade machte. Und er ging auch nicht im Garten selbst, sondern draußen auf dem Waldweg. Aber trotzdem trieb es mich vorwärts, ich schritt den Pfad entlang, den vorhin Johanna gekommen war, und der an der Buchenlaube vorüber zu dem Pförtchen führt, das direkt in den Wald mündet; ich wollte sehen, ob es unverschlossen sei.

Dann schämte ich mich meines vagen Verdachtes, und als ich das Türchen verschlossen fand wie immer, atmete ich auf. Rasch wandte ich mich zurück, da fiel mein Blick auf etwas Schimmerndes, das am Boden lag, fast mechanisch bückte ich mich und hielt gleich darauf eine Herrenkrawattennadel aus Brillanten in der Hand, und diese Nadel hatte ich, das wußte ich bestimmt, denn mir war die Form, eine französische Lilie, aufgefallen, noch vorhin an der hellen Krawatte Georg Rhodens gesehen, als er mit dem Breitenfeld in meiner Nähe stand.

Ich fühlte etwas wie Schwindel und ein rasches, starkes Herzklopfen. Aber nein! sagte ich dann zu mir, es ist ja unmöglich! Meine Johanna, meine kindliche, süße Johanna und – morgen ist die Hochzeit! Ich ließ die Nadel im Mondlicht glitzern und lachte mich aus, indem ich wieder dem Haus zuging, und doch kam mir das Lachen nicht vom Herzen. Seine Blicke fielen mir wieder ein, diese brennenden, bewundernden Blicke – –

Ich wollte, es wäre erst morgen abend, dachte ich, indem ich die Nadel in mein Kleid heftete und die Läden schloß, meine Nerven sind wild geworden durch den Trubel hier. Ich schlich mich durch das jetzt völlig stille Haus die Treppe empor in meine Stube und begann hastig meine Nachttoilette. Es war alles wie sonst, die Tür zu Johannas Zimmer stand geöffnet, es brannte kein Licht drinnen, nur der Mondschein fiel bleich und breit durch das Fenster, das weit geöffnet stand.

»Johanna?« fragte ich, und trat leise über die Schwelle. Es kam keine Antwort, und ich nahm an, daß sie schon schlafe oder doch im Einschlummern sei und nicht mehr gestört sein wollte. Leise trat ich zurück. Meinen Fund schloß ich in den Schrank, dann legte ich mich auch nieder.

Ich mochte kaum eine Stunde geschlafen haben, da pochte es an meine Tür und Mamsell Juste rief in ihrem breitesten Magdeburgisch: »Fräulein, machen Sie doch man bloß auf. Sie sollen auf der Stelle mit Fräulein Karoline nach Groß-Zülla ...«

Ich warf rasch ein paar Kleidungsstücke über und öffnete. Justchen schob sich herein, sie war nur mit Nachtjacke und Unterrock bekleidet, und die Hand hielt sie schützend vor das flackernde Stearinlicht.

»Na, nu sagen Se man bloß, Fräulein,« begann sie flüsternd, »nee, und das Fräulein Karoline ist so böse, aber wer kann denn was davor? Wenn einer sterben soll, da stirbt er, und wenn zehnmal Hochzeit is.«

»Ja, um Gottes willen, was denn?« rief ich entsetzt.

»Jott! Die olle Jnädige in Groß-Zülla! Un die Breitern, ihre Jungfer, is da un soll die Braut holen, die Frau Amtsrätin will sie partout noch als Frau von ihrem Sohn sehen, ehe sie die Augen zutut, und der olle Friedrich weckt den Pastor schon. Sie sollen Fräulein Karoline begleiten, machen Sie bald, kann ich Sie denn was helfen?«

Die alte Seele setzte das Licht hin und suchte nach meinen Stiefeln. »Die Jungfer hilft dem Fräulein Karoline schon,« flüsterte sie mit ihrer knarrigen Stimme – dann schrie sie auf: »Jroßer Jott, habe ich mich verschrocken!«

Ich folgte der Richtung ihrer Blicke – da stand Johanna, noch in ihrem weißen feuchten Kleid, und hielt sich mit beiden Händen am Türpfosten; zum Erbarmen sah sie aus, ihre Lippen wollten sprechen, aber sie konnten es nicht.

»Geh doch ins Bett, Kind!« fuhr ich sie an, »warum bist du noch im vollen Anzug? Flink, krieche in die Federn, du kannst uns doch nicht helfen!«

»Karoline soll – Karoline will ...?« stotterte sie.

»Ja, ihre Schwiegermutter liegt im Sterben.«

»Georg Rhodens Mutter stirbt? Jetzt? In dieser Nacht?« Sie stieß es fassungslos hervor.

Das rundliche Gesicht von Lottchen Breiter lugte jetzt herein. »Bitte, Fräulein, wir sind so weit!« rief sie. »Fräulein Braut gehen schon die Treppe hinunter.«

Johanna stürzte auf das alte Mädchen und hielt es am Arm fest. »Wie ist's gekommen, warum stirbt sie?«

»Warum? I, du meine Güte, Fräulein, da müssen Sie unsern Herrgott fragen und den jungen Herrn, der is noch zu ihr gegangen, wie er nach Hause gekommen ist vorhin, und dann haben sie auf einmal sehr heftig und laut miteinander geredet, und Friedrich und ich haben dagestanden und gezittert vor der Tür. Und da hat Herr Rhoden plötzlich die Tür aufgerissen und gerufen, es müßte sofort der Wagen angespannt werden, wir sollten den Herrn Pastor und die Braut holen, und zuallererst den Herrn Doktor – seine Mutter stürbe. Rein außer sich war er, als ob er den Kopf verloren hätte. Und wie ich sie dann sah, da wußte ich, daß das Eile hat, blaurot war sie und sagte immer nur zwei Worte vor sich hin: ›Bitte bald! Bitte, bald!‹ Nein, wäre er doch nur nicht mehr zu ihr gegangen, unser junger Herr, was muß er die kranke Frau nur so aufregen, er hat es doch sonst nie getan und ist abends noch zu ihr gegangen.«

Johanna hatte sich schwer gegen den alten Sekretär gelehnt, neben dem sie gerade stand, die Arme hingen ihr schlaff hernieder, aber sie sagte kein Wort mehr und verfolgte nur mit den Augen, wie ich Mantel und Wollschal nahm, um der Jungfer zu folgen.

»Bitte, Kind, gehe, lege dich nieder,« bat ich nochmals, »versprich es mir.« Ich strich ihr die Wange und küßte sie. »Also, du bist vernünftig, Johanna!«

»Ja!« sagte sie heiser. »Geh nur!«

Im Wagen drunten wartete Karoline schon. Gleich darauf jagten wir die Straße hinunter und ins Dorf hinein.

Es war eine kühle Aprilnacht, die Häuser lagen schweigend und finster da, nur in der Pfarre brannte die Lampe in der Studierstube, die straßenseitig lag. Wir bogen rasch in das weitgeöffnete Hoftor ein und hielten vor dem Portal des Groß-Züllaer Herrenhauses. Die große Tür stand weit geöffnet, die mächtige dreiflammige Laterne brannte, und der Diener stürzte heran, um uns beim Aussteigen behilflich zu sein.

»Sie sind schon alle da, der Herr Doktor und der Herr Pastor und auch der Herr Ortsschulze.«

Die Treppe herunter kam Georg Rhoden mit einem sonderbar stillen Gesicht; er bot Karoline den Arm und führte sie hinauf, ich hörte ihn sprechen: »Entschuldige den Überfall, aber Mutter liegt im Sterben, und, wie sie sagt, kann ich ihr die letzte Stunde sanft machen, wenn sie uns vereinigt zurückläßt.«

Karoline antwortete keine Silbe, ihr Gesicht hatte einen gekränkten, eigenwilligen Ausdruck wie das eines Kindes, dem sein Spiel gestört wurde.

Im Wohnzimmer harrte bereits der Standesbeamte des Ortes, Schulze Wiederholz, um die bürgerliche Trauung zu vollziehen. Als Mann und Frau vor dem Gesetz traten die beiden dann in das Schlafzimmer der Mutter.

Die Sterbende wandte mit Hilfe des Arztes den Eintretenden den Kopf zu und machte eine Bewegung mit der Hand nach Karoline hin; das Mädchen kniete vor dem Bett nieder, legte den Kopf auf die Decke der Kranken und begann zu schluchzen, ein leises, nörgelndes Weinen, das in diesem Augenblick fast peinlich wirkte. Georg Rhoden kniete neben ihr und hielt die Hand der Mutter. Der Geistliche trat näher.

»Fasse dich, liebe Karoline,« bat er, und im nächsten Augenblick sprach er bereits bewegte Worte über die Bedeutung dieser Stunde, über den Schmerz, der diesem Bund eine besondere Weihe gäbe, und ihnen beiden, die sich von jetzt an fürs Leben angehören würden, eine Erinnerung sein werde, größer und nachhaltiger, als wenn sie im hellsten Sonnenschein, in festlichster Versammlung ihr »Ja!« gesprochen hätten.

Ich weiß noch, daß das schöne Worte waren. Dann kam die Trauformel, der Ringwechsel und der Segen. Der Sohn küßte, sich erhebend, der Mutter die Hand, dann führte er Karoline ins Nebenzimmer. Der Arzt und die Breitern blieben bei der Kranken zurück, die in eine Art Lethargie versunken schien nach der Zeremonie.

In dem behaglichen Wohnzimmer der Amtsrätin saßen wir dann alle wie betäubt; die Mamsell schickte starken, schwarzen Kaffee herauf, den jeder begierig trank, das leise Klappern der Tassen war der einzige hörbare Laut in dem Gemach. Pastor Brinkmann stand am offenen Fenster, durch das mit der Morgenkühle der Duft sprießender Blätter hereindrang, und plötzlich begann ein Star zu singen in hellen jauchzenden Lauten.

Karoline starrte mit gerunzelten Brauen vor sich hin, der dicke Ortsschulze nahm sein Buch unter den Arm und empfahl sich mit der Bemerkung, er habe nun wohl nichts mehr zu tun hier. Georg Rhoden begleitete ihn bis zur Tür, horchte an der Schlafstube seiner Mutter und stand dann unbewegt hinter Karolinens Sessel. Nach einem Weilchen winkte die Jungfer dem jungen Paar, aber Karoline weigerte sich.

»Nein, nein, ich bleibe hier, ich kann nicht,« flüsterte sie, »ich kann keinen Menschen sterben sehen.«

Ohne ein Wort zu verlieren, schritt der junge Ehemann in das Sterbezimmer und ließ uns in banger Erwartung zurück. Der Pastor war vom Fenster zurückgekommen, er hatte einen verwunderten Blick auf Karoline geworfen, die im schwarzseidenen Kleid wie ein eigensinniges Kind im Stuhl hockte, und setzte sich neben mich. Wiederum kein Laut, kein Ton. Plötzlich sprang der kleine Hund der Frau Amtsrat mit einem wimmernden Laut aus seinem Körbchen, sich unter einem Sessel verbergend, und im selbigen Augenblick trat der Arzt aus dem Zimmer und sagte: »Es ist vorüber, sie ist erlöst.«

Da ging der Pfarrer auf Karoline zu, nahm sie an der Hand und führte sie in das Sterbezimmer. »Komm an deinen Platz, liebes Kind,« sagte er bestimmt, »du gehörst in dieser Stunde neben deinen Mann.«

Willenlos ließ sie sich von ihm über die Schwelle geleiten. Nach einer Weile kehrte sie zurück.

»Bitte, Fräulein Maaßen, wir wollen jetzt nach Hause – wir können hier nichts mehr helfen.«

Ich sah sie einen Augenblick an, überlegend, was ich an ihrer Stelle getan haben würde, und dann dachte ich, sie hat ja vielleicht recht, daß sie erst nach dem Begräbnis zu ihrem Mann kommen will; der Schmerz muß sein Recht haben, sein ungestörtes Recht. Und doch – wer hätte besser trösten können als sie, die eben gelobte, in Not und Tod, in Glück und Leid bei ihm zu stehen? Hatte sie ein Recht, ihn in dieser schweren Stunde zu verlassen?

»Bitte, machen Sie doch ein bißchen rasch!« klang ihre harte Stimme.

»Wie Sie denken,« antwortete ich und folgte ihr nach kurzen Abschiedsworten an den Pastor hinunter zum Wagen.

Schweigend fuhren wir durch den hellen Morgen. Als wir am Forsthaus anlangten, nahm eben unser Kutscher die Girlande von der Haustür, die der fröhlichen Hochzeit zu Ehren dort prangte. Ein fast unmerkliches Zucken hob Karolinens Schultern. Sie ging eilig in ihrem raschelnden Kleid durch das Haus und die Treppe hinauf, ich folgte ihr, müde und zerschlagen wie lange nicht, und suchte mein Zimmer auf.

Dort saß Johanna am Fenster in einem Morgenkleid und wartete, um ihre Stirn hatte sie ein Tuch gebunden.

»Was ist's mit dir, Kind?« fragte ich.

»O nichts! Mir wurde, als ihr fort waret, recht schlecht und ich fiel um, das ist alles. – Wie steht's denn mit der alten Dame, Tante?«

»Sie ist tot, Johanna, und Georg Rhoden und Karoline sind Mann und Frau.«

Sie antwortete nicht. Dann ging sie langsam zu ihrer Tür hinüber; an der Schwelle drehte sie sich noch einmal um: »Kann ich dir etwas helfen, Tante Anna?«

»Danke, Kind, lege dich nur.«

Es war jetzt vier Uhr morgens, ein strahlend schöner Morgen. Ich schloß die Läden in ihrem Zimmer und deckte Johanna zu. Dann suchte auch ich ein Stündchen Ruhe.

Um sechs Uhr war ich schon wieder munter, und als ich bei Mamsell Justchen flüsternd in der Küche stand, beratend, wie nun alles werden würde, wie wir unseren Gästen, die alle noch ahnungslos schliefen, und vor allem dem kränkelnden Oberförster die Mitteilung von dem Geschehnis machen könnten, kam Johanna die Stiege hinunter, blaß, das hübsche Kindergesicht um Jahre ernster.

»Ich kann nicht schlafen, Tante, ich möchte einmal durch den Garten gehen,« sagte sie und hielt die Hand an die Stirn gepreßt. Sie trat neben mich an das Küchenfenster, und ihre Blicke flogen hinaus über den taufunkelnden Rasenstreifen und den Apfelbaum, der noch kahl dastand mit tausend dicken Knospen. Und plötzlich begann sie zu weinen, ein bitterliches, hilfloses Weinen, und das Kind schlug die Arme um meinen Hals und preßte sich an mich, als wollte sie vor einem ungeheuren Leid bei mir Schutz finden. In krampfhaften Stößen hob sich ihre Brust, und ich nahm sie und führte sie, fast tragend, die Treppe wieder empor in ihr Stübchen und beruhigte sie, soweit ich vermochte. Unversehens schlief sie ein, mitten in ihrem Weinen, den tiefen Schlaf, den nur die Jugend findet, wenn die Nerven bis ins Innerste erschüttert sind, und ich ging dem schweren Amt nach, dem Oberförster und den Gästen das nächtige Ereignis mitzuteilen.

Nach ein paar Wochen floß unser Leben wieder still und ebenmäßig dahin. In den Gärten blühte der Lenz in den Juni hinein mit aller seiner Pracht. In den Gebüschen schlugen, wenn es dunkel wurde, die Nachtigallen überlaut.

Johanna war sehr still, und nachts konnte sie nicht schlafen. Wenn wir spazieren gingen, hing sie sich schwer an meinen Arm. Doktor Zänker sagte, es sei Blutarmut, der Frühling sei es. Sie lächelte und schluckte geduldig ihre Eisentropfen.

Und Karoline kam eines Tages, ungefähr vier Wochen nach der Hochzeit, wir hatten sie seitdem nicht gesehen, ins Forsthaus, denn erst acht Tage nach dem Sterben ihrer Schwiegermutter hatte der junge Ehemann sie in sein Haus geholt – und sagte, sie habe sich ja auf viel Arbeit gefaßt gemacht, aber was sie zu tun gefunden habe, übersteige doch alle Begriffe; ein furchtbarer Schlendrian sei in der Haushaltung auf Groß-Zülla eingerissen, ein ganz unverantwortlicher Leichtsinn. Zum Glück ließe Georg sie in der Wirtschaft machen, wie sie wolle, er habe ja auch mit der Gutsverwaltung sehr viel zu tun. Böhme, das war der alte Inspektor, bleibe nur noch bis zum ersten Juli, dann werde er in den Ruhestand treten mit vollem Gehalt, das hätte die verstorbene Schwiegermutter so großartig bestimmt. Na, überhaupt wenn sie so fortmachen wollten, dann würde ihr, Karolinens, Geld auch nicht lange reichen. Solche grenzenlose Verschwendung! Vier Personen von der Dienerschaft habe sie gleich hinausgesteckt, die Breitern zuerst, denn sie brauche keine Jungfer, die perfekte Köchin, den Reitknecht und das zweite Stubenmädchen. Als ob die Mamsell nicht kochen könne, wenn sie mithelfe? Nein, fort damit, trotz aller langen Gesichter!

Den oberen Stock habe sie sofort zuschließen lassen, die Möbel seien vorläufig eingemottet und die Nippsachen und sonstigen Schnurpfeifereien verhängt oder in Schränke gestellt. Wer denn überall den Staub wischen solle? Im Parterre wäre wahrhaftig übergenug Platz mit Gartensaal, Herren- und Speisezimmer und so einer Art Salon, und für sich hätte sie eine hofseitig gelegene einfenstrige Stube neben der Schrankkammer eingerichtet, damit sie sehen könne, was auf dem Hof geschehe. Außerdem ständen zwei Wagenpferde und ein Coupé zum Verkauf, denn für Georg und sie genügten zwei Pferde, und er habe ja dann noch sein Reitpferd, und er könne außerdem ja radeln. Sie wolle nun heute nur mal sehen, wie es hier ginge, und ihr Mann werde sie nachher abholen. Übermorgen reisten sie nämlich nach Berlin, aber es sei nicht etwa die rückständige Hochzeitsreise, sondern in Geschäften wegen Ankaufs einer Dreschmaschine und eines Dampfpfluges.

Ich sah sie mir an und dachte: Wie wird der Mann das ertragen, er, der alles Schöne so vergötterte?

Karoline erzählte uns das alles beim Kaffeetisch unter dem Lindenbaum im Garten, sie sah dabei sehr befriedigt aus, ordentlich einen Schimmer von roten Wangen hatte sie, die ganze derbe Arbeitsfreudigkeit ihrer bäuerlichen Vorfahren sprach aus ihr. Sie zog auch jetzt eine Handarbeit hervor, die sie im Pompadour mitgenommen hatte, einen Strickstrumpf von grobfadiger, grauer Baumwolle.

»Er hat nur solche spinnewebfeinen Dinger,« sagte sie, »nach zwei Tagen ist die Hacke durch; auf dem Lande geht das nicht, die seidenen muß er sich abgewöhnen.«

Sie saß bis fünf Uhr und wartete auf ihn, dann stand sie auf. »Na, nun kommt er wohl nicht mehr,« meinte sie, »er wird sich verspätet haben mit dem Förster und mit Böhme, sie wollten die Tannenschonungen besichtigen. Ich riet ihm, er solle in Berlin Christbaumlieferungen abschließen, wir wollen uns darnach umtun, ich weiß doch, was das abwirft. Na, denn lebt wohl, und ja, Vater, was ich sagen wollte, Rhoden läßt fragen, ob ihr nicht alle vierzehn Tage euern Sonntagsbraten bei uns essen wolltet? Erst meinte er, alle Sonntag, aber das wollte ich nicht, man muß nicht übertreiben – nicht?«

Der Oberförster nickte. »Danke schön! O gewiß, recht gern!«

»Aber man einfach, Vater, Suppe und Braten.«

»Ja, bin ich denn ein Schlemmer, Karoline?«

»O nein, aber die Menschen, weißt du, die denken alle, weil's Groß-Zülla ist. – Der Justizrat Seeben machte nämlich so'n sonderbares Gesicht, als es weiter nichts gab als Tauben mit Spargel und Mosel dazu. Mamsell sagte, die Tauben wären bei Frau Amtsrat immer so als ein Nebengang gegeben, und Sekt hätte der alte Herr auch immer gekriegt. Das müssen sich die Leute eben abgewöhnen – Basta!«

»Schön, schön!« sagte der alte Herr mit einem ironischen Lächeln. »Bist wie deine Mutter, Karoline, ist ja auch ganz richtig im Grunde.«

Sie ging, und Johanna und ich begleiteten sie zur Gartentür.

Johanna, die fast kein Wort gesprochen hatte während Karolinens Anwesenheit, sagte auch jetzt noch nichts. Sie setzte sich auf ihren Platz unter der Linde und griff zu ihrem Buch. Der Oberförster hatte sein Zimmer aufgesucht während unserer Abwesenheit, und ich ging zu Juste in die Küche, um mit ihr über irgend etwas Häusliches zu reden. Als ich nach einem Weilchen wieder in den Garten trat, saß Georg Rhoden Johanna gegenüber.

»Karoline ist schon fort, höre ich,« sagte er, mir die Hand gebend, »aber ich konnte nicht pünktlicher sein, mit dem besten Willen nicht. Und nun, liebe Johanna, geben Sie mir wohl eine Tasse Kaffee ab, ich bin schrecklich durstig,« bat er in harmloser Behaglichkeit, die gleichwohl etwas gemacht erschien.

Sie erhob sich und ging rasch in das Haus mit dem Bemerken, eine frische Tasse holen zu wollen.

Er hatte den Hut abgenommen; sein junges, schönes Gesicht war sonnenverbrannt, er mochte wohl die ganzen Tage auf den Feldern gewesen sein. Als er Johannas lichte Gestalt im Haus verschwinden sah, sagte er zu mir gewandt mit demselben forciert lustigen Ton: »Gott sei gepriesen, der die Arbeit erschaffen hat, Fräulein Maaßen; über dem Kopf muß sie einem zusammenschlagen, dann kann man's ja allenfalls aushalten auf dieser plundrigen Welt.«

»Ja,« sagte ich, »aber es muß ein Sonntag dazwischen sein.«

»Ach! Ich würde ihn nicht vermissen,« entgegnete er.

»Aber wir kommen doch zuweilen,« scherzte ich, »denn Sie haben uns durch Karoline einladen lassen, jeden zweiten Sonntag bei Ihnen zu essen, und Sie sind gar nicht galant, wenn Sie andeuten, daß Sie die Sonntage, und somit auch uns, entbehren können.«

»Oh, selbstverständlich möchte ich das nicht – so war es nicht gemeint. Jeden zweiten Sonntag – alle vierzehn Tage wünscht Karoline Sie?« fragte er dann und lachte kurz auf. »Da hat man wenigstens genügend Zeit zur Vorfreude, die bekanntlich ja immer das Beste sein soll.«

Es klang ein leiser Spott aus seinen Worten, dann wandte er sich zu Johanna, die eben mit der Tasse zurückkehrte. »So viel Mühe mache ich Ihnen, Johanna,« sagte er dankbar.

Sie lächelte ein wenig, goß den Kaffee ein und nahm schweigend ihre Handarbeit wieder auf, sich neben mich setzend. Eine lange Pause entstand.

»Denke dir, Kind,« sagte ich endlich, um nur etwas zu sprechen, »Herr Rhoden ist ein ebensolcher Tätigkeitsfanatiker wie seine Frau; eben sang er mir das Loblied der Arbeit in den höchsten Tönen.«

»Ja,« antwortete Johanna, »da stimme ich mit ein, so viel Arbeit, daß man nicht denken, keine Minute Zeit für sich haben kann, immer nur vorwärts, bis abends der Schlaf kommt, bleiern und schwer – das wäre das einzig Richtige. Aber leider mangelt es für mich an dieser Gottesgabe; bei der Beschäftigung, die ich habe, feiern die Gedanken nicht, und müde macht sie auch nicht.

»Warte doch die Zeit ab, Kind, du bist doch noch so jung! Auch für dich kommt die Arbeit, des Tages Last und Hitze,« tröstete ich.

»Wie meinst du das, Tante Anna?«

»Nun, wenn du heiratest. Karoline hat vorher sich auch nicht überarbeitet.«

Johanna antwortete nicht, und nach einem Weilchen stand sie auf, murmelte irgend eine Entschuldigung und ging rasch hinaus. Er sah ihr nach mit traurigen Augen.

»Wie sonderbar Johanna manchmal ist,« sagte ich verlegen.

Aber auch er schwieg, erhob sich und reichte mir die Hand. »Bitte, grüßen Sie meinen Schwiegervater,« bat er dann.

Indem er fortgehen wollte, fiel mir plötzlich die Nadel ein, die ich am Polterabend gefunden hatte.

»Ach, einen Augenblick warten Sie, bitte, noch, Herr Rhoden,« bat ich – »sagen Sie, vermissen Sie eigentlich nichts?«

Er schien ganz erstaunt zu sein. »Nicht daß ich wüßte, Fräulein Maaßen.«

»Eine Nadel – eine Brillantnadel –«

Er stutzte und sah mich unsicher an. »Doch – ja – das heißt, ich glaubte, ich hätte sie verlegt – eine französische Lilie, nicht wahr?«

»Ich fand sie,« sagte ich.

»Wo fanden Sie sie?«

»Am Polterabend fand ich sie – an der Laube dort.«

Er wurde plötzlich ganz blaß. »Ja, ja, es ist möglich –« stotterte er.

»Wollen Sie einen Moment warten? Ich bringe Ihnen die Nadel sofort.«

»Bitte – nein, Fräulein Maaßen, ich möchte Sie nicht bemühen.« – Und dann – er sah grübelnd vor sich hin – »ich bitte Sie doch, geben Sie mir die Nadel.«

Ich ging ins Haus und brachte ihm das Schmuckstück. Er stand noch auf der nämlichen Stelle und malte mit dem Stock Figuren in den Sand.

»Danke,« sagte er unsicher und befestigte die Nadel am Futter seiner Joppe. »Es ist ein Andenken an meinen Vater.« Dann verabschiedete er sich rasch und verließ den Garten.

Zweifellos, er war verlegen gewesen.

Ich suchte Johanna, sie war nirgends zu finden. Die Hunde seien nicht da, das Kind werde wohl wieder in den Wald gelaufen sein, meinte Juste. Es dämmerte schon, da kam sie zurück; man sah ihren Augen an, daß sie geweint hatte. Ich fragte nicht, woher sie komme und warum sie so plötzlich verschwunden sei. Ich verbarg meine Unruhe, so gut ich konnte. Und wieder und unabweisbar kam mir der Gedanke: Die beiden lieben einander und sie wissen es! Am liebsten hätte ich das Kind in die Arme geschlossen und gesagt: Komm mit mir, ganz weit fort für lange – lange – du kannst hier nicht gesunden!

Aber wie denn? Wohin denn? Und – ich konnte mich ja auch irren – –

Als ich in dieser Nacht aufwachte und im Nebenzimmer leise Tritte hörte, stand ich rasch auf und trat in Johannas Nebenraum; sie starrte mir erschreckt entgegen, ihr weißes Gewand schimmerte vom Sofa her, und als ich näherkam, sah ich, daß sie dort hockte, wie Kinder zu tun pflegen.

»Aber Johanna, liebes Herz, warum schläfst du denn nicht in deinem Bettchen?«

»Oh, ich wollte eben die Fenster schließen,« erklärte sie.

Im nächsten Augenblick saß ich neben ihr und hielt sie in den Armen. »Johanna, vertrau mir doch!« bat ich.

»Tante, was denkst du denn?« fragte sie. »Es ist wirklich nichts weiter; ich bin ein bißchen nervös, Mutter war's ja auch, ich habe es wohl geerbt. Nein, laß mich, Tante, geh schlafen – bitte, bitte, quäle mich nicht!«

Und dabei zitterte der schlanke, junge Körper in tiefer seelischer Erregung an meiner Brust. »Du sagst mir die Wahrheit nicht, liebes Herz, und das schadet auch nichts – es gibt Dinge, mit denen man allein fertig werden muß; wenn du mich aber einmal brauchst, dann rufe mich, ich gehöre dir ganz – hörst du – in allem, kleine Johanna!«

»Ja, danke Tante, aber ich weiß nicht, was du meinst, ich bin nur ein bißchen erkältet – oder so – und jetzt gehe ich wieder schlafen.«

Sie wand sich in meinen Armen, und dabei sah ich plötzlich etwas blitzen, das sie zwischen ihren schlanken weißen Fingern hielt, und im Mondenschein, der weiß und breit durch die unverhängten Fenster fiel, erkannte ich die kleine Nadel, die ich vor ein paar Stunden Georg Rhoden zurückgegeben hatte.

»Johanna – die Nadel!« stieß ich hervor.

Sie saß einen Augenblick wie erstarrt und sah mir groß und forschend in die Augen.

»Warum siehst du so entsetzt aus?« fragte sie dann.

Ich konnte nicht antworten.

»Er hat sie mir geschenkt – gestern abend, als ich ihn auf dem Weg draußen traf. Du habest sie gefunden im Garten, sagte er, er müsse sie an seinem Polterabend verloren haben. Als Andenken an die seltsam traurige Hochzeit, sagte er – es sei ja auch sonst Sitte, den Brautjungfern ein kleines Andenken zu schenken. Findest du etwas dabei?« fragte sie dann, und es klang etwas Fremdartiges, Trotziges aus der sonst so weichen Stimme. »Nichts weiter soll es sein, Tante Anna, mein Wort darauf – hörst du – nur ein Andenken – verstehst du das?«

»Ja, ich verstehe, wenn es nur ein Andenken sein soll, dann –«

»Ein Andenken, ja, ja!« betonte sie, »und nun will ich schlafen, und du sollst es auch, bitte, du auch!«

Jetzt hatte sie wieder ihre liebe, weiche Kinderstimme. Da ließ ich sie allein in ihrer jungen heißen Herzensnot.

*

Allmählich verließ mich die Angst; in dem Grade wie Johanna ruhiger wurde, ward ich es auch und sorgte für Arbeit, die sie sich so gewünscht hatte. Ganz langsam fingen wir an, unseren Umzug vorzubereiten.

Oben auf dem Boden, mit der sogenannten Rumpelkammer begannen wir; es ist unglaublich, was sich in einem Haus ansammelt, das man beinah ein Vierteljahrhundert bewohnt hat. Ganz sonderbare Dinge kamen zum Vorschein, von denen jedes eine Geschichte hätte erzählen können. Puppenstuben und Puppenbettchen und Kochherde, außer Kurs gesetzte Lampen, wacklige Stühle, wurmfräßige Kommoden – Gott weiß, was alles.

Aber nicht nur bei uns, auch in Klein-Zülla ward geräumt; Herr Rhoden ließ die Zimmer renovieren. Die Möbel, die sämtlich noch von den Eltern der verstorbenen Frau Amtsrat stammten, wurden in dem großen Saal des Mittelbaues zusammengestellt, es ward gestrichen und geputzt, sämtliche Parkette wurden gescheuert und frisch gebohnert, daß es eine Freude war, und fast jeden Tag gingen wir hinüber nach Klein-Zülla und verfolgten mit größtem Interesse den Fortgang der Arbeit.

Ganz allein würden wir ja auch nicht in dem großen Haus sein, obgleich Frau Hildebrandt schon geräumt hatte. Unten, im Parterre unseres Flügels, wohnte der Rhodensche Förster namens Schertz mit seiner Frau, das heißt, nur einen Teil der Zimmer hatte er inne, zwei Stuben aber waren neuerdings eingerichtet für die von Karoline sogleich entlassene Jungfer der verstorbenen Frau Rhoden, Lottchen Breiter, die bei der Verheiratung der Seligen schon mit ihr nach Groß-Zülla gezogen war und während nahezu dreißig Jahren Leid und Freud mit ihrer Herrin geteilt hatte. Rhoden gab ihr hier eine Art Gnadenbrot, das heißt Obdach, Nahrung und eine bescheidene Pension, dafür hatte sie die Aufsicht über die unbewohnten Räume des Hauses zu führen, nannte sich in scherzhafter Art »Kastellanin«, trug stets ein großes Schlüsselbund am Gürtel und haßte die neue Frau, soweit es ihr grundgütiges Gemüt gestattete, aufs beste.

Der andere Flügel im oberen Stock stand ganz leer, nur unten im Souterrain befanden sich die Milchkeller, und im Parterre wohnte der Schweizer mit dem Gehilfen.

Die Stallungen von Klein-Zülla beherbergten den großen Rinderstand der Güter, den Herr Rhoden bemüht war, noch zu vervollkommnen: der Molkereibetrieb sollte vergrößert werden, die Butter ging täglich in zahlreichen Postpaketen nach Berlin.

Die Mägde waren oben in dem Flügel untergebracht, den wir bewohnen sollten, die Wirtschafterin hatte ihr Zimmer noch unten, neben Schertz. Ein einsames Haus empfing uns also nicht, als wir am 21. Juni nachmittags unsern Einzug dort hielten nach wochenlanger emsiger Arbeit.

Aber es war auch ein gelungenes Werk; die Räume sahen so anheimelnd und traulich aus, daß der Oberförster, dem das Verlassen seines alten Heims doch recht schwer geworden war, ein Lächeln des Behagens nicht unterdrücken konnte, und Johanna wurde gerührt über die vielen Blumen, mit denen vom Gärtner auf Rhodens Befehl die sämtlichen Stuben geschmückt waren. Fräulein Breiter hatte zu Justchens Empfang, und in der Hoffnung auf einen Verkehr gleichgestimmter Seelen, Küche und Stübchen bekränzt und stellte sich nun zur Verfügung, falls wir irgend einer Hilfe bedurften. Gegen Abend aber kam das junge Ehepaar durch den Garten zu uns, um seinen Glückwunsch zum Einzug zu bringen.

Wir gingen gleich alle miteinander durch die Stuben. Der Oberförster hatte seine Schlaf- und Wohnstube neben dem großen Kuppelsaal des Mittelflügels, dann kam das Eß- und Wohnzimmer, das, sehr geräumig, die Ecke des Hauses bildete, dann Johannas Stube, nach der Seite hinaussehend, woran sich die meinige schloß; hinter diesem unser beider Schlafzimmer und endlich, nach dem Hof zu, die Wirtschaftsräume Justchens und die Mädchenkammer.

»Es ist wahrhaftig ganz fürstlich, Vater!« hörte ich Karoline sagen, als ich mit der Erdbeerbowle in das große Eckzimmer trat, um dessen runden Tisch die Familie Platz genommen hatte. »Wenn du solche Wohnung in der Stadt bezahlen solltest – na, ich danke!« fügte sie hinzu.

»Ja, freilich,« antwortete der alte Herr verlegen, »das weiß ich, und ich bin deinem Mann auch sehr dankbar für die Güte, mit der er mir dieses Asyl anbietet.« Er hielt seinem Schwiegersohn die Rechte hin. »Hoffentlich kann ich dir aber nun auch ordentlich nützen, lieber Georg.«

»Viel mehr,« antwortete dieser liebenswürdig, »als ich dir vergelten kann, lieber Vater.«

»Na ja, Alterchen, du kannst schon; du hast ja Verbindungen genug,« warf Karoline hin, »richte das nur ein mit dem Christbaumverkauf, es ist wirklich ganz rentabel, ich hab's mal in deiner Fachzeitung gelesen. Heute haben übrigens die Scheibendorffer jungen Eheleute bei uns Besuch gemacht,« fuhr sie fort. »Eine Landfrau ist sie nicht, das reine Püppchen, alles nur Falbeln und Spitzen, und Seide untergefüttert, und Lachen und Schwatzen – na, eines Tages wird sie sich wundern, wo man jetzt jeden Groschen dreimal umdrehen muß, wenn man bei der Landwirtschaft bestehen will! Rhoden –« sie zeigte auf ihren Mann, der mit dem Oberförster einen Plan des Forstes einsah, »weiß gar nicht, wie gut er es hat in dieser Hinsicht, wenn ich nur an die Rubrik denke, die im Ausgabebuch seiner Mutter in dem Vermerk ›Meine Toilette‹ steht – was allein Gerson gekriegt hat und erst der Goldschmied!«

»Na, wenn du ein bißchen mehr für diese Rubrik verwenden wolltest, könnte es nichts schaden,« sagte Johanna und streifte den schwarzen Wollrock und die schwarze, bereits grau gewordene Bluse aus baumwollenem Satin.

»O, das laß nur gut sein,« erwiderte Karoline ärgerlich, »wenn ich nur damit zufrieden bin!«

»Ich dachte an deinen Mann dabei – der würde doch gewiß gern haben, wenn du dich –«

»Was mein Mann gern haben würde, geht dich erst recht nichts an,« antwortete Karoline, jetzt noch um einen Grad schärfer, »er hat noch nichts an meinem Anzug auszusetzen gehabt, und somit können sich andere Leute beruhigen, oder – hat er sich bei dir über mich beschwert?«

»Allerdings nein!«

»Na also!«

»Du hast recht, Karoline,« sagte Johanna, »du hast recht, mich geht's nichts an – ich vergaß das einen Augenblick.«

»Mir ist übrigens was eingefallen,« fuhr Karoline fort, »damit ihr euch ein wenig revanchiert für das, was ihr Gutes hier habt. Georg hat durch die Überweisung von Lebensmitteln jeder Art, die das Gut bringt in eure Küche, euch beinahe freie Station geschaffen – soviel ich weiß, bedrückt es dich ja wohl, Johanna – nicht?«

»Ja,« antwortete Johanna, »aber – bedrücken – das ist nicht das rechte Wort; es weckt nur den Wunsch, auch meinerseits etwas zu tun, um euch nützlich zu sein.«

»Nun, siehst du – das dachte ich mir! Georg und du, ihr habt beide das Generöse so von Mutter her. Na also, ich habe mir schon tagelang überlegt, wozu denn eigentlich der große Flügel auf der andern Seite leer stehen soll? Mit den alten Möbeln könnte man die Stuben doch ganz gut ausstatten, und Hilfe habt ihr ja genug, wenn Fräulein Maaßen es nicht unter ihrer Würde hält, ein bißchen mitzutun. Die Breitern stiehlt ja so wie so dem lieben Herrgott ihre Tage. Ich weiß es, mein Onkel und Tante Gellern auf Botterode am Harz die vermieten im Sommer immer an Fremde, und was das einbringt, glaubt ihr gar nicht. Dabei ist die Gegend dort plundrig gegen unsere. Wenn ihr euch der Sache ein bißchen annehmen wolltet, wäre das große Haus ganz hübsch zu verwerten. Es könnten ja alte, erholungsbedürftige, gutsituierte Damen sein – Sommerfrischejören natürlich keinesfalls. Ich für mein Teil hätte so etwas am liebsten in Groß-Zülla zu stande gebracht, aber das ist ja wohl nicht angängig, Rhodens sind eben eine zu feine Familie. Lieber arbeiten wir für nichts oder mit Verlust, aber nur immer nobel!«

»Ich will gern dabei tun, was ich kann,« sagte das Mädchen, »Zeit haben wir ja im Überfluß, und wenn ich nicht mehr ganz von deiner Gnade zu leben brauche, so würde mir das eine große Erleichterung bedeuten.«

»Herrjeh! Nu sei man nicht gleich so!« rief Karoline halb verlegen, »übrigens hatte ich es ja kaum zu hoffen gewagt, daß du darauf eingehst. Nun hilf man bitten bei meinem Alten« – und sie schlug Rhoden derb auf die Schulter – »du, wir gründen in Klein-Zülla eine Sommerfrische, sollst mal sehen, wie das dem Geldbeutel guttut.«

Es klang ganz unglaublich gewöhnlich, wie sie ihrer Freude Ausdruck verlieh über diese Idee. Er saß ganz still, nur die Schulter, die ihn schmerzte von dem Schlag, bewegte er, und über sein Gesicht flog die Röte des Unwillens.

»Wer sagt das? Wer sind wir?«

»Nun, ich meine die Johanna, die hat ja so wie so Langeweile zum Sterben.«

Er sah das Mädchen vorwurfsvoll an: »Sie?«

»Ja,« sagte sie kurz und fest, »und wenn Sie es gutheißen, will ich gern helfen, Zülla zu verwerten; ich habe überdies alte Damen sehr gern,« setzte sie hinzu, »und meine vielen leeren Stunden wären dann ausgefüllt.«

»Alte Damen, sagen Sie?«

»Ja!«

»Und das täten Sie wirklich gern?«

»Aber gewiß! Nicht wahr, Vater, dir ist's auch recht?« Ihr blasses Gesichtchen färbte sich bei der Aussicht auf Arbeit, auf einen Wirkungskreis. »Sie brauchen ja nicht so sehr alt zu sein,« sprach sie weiter, »zum Beispiel Lehrerinnen, die sich erholen wollen, oder –«

»Nun nein! Die Sorte kann nicht viel bezahlen,« unterbrach Karoline schroff.

Rhoden sprang auf. »Ich bitte dich, Karoline, ich will hier doch kein Hotel einrichten, mit Phantasiepreisen!«

»Wenn du sie umsonst zu füttern gedenkst, lassen wir die Geschichte lieber,« antwortete sie kurz, »dazu haben wir es nicht!«

»Wer spricht denn von umsonst füttern!« rief er plötzlich heftig erregt und laut, »du sollst mir nicht die Worte verdrehen, das habe ich schon verschiedene Male gesagt!«

Karoline wurde blaß und blickte unsicher zu ihrem Vater hinüber; eine peinliche Stille entstand.

»Ich werde es mir überlegen,« sprach Rhoden nach einer Weile fast heiser, »wir kommen später darauf zurück.« Er trank hastig sein Glas aus, setzte sich wieder in den Stuhl und trommelte mit den Fingern auf der Armlehne, man merkte es ihm an, wie unsäglich peinlich es ihm war, daß er sich so hinreißen ließ. Der Oberförster begann ruhig ein anderes Gespräch mit ihm, Karoline ging aus der Tür.

»Wo willst du hin?« rief Johanna ihr nach.

»In den Saal,« erwiderte sie kurz.

Johanna stand sofort auf und folgte ihr. »Komme doch auch mit, Tante Anna, es sind so schöne altertümliche Stücke zwischen den Möbeln, sie werden dir Freude machen,« rief sie zurück.

Der weite Raum, den die herbeigerufene Lottchen Breiter aufschloß, war förmlich vollgestopft mit Urväter Hausrat; von der getäfelten Decke hing ein mächtiger Kronleuchter aus Hirschgeweihen und Rehkronen zusammengesetzt, von den blaßgelb getünchten Wänden schauten eine Menge alter Porträte, Herren und Damen verschiedener Zeiten und Trachten, herab, das waren die alten Cordes', die Vorfahren von Georg Rhodens Mutter.

Johanna bezeichnete uns einen wundervollen riesenhaften Schrank als besonders schön, auf dessen Türen zwei Wappen in Elfenbein eingelegt waren, dasjenige des Herrn von Cordes zeigte drei goldene Rosen im blauen Feld, das andere, in zwei Flächen geteilte Schild einen schwarzen Raben im roten und einen goldenen Stern im silbernen Feld. Jedenfalls brachte ihn eine junge Frau in ihrem Brautschatz mit.

»O, das ist ein kostbares Stück,« sagte das junge Mädchen, »ich habe in den Königlichen Sammlungen in Dresden einen ähnlichen gesehen; er stammt aus dem siebzehnten Jahrhundert, seht ihr, da oben steht die Jahreszahl 1658; man sieht selten etwas so Vollendetes, ich habe eine Passion für solche alte Sachen, Karoline,« wandte sie sich an die Schwester, »wir hatten in Dresden Kulturgeschichte, und im Anschluß daran Vorträge über Kunstgewerbe; ich bin mit Wonne in die schönen Sammlungen dort gelaufen; zu köstlich muß es sein, solche Altertümer zu besitzen.«

»Was mag der Schrank wohl wert sein?« fragte Karoline, der jetzt langsam die Farbe in die Wangen zurückkehrte.

»O, das weiß ich nicht genau, drei- bis viertausend Mark vielleicht,« meinte Johanna nachdenklich, »nicht, Tante Anna – so ungefähr?«

»Und das steht nun hier und verfault, weil die Pietätsduselei des Besitzers es so will!« sagte Karoline achselzuckend. »Ich werde doch mal an einen Althändler schreiben.«

Johannas Augen loderten zornig empor, aber sie bezwang sich, und dann sagte plötzlich die alte Breiter in ihrer ruhigen familiären Art, die sie sich bei der verstorbenen Frau Rhoden, deren Vertraute sie gewesen, angewöhnt hatte: »Der Althändler kommt hier nicht herein, das kann ich Ihnen ganz genau sagen, gnä' Frau, die Sachen verkauft der Herr niemals nich, weil daß sie von der seligen Frau Mutter ihren Eltern stammen.«

Karoline wußte nicht, was sie erwidern sollte, so selbstbewußt stand die ältliche, runde Person dort, und sah aus den gutmütigen hellen Augen lächelnd auf ihre junge Herrin.

»Sie können ganz getrost Ihre Ansichten für sich behalten, meine liebe Breitern,« antwortete Karoline endlich, »wenn ich etwas zu wissen wünsche, werde ich Sie fragen, dann können Sie antworten, aber recht bescheiden.«

Der Schrank stand in der Nähe des tiefen Fensters. Johanna hatte sich, wohl um dieser peinlichen Szene zu entgehen, in eine der tiefen Fensternischen geflüchtet, und ich war neben sie getreten. Unten lag der Garten in den Strahlen der roten Abendsonne, und in diesen ging eben Georg Rhoden den mit Rosenrabatten eingefaßten Mittelweg entlang, eiligen Schrittes; offenbar strebte er der unteren Gartenpforte zu, die auf den Wiesenweg mündete, der nach Groß-Zülla führt.

»Da geht dein Mann schon, Karoline!« rief Johanna zurück, »er denkt gewiß, du bist schon vor ihm fortgegangen?«

»O bewahre, das denkt er nicht, er trotzt nur.«

Johanna zuckte zusammen und warf mir einen traurig fragenden Blick zu.

»Das macht er nämlich öfter so,« fuhr Karoline fort und sah, neben Johanna tretend, der Gestalt ihres Gatten nach, »aber er besinnt sich schon, wenn man ihn laufen läßt und wenn er sieht, daß ich fest bleibe in dem, was ich will, und das bleibe ich allemal, denn –«

»Aber, Karoline –« stammelte Johanna und verstummte dann doch mit einem Blick auf Lottchen Breiter, die irgend etwas an der Wand zu betrachten schien.

»Na? Was denn weiter?« fragte die Schwester erstaunt, »ich kenne das nun schon ganz genau, wie's kommt, ich geh' hinterher und dann wird das Abendbrot angerichtet, und er schützt Kopfweh vor und kommt nicht, das verdirbt mir aber den Appetit keineswegs, da esse ich eben allein, oder er kommt und sitzt mir stumm gegenüber, und ich spreche auch nicht und muß mir das Lachen verbeißen; so muckst er, bis er genug hat, manchmal zwei Tage lang, dann fängt er wieder langsam an zu reden. Und das ist weiter nichts, es kommt überall mal vor in der Ehe.«

Johanna sah hilflos unglücklich aus, als sie sich umwandte, Karoline rüstete sich zum Aufbruch. Wir verließen mit der jungen Frau den Saal, den die Breiter hinter uns abschloß. Johanna begleitete die Schwester durch den Garten, den gleichen Weg, den vorhin Rhoden gegangen war, bis zur Pforte; ich sah sie in der beginnenden Dämmerung dann langsam wieder zurückkommen, mit gesenktem Kopf, als zähle sie jeden ihrer Tritte. Als sie zu mir trat, sagte sie: »Ach, Tante Anna, ich wollte, ich könnte weinen.«

»Na, Kindchen, die müssen sich erst einleben, sich erst einander anpassen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das glaubst du selber nicht, Tante Anna, und –«

Sie brach ab, denn der Oberförster trat ein, die Tafel war gedeckt zum Abendessen. Johanna zog sich gleich nach dem Essen in ihre Stube zurück, und ich nahm ein Tuch um und schritt die gewundenen breiten Stiegen, die auf den Vorsaal mündeten, hinunter und ging in den Garten.

Lottchen Breiter spazierte ebenfalls im Garten umher, in ein altes Schaltuch ihrer verstorbenen Herrin gewickelt, und schloß sich mir an in ihrer Art, familiär zu sein. Sie war von ihrer verstorbenen Herrin sehr verwöhnt in dieser Beziehung und ging rastlos auf in Sorge und Liebe für »unsern jungen Herrn«, wie sie Georg Rhoden nannte.

Sie fragte sehr höflich, wie es mir denn in Klein-Zülla gefalle. Ihr habe es doch gleich, vom ersten Augenblick an, sehr behagt hier, wenn es ihr auch sehr schmerzlich sei, daß sie allein und nicht mehr mit ihrer seligen Herrin hier hausen müsse. Sie hätten beide sich doch so sehr gefreut auf dies Altenteil. »Ach ja, ach Jott!« schloß sie, »es ist ja alles überhaupt so anders gekommen, wie wir gedacht haben, die liebe selige Frau und ich, auch von wegen des Herrn Georg,« und sie sei nur froh, daß sie nicht mehr in Groß-Zülla bleibe, um mit anzusehen, wie das nun so würde mit dem jungen Ehepaar.

»Nun, das ist ja aber alles doch ganz gut, Fräulein Lottchen,« sagte ich, »und diese Heirat war ja Frau Rhodens heißester Wunsch!«

Die alte Seele blieb stehen und hielt mich am Zipfel meines Tuches fest. »Fräulein Maaßen,« begann sie, »das ist's ja eben, und nein, lassen Sie mich doch mal ein paar Worte sagen, ich bin wahrhaftig keine Klatsche, und daß ich meiner Herrschaft immer untertänig war von ganzer Seele, das kann Ihnen hier jedes Kind in Zülla bezeugen! Durchs Feuer gehe ich noch heute für meine selige Frau! Aber darin hat sie nicht recht getan, nein, ganz und gar nicht, und das muß sie nochmal schwer verantworten. Ihnen kann ich's doch erzählen, Fräulein, das Herze drückt mir's ab, wo ich nun so sehe, wie es nicht stimmen will, und die junge gnä' Frau, die doch alles zu Geld machen will, und doch schon so viel hat, und er es doch so nobel gewohnt ist. Ach Jott, wenn ich unsern Georg seine Frau wäre, den tät' ich ja in Baumwolle wickeln! Und, Fräulein Maaßen, ich weiß, was ich weiß! Er hat gar nicht gewollt, partoutement hat er sie nicht gewollt, wenn wir nur reden könnten, der Friedrich und ich, wie's hergegangen ist noch zwei Stunden vor der Trauung! Wir haben's mit angehört, wie er gebittet und gebettelt hat, seine Mutter solle ihm vergeben, aber er könnte sie nicht nehmen, er könnte nicht! Aber die sel' Frau hat darauf bestanden. Nee, Fräulein, Eltern sollten ihre Macht auch nicht mißbrauchen, das sage ich bloß. Und nun, wann sie wüßte, wie's hier geht, im Grabe drehte sie sich um, die gnä' Frau!«

»Aber, liebe Breitern, Sie sehen ja viel zu schwarz,« sagte ich, mit Müh' und Not mein Tuch aus ihren vor Erregung zitternden Händen befreiend.

»Nein, ich sehe gar nicht zu schwarz, aber ganz und gar nicht! – Jott, wenn ich unserm Herrn Georg seine Frau wäre, ich wollt' mich freilich anders benehmen, alles tät' ich ihm zu Gefallen, und wenn das nicht, doch wenigstens tät' ich alles so belassen, wie er's gewöhnt ist.

Nee, bloß die Strümpfe, die sie ihm angewöhnen will, so 'ne groben Baumwollensocken, und die gnä' Frau hat immer dutzendweis die Seidenen für ihn aus Berlin kommen lassen. Na, er zieht sie ja auch nich an, da kennt die gnä' Frau ihn schlecht, wenn sie das denkt, er hat aber gleich an das Geschäft telegraphiert um neue, weil gnä' Frau seine alten versteckt hat, und so macht sie's mit allem, Fräulein Maaßen. Könnten Sie denn man nich mal mit ihr reden?«

Die alte Frau weinte jetzt bitterlich bei diesem Bericht.

»Meine liebe Breitern, das kann ich nicht,« sagte ich ihr, »und das wissen Sie ja auch, zwischen Eheleute soll man sich nicht stecken, und dies sind doch lauter Kleinigkeiten; wenn sie nur in großen Dingen einig sind!«

»Das ist's ja eben,« jammerte die alte Person; »wo können sie denn einig sein, so zwei, wo er ihr überhaupt nicht gewollt hat, und wo es nun so ist?«

Sie ließ sich nicht abbringen von dem traurigen Thema, und es blieb mir nichts übrig, als umzukehren und das Haus aufzusuchen. Sie begleitete mich bis zur Treppe, immer um Entschuldigung bittend, aber sie habe sich doch einmal aussprechen müssen.

Ich stand dann wie betäubt in meiner Stube. Er wollte sie nicht? Und noch am Tage vor der Hochzeit wollte er zurücktreten, und – die Mutter zwang ihn? Nun wußte ich es ja, nun war mir das ganze Elend klar. Mein Gott, was gäbe ich darum, zu erfahren, ob Johanna es wußte, daß er versucht hat, sich von Karoline zurückzuziehen?

Ich lag schlaflos in dieser ersten Nacht im Klein-Züllaer Herrenhaus, und auch Johanna schien nicht zur Ruhe kommen zu können; ich hörte, wie sie umherging in ihrer Stube, Fenster öffnete und schloß, und wie die Klappe ihres Schreibtisches leise kreischte beim Öffnen und Schließen.

Von der Idee, Pensionäre zu nehmen, war keine Rede mehr, und wir führten bald das gleich stille, mit Kleinigkeiten ausgefüllte Leben, wie in der Oberförsterei. Handarbeiten, Spaziergänge durch Wald und Feld, Besuche bei Pastors, Fahrten nach der Stadt zu Besorgungen, füllten unsere Zeit aus.

Der Verkehr mit dem jungen Ehepaar blieb in engen Grenzen; Rhoden kam zwar des öftern, aber gewöhnlich suchte er direkt das Zimmer seines Schwiegervaters auf und verschwand wieder, ohne nach uns zu fragen. Einen Sonntag hatten wir in Groß-Zülla gespeist und mußten bemerken, wie sehr Karoline bemüht war, die unbedingte Einfachheit zu kultivieren; was irgendwie luxuriös oder schön hätte genannt werden können, war verbannt, der Teppich unter dem Eßtisch fehlte, und das kostbare Meißner Service war verschwunden, weil jeder Teller einige Märker kostete, wie sie sagte, und die Aufwaschmägde zu ungeschickt seien.

Es gab nur weißes Porzellan mit einem winzigen blauen Rändchen oben, wie man es auf dem Jahrmarkt kauft. Dabei überall eine geradezu holländische Sauberkeit, von den schneeweißen Gardinen an – die kostbaren Übergardinen waren, als Staubfänger, verbannt und in große Truhen verpackt – bis zu der blendenden Tischwäsche und dem spiegelnden Parkett, auf dem kein Stäubchen lag. Die herrlichen Rosen in der großen Glasschale auf der Mitte des Tisches waren der einzige Schmuck, allerdings ein überaus anmutiger Schmuck, von dem Karoline berichtete, daß ihr Mann ihn heimlich hingestellt habe, sie würde sich hüten, denn die Groß-Züllaer Rosen wurden selbst jetzt, wo es noch immer so viele gab, mit fünfundzwanzig Pfennigen das Stück bezahlt, weil es ausnahmsweise seltene Sorten wären und jede einzelne ein kostbares Exemplar sei. Sie sagte das, als Rhoden einmal nicht zugegen war, zu der Pastorin und zu mir.

»Na,« meinte diese, »da mußt du ja ein Heidengeld verdienen, Karoline, das wird deinen Mann freuen.«

»Der? Gott bewahre, der weiß das gar nicht, der würde es auch gar nicht wollen; am liebsten verschenkt er die sämtlichen Blumen, geht mit der Schere umher, nimmt jede Knospe prüfend zwischen die Finger und schneidet sie und schickt sie fort, an die Doktorin, oder die Frau Pfarrerin, jawohl, an Sie, Frau Pfarrerin, und neulich einen ganzen Arm voll an die junge Frau von Breitenfeld nach Scheibendorf. Nun lasse ich die Blumen schon schneiden, ehe er aufsteht, und dann nimmt sie der Milchwagen mit in die Stadt. Ich sehe gar nicht ein – man soll doch Nutzen ziehen aus allem bei den schlechten Zeiten.«

Wir waren abgespannt wieder heimgekommen. Johanna hatte sogar herzhaft gegähnt, als wir in unserer lieben Wohnstube standen, und dann waren wir beide in Lachen ausgebrochen.

»Ach Gott, ja,« sagte das Kind, »man lacht, und doch ist es so traurig, Tante Anna!« Und nun war sie wieder tagelang still und niedergeschlagen.

Im großen und ganzen aber waren es friedliche, ruhige Tage, die wir in den Sommermonaten verlebten, und erfreulich war es zu sehen, wie Vater und Tochter sich näher und näher kamen, und wie dankbar diese neue Wendung das Mädchen machte. Sie war so glücklich, sie hatte es so wichtig mit dem Pfeifenstopfen und dem Vorlesen der Zeitungen, und es dauerte nicht lange, da hatte sie mir das Amt des Kopierens abgeschmeichelt, und schrieb die Artikel des Vaters für das Jägerblatt selbst ab.

*

In dieser Zeit kam meine alte Großmutter zum Sterben; ich war plötzlich genötigt, nach Dessau zu reisen, und blieb bis in den Herbst fort. Ich ging leichteren Herzens dorthin, als ich gegangen wäre, wenn die Annäherung zwischen Vater und Tochter noch nicht erfolgte, aber so wußte ich, daß das liebe schöne Geschöpf sich glücklich fühlte in der Idee, einem Menschenherzen nahe zu stehen, ihm etwas zu sein. Und das weiß ich ganz bestimmt, hätte die Vorsehung Johanna den Vater erhalten, so wäre ihr Geschick freundlicher geworden.

So reiste ich ruhig, wissend, daß Johanna umgeben war von viel Liebe und Freundlichkeit, denn, von Mamsell Juste angefangen, liebte sie jedermann, die Förstersleute und Lottchen Breiter nicht am wenigsten, und auch Pastors hatten versprochen, sich um das Kind zu bekümmern. In dem kleinen Zimmer der sterbenden alten Frau in Dessau empfing und las ich jene Briefe, von denen ich diesen und jenen hierher setze. Da ist gleich der erste:

»Meine liebste Tante Anna!

So viel denke ich an Dich und Dein gutes Großmutterchen, der der liebe Gott das Sterben leicht machen möge! Du hast recht, sie ist an der Grenze ihres Lebens angelangt, und dennoch – Es ist gewiß so sehr schwer für Dich, von ihr zu scheiden, als von dem einzigsten Blutsverwandten, der noch Dir gehörte. Ach, wenn ich denke, Vater stürbe mir! Ich sehe ihn immer verstohlen an, und er sieht oft unglaublich verfallen aus – – Ach, Tante Anna, ich glaube, ich stürbe mit ihm, oder bald nachher.

Justchen sagt, was ich nur wollte? Er wäre ja putzmunter, viel vergnügter und umgänglicher als früher, und es ist etwas Wahres daran. Wenn er aus dem Wald zurückkommt, hat er auch immer gute Farbe, und dann denke ich, daß ich recht selbstquälerisch bin. Aber, Tante Anna, wenn man auf der Welt so wenig hat zum Lieben wie ich – –

Im Hause geht alles richtig seinen Gang. An der Breitern suche ich immer ungesehen vorbeizukommen, wenn ich in den Garten gehe; sie kommt mir nämlich dann nach und erzählt Geschichten von der seligen Frau und von Jörg, als er noch ein Junge war – der ist wohl das A und O ihres Herzens.

Karoline ist noch nicht wieder hier gewesen, aber ihr Mann war zweimal bei Väterchen. Er hat gesagt, Karoline und er würden sich sehr freuen, wenn wir des öfteren einmal abends zu ihnen kämen, jetzt, wo die Abende anfangen lang zu werden. Vater hat's auch versprochen, aber sobald es Dämmerung wird, ist es so schön bei uns und so heimelig, daß wir uns nicht trennen können von hier und den Besuch immer verschieben.

Seit vor zwei Tagen der heftige Sturm war, ist viel Laub von den Bäumen gefallen, und wir sehen ganz weit unten die erleuchteten Fenster im Groß-Züllaer Herrenhaus. Wenn's in dem Eßzimmer drüben dunkel wird, flammen sofort in der Ecke des Hauses zwei andere Fenster auf, das ist Jörgs Stube. Ich muß dann immer denken, ob Karoline da wohl mit einer Handarbeit sitzt, und er ihr etwas vorliest? Glaubst Du das, Tante? Ich möchte, daß es so wäre, dann wüßte ich, daß es behaglich ist bei ihnen. Aber etwas ist immer in mir, das sagt: Wie kannst du nur so etwas denken?

Allein sitzt er da, ganz allein, ganz allein, und Karoline rennt im Hause umher und revidiert und gibt aus und rasselt mit den Schlüsseln – und er tut mir so leid, wenn's so wäre.

Aber ich will nun auch lieber aufhören. Gutes, liebes Herze, leb wohl! Ich vermisse Dich sehr, und ich habe das Gefühl, als wäre ich Dir lange nicht dankbar genug gewesen für alles, was Du mir Freundliches getan hast. Ich möchte Dir immer so gern zeigen, wie sehr ich Dir vertraue, aber wenn ich dann sprechen will, ist mir die Kehle wie zugeschnürt!

Vielleicht, wenn Du wiederkommst, bis dahin behalte lieb, so wie sie grad is

Deine Johanna.«

Und in einem späteren Brief, als der Oberförster sich unwohl fühlte, hieß es:

»Wärst Du bei mir! Ich muß mich so still für mich sorgen, er darf es ja nicht merken. Ich habe sogleich nach Karoline geschickt, als Vater neulich die plötzliche Ohnmacht bekam, die Breitern selbst lief wie sie ging und stand, um sie zu holen. Sie kam nicht, dafür Jörg in unglaublich kurzer Zeit, und er war so gut und herzlich um Vater bemüht.

Der Doktor kam nach einer halben Stunde, er untersuchte Vater und meinte, es sei wieder die alte Geschichte mit dem Herzen, und Vater dürfe absolut nicht so weite Wege machen, und im Frühjahr müsse er bestimmt nach Nauheim. Es war ein Tag, Tante Anna, an dem ich so heiße Sehnsucht nach Dir gehabt habe, wie noch nie – glaube es mir!

Vater hat sich rascher erholt, als ich dachte, und Jörg hat gestern einen kleinen Einspänner geschickt, der soll zu Vaters Gebrauch in Klein-Zülla stehen. Das Pferd ist der dicke große englische Pony, den Frau Amtsrat im Parkwagen fuhr, und heißt Molly. So hat's Vater jetzt bequem.

Karoline kam erst einen Tag nach dem Unfall; sie sagt, bei dem Leiden, das Vater habe, könnten ähnliche Zustände jeden Augenblick eintreten, und es sei gar nichts Gefährliches, sie habe gestern beinah' den Tod in die Knochen bekommen, als die Breitern angestürzt wäre, und sie habe es ja gleich gesagt zu Jörg, nur ruhig Blut, das ist nicht gleich so schlimm! ›Ach Gott, so aufgeregte Menschen wie ihr seid!‹ fügte sie hinzu.

Was soll ich denn nun machen, Tante, wenn Vater wieder einmal umfällt? Ich getraue mich gar nicht, Karoline zu behelligen, und sie ist doch auch Vaters Kind!

Ach, Tante, ich wollte, Du wärst wieder hier!«

Und in einem dritten Brief heißt es:

»Gestern war es so schön, so schön, Tante! Denke Dir einen sonnigen kalten Oktobertag und den Wald schon ein wenig gelichtet und so bunt das Laub an den Berghängen, eine wahre Sinfonie von Rot und Gelb und Rostbraun. Vater und ich in dem Wägelchen auf den gras- und moosbewachsenen Waldwegen, die niemand sonst betreten darf. Die dicke Molly zog in gemütlichem Schritt den Wagen, und ich bin dann abgestiegen und, Pilze suchend, nebenher gegangen. Es roch so gut nach Schwämmen, welkem Laub und der feuchten Erde überhaupt; ganz drüben im Forst schrie ein Hirsch immerzu.

Wir wollten nach dem Landgrabenbachtal, dahin bestellte der Vater den Förster Schertz. Karoline hat nämlich wieder was Neues vor, sie will eine künstliche Forellenzucht anlegen, und Vater sollte sagen, ob er glaubt, daß der Landgrabenbach sich dazu eignet, wenn er an verschiedenen Stellen zu kleinen Teichen ausgegründet wird. Du kennst diesen Grund noch nicht, Tante Anna, er ist wirklich sehr hübsch, der Bach hat ziemlich viel Wasser und starkes Gefälle; und so schöne Buchen stehen an ihm entlang und hohe Tannen und die Streifen köstlichen grünen Wiesenlandes an seinen Ufern.

Wie wir näherkamen, sagte Vater, ›da ist ja der Schertz schon,‹ aber dann war's Jörg selbst, und sein Pferd stand nicht weit davon an eine Birke gebunden.

Karoline hatte wieder recht gehabt: ›die Stelle paßt vorzüglich für die Anlage,‹ erklärte Vater, ›du hast aber wirklich eine riesig praktische Frau, Jörg,‹ fügte er hinzu, ›besser kann man sich so etwas gar nicht aussuchen, paß mal auf, hier gedeiht's euch. Woher weiß denn nur das Mädel, wie's hier ausschaut?‹ setzte er dann fragend hinzu.

Jörg zuckte die Schultern, er wußte es nicht, aber ich weiß es, Tante. Wie der Hildebrandt sich um sie bewarb, da haben sie einmal ein Picknick gemacht hier im Walde. Du weißt doch, Hildebrandt trug sich mit dem Gedanken, wenn er Karoline heiratet, mit ihrem Gelde Klein-Zülla zu kaufen, und da mag er ihr wohl so gesprächsweise gesagt haben, hier könnte man einen prächtigen Forellenteich anlegen. Der Tannenhandel um Weihnacht war ja auch seine Idee. Die beiden hätten prachtvoll zusammengepaßt, eine Musterwirtschaft wäre das Klein-Zülla geworden wie kaum eine zweite, und sie wären glücklich miteinander geworden, viel glücklicher – wie – –

Wie kam es nur, Tante, daß Karoline sich so plötzlich von ihm zurückzog? Es fiel eng zusammen mit der Freundschaft zwischen ihr und Jörgs Mutter – – und da dachte sie wohl – –

Ja, ich komme aber ganz ab von dem, was ich erzählen wollte. Es war so schön im Wald und auf dem Wiesengrund, wir haben da eine ganze Stunde geweilt und mit Schertz, der dazukam, die Lage des Hauses ausgesucht, in dem der Fischermeister wohnen sollte.

Beim Aufbruch bat Rhoden den Förster, er möge das Pferd heimreiten, er wolle gehen.

Der Vater lenkte den dicken Pony, und Jörg und ich gingen neben dem Wagen her; er war sehr schweigsam. Unterwegs sahen wir ein Rudel Rehe, wohl acht Stück, sie standen ganz vertraut auf einer Lichtung und äugten zu uns herüber; der dicke Pony schien ihnen nicht im mindesten gefährlich. Dann wurde Jörg freier und begann zu erzählen, und wir wurden ganz fröhlich. Väterchen auch. Jörg sprach von seinen Reisen und erzählte, wie er in der Hohen Tatra auf die Wolfsjagd gegangen sei, und sonst noch allerhand, was Vater interessieren konnte. Er hatte eine Hand auf das niedrige Wägelchen gelegt, und das Büschel Farnkraut, das ich dem Pferdchen auf sein Zaumzeug gesteckt hatte, nickte von dessen Kopfe wie ein Busch Reiherfedern. Und als wir der Schmalheit des Weges halber nicht mehr neben dem Wagen gehen konnten, schritten wir hinter ihm, und Rhoden half mir, Farne pflücken und rote Blätter.

In unserm Haus sah er nach der Uhr und fragte, ob er störe, wenn er noch einen Augenblick mit nach oben komme, um sich aus Vaters Forstzeitung die Nummer auszusuchen, in der von Fischzucht die Rede sei; noch bleibe ihm eine halbe Stunde Zeit. Da hat er dann noch in Vaters Wohnstube gesessen und mit ihm geredet, und als er fertig war, nahm er den Strauß mit, den ich gesammelt hatte, und gute Nacht zu sagen vergaß er.

Es war ein schöner Nachmittag, Tante Anna, für Vater besonders, der sich so recht in seinem Fahrwasser befand. Wie wir bei unserm Abendbrot saßen, wir zwei, da hab' ich mir ein Herz genommen und habe ihn gefragt: ›Du meinst, Vater, daß Jörgs Mutter diese Partie, die Heirat mit Karolinen aus besonderen Gründen gewünscht hat?‹

›Ja, ja, mein Töchting, nicht nur gewünscht, auch gemacht hat sie's,‹ sagte Vater, ›da wollen wir uns nur keiner Täuschung hingeben. Es ist dem Träumer und Weltenbummler ja auch ganz gut, wenn er endlich mal mit den Beinen auf die Erde kommt – Was meinst du, Hannecken, wenn der so eine gekriegt hätte, wie dich? Holla! Das müßte eine Wirtschaft geben, da tanzten ja wohl die Kühe Ballett bei euch!‹

›Ja, Vater, du hast recht,‹ stimmte ich bei. Vater hat ja doch wohl auch recht, Tante Anna? Mich dauern nur immer Jörgs junge Augen, es liegt so viel Schwermut darin.

Lebe wohl und komm bald wieder, Du Liebste, Beste! Einen Kuß von Deiner törichten

Johanna.«

*

Und acht Tage später bekam ich die Depesche:

»Komm, wenn möglich, gleich! Vater schwer erkrankt. Johanna.«

Es war am Tage nach dem Begräbnis meiner alten Großmutter, ich ordnete gerade die Papiere der sanft und still heimgegangenen Frau, als ich diese Botschaft erhielt, und packte in Hast und Eile alles zurück in die Schränke und Kästen, verschloß sie und überließ die Wohnung der alten Dienerin, die ohnehin den größeren Teil der Möbel erben sollte und noch bis April zu bleiben verpflichtet war. Dann reiste ich ab mit dem nächsten Zug.

In aller Herrgottsfrühe am ersten des Monats November kam ich an auf dem Bahnhof unserer Stadt, es war noch ganz dunkel. Man hatte mich nicht so früh erwartet, ein Wagen war also nicht zur Stelle, aber ein Gepäckträger sagte, daß der Milchkutscher von Groß-Zülla in einer Viertelstunde kommen müsse, um eine Bahnkiste abzuholen, da könne ich vielleicht mitfahren.

Mit dieser wenig angenehmen Gelegenheit kam ich denn auch glücklich nach Groß-Zülla und ging von dort nach Klein-Zülla. Es war ein Nebelmorgen, alles naß und glitschig, die Bäume standen kahl und schwarz zur Seite. Unterwegs holte mich Lotte Breiter ein.

»Ach Gott, das is ja nur gut, Fräulein Maaßen! Ich bin eben in Groß-Zülla gewesen und habe die Herrschaft benachrichtigt, daß es schlecht steht. Unser armes Fräulein Johannchen – da fällt ja mit einem Male alles zusammen, was so schön aufgebaut war – was soll denn da nur werden?«

Und ich ging, so rasch ich konnte, um zu meinem armen Kind zu kommen, das ich allein wußte in so schweren Stunden, und wie ich, mühsam atmend, in die Stube des alten Herrn trat, da war es schon geschehen! – Der Pastor hielt Johanna in den Armen, neben ihr auf dem Sofa sitzend, und das Mädchen war ganz starr und bleich. Als sie mich erblickte, sprang sie auf, kam mit ausgebreiteten Armen wankend auf mich zu, aber noch ehe ich sie an meine Brust ziehen konnte, sank sie mit einem Jammerlaut ohnmächtig zusammen.

Am dritten Tag nach diesem wurde der alte Herr beigesetzt. Karoline Rhoden ließ ihrem Vater ein Begräbnis erster Klasse zu teil werden; Johanna lag fiebernd im Bett, und wenn sie auch auf gewesen wäre, sie hätte doch nichts ändern können an diesen protzenhaften Vorgängen, Karoline herrschte hier augenblicklich völligerweise. Sie fand eine Leichenfeier mit größtem Pomp überaus schön und auch standesgemäß, und so fehlte auch der Wagen nicht mit den sechs Rappen, auf deren Köpfen die schwarzen Federbüsche nickten, und die zahlreichen, schwarz und silbern galonierten Bediensteten der Begräbnisgesellschaft, es fehlte auch das Musikkorps nicht in feierlich schwarzen Hüten mit Trauerflor.

Unten in der Flurhalle von Klein-Zülla stand der Sarg. Der weite Raum war schwarz ausgeschlagen, die gesamte Orangerie von Groß- und Klein-Zülla um die Bahre gruppiert, massenhafte Kerzen flammten daraus hervor. Karoline hatte nichts gespart. Sie selbst, im langen schwarzen Wollkleid mit Kreppschleier, empfing die Handdrücke der zahlreichen Leidtragenden mit überströmenden Augen. Rhoden hatte sich allen diesen Anordnungen stillschweigend gefügt. Es war ja ihr Vater, den sie auf diese Weise zu ehren glaubte. Aber daß Georg der brutale Pomp verletzte, das merkte man deutlich.

Und so sang denn der Kirchenchor am Sarg, und nach der schönen, kurzen, zu Herzen sprechenden Rede seines alten Freundes wurde der Tote hinausgetragen unter den lauten erschütternden Klängen eines Chorals. Auf allen Gesichtern der zahlreichen Leute hohen und niederen Standes, die sich hinter dem Sarg in langer Folge reihten, und dem Freunde und Standesgenossen die letzte Ehre gaben, lag aufrichtige Teilnahme.

Johanna, zu der ich wieder hinaufgegangen war nach der Rede des Geistlichen, und an deren Bett ich nun saß, als der Zug sich in Bewegung setzte, wurde vollkommen aufgeregt bei den ersten Tönen der Trauermusik. – Sie schrie in ihrem Fieber laut auf und wollte aus dem Bett springen; nur mit größter Mühe gelang es der Pastorin und mir, sie zu beruhigen.

Es war totenstill in unserm alten Haus, die Pastorin ging jetzt leise im anstoßenden Zimmer hin und her. Und Johanna sprach und sprach im Fieber. Und dann horchte ich auf – mit einer ganz klaren und dennoch wehen Stimme sagte sie: »Ach, Vater, du mußtest mich nicht allein lassen, jetzt nicht, gerade jetzt nicht!« Dann hielt sie die schmalen, zu Fäusten geballten Hände an die Augen gepreßt und wiederholte noch ein paarmal: »Jetzt nicht, jetzt nicht!«

Armes Kind! dachte ich. Sie hatte recht – was sollte aus ihr werden, jetzt, ohne den Vater, ohne den Halt des Vaterhauses, allein mit ihrem schwer kämpfenden Herzen? Ich war ja doch immer nur die Fremde, die ein Zufall an ihre Seite geführt hatte, und wenn ich auch die treuste Liebe für sie empfand, ich wußte ja nicht, ob sie mir ganz vertraute? Und die Sorge um sie überkam mich stärker als je. Und dann ging ich in meiner Angst zur Pastorin und fragte: »Wie wird das nur hier? Was wird mit Johanna?«

»Nun, die Karoline wird das Kind zu sich nehmen!« meinte die ahnungslose gute Frau.

»Um des Himmels willen!« rief ich erschreckt.

Sie sah mich ganz erstaunt an: »Ja, so wie ich sie kenne, da wird sie wohl kaum eine zweite Wirtschaft Johannas wegen unterhalten wollen. In Groß-Zülla wird einmal gekocht, da kommt's nicht darauf an, ob einer mehr oder weniger mitißt. Karoline ist zwar wunderlich, ist aber immerhin doch die Schwester, und ein bißchen Arbeit wird unserer kleinen Prinzeß gewiß nicht schaden. Nebenbei ist Georg Rhoden ein vornehmer anständiger Mensch, er wird sicher für das Kind sorgen.«

Bergeschwer fielen diese Worte auf mein Herz – nur das nicht, nur das nicht – das darf nicht sein, das kann nicht sein – das hieße Gott versuchen! »Ich glaube nicht, daß es Johanna so konvenieren würde,« sagte ich, »sie ist nicht gern abhängig.«

»Ich halte sie aber nicht für fähig, allein zu stehen, sie braucht die Familie, sie braucht einen Halt!« beharrte die Pfarrerin. »Sie ist ein weiches wehrloses Geschöpfchen.«

»Wenn sie nur nicht an der Familie zu Grunde geht,« murmelte ich.

»Wie? Was? Ich verstehe Sie nicht,« sagte die alte Frau.

»O, nichts – ich habe eben Sorge um das arme Kind,« erwiderte ich kurz.

Ich saß dann wieder am Bett Johannas und zergrübelte mir den Kopf, wie es möglich wäre, hier das Rechte zu finden? Die abenteuerlichsten Pläne durchkreuzten mein Gehirn. Ein kleines Einkommen würde Johanna doch wohl als Erbteil zufallen, dachte ich, wenn wir das mit dem meinen zusammentäten und in Großmutters kleine Wohnung nach Dessau übersiedelten miteinander, vielleicht ein paar Pensionärinnen nähmen, da müßte es doch gehen, das ...

Die Rückkehr der Trauerversammlung störte mich in meinen weiteren Überlegungen. Die Pfarrerin ging in das große Eßzimmer hinüber, ich hörte das Klappern von Tellern und Gläsern und gedämpftes Sprechen und Raunen. Und plötzlich drang durch die Fenster die kecke, lustige Melodie des »Jäger aus der Kurpfalz«. Das Musikkorps zog nach der Stadt zurück und blies dem Heimgegangenen Forstmann zu Ehren die kernige urdeutsche Melodie, die aus Waldesrauschen und Jagdfanfaren zusammengesetzt scheint; schmetternd hell zuerst und dann mit der zunehmenden Entfernung leis und leiser verhallten die Klänge des Liedes in der Ferne.

Johanna öffnete die Augen und sah groß und klar umher. »Ach, Vater,« sagte sie, »Tante – mein Vater, mein alter, lieber, guter –« und stromweis stürzten ihr die erleichternden Tränen aus den Augen.

Dann kam Karoline und beugte sich über die Schwester. »Du mußt denken, Vatern ist nun wohl,« tröstete sie in ihrer trivialen Art, »wir wollen ihm die Ruhe gönnen, was Rechtes war's ja doch nicht mehr mit ihm. Doktor Zänker sagt, er habe viel gelitten.«

»O, er lebte doch noch so gern, Karoline!«

»Aber er hat einen schönen Tod gehabt,« meinte Karoline, »das ist besser, als ein langes Krankenlager mit Schmerzen und Angst und den vielen Quälereien und Mitteln der Ärzte, ganz zu schweigen von den Kost ...« Sie erschrak selbst über das, was sie hatte sagen wollen, und dann setzte sie hinzu: »Rhoden läßt dich grüßen, und wenn du wieder wohler bist, sprechen wir über deine Zukunft.«

»Über meine Zukunft?« wiederholte Johanna. »Mein Gott – ach so – ich darf hier wohl nicht bleiben? Natürlich nicht. – – Nicht wahr, Karoline?«

»Na, rege dich nur nicht auf, jetzt ist der Moment nicht, darüber zu reden, kommt Zeit, kommt Rat. Ich muß nun aber hinüber, die Mamsell ist noch zu neu, die weiß noch nicht recht Bescheid. Adjeu, Johanna! Adjeu, Fräulein Maaßen!«

Sie war gegangen.

Die Pastorin kam noch auf einen Augenblick, um sich ebenfalls zu verabschieden. Sie küßte Johanna. »Das sind schwere Tage, liebes Kind, und Trost sprechen wollen ist von Überfluß. Wir sollen heiß und tief trauern um das Unersetzliche, aber recht ernst und würdig sollen wir trauern, um den Heimgegangenen zu ehren. Aufrecht, Johanna, wenn auch mit nassen Augen!«

»Ich habe nichts mehr, Tante, nichts mehr, für das ich leben kann!«

»Du kannst aber wieder etwas finden!«

»O nein,« wehrte sie, »ich finde nichts!«

»Meinst du? Und wenn ich dir nun sage, daß sehr bald wieder etwas in dein Leben treten wird, das du von ganzem Herzen liebhaben darfst, eine liebe, kleine Seele, die dir sagt: Tante Johanna, du kannst mir viel, viel sein!«

Johannas rotgeweinte Augen sahen sie verständnislos an.

»Im Frühjahr, wenn die Störche kommen,« flüsterte die Pastorin, »in diesem Jahr kommt auch einer nach Groß-Zülla, weißt du.«

Eine sonderbare Reihe von Empfindungen spiegelte sich in den schönen Zügen Johannas, zuerst Verwirrung, dann ein ungläubiges Staunen, das in Schrecken überging, eine tiefe Blässe überzog ihr Gesicht, sie rückte in ihrem Bett so weit wie möglich von der Pastorin weg, drehte den Kopf nach der Wand und sprach keine Silbe mehr.

Die Pastorin sah mich ganz verblüfft an. Ich winkte ihr zu, sie möge gehen, denn es klang wie ein leises Stöhnen aus den Kissen, in die das Mädchen ihr Gesicht verborgen hatte. Wir schlichen beide leise aus der Stube.

»Was ist denn nur das?« fragte die prächtige Frau ganz verstört, und sie sah mich so forschend an, als ob sie mir auf den Grund der Seele schauen wollte.

»Nichts, nichts,« beruhigte ich sie, »Johanna ist hochgradig erschüttert, da wird ihr diese Nachricht wohl –«

»I Gott bewahre! Ehrlich gestanden, kann ihr's doch einerlei sein, ob Rhodens einen Sprößling erwarten oder nicht?«

»Ach, es ist ihr vielleicht schmerzlich, weil es nun der Vater nicht miterlebt – oder so –« redete ich mich heraus.

»Oder so! Na ja – sie ist ein wunderliches Kraut, die Kleine, angst und bang kann einem werden. Es hat mich übrigens sehr gefreut; die Karoline sagte es mir heute, als wir vom Kirchhof zurückfuhren.«

Bald darauf ging sie davon, ich war mit Rhoden allein.

»Wie geht es Johanna?« fragte er hastig.

»Sie macht mir Sorgen, Herr Rhoden.« Er sah mich groß und fragend an. Wunderbare Augen hatte der Mann, jede Regung drückte sich aus in wechselnden Farben und intensivem Aufleuchten, es konnten Funken aus ihnen sprühen und ein sanftes, stilles Lauschen in ihnen stehen, und wenn sie traurig waren wie eben, dann hatten sie etwas sonderbar Stilles, Glanzloses, etwas Rührendes wie betrübte Kinderaugen, das dem schönen, energischen Gesicht mit der langgeschnittenen Nase und dem militärischen Schnurrbart einen ganz eigentümlichen Reiz verlieh. »Es ist ein harter Schlag für sie,« murmelte er.

»Ja! Aber was nun, Herr Rhoden?«

»Ja, was nun? Bis jetzt fand ich noch nichts. Meine Frau hält es für selbstverständlich, daß Johanna zu uns kommt, es ist ja wohl auch das natürlichste, aber –« er verstummte und zuckte die Achseln. »Ich fürchte, Karoline wird es wollen,« setzte er hinzu.

»Im Gegensatz zu Ihren Wünschen?« fragte ich ruhig.

»Meinen Wünschen? Ich habe keine in diesem Fall, will keine haben! Das dünkt Sie sonderbar, Fräulein Maaßen. Nennen Sie es meinetwegen Gleichgültigkeit oder Egoismus, ich muß es tragen, ich wiederhole nur, ich mag mit dieser Angelegenheit nichts zu tun haben. Bitte, Fräulein Maaßen, empfehlen Sie mich meiner Schwägerin und – ja, was ich noch sagen wollte: ich bin sonst in jeder Weise da für Johanna; sie wird hoffentlich morgen so weit sein, daß wir die Testamentseröffnung vornehmen können.«

»Ich danke, Herr Rhoden! Schlimmstenfalls schieben wir die Chaiselongue hier ins Wohnzimmer. Und eine Bitte noch: reden Sie Johanna nicht ab, wenn sie etwa selbständig ihr Leben in die Hand nehmen will.«

Er sah mich fragend an, dann betonte er langsam: »Ich sagte Ihnen eben, in dieser Angelegenheit spreche ich nicht mit! Johanna und ihre Schwester mögen bestimmen.«

In der Nacht weckte mich Johanna: »Tante Anna, du wirst es verstehen, wenn ich nicht in Zülla bleiben mag, weder drüben, noch hier.«

»Warum willst du nicht?« fragte ich, mich ganz unbefangen stellend.

»Ich will eben nicht!« war die ausweichende Antwort. »Ich will abwarten, wie viel Vater mir hinterläßt, und, wenn einigermaßen davon zu existieren ist, so ziehen wir nach ...«

»Dessau!« fiel ich ein.

»Nein, nach Dresden.«

»Schön, mir auch recht. Und was wollen wir dort?«

»Ich will lernen, weiter nichts.«

»Und ich bemuttere dich?«

»Ja, so nebenbei. Du kannst dann Pensionärinnen nehmen, ich werde mir leider keine Vizemama gestatten können, Tante.«

»Wenigstens keine bezahlte, Johanna! Du sollst sehen, wir werden fertig miteinander.«

»Danke, Tante! Jetzt ist mir leicht, nun ich weiß, daß du auch willst.«

Als andern Tags das Testament geöffnet war, fand sich, daß Johannas väterliches Erbteil in einer für sie angelegten Leibrente bestand, die ihr zweitausend Mark jährlich brachte. Johanna weinte darüber vor Rührung; so viel hatte sie nicht erwartet; der Oberförster mochte wohl Jahr für Jahr daran gespart haben. Karoline erbte nur ein paar Andenken in Anbetracht dessen, »daß meine älteste Tochter durch den Nachlaß ihrer Mutter und deren Familie überreichlich gesegnet ist mit irdischen Gütern. Sie wird darum nicht an meiner väterlichen Liebe zweifeln, wenn ich ihrer Schwester meine Ersparnisse allein vermache. Ich,« so hieß es im letzten Willen weiter, »ich hoffe auch, daß meine Tochter Karoline in Notlagen ihrer Schwester Johanna diese unterstützen wird in jeder Weise und hoffe auch bestimmt, daß Johanna in Groß-Zülla eine Heimat sehen darf, die ihr im Leben stets als guter, sicherer Hafen erscheinen möge. Ich nehme ferner an, daß mein lieber Schwiegersohn Georg Rhoden seiner jungen Schwägerin Schutz und Rat gewähren wird.«

Georg Rhoden, der still, und als ob ihn alles nichts anginge, in seinem Sessel saß, nickte zustimmend mit dem Kopf.

Karoline sah nicht auf von ihrem Taschentuch, das sie in ihren Händen drehte und ballte. Und dann, als allseitig unterschrieben worden war, berichtete Johanna, was sie beschlossen hatte im Verein mit mir; Karoline machte ein paar Gegenreden, aber man merkte, es war nur pro forma: »Es sei mit den wenigen Mark in Dresden nicht auszukommen, besonders wo ich ja dann beinah die Hälfte davon als Gehalt bekomme!«

Johanna sah mich an.

»Ich lebe nur mit Fräulein Johanna zusammen und auf meine Kosten,« antwortete ich.

»So? Na ja, Johanna ist ihr eigener Herr,« gab Karoline zu. So war es denn entschieden.

Ich reiste noch einmal nach Dessau, um meine kleinen Angelegenheiten zu ordnen; von dort aus ging ich nach Dresden auf die Wohnungssuche. Ich fand ein kleines Quartier in der Nähe des Hauptbahnhofs, ein Parterre von vier Zimmern, das rückseitig in einen großen, alten Garten sah; es war ein bißchen teurer, als wir ausgemacht hatten, aber ich fand es für Johanna fast notwendig, daß sie ein paar Bäume sähe. Während der Zeit, da unsere Möbel unterwegs waren, wußte ich das Kind gut aufgehoben in Groß-Zülla, es wäre auch, wie sie mir schrieb, nicht möglich gewesen, die Aufforderung Karolinens, zu ihr zu kommen, abzulehnen, aber ein Grund mehr war es für mich, zu eilen mit der Einrichtung, denn sie teilte mir noch mit, daß sie die Stunden zähle bis zur Abreise.

Eines Tages schrieb sie mir folgendes:

»Tante Anna, ich muß Dir etwas Trauriges mitteilen. Gestern abend war ich zu Pfarrers geladen zu einer kleinen Abschiedsfeier; Rhodens waren auch gebeten, aber im letzten Augenblick wollte Karoline nicht mit, sie klagte über Kopfschmerzen. Jörg, der ursprünglich seinerseits die Absicht gehabt hatte, sich zu drücken vor der Einladung, mußte nun der Höflichkeit halber mitgehen. Ich sagte zwar, ich sei überzeugt, daß es Tante Brinkmann nicht übelnehme, wenn er sich entschuldigen ließe, aber er fand es zu wenig höflich und begleitete mich; Karoline wollte zu Bett gehen. Jörg und ich sprachen im Vorübergehen noch in Justchens neuer Häuslichkeit vor, sie wohnt bei Stellmacher Borne ganz hübsch. Ihr Stübchen liegt straßenseitig, da sitzt sie am Fenster wie eine Gräfin, so sagt sie, strickt und hat die Kaffeetasse vor sich. Ihr Stübchen ist mit den alten Möbeln von uns auch wirklich nett geworden.

Bei Pastors natürlich höfliches Bedauern über Karolinens Nichtkommen. Tante Brinkmann meinte aber, daß es überhaupt besser sei, wenn Karoline sich mehr schone, sie sei gar so viel unterwegs in ihrem Haus. Die Herren waren sehr gemütlich miteinander; ich finde überhaupt, daß Jörg so anders ist ohne Karoline, fast heiter, und das tut mir immer so weh.

Nun aber denke Dir, als wir eben beim Nachtisch sitzen, kommt Tantes Mädchen zur Stube herein und sagt, es sei ein Bote da vom Schloß, Herr Rhoden solle gleich nach Haus kommen, es ginge der gnä' Frau nicht gut.

Er sprang auf und eilte mit Tante Pastor hinaus, und nach einer Weile kam Tante allein zurück. ›Bleib nur hier, Kind, du kannst doch nicht helfen, wir bringen dich später schon nach Haus.‹

Auf meine Frage, was denn nur sei? antwortete sie recht unlogisch: ›Ja, das kommt von Karoline ihrem unvernünftigen Herumwirtschaften. Vorgestern hat sie ja wohl eine große Truhe mit Wäsche von einer Stube in die andere geschleppt?‹

›Ja!‹ gab ich zu, ›das Mädchen kam nicht rasch genug, und da sagte sie, ich solle mit anfassen; es war wirklich eine schwere Truhe.‹

›Na ja,‹ nickte Tante, ›dann muß sie die Strafe leiden, dann wird's wohl kein Taufen geben im Frühjahr, und ich will nur wünschen, daß alles gut abläuft.‹

Als ich nach Haus kam abends, hatte sich diese Prophezeiung erfüllt, die Hoffnung auf Elternglück war zerstört und Karoline sehr krank. Sie fiebert, und alles geht auf den Zehen umher.

Georg ist blaß und verstört. Wir beide saßen heute mittag ganz allein bei Tisch, er sprach kein Wort.

Ob er sich wohl sehr grämt? Ich denke mir, das Kindchen wäre gleich einem leuchtenden Sonnenstrahl in dieses graue Haus gekommen.

Nach Tisch ließ Karoline mich an ihr Bett kommen; sie hatte furchtbare Hitze und sprach langsam und unzusammenhängend. Eine Menge Aufträge gab sie mir, und ein mächtiges Schlüsselbund mußte ich vom Wandbrett nehmen. Ich sollte Wäsche ausgeben für das Gesinde- und für die Herrschaftszimmer, sollte die gebrauchte Wäsche zählen, Seife abwiegen und die heute eingelieferten Eier mit Stempel versehen – ich weiß nicht mehr, was es noch war. Und ich tue es ja auch gern, Tante Anna.

Vorhin rief mich Karoline nochmal an ihr Bett, und da sagte sie, Doktor Zänker finde es für nötig, daß sie vier Wochen liegen müsse, und sie hoffe, während dieser Zeit bleibe ich bei ihr, sonst tanzten die Leute über Tische und Bänke.

Tante Anna, ich kann doch nicht nein sagen und bin so schrecklich traurig. Die Pflegerin, die gegen Abend von Halle gekommen ist, sagte mir vorhin, Karoline sei sehr krank, sie habe sich eine Verletzung bei dem Heben des schweren Gegenstandes zugezogen, und sagte mir noch, sie werde niemals ein Kindchen haben können.

Du kannst Dir denken, Tante, wie mir zu Mute ist! Ich habe Georg heute abend nicht wiedergesehen, er sitzt allein in seiner Stube und hat nichts gegessen.

Und nun muß ich Dir leider die ganze große Arbeit allein überlassen, Tante. Sei nicht böse – ich kann nicht fort.«

*

Sie konnte nicht fort, das war klar, aber, Gott weiß, was ich ausstand um sie, und wie ich den Briefboten herbeisehnte. Am liebsten wäre ich hingefahren, aber auch das war nicht möglich, denn unsere Möbel konnten jeden Augenblick eintreffen, und hier in der fremden Stadt hatte ich niemand, den ich hätte bitten können, mich zu vertreten bei dem Empfang. Ich hoffte nur, daß Karoline, die ja eine so robuste Persönlichkeit war, sich rasch erholen, daß überhaupt alles nicht so schlimm sein werde, wie es sich anlasse. An die Frau Pastorin richtete ich ein paar Zeilen mit der Bitte, daß sie sich doch möglichst um Johanna bekümmern möge, weiteres zu tun, war mir nicht möglich.

Die Pfarrerin schrieb nun zunächst eine Litanei über Karolinens Unglück und sagte, ich solle mich wegen Johanna doch um Gottes willen nicht beunruhigen, sie habe das Mädchen getroffen in einer weißen Schürze Karolinens und ein Schlüsselbund am Gürtel, wie sie grad mit der Mamsell und dem Schweizer verrechnet habe; sie sähe wohl aus. Tätigkeit, gesundes, frisches Zugreifen aber sei das, was unserer Prinzessin nur gefehlt habe. Sie, die Pastorin, betrachte es für Johanna als ein Glück, daß sie einmal so recht mitten in der Arbeit stehe.

Während der nächsten acht bis vierzehn Tage kamen nur knappe Krankenberichte; Karolinen ging es bald besser, bald schlechter, im ganzen war sie sehr, sehr krank.

Endlich wieder ein längeres Schreiben; ich las es, als ich den ersten Abend, mit allem fertig, in unserer hübschen, kleinen Wohnung saß. Der letzte Nagel war eingeschlagen, todmüde und abgespannt hatte ich eben bei einer Tasse Tee den Träumen mich hingegeben, wie schön es werde, wenn Johanna plötzlich einträte und sagen würde in ihrer lieblich kindlichen Art: »Da bin ich, Tante Anna, und nun bleiben wir beisammen,« da klingelte es, und es war doch wenigstens ein Brief von ihr. Sie schrieb:

»Meine liebste Tante Anna!

Seit gestern ist Karoline entschieden aus aller Gefahr, das Fieber bedeutend gefallen, und die Hoffnung auf Erhaltung ihres Lebens steigt, aber sie ist noch sehr schwach. Die Pflegerin leidet nicht, daß ich lange im Krankenzimmer bleibe, denn sobald mich Karoline sieht, will sie von der Wirtschaft wissen, und das näherrückende Weihnachtsfest beunruhigt sie sehr. Georg hat ihr gesagt, bis dahin sei sie hoffentlich wieder wohl genug, um die Geschenke selbst einkaufen zu können, aber sie schüttelt immer nur den Kopf, und jetzt, in ihrer Schwäche, weint sie viel.

Georg hat sich nun doch in diesem Aufeinanderangewiesensein entschließen müssen, mit mir zu sprechen. Ich glaube, ich tue ihm leid, denn er ist aufmerksam und liebenswürdig, nur so entsetzlich vorsichtig im Verkehr mit mir, damit nicht etwa eine scheinbare Vertraulichkeit mit unterläuft, die ich oder andere mißdeuten könnten.

Je mehr ich ihn kennen lerne, umso schwerer fällt es mir auf die Seele, daß Karolinens Interessen auf so gänzlich anderem Gebiet als die seinigen liegen.

Wir sitzen jetzt abends in seinem Zimmer, gottlob! Das Wohnzimmer ist nämlich so entsetzlich kahl und ungemütlich, wie Karoline es eingerichtet hat, auch mangelhaft genug geheizt. In Jörgs Zimmer bin ich beinah zufällig gelangt, er wollte mir die photographischen Aufnahmen zeigen, die er auf seiner Weltreise gemacht hat; wir sprachen während des Essens davon, und da forderte er mich auf, mit hinüberzukommen.

Du kennst wohl schon die Stube, Tante. Die vertäfelte Südwesteckstube mit den hohen Büchergestellen an den Wänden und den herrlichen türkischen Vorhängen und Teppichen, die er sich von seiner Reise mitgebracht hat? Der mächtige, runde, mit Büchern und Schatullen bedeckte Tisch in der Mitte trägt auch den Photographiekasten von indischer Arbeit aus Elfenbein und Silber.

Wir sitzen in den tiefen, mit rotem Leder bezogenen Klubstühlen am Kamin, und auf einem kleinen, alten Rosenholztischchen mit Perlmutterintarsien liegen die Bilder, die er dem Kasten entnommen hat. Er reicht mir eins nach dem anderen, sagt mir, was es vorstelle, er beschreibt mir die augenblickliche Situation, die Stimmung, in der die Aufnahme gemacht wurde, und er erzählt gut, Tante Anna. Ich befinde mich bald in Japan, bald in Afrika, und wenn er schweigt, muß ich mich umsehen, wo ich eigentlich bin. Dabei raucht er seine türkischen Zigaretten. Und das Stubenmädchen bringt dann das Teetischchen, das eigentlich nur ein riesiger Teller aus Goldbronze ist, indischen Ursprungs, auf dem rätselhafte feine Figuren zu einem Muster geformt sind.

Im Kamin lecken träge und zaghaft die Flammen an dem mächtigen Buchenscheit, gerade genügend, um es behaglich warm zu machen und dabei spielende Lichter über den Teppich zu werfen. Ich ertappe mich, daß ich mir plötzlich einbilde, ich hätte dies alles schon einmal erlebt, aber es ist nur das innere Befriedigtsein, das all diese Schönheit und Behaglichkeit in mir auslöst. Beinah vergessen könnte ich in diesen Stunden, daß ich arm bin und Trauerkleider trage.

Ich habe mir vorgenommen, Tante, ich will Dir alles getreulich schreiben, jeden meiner Gedanken sollst Du wissen. Das wird gut sein für mich. Die Arbeit, die ich hier habe, sorgt übrigens dafür, daß ich nicht zu viel denke.

Beschreibe mir doch mein künftiges Zimmer recht genau.

Deine Johanna.«

Und nun folgten in mehrtägigen Pausen folgende Mitteilungen von Johanna:

»Den 4. Dezember.

Es geht Karoline wieder besser, das Fieber nimmt stetig ab, aber an ein Aufstehen ist noch nicht zu denken. Ich besorge die Wirtschaft, so gut ich es vermag, aber es wird viel zu wünschen übrig bleiben, Tante Anna; Vater sagte immer: ›Ein Lump gibt mehr, als er hat!‹

Sitzt Ihr denn in Dresden auch so im Schnee? Wir sind vollkommen eingeschneit, und Georg, der gestern seinen Besuch in Scheibendorf machte, wohin ihn sein Freund dringend eingeladen hatte, fuhr im Schlitten. Ich freute mich so sehr über das lustige Gefährt, daß er mir versprach, die Tante Pastor und mich auch eine Stunde morgen zu fahren.

Ich denke immer an Dich, Tante Anna, wie hübsch muß mein Zimmer sein!«

»Den 5. Dezember.

Karoline darf heute etwas Fleischbrühe essen, Fieber ist nur noch wenig vorhanden, aber sie fühlt sich doch noch sehr schwach, das rechte Bein ist wie gelähmt. Ich denke immer, wie schwer sie unter den Gedanken an ihre Wirtschaft, die sie uns so überlassen muß, leiden mag. Jörg geht jetzt öfter zu ihr, aber es ist, als ob sie ihn nicht gern sieht im Krankenzimmer, sie zwingt ihn förmlich, bald wieder zu gehen, durch allerhand Aufträge, über die er Auskunft erst einziehen muß, zum Beispiel, ob der Holzhändler bezahlt hat? Ob die Christbäume schon verladen sind? Wie viel Waggons abgesendet wurden, und ob Schertz auch selbst zugegen gewesen ist beim Verladen? Ob die Stute in der Besserung sei, und ob er meine, daß sie wieder zugfähig werde? Es handelt sich um ein altes Reitpferd, das Karoline für den Milchwagen degradiert hatte, es verletzte sich bei dem Versuch, es einzuspannen.

Als wir Mittag speisten, sagte Georg plötzlich: ›Die Stute habe ich gerade gestern erschießen lassen, ich weiß es, das Tier zieht nie, oder es muß erst durch Hunger und Schläge mürbe gemacht werden; ich vermag das nicht. Das Tier war fünfzehn Jahre alt, Mutter hat es seinerzeit noch geritten, es ist verbraucht. Ich hätte ihm das Gnadenbrot gegeben, aber Karoline und ich sind zu verschiedener Ansicht in solchen Dingen, sie ist die weitaus praktischere Natur, und ich, ich bin eher alles andere als das. Ja, sehen Sie mich nur nicht so an, Johanna, ich bin ein schlechter Geschäftsmann, ein ganz sentimentaler Kerl bin ich.‹

›Mitleid ist keine Sentimentalität, und ich verstehe es vollkommen, wenn man nicht immer nur an den Nutzen denkt, den man eventuell haben kann,‹ sagte ich, ›aber ...‹

Ich stockte.

›Nun?‹ fragte er.

›Aber ich finde doch, Sie können sehr froh sein, Jörg, eine so tüchtige Frau zu haben, wie Karoline ist, ich sehe erst jetzt ein, was sie leistet, bei den vergeblichen Mühen, es ihr nur einigermaßen nachzutun. Und überhaupt ist Karoline ...‹

Ach Tante, ich weiß nicht, was ich alles zu ihrem Lob sagte, und warum ich das tat? Ich wäre ja viel lieber in Tränen ausgebrochen, als er mir ebenso schlicht und sachlich bekannte mit einem so wunderlichen, müden Ausdruck, daß er und Karoline sich nicht verstehen und niemals verstehen werden.

Er sah mich auch ganz verwundert an ob meines Eifers und fragte, sich in den Stuhl zurücklehnend: ›Wozu sagen Sie mir denn das alles, Johanna? Ich weiß es doch selbst.‹

Ich war innerlich ganz fassungslos und froh, als das Mädchen kam, um den Nachtisch zu servieren. Das gleiche dumme Gefühl, wie ich es als Kind hatte, wenn ich abends im Dunkeln die Treppe in unserem alten Haus emporstieg und ganz laut zu singen begann, weil ich mich fürchtete, überkam mich und verließ mich auch den ganzen Tag nicht mehr. Ach, Tante Anna, ich habe mich gewiß recht töricht benommen.«

»Den 8. Dezember.

Heute, wo es Karoline so viel besser geht, wagten wir unsere Schlittenfahrt. Ganz rasch und auf dringendes Zureden von Doktor Zänker, der schlecht Wetter prophezeite für morgen, entschlossen wir uns dazu. Jörg setzte sich auf die Pritsche, um selbst zu kutschieren, und wir fuhren bei Pastors vor. Aber leider hatte Tante Brinkmann ein ganz verschwollenes Gesicht, und es war ihr unmöglich mitzufahren.

›Fahrt nur allein, meine Herrschaften,‹ sagte sie, das Fenster ein wenig öffnend und ein Tuch über den Kopf ziehend, ›ich warte auf den Doktor, hoffe nur, daß er mich nicht in das Bett steckt.‹ Sie machte das Fenster wieder zu und nickte hinter den Scheiben.

›Wollen wir die Fahrt nicht lieber aufgeben?‹ fragte ich Jörg.

Er schüttelte den Kopf, stieg von der Pritsche und setzte sich neben mich. ›Warum sollten wir?‹ fragte er und sah mich ruhig an. Er breitete sorgfältig die Pelzdecke über mich, zog die im Schlitten liegende endlose Wildschur über seine Knie, ein leises Schnalzen mit der Zunge, und die Pferde trabten an. Wir sprachen wenig, nachdem wir uns über den Weg, den wir nehmen wollten, verständigt hatten; wir fuhren mit dem Wind in einem sehr flotten Tempo.

Als wir nach einer halben Stunde durch Dorf Zittleben kamen, stand vor dem Gasthaus ›Zur roten Forelle‹ ein herrschaftlicher Schlitten, und Jörg sagte: ›Das ist das Scheibendorfer Geschirr!‹ Er hielt und fragte den herzueilenden Wirt, wer von den Herrschaften drinnen sei, die Alten oder die Jungen?

Die Jungen, der Herr Baron und seine Frau seien da und tränken Kaffee im Gastzimmer.

›Da wollen wir sie überraschen,‹ erklärte Jörg, und wohl oder übel, ich mußte mit hinaus. Dem Mann, der die Scheibendorfer Pferde hielt, vertraute Jörg auch die unseren an, und wir wurden in der bäuerlichen Gaststube mit einem Jubelruf der lustigen jungen Frau begrüßt.

›Nein, das ist ja zu nett!‹ rief sie, ›eben fingen wir schon an, uns zu langweilen, nicht, Fritzchen?‹

Das baumlange Fritzchen machte seine Frau mit mir bekannt. Jörg bestellte ebenfalls Kaffee und frischgebackenen Kuchen, und dann mußte er Auskunft geben, wie Karoline sich befinde. Als die beiden vergnügten Menschen erfuhren, daß es bedeutend besser gehe, behaupteten sie, das wäre Grundes genug, eine Feier zu veranstalten, und plädierten für Punsch.

›Um Gottes willen,‹ sagte Jörg, ›das wird ein nettes Getränk sein, was die hier Punsch nennen.‹

Aber Fritze Breitenfeld meinte, er werde ebenso fein werden wie der, den er damals gebraut habe auf der Fahrt zwischen Singapore und Kolombo, wo der Rosenmontag die sämtlichen Passagiere des stolzen deutschen Schiffes zu einer flotten Fastnachtsfeier vereinigt hatte. – Er begann auch sogleich mit dem Wirt zu verhandeln, und es fand sich, daß er Arrak und Burgunder von einer guten Firma besaß, und so verfügten sich die beiden Herren nach der Küche, während wir uns unterhielten, wie man sich eben unterhält, wenn man sich noch ganz und gar nicht kennt. Nach einer Weile kamen die Herren zurück, Fritze Breitenfeld trug die dampfende Terrine, Jörg den Schöpflöffel, und die dicke Wirtin folgte mit den Gläsern.

Als diese gefüllt waren, hielt Fritze Breitenfeld eine Rede auf Karolinens baldige, völlige Genesung, und wir stießen an und tranken. Wir wurden alle bald sehr vergnügt, eine harmlose nette Lustigkeit, wie sie nur unter ganz alten Bekannten möglich ist, die sich als Jungens zusammen geprügelt haben. Den drolligen Einfällen der jungen Frau war kaum zu widerstehen, ich mußte auch ein paarmal herzhaft mitlachen.

›Kleiner Schatz, begieß dir die Nase nicht,‹ warnte Fritz seine lebhafte Hälfte, füllte ihr aber nichtsdestoweniger noch ein halbes Glas ein. Aber der kleine Schatz war wirklich schon leicht angespitzt, und plötzlich sagte sie zu mir: ›Wissen Sie was, Frau Rhoden, wir wollen doch –‹ Und dann begann sie sich über ihren Irrtum halb tot zu lachen. ›Ach, verzeihen Sie, bitte – wie komme ich nur dazu? Weil wir hier so furchtbar nett und gemütlich zu vier zusammensitzen, nicht? Und weil Sie beide wirklich ein famoses Paar abgegeben hätten – nicht, Fritzchen?‹

Und ohne eine Antwort abzuwarten, stieß sie an mein Glas: ›Darum keine Feindschaft nicht, Fräulein Nordmann – es hätte doch sein können, nicht? – Huh! Sie Brummbär!‹ wandte sie sich, eine kleine Grimasse schneidend, an Jörg, der wie geistesabwesend vor sich hin starrte, ›es ist doch keine Beleidigung, wenn man ein hübsches Mädchen für Ihre Frau hält?‹

›Sagen Sie, Fräulein Nordmann,‹ wandte sie sich wieder an mich, ›hat Ihre Schwester eigentlich Anlage zur Eifersucht?‹

›Das weiß ich nicht,‹ erwiderte ich kühl, ›jedenfalls hätte sie wohl auch keine Ursache.‹

›Man braucht auch keine Ursache dazu! Wer eifersüchtig ist, der ist's eben ohne alles, nicht, Fritzchen?‹

›Ja, ja!‹ nickte er.

Aber es war plötzlich wie eine Ernüchterung über uns gekommen, und Georg sah nach der Uhr. ›Wir möchten heim, Johanna!‹

Ich stand auf und zog meine Jacke wieder an; nach zehn Minuten hatten wir uns verabschiedet und fuhren nach Haus; der Rückweg sollte durch den Züllaer Forst gehen. Wir hatten uns doch länger versäumt, wie wir dachten, und es dunkelte schon, als wir die letzten Häuser des Dorfes hinter uns ließen und die einsame Landstraße entlang glitten.

›Ein kleiner Kobold ist diese junge Frau,‹ meinte Jörg, ›aber nett und lieb.‹

Dann schwiegen wir, und ich bemerkte, wie Jörg scharf umsah nach der linken Seite.

›Ich glaube, ich habe den Weg in den Forst schon verpaßt,‹ meinte er, und hielt, um zum Überfluß noch die Laterne anzuzünden, denn es war sehr schneehell. Der Wind hatte sich gelegt, und es herrschte nur die ruhige milde Kälte einer Winternacht unter sternenfunkelndem, stahlblauen Himmel, der Wald stand schwarz neben uns. Wir fuhren noch ein Stück vor und bogen dann links in einen schmalen, verschneiten, kaum erkennbaren Feldweg ein. ›Der führt auf die große Scheibendorfer Chaussee, die wir fahren müssen,‹ erklärte Georg, und bald waren wir im Wald. Die Pferde gingen mühsam im Schritt, und es wurde sehr dunkel.

›Sind wir auch auf dem richtigen Wege?‹ fragte ich zaghaft.

›Nein!‹ gab er zurück, ›aber wir werden ihn schon finden. Ängstigen Sie sich nicht, Johanna.‹

Wir fanden ihn auch, Tante Anna, aber vielleicht erst nach einer Stunde, und dann hatten wir noch ein und eine Viertelstunde durch den Wald zu fahren, und weil die Pferde müde waren, wurde es noch zwanzig Minuten länger. Jörg hatte mich warm und sorglich in die Pelzdecken gewickelt, und ich war plötzlich sehr müde geworden von dem ungewohnten Punsch und der Kälte, und als ich wußte, wir haben den rechten Weg gefunden, bin ich eingeschlafen, Tante, ganz fest und tief, wie lange nicht. Ich wachte erst auf, als Jörg mich weckte, weil wir in der Nähe des Dorfes waren; als ich mich besann, merkte ich, daß er mich mit dem Arm umfaßt hielt und mein Kopf an seiner Schulter lag.

Ich war so erschreckt, Tante Anna, daß ich Herzklopfen bekam, und kaum atmen konnte, aber er sagte ganz ruhig und laut: ›Entschuldigen Sie, Johanna, Sie wären sonst unfehlbar hinausgefallen, Sie schliefen so fest wie ein Kind.‹ Und dann schlug mein Herz wieder ganz ruhig, und ich dankte ihm ebenso höflich und ruhig.

Als wir ausstiegen und ins Haus traten, kam uns die Pflegerin Karolinens entgegen im Flur, eilig und verlegen: ›Gehen Sie doch, bitte, gleich hinein zur Frau Rhoden, sie hat sich so sehr geängstigt über Ihr langes Ausbleiben,‹ bat sie.

Als ich eintrat, unmittelbar von Jörg gefolgt, klang eine matte, aber vor Erregung scharfe Stimme uns entgegen: ›Es war wohl sehr schön? So schön, daß ihr das Wiederkommen vergessen habt? Wie?‹

›Ich hatte den Weg verfehlt,‹ antwortete ihr Jörg, indem er an ihr Bett trat und ihre Hand ergriff, um sie an die Lippen zu ziehen.

›Ach, laß doch,‹ sagte sie, und entzog ihm die Hand fast heftig, ›du weißt, solche Komödie mag ich nicht! Und sonderbar ist's doch, daß du, der du hier jeden Heckenweg und jede Schneise auf vier Meilen in der Umgegend kennst, in die Irre fährst.‹

›Ja, es ist auch unerhört, aber der Schnee macht's, Karoline.‹

Sie wendete sich plötzlich an mich mit einer ironischen Höflichkeit: ›Ach, bitte, sei so gütig und lege ab, es ist nämlich noch allerhand zu tun in der Wirtschaft, das heißt, wenn du nicht zu angegriffen bist von deiner Irrfahrt.‹

Du weißt ja, Tante Anna, ich bin diese Tonart von Karoline gewöhnt, ich wollte also dieser Aufforderung ohne irgendwelche Empfindlichkeit nachkommen, aber da ich plötzlich in Jörgs Gesicht blickte, sah ich seine Augen mit einem so sonderbaren Ausdruck von Schmerz und Mitleid auf mich gerichtet, daß ich zum zweiten Male Herzklopfen bekam und zitternd und wie schuldbeladen davonschlich. Und noch jetzt fühle ich dieses seelische Zittern in mir.

Tante, ich glaube, daß es Mitleid war von Jörg, als er mich so ansah, Mitleid mit meiner grenzenlosen Seeleneinsamkeit, mit meiner Sehnsucht nach ein bißchen Wärme und Liebe.«

»Den 12. Dezember.

Ein paar Tage habe ich nicht geschrieben, es gab so entsetzlich viel zu tun.

Tante Pastor ist wieder wohl und besuchte Karoline, die jetzt auf der Chaiselongue lag in ihrem hofseitigen Zimmer. Sie war unbeschreiblich aufgeregt, denn es gab das erste Mal Großschlachten, und sie war nicht auf den Füßen! Ich kann Dir sagen, Tante, die meinigen fühlte ich am Abend des dritten Tages kaum noch und war so froh, als ich das Letzte überstanden hatte.«

»Den 15. Dezember.

Karoline hat uns mit einem neuen Projekt überrascht, sie will plötzlich die Pflegerin nicht mehr, die Ärmste sah sich Knall und Fall entlassen, dafür aber, und das ist eben das Überraschende, ließ sie Lottchen Breiter holen. ›Die stiehlt doch bloß unserem Herrgott die Tage in Klein-Zülla,‹ sagte sie, ›und da sie meine Schwiegermutter gepflegt hat, wird sie mich auch wohl pflegen können; außerdem weiß sie mit der Weihnachtsgeschichte Bescheid.‹ Die Breitern tut, als ob ihr an der ganzen Sache nichts liegt, aber den innerlichen Triumph lese ich ihr von den Augen ab.

Karoline hat Jörg bestimmt, die große Bescherung überhaupt abzustellen, die Leute sollen an Stelle der Geschenke je fünf Mark bekommen nebst Stollen, Äpfeln und Nüssen. Darüber sind sie sehr empört, wie mir die Mamsell erzählt. Sie haben sich vielleicht das ganze Jahr hindurch schon auf den Lichterbaum im Schloß gefreut, aber wer will es Karoline verdenken, die sich noch so schwach fühlt?

Ach, Tante, könnte ich doch Weihnachten bei Dir sein! Ich habe so große Sehnsucht nach Stille und Ruhe und nach Deinen lieben, vernünftigen Worten.

Gestern wieder ein interessanter Abend in Jörgs Stube, er las mir aus seinem Reisetagebuch vor. Mitten hinein platzte die Breiter mit einer Frage Karolinens, deren Beantwortung recht gut bis morgen Zeit gehabt hätte. Sie zog sich sehr verlegen zurück mit der Bitte um Entschuldigung, aber meine Stimmung hatte sie verdorben, ich war nun zerstreut und konnte die verlegene Miene, dieses sonderbar ernste und vorwurfsvolle rote Gesicht nicht vergessen.

Karoline geht es übrigens sehr viel besser, sie macht schon Gehversuche im Zimmer.«

»Den 20. Dezember.

Ich kann Dir nicht ausführlich schreiben, Tante, ich zittere noch an allen Gliedern. Karoline und Georg haben heute früh eine Szene miteinander gehabt – ich weiß nicht warum und weshalb – aber so schlimm war es – ich hörte Karolinens hohes schallendes Sprechen bis in die Küche hinunter. Rhoden begegnete mir auf dem Flur kurz darauf, er ging mit wachsbleichem Gesicht und funkelnden Augen an mir vorüber, ohne mich zu bemerken – was mag da geschehen sein?

Nachts.

Liebe Tante, Du sollst alles wissen, denk nicht zu schlecht von mir, ich bin so verzweifelt! Morgen, ach Tante, ich wollte, es würde nie morgen, nie wieder!

Ich kann Dir nicht alles so schreiben – lies zwischen den Zeilen. Was habe ich erlebt! Was habe ich getan!

Ich sah Georg erst bei Tisch wieder; er war wie immer, keine Spur der Szene von heute vormittag. Er fragte, ob er weiter vorlesen solle? Natürlich sagte ich, daß ich es gern hören wolle. Karoline ging schon um acht Uhr zu Bett, weil sie noch zu matt ist.

In meiner Stube wird nicht geheizt, also ist Georgs Zimmer der einzige Raum, in dem ich mich aufhalten kann, wenn ich nicht ganz allein in dem kalten Eßzimmer sitzen will. Es war so warm und so traut wie immer in Jörgs Stube. Aber wir kamen nicht zum Lesen, er war sehr unruhig, ging immer mit großen Schritten im Zimmer umher, und ein paarmal blieb er vor mir stehen, als wollte er sprechen, schwieg aber. Endlich trat er hinter meinen Sessel, legte seine Hände auf die hohe Lehne – ich fühlte sein leises Zittern – und auf einmal klang mir eine Stimme ins Ohr, gar nicht wie die seinige, so erloschen und farblos war sie.

›Johanna, liebe Johanna‹ sagte die Stimme, ›Sie müssen dies Haus verlassen!‹

Ich wollte mich emporrichten, war aber wie gelähmt; ich fühlte kein Erstaunen, keinen Schmerz, nur eine bange, schwere Seelenangst, die mir wie Gift durch die Glieder rann, ich konnte auch nicht fragen – Warum? Aber gleichwohl kam die Antwort: ›Es ist besser für uns beide, Johanna, wenn wir uns trennen – Sie und ich, wir gehen beide daran zu Grunde!‹

Ach, Tante – ich kann nicht mehr schreiben, ich wüßte auch nicht, wie ich dir's sagen sollte – ich erinnere mich an nichts mehr – wie ich aufgestanden und bis zur Tür gekommen bin, aber das weiß ich doch, daß ich auf seinen leisen Ruf: ›Johanna‹ noch einmal zurückgesehen habe – und dann – möge es Gott mir verzeihen, ich wäre gestorben ohne ein Abschiedswort, ohne einmal meinen Kopf an seine Brust gelegt zu haben und heiß zu weinen, um nur einmal zu hören, wie sehr er mich liebt, um seinen Kuß zu fühlen – –

Es war so spät geworden, als wir uns trennten. Tante, ich kann kaum schreiben – warum hast Du mich allein gelassen! Tante, ich lebe kaum nach dieser Stunde! Ich komme zu Dir, ich weiß nur Dich, wo ich mich verstecken mag vor der Welt, vor mir selbst! – Sei nicht hart zu mir, er und ich, wir haben gekämpft wie die Helden und sind so kläglich unterlegen, als wir dem Sieg schon nahe waren – –

Und nun? Mein Gott, was nun?

Bis morgen mittag muß ich noch aushalten hier, ich weiß nicht, ob ich es kann – der Brief wird vielleicht früher kommen als ich.

Ach, Tante, wenn ich doch gleich neben dem Vater läge auf unserm Friedhof!«

Ich saß am 21. Dezember abends ohne Licht in der Wohnstube unseres kleinen Dresdner Asyls und war traurig, weil ich keinen Brief von Johanna bekommen hatte. Die Hoffnung, sie hier zu sehen während des Festes, hatte ich aufgegeben, denn ich wußte, daß viel zu tun sein würde in dem Züllaer Haus, und ich kannte Johanna genügend, um überzeugt zu sein, daß sie trotz all ihrer Sehnsucht nicht von ihrem Posten weichen würde.

Da hörte ich die elektrische Klingel der Entreetür, und als ich öffnen ging, standen da, von der Gasflamme hell beleuchtet, mein Liebling und hinter ihr ein Dienstmann mit ihrer kleinen Reisetasche.

»Wirfst du mich nicht hinaus?« fragte sie ganz sonderbar.

»Aber, Johanna – Gott sei gepriesen, daß ich dich habe!« Ich bezahlte mit zitternder Hand den Mann, machte die Tür hinter ihm zu und breitete die Arme aus. »Johanna, das vergesse ich dir nie, daß du mich nicht allein läßt in diesen Tagen, wo die deutsche Sentimentalität uns überwältigt, soviel man sich auch wehrt. Nun komm, es ist alles für dich bereit, und mein kleines Abendessen langt für uns zwei.«

Ich zog sie ins Zimmer und hielt sie bei den Händen und wollte sie küssen, aber sie bog hastig den Kopf beiseite.

»Du kleine Böse!« schalt ich, »warum hast du nicht geschrieben.«

»Ist der Brief noch nicht da?« murmelte sie.

»Nein!«

»Dann kommt er noch,« sagte sie tonlos.

»Ach, er mag bleiben, wo er ist – ich habe dich selbst.«

Ich beeilte mich, Licht anzuzünden, und nahm ihr Mantel und Hut ab. »Hast du kalt?« fragte ich, »paß auf, hier wirst du bald warm. Setz dich doch, Kind, gleich soll der Tee fertig sein.«

Sie stand da, noch immer die Arme schlaff hinunterhängend, und erst jetzt sah ich, wie schmal ihr Gesicht war, und die tiefliegenden Augen, die einen so furchtbar traurigen irren Ausdruck hatten.

»Du wirst doch nicht krank sein?« forschte ich erschreckt.

»Nein, Tante, krank bin ich nicht,« murmelte sie und sah an mir vorüber. Und als draußen ein leises Klappen erscholl, sagte ich: »Da, jetzt kommt dein Brief, das war der Briefkasten, Hannele; ach, wenn du wüßtest, wie ich mich auf den Ton immer gefreut habe. Aber, Schatz, wie geht es Karoline?«

Sie saß jetzt in einem großen Sessel aus ihrem Vaterhaus und blickte wie suchend umher, als wollte sie eine Gelegenheit erspähen, um zu fliehen. »Der Brief,« sagte sie, »lies doch den Brief ...«

Sie sprang auf und wollte zur Tür, und dann sank sie wieder zurück. »Lies ihn nur,« stieß sie hervor, »sagen kann ich's noch weniger!« Und wieder aufspringend: »Zeige mir mein Zimmer, ich kann nicht mehr, es muß dunkel sein um mich, ich habe ja so schreckliche Angst vor – allem, was nun kommt!«

Ich beruhigte sie aber wieder und sprach von den Annehmlichkeiten des Stadtlebens, das so viele Bequemlichkeiten bietet und so viele Genüsse.

»Ach, du, so ein Opernhauskonzert, Johanna, und wie gut es sich da oben im Olymp sitzt, da findest du die echtesten Musikschwärmer von Dresden in Mengen, wirklich lauter feine Leute, und wenn du einen Stehplatz hast, kannst du dein Feldstühlchen mitnehmen.«

Sie antwortete nicht, aber sie trank ihren Tee mit einer gewissen Hast. »Ich habe seit heute früh nichts genossen, Tante.«

»Aber – warum?«

»Ich konnte nicht ...«

»Bist du so früh denn schon ausgereist?«

»Ja, mit dem Milchwagen.«

»Bei der Kälte?«

»Ja!«

»Hast du Tante Brinkmann noch gesehen?«

»Nein, niemand. Ich ging plötzlich.«

»Wie kam es denn so plötzlich? Herr Rhoden konnte dich doch zur Bahn begleiten?«

»Nein, das konnte er nicht!« Es klang sonderbar und trostlos zugleich. Sie strich sich nervös mit der Hand über die Stirn und erhob sich schwankend. »Tante, lasse mich nun – mein Kopf schmerzt so sehr.«

Sie folgte mir, und ich wollte ihr behilflich sein beim Auskleiden, aber sie wies mich zurück. Sie strich wie liebkosend über den Schreibsekretär ihres verstorbenen Vaters, der hier seinen Platz gefunden hatte, und ihre Augen streiften dessen Bild mit einem scheuen Blick. Ich ging endlich, weil sie es durchaus wollte. Wie sonderbar Johanna doch war! Was mochte ihr denn geschehen sein? Hatte Karoline sie gekränkt? Und dann holte ich den Brief und ging mit ihm in die Wohnstube zurück und begann zu lesen. Aber ich konnte das leichte Papier plötzlich nicht mehr halten, so zitterten meine Hände, ich mußte den Bogen auf den Tisch vor mir breiten, und da stützte ich mich mit den Ellbogen und hielt meinen schwindelnden Kopf mit den Händen.

Also doch! Also doch! Ich hatte es ja geahnt, vom ersten Augenblick an hatte ich gewußt, daß sich die beiden liebten. Und ich soll nicht hart sein, schreibt sie – armes, armes Geschöpf – hart sein, weil du müde geworden bist im Kampf mit deiner jäh erwachten Liebe, und weil du einmal, nur einmal zum Abschied, seinem Kuß –?

Aber im nächsten Moment übersah ich das Entsetzliche, und es drängten sich mir, ihrer Erzieherin und Beschützerin, die schwersten Vorwürfe auf die Lippen; ich stürzte hinüber zu ihrer Tür, aber als ich ihr fassungsloses, fast schreiendes Schluchzen hörte, wich ich zurück – sie, die die reinste, holdeste Mädchenhaftigkeit gewesen – was war sie nun, was war sie nun! Und plötzlich fielen mir des Pfarrers Worte ein: Sie würde eine Sünde begehen für den ersten, der ihr ein wenig echte Liebe zeigt.

Und wenn er sie ebenso liebt. Wenn dieser erste zufällig Jörg Rhoden heißt. Aber was nun? Es ist ja so entsetzlich. Der Mann, der einer andern gehört. – Wie sind denn diese unseligen Menschen nur so ganz von allen Gedanken, aller Überlegung verlassen gewesen?

Hart sein? Nein, das wollte ich gewiß nicht, aber wie denn sonst? Würden sie denn leben können in diesem Bewußtsein, würden sie nicht vergehen in Sehnsucht und brennendem Weh nacheinander, und war denn nicht jeder Gedanke eine Sünde? Ich wollte abermals zu ihr, aber an ihrer Tür wandte ich mich wieder, ich konnte nicht sprechen, wollte sie nicht sehen.

Als Johanna mir am andern Morgen gegenüberstand, da sah ich im Tageslicht, daß die glühende Lebenswelle, die über sie hinweggegangen war, ihre weiche, unschuldige Kindlichkeit verlöscht hatte, daß ein Weib vor mir stand, auf dessen weißer Stirn sich die Kummerfalte zog, fast über Nacht entstanden unter der Wucht einer großen, traurigen Hoffnungslosigkeit, eines tiefen Schuldgefühls.

*

Zwei Tage lang redeten wir nicht miteinander. Ich konnte nicht beginnen, ich wußte nicht wie? Es war doch eine zu tiefe Enttäuschung, ein zu brennender Schmerz zu überwinden in mir, und Gott allein weiß, wie bitter ich Rhoden zürnte. Ich ließ Johanna allein zu Haus und lief stundenlang im »Großen Garten« spazieren, um mich hineinzufinden in das Furchtbare, und dann trieb mich doch die blasse Angst, sie könne vielleicht etwas Schreckliches in ihrer Verlassenheit beginnen, nach Haus, und dann fand ich sie in der gleichen Stellung im Sessel hockend, wie ich sie verlassen hatte; sie schien mich auch kaum vermißt zu haben. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, ich setzte mich neben sie, zog sie in meine Arme und weinte mich aus.

»Ach, Tante,« stammelte sie, »weine doch nicht, ich bin es gar nicht wert.«

»Nein, komm nur,« schluchzte ich, »du hast ja noch ein langes Leben vor dir und kannst vieles gut machen, du darfst dich nicht aufgeben. Wir wollen doch eine Beschäftigung für dich suchen, die dich voll in Anspruch nimmt.«

»Ach, Tante, ich möchte am liebsten sterben ...«

»Kind,« sagte ich abwehrend, »du sollst leben, und du sollst büßen.«

»Büßen?« Sie starrte vor sich hin, und ein Schauern ging durch ihren Körper. »Ja, kann ich denn das? In meinem Herzen steht über allem Schmerz nur immer die brennende Sehnsucht nach ihm.«

»Johanna, weißt du denn nicht, du nahmst fremden Besitz, du bist – –«

»Ach, Tante!« rief Johanna, und darauf wieder: »Ja, konnte ich denn anders? Konnte ich denn anders?«

»Du hättest es können müssen,« sagte ich strenge.

Da begann sie herzbrechend zu weinen. »O, ich weiß ja selbst, ich bin so schlecht, so schlecht! Hilf mir doch, Tante, hilf mir! Wie soll ich leben, wo soll ich die Kraft herkriegen, ihn zu vergessen.«

»Ich habe es dir einst versprochen, Johanna,« sagte ich, »daß ich bei dir bleiben will in jeder Lebenslage, dir helfen will, so gut ich kann, aber nun versuche den Dingen ins Gesicht zu sehen, versuche zu sühnen, indem du zu nützen trachtest; lebe für Arme oder Kranke – wir beide wollen es tun, dann wird es ruhiger werden in deiner Seele!«

Sie senkte den Kopf und murmelte ein leises »Gott im Himmel!«

Und den Tag darauf bekam ich einen Brief von Jörg Rhoden:

»Stützen Sie Johanna, verlassen Sie sie nicht! Augenblicklich bin ich nicht im stande, irgend welche Schritte zu tun – Karoline hat Lungenspitzenkatarrh, sie fiebert und soll nach dem Süden. Sobald sie gesund ist, hoffe ich alles zu ordnen.

Rhoden.«

Ich antwortete ihm nicht. Aus einem Brief der Frau Pastorin erfuhren wir, daß Karoline am zweiten Feiertag mit Lotte Breiter nach der Riviera abreisen würde; soviel sie wisse, nach Nervi. Karoline sei sehr ärgerlich auf Johanna, und sie, die Pastorin, eigentlich auch. Man dürfe auch nicht gar zu sentimental sein und des Festes wegen den Posten verlassen! Es wäre doch besser gewesen, wenn ich nach Zülla gekommen wäre. Karoline habe sich zweifellos den Husten geholt bei ihrem Versuch, wieder in der Wirtschaft zu helfen. Vorläufig liege sie ganz fest.

»Auch das noch!« sagte ich zu dem blassen Mädchen.

Wir hatten einen unsäglich traurigen Weihnachtsabend. In der Stunde, in der alles rüstet zur heiligen Feier, zwischen sechs und sieben Uhr, ging ich neben Johanna auf einen einsamen Feldweg außerhalb der Stadt. Sie schritt mit einer nervösen Hast, die körperliche Müdigkeit nicht zu kennen schien, vorwärts.

Ein Dorf hatten wir schon passiert, ich wußte nicht, wie es hieß, wo wir waren. Johanna strebte noch weiter, wortlos, ohne von meiner Gegenwart Notiz zu nehmen, da packte ich sie am Arm und zwang sie umzukehren. Wie aus einem Traum erwachte sie.

»Ist es noch sehr weit bis Dresden?« fragte sie und lehnte sich gegen einen großen Baum an der Chaussee, der sich schwarz von dem schneehellen Feld abhob.

»Es wird wohl, aber bis zu dem nächsten Dorf zurück wird's nicht weit sein, dort können wir uns ausruhen oder einen Wagen bekommen.«

Wir gingen zurück; ein kalter Wind fuhr uns entgegen, der erst zwischen den Häusern des Dorfes verstummte. Da blieb Johanna stehen.

»Komm,« sagte ich, »wir wollen weiter.«

Sie aber schüttelte den Kopf: »Ich kann nicht, Tante Anna – ich kann nicht mehr –«

Ich faßte die körperlich und seelisch Erschöpfte sanft unter den Arm. »Hier muß es doch ein Gasthaus geben oder ist vielleicht Fahrgelegenheit nach Dresden zu finden.«

In der großen Gaststube, wo sonst die Dresdner Bürger auf Sonntagsausflügen ihren Kaffee trinken oder ihr Bier, brannte eine einzige Lampe, und am Tisch saß ein Droschkenkutscher aus Dresden, kenntlich an seiner Kopfbedeckung, neben dem Wirt und trank Bier. Die Wirtin kam mit verwunderten Augen, sie hatte jedenfalls heute keinen Besuch erwartet.

Ich bestellte Kaffee, sagte, wir hätten uns auf einem Ausflug verirrt und fragte, ob vielleicht ein Wagen nach Dresden zu haben sei?

»Na, Dittmann, da könnten Sie ja die Damen gleich mitnehmen?« wandte sich die Wirtin an den Kutscher.

»Ja, das können mer,« meinte dieser, »aber 'ne halbe Stund' muß der Gaul erscht mal ausruhen, was meenen Sie denn, ich habe fünf Menschen bei die Wege hergefahren, und wenn's ooch drei Kinner dabei waren, immer egal in Trab – das is keene Kleenigkeet.«

Ich sagte, wir wollten gern warten.

»No, dann is gut, ich dachte, Se hätten Eile, weil jeder zum Christboom derheeme sein will,« meinte der Mann, und dann wandte er sich wieder zum Wirt.

Nein, wir hatten keine Eile. Dem armen unglücklichen Kinde graute vor der Einsamkeit unserer vier Wände, in der die Angst und Sehnsucht sie doppelt überfielen. Sie saß da und starrte auf das Muster der roten Tischdecke und trank mechanisch den heißen Kaffee. Ich zwang sie, etwas von dem Christstollen zu essen, den die Wirtin brachte, ohne daß er bestellt war, und von dem sie sich selbst lobend sagte, er sei in diesem Jahr besonders gut geraten.

»Sie haben gewiß einen Kummer, Fräulein?« wandte sie sich zutraulich dann an Johanna.

Ich antwortete rasch: »Ja, der Vater des Fräuleins ist gestorben.«

»Ach!« sagte die Frau mit einem besonders mitleidigen Tonfall, »ja, das ist hart, aber Fräulein, das schlimmste ist so was noch nicht, es ist viel schlimmer, wenn einem ein Kind verloren geht, wie bei uns! Wir stecken keenen Boom mehr an, seit uns vor zwei Jahren das Unglück passiert is mit unserer Tochter. – Nee, wie wir die Vorladung gekriegt haben auf die Polizei in Dresden, und wie sie uns da ein Jakett und Hut vorgezeigt haben, ob das wohl von unserer Tochter wär', die Person hätt' der Stromwärter da unten bei Kaditz aus der Elbe gezogen, und se hätten se man gleich begraben müssen, so wär' de Leiche schon gewesen, da bin ich glei der Länge nach hingeschlagen. – Und warum? Weil sie einer angeführt hat in der Stadt, und sie hat sich nicht zu uns getraut, weil sie wußt', unser Vater hätt' sie auf der Stelle totgeschlagen. Nee, so was kennen Sie nich in Ihrem Stande, da ist allerwege die Mama da und bewahrt und behütet ihre Tochter. Ich kann bloß sagen, Fräulein, das sind noch andere Schmerzen, wie wenn ein Vater stirbt, der alt war und mit allen Ehren begraben wird.«

Die Frau nickte mit feuchten Augen und nahm die leeren Tassen mit.

Johanna hatte in diesem Augenblick ein ganz verzerrtes Gesicht, aber sie rührte sich nicht, sie stöhnte nur.

Ich sah in angstvoller Ungeduld durch das Fenster in den Abend hinaus, es hatte angefangen zu schneien in dichten Flocken, und gegenüber in dem Haus leuchtete ein Weihnachtsbaum auf. Endlich, endlich wurde angespannt, wir stiegen ein, und ich erbat die Pferdedecke, denn Johannas Zähne schlugen klappernd aufeinander. Es war kalt in dem Gefährt, das im langsamsten Tempo auf der Räcknitzer Höhe dem Häusermeer zutrabte, über dem der Himmel einen lichten Schein trug. Fast eine Stunde dauerte die Fahrt, dann rollten wir durch die Reichsstraße, am Bahnhof vorüber unserer Wohnung zu.

Wie eine Taumelnde kam Johanna über die Schwelle und sank in den Stuhl; durch die Fenster fiel der Schein der Gaslaterne und beleuchtete ihr blasses Gesicht. Als ich an ihr vorübergehen wollte, hielt sie mich fest, und leise mit ganz harter, gebrochener Stimme sagte sie: »Das Leben tut mir zu weh, Tante Anna, ich kann es nicht mehr ertragen.«

Ich konnte nicht antworten, aber ich strich ihr mitleidig über das Haar und wußte mir keinen weiteren Rat, als daß ich mich eng neben sie setzte und sie an mich zog, als wäre sie ein armes, verirrtes Kind. –

Am Silvesterabend, gegen sechs Uhr, klingelte es. Ich ging an die Entreetür, um zu sehen, wer da sei. Tödlich erschrocken fuhr ich zurück – vor mir stand Jörg Rhoden.

»Fräulein Maaßen, ich will Johanna nicht aufregen durch meinen Anblick, aber Sie muß ich sprechen,« sagte er flüsternd, »bitte, bestimmen Sie eine Zeit – ich bin im Hotel Kaiser Wilhelm.«

Ich trat zu ihm hinaus in das Treppenhaus, die Tür hinter mir zuziehend; in dem flackernden Gaslicht sah ich, daß er schwer gelitten hatte und noch litt.

»Jetzt? Heute?« fragte ich.

»Wie Sie wollen – ich stehe jeden Augenblick zu Diensten.«

»Gut! Erwarten Sie mich morgen gegen zehn Uhr. Johanna wird glauben, ich sei in der Kirche.«

»Wie geht es ihr?« forschte er angstvoll.

»Sie werden sich denken können, daß sie bis in die Tiefen ihrer Seele erschüttert ist,« sagte ich traurig.

Er schwieg und starrte mit brennenden Augen die Tür unserer Wohnung an, hinter der er sie wußte. Dann griff er nach seinem Hut.

»Auf Wiedersehen denn – ich danke Ihnen,« sagte er leise und ging.

Was ich am andern Tag in dem kleinen Salon des Hotels dann erfuhr, war erschütternd. In der Kürze dies:

Seine Mutter hatte die Heirat mit Karoline gemacht. Nur durch eine Geldheirat waren die Güter zu halten gewesen; der Besitz, der ihm nächst der Mutter augenblicklich das Teuerste war auf der Welt, stand auf dem Spiel, wenn nicht große Mittel zu schaffen waren, und bald. Dazu der Ausspruch des Arztes, daß die Mutter einem jener entsetzlichen Frauenleiden verfallen sei, die unfehlbar den Tod herbeiführen, und die Bitte des langjährigen Hausarztes, die Kranke möglichst vor Aufregung und Sorge zu bewahren, dafern man nicht wolle, daß er sie allzu rasch verliere, hatten ihn ohne Bedenken den Vorschlag der Mutter, Karoline zu wählen, annehmen lassen.

Karoline sei gut und klug, Karoline habe sie lieb und sei für eine Landfrau wie geschaffen, sie sei anspruchslos, energisch, und schließlich sei eine Verstandesheirat nicht das schlechteste im Gegensatz zu einer aus kopfloser Leidenschaft geschlossenen Ehe, und schließlich – Karoline wäre im Besitz eines höchst ansehnlichen Vermögens, über das sie frei verfügen könne.

»Meine Mutter,« fuhr Rhoden fort, »arrangierte anläßlich einer Reise nach Halle, wo sie noch eine ärztliche Autorität wegen ihres Leidens befragen wollte, eine Zusammenkunft zwischen Karoline und mir. Kurz zuvor hatte mir ein Brief unseres Justizrats gemeldet, daß der Hauptgläubiger von Zülla die Hypothek gekündigt habe, scheinbar in der Absicht, Zülla zu übernehmen, da er wisse, wir seien in Verlegenheit.

Der Ausspruch der Autorität in Halle gab uns dagegen einige Hoffnung auf Erhaltung des Lebens meiner Mutter, sofern sie in jeder Weise geschont werden könne, und in dieser Notlage ließ ich es zu, daß Mutter für mich um Karoline warb. Ich hätte es nicht tun dürfen, es ging gegen meine innerste Natur; ich bin nicht der Mensch, der sich verkauft, der sein Ich verleugnen kann – – Es hat sich gerächt, wie Sie sehen, furchtbar gerächt, und die, die mir das Liebste ist auf der Welt, die habe ich mit mir gezogen in die Tiefe – – in einem Augenblick, wo der Schmerz, sie zu verlieren, mich fast sinnlos machte. – Aber, glauben Sie mir, Fräulein Maaßen, wahrhaftig nicht ohne zu kämpfen!

Von dem Moment an, wo ich Johanna sah, habe ich sie geliebt, mit jener restlos hingegeben großen Liebe, die man nur einmal empfindet. Immer hatte ich mir mein künftiges Weib so vorgestellt, wie Johanna ist: gut, klug, sanft und schön.

Ich bin wie ein Verzweifelter vor meiner Hochzeit umhergelaufen, und je mehr die pekuniären Gespenster der Sorgen von mir und meiner Mutter abfielen durch Karolinens Kredit, desto schwerer häuften sich anderseits die Seelenqualen, die meine Leidenschaft, meine Liebe zu Johanna, entfachten. Hundertmal habe ich vor meiner Mutter gestanden, um ihr zu sagen: »Verlange was du willst, alles, alles, nur das nicht!« Ich hatte auf dem Papier in meinen schlaflosen Nächten einen vollständigen Plan ausgearbeitet, der Karoline Groß-Zülla als Eigentum überwies, wenn sie mir mein Wort zurückgeben wolle. Ich dachte in Klein-Zülla mit Aufbietung aller Kräfte für Johanna und mich eine bescheidene Existenz aufzubauen. Trat ich dann mit diesem Entwurf vor das Bett meiner Mutter, deren Zustand sich etwas verschlimmert hatte von der Aufregung, die die bevorstehende Hochzeit mit sich brachte, so sank mir der Mut, und noch zerschlagener, verzweifelter lief ich umher.

Zum Glück vermißte Karoline meine fehlende Bräutigamszärtlichkeit nicht im mindesten, sie war zu sehr beschäftigt mit den Vorbereitungen und der Einrichtung ihres künftigen Heims. Dann war der Polterabend da, aber auch eine Stimmung über mich gekommen, wie sie der haben mag, der weiß, er soll erdrosselt werden, und nun fühlt, daß sich die Schlinge langsam immer fester zuzieht. Ich konnte es zwischen all den vergnügten Menschen im Zimmer nicht mehr aushalten und verließ das Haus, als mein Freund Breitenfeld sich verabschiedete; ich ging aber nicht ins Dorf, nicht nach Haus, sondern in den Wald hinein. Der Mond schien, – ich konnte den Weg deutlich erkennen und die weiße Gestalt, die langsam aus dem Seitenpfad auftauchte – ich wußte gleich, daß es Johanna sein mußte.

Und sie erschrak, wie ich erschrocken war, als sie mich erblickte, und als sie mich erkannte und ich ihr die Hand reichte, da sah ich ihre Augen mit dem nämlichen Ausdruck von Schmerz und Verzweiflung auf mich gerichtet, wie sie ihn auch in den meinen lesen mochte. Wir wußten plötzlich beide, daß wir uns liebten – –

Ich bin, ihre zitternde Hand haltend, stumm neben ihr gegangen, zurück nach der Oberförsterei und bin ihr in die Laube gefolgt, in der sie sich auf eine Bank setzte und ihr Gesicht weinend in den Armen barg, die sie in voller Fassungslosigkeit über den Tisch geworfen hatte. Auch jetzt sprach ich kein Wort, ich habe nur eine ihrer langen Flechten an meine Lippen geführt und bin rasch von ihr gegangen – mit dem festen Entschluß, koste es was es wolle, noch in letzter Stunde den Bund mit Karolinen zu zerreißen. Ich bin in das Zimmer meiner Mutter gedrungen, fast sinnlos vor Schmerz und Erregung, und habe der Kranken mit bebender Stimme gesagt, daß ich Karoline nicht heiraten kann und will. Es war rücksichtslos, o, ich weiß es, aber ich kämpfte um mein Lebensglück!

Den Erfolg kennen Sie! Angesichts einer Sterbenden, die glühend wünschte, daß ich mein Wort halten solle, hatte ich den Mut nicht mehr zu beharren – die Sterbende war meine Mutter! Ich willigte sogar in die Trauung zur selben Stunde. Und so warf ich alles hin in der Furcht, die Augen, die meine Kindheit behütet, im Schmerz um mich brechen zu sehen. Die Macht der Stunde hatte gesiegt!

Ich dankte Gott, daß Karoline noch einmal in ihr Vaterhaus zurückkehrte nach der Trauung, ich hätte sie in jenen Stunden nicht ertragen können. Als sie nach Tagen in Zülla einzog, war ich ein Mensch mit einem erstorbenen Herzen, der die Scherben seines Lebens mühsam zusammensuchte, um zu versuchen, ein klägliches Ganzes daraus zu machen. Wie es geglückt ist? Sie wissen es. Man hat eben nur eine bestimmte Menge Nervenkraft – es sind Stärkere erlegen als ich und sie, und zwar in Augenblicken, in denen man noch glaubt, die Kraft zu besitzen, sich zu behaupten. So kam es, das nicht hätte kommen dürfen! Und darum – Ja, was soll nun werden?«

Er verstummte. – –

»Das ist wohl leider sehr einfach,« sagte ich bitter. »Johanna wird nicht zugeben, daß ihre Schwester durch sie leidet, sie wird nichts weiter von Ihnen verlangen, als daß Sie niemals wieder ihren Weg kreuzen, daß die Stunde aus Ihrem und ihrem Leben weggelöscht sein soll für immer.«

»Glauben Sie das?« fragte er und richtete sich auf im Sessel, in den er sich eben gesetzt hatte, »hat Ihnen Johanna diese Botschaft bestellt mit der Weisung, sie an mich weiter zu tragen, Fräulein Maaßen? Sie schweigen? Denn es ist nicht wahr, daß Johanna so grausam sein will, kann nicht wahr sein, weil sie mich liebt, wie ich sie liebe, das heißt – lebenslang, für immer!«

Er sprang wieder auf und ging im Zimmer auf und ab. »Und hören Sie – auch ich will nicht, durchaus nicht! Ich will nicht ein Leben führen, in dem jeder Atemzug eine Lüge ist, und sobald Karoline wieder gesundet, werde ich ihr sagen: ›Nimm alles, alles, aber mich gib frei!‹«

»Und wenn Sie Ähnliches erleben, wie mit Ihrer Mutter? Wenn Karoline an diesem Ihrem Verlangen stirbt?«

Er sah mich an, und ein trauriges Lächeln flog um seinen Mund. »Sie stirbt nicht daran, glauben Sie mir – sie liebt mich ebensowenig wie ich sie.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich weiß es,« antwortete er kurz.

Ich schwieg und nach einer Weile bat er mit weicher Stimme: »Erzählen Sie Johanna von meinen Absichten, die unumstößlich sind, sagen Sie ihr, daß eine solche Liebe wie die unsere, ewig ist, daß sie auch keine Sünde ist! Eine Sünde ist meine Ehe, ein Verbrechen, daß ich nicht fest blieb der sterbenden Mutter gegenüber. Wahrhaftig, ich hätte sie tiefer, ehrfürchtiger betrauert ohne den Zwang, den sie auf mich ausübte!«

Er setzte sich wieder wie erschöpft. Dann, als ich mich erhob nach einem Blick auf die kleine Bouleuhr des zierlichen Schränkchens, streckte er mir beide Hände entgegen. »Seien Sie mitleidig, Fräulein Maaßen, schreiben Sie mir von ihr, sagen Sie ihr, daß ich mit jedem Herzschlag bei ihr bin, daß sie an mich glauben müsse.«

Als er meine Hände in den seinigen fühlte, zog er sie an seine Augen, und ich fühlte heiße, brennende Tropfen über meine Finger rinnen, und, ich konnte nicht anders, ich weinte mit ihm über sein und Johannas trauriges Geschick.

»Wenn sie nur nicht an mir verzweifelt, wenn sie nur nicht schlecht von mir denkt!« sagte er, »es muß ja alles gut werden, es muß ja!«

Als ich nach Hause kam, lag Johanna noch in ihrem Bett.

»Aber Kind, bist du denn krank?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, Tante, ich bin so müde,« antwortete sie.

Das Schwerste aber kam, als die Zeit vorgeschritten war, und ich mit blassem Entsetzen einsah, daß Johanna nicht, wie ich anfänglich gewünscht und gehofft hatte, aus Jörg Rhodens und Karolinens Leben verschwinden konnte und durfte, sondern Rechte fordern mußte.

Es waren schwere, schwere Tage, die das arme Mädchen lehrten, daß jede Schuld auf Erden sich räche und in Verzweiflung gebüßt sein wolle. Gott weiß, schwerer ist mir nie ein Brief geworden als der, den ich an einem der ersten Märztage an Jörg Rhoden schrieb mit der Nachricht, daß Johanna nun doch von ihm fordern müsse, Schritte zu tun, um mit Karoline ins reine zu kommen, nicht ihretwegen, nein, nicht allein ihretwegen. Tagelang habe ich das unglückliche Geschöpf in meinen Armen gehalten, habe ihr Mut zugesprochen, sie zu trösten gesucht. – Sie wollte nicht leben und wußte nicht, wie zu sterben.

Jörg Rhoden telegraphierte, daß er unverzüglich nach Italien zu Karoline abreise, und daß Johanna ruhig sein möge, ganz, ganz ruhig.

Karoline wäre in Nervi und es ginge ihr gut, sie mache bereits Pläne zur Rückkehr, das wußten wir. Es war vor kurzem ein Brief an mich gekommen mit der Aufforderung, in Dresden eine neue Wirtschaftsmamsell für Groß-Zülla zu suchen, Karoline wolle die jetzige bei ihrer Rückkehr nicht mehr sehen.

Und von nun an saß ich oft neben Johanna in dem alten Sofa meiner Großmutter und lauschte mit ihr in die Ferne hinaus, und wenn es klingelte, dann zuckte das Mädchen zusammen und glaubte, eine Depesche sei gekommen. Nach zehn entsetzlich bangen Tagen kam ein Telegramm an mich: »Reisen Sie, so rasch Sie können, mit Johanna nach Genua, erwarte Sie dort Hotel Isotta.«

War das eine gute oder eine schlechte Nachricht? Ich wußte es nicht zu entscheiden. Johanna sah grübelnd vor sich hin, aber der Gedanke, von hier fortzukommen, belebte sie – weit fort, so weit wie möglich!

Eine wunderbare warme Frühlingsnacht grüßte uns, als wir am 28. März in Genua nach langer, ununterbrochener Fahrt eintrafen. Der Portier des Hotels empfing uns am Bahnhof – der Herr habe ihn geschickt und werde uns im Hotel begrüßen.

Es war mir ein Stein vom Herzen, daß die beiden sich nicht hier zuerst sehen mußten in dieser drückenden Menschenmenge des Bahnhofes, und doch wollte es mich bedünken, als sei es ein trübes Zeichen.

Wie ein Schwerkranker trat Georg Rhoden uns im Vestibül entgegen. Johanna stutzte beim Erblicken seines schmerzverzogenen Gesichtes; sie stützte sich auf meinen Arm und las mit mir die Hoffnungslosigkeit aus seinen Augen. Nur das Gewimmel der Kellner und Fremden, das Fragen und Sprechen des Geschäftsführers mit den neu gekommenen zahlreichen Reisenden gaben ihr die Kraft, sich aufrecht zu erhalten. In dem kleinen Salon angelangt, der zu unserm Zimmer gehörte, brach die Ärmste in einem Stuhl zusammen. Und während wir bemüht waren, sie zum Bewußtsein zu bringen, flüsterte mir Georg Rhoden zu: »Karoline weigert sich einer Trennung von mir – sie hat mir verziehen –« Er lachte bitter auf – »Eine Verirrung, sagt sie, der sie keine Folgen geben wolle. Sie will mit Johanna in Italien bleiben, bis – nun ja – und dann – dann –. Sie können es sich denken. O, sie wird alles aufs beste arrangieren! Und, was wollen Sie? – Es ist ihr Recht!« Und wieder lachte er auf. Seine Nerven schienen in dieser trostlosen Stunde völlig zu versagen.

Die Leidenszeit, die nun erst über Johanna hereinbrach, hat sie ertragen mit einer Selbstverleugnung, mit einer Demut sondergleichen. Die Lügen, die die Situation mit sich brachte, waren ihr das Schwerste. Eine halbe Stunde hat sie mit Georg Rhoden allein gesprochen, als sie an jenem Abend in Genua wieder zum Bewußtsein kam.

Ein gebrochenes, willenloses Geschöpf – hatte ich sie vorher gesehen, eine innerlich gestärkte, dem Unvermeidlichen mit schlichter Fassung entgegensehende, ergebene Frau fand ich sie wieder. Sie hatte Abschied von ihm genommen – für immer wähnte sie und sagte mit leiser, rührender Überzeugung: »Er hat noch viel mehr zu leiden als ich, Tante Anna! Ich weiß es genau, ich werde sterben, Gott läßt uns beide nicht leben – das darf er ja nicht tun.«

Nun hatte sie nur noch Furcht vor dem Wiedersehen mit Karoline, und da wollte sie mich dabei haben.

Karoline hatte alles ungemein praktisch geordnet. Wir trafen uns auf dem Bahnhof Genua und reisten gemeinschaftlich nach Bordighera; das Coupé war überfüllt, Johanna und ich fanden keinen Platz mehr in ihrem Abteil – und mußten ein anderes suchen. Es war ein Tag voll lichter Farben, eine Gegend, die uns armen Nordländern erscheinen mußte wie ein Paradies, als wir am Ufer des Meeres unserm Ziel entgegenfuhren. Leuchtend blau die See, deren Wellen unter dem Südwind in weißem Gischt an den Felsen zerstäubten: die Palmen wiegten sich in den Gärten, knorrige Oliven überzogen die Höhen in silbernem Glanz, und malerische Städte und Orte lagerten zu Füßen und auf den Gipfeln der Berge. Und frohe, reiselustige Menschen um uns her, jubelnde Ausrufe des Entzückens, leuchtende Augen und zwischen ihnen das arme, blasse Mädchen mit seinem schweren Kummer, das so fremd und wie geistesabwesend in diese verschwenderische Schönheit starrte.

Und endlich kam unser Ziel, und wir saßen Karoline gegenüber im Hotelomnibus und fuhren durch stille Villenstraßen, in deren Gärten sich Palmen wiegten, dem Haus zu, das Herr Rhoden zu einem längeren Aufenthalt für uns gemietet hatte. Karolinens eisige Miene war nicht zu entziffern, nie habe ich solch abstoßenden kalten Hochmut gesehen.

Eine ältliche Italienerin, der das Haus gehörte, wendete sich an mich und fragte, ob ich die Signora sei? Da sagte Karoline eiskalt und vernichtend, indem sie auf Johanna zeigte: »Dort steht Madame, diese Dame ist eine Freundin von uns.«

Wir standen in diesem Moment alle mit niedergeschlagenen Augen, starr ob der unvermeidlichen Lüge; niemand lächelte als die alte Italienerin und Karoline. Im Lauf dieses ganzen Abends wich das verzerrte ironische Lächeln nicht von ihrem Gesicht. Als Lottchen Breiter gegangen war, um die Koffer auszupacken, und wir drei uns stumm in dem kleinen Salon befanden, trat Karoline plötzlich vor Johanna.

»Du,« sagte sie verächtlich, und ihre Hände ballten sich in den Falten ihres Kleides, »du – was hätte man auch anderes erwarten können von dir – das Erbteil deiner Mutter ist's! Hab keine Angst, ich vergreife mich an dir nicht« – lachte sie auf, als Johanna unwillkürlich zurückwich – »aber euren Willen sollt ihr nicht haben, niemals, nie! Und nun spiel gut deine Komödie, das ist das einzige, was ich von dir verlange. Und Sie – wenn Sie ein paar Tage geruht haben,« wandte sie sich an mich, »Sie reisen wohl zurück, in Zülla muß eine Aufsicht sein, hier gebrauchen wir Sie nicht –«

Johanna ergriff entsetzt meinen Arm, dann lächelte sie wieder, so ein irres Lächeln, wie es ganz hoffnungslose Menschen haben.

»Ja, Tante Anna,« sagte sie, »es ist besser.«

Als ich am andern Morgen noch vor Tau und Tag und nach gänzlich schlafloser Nacht aus dem Haus trat, um mir die verlorene Fassung und Ruhe im Anblick der herrlichen Natur wieder zu suchen, zupfte mich beim Verlassen des kleinen Gartens, in dem alles grünte und blühte, eine Hand am Kleid.

»Ich gehe ein Stückchen mit,« flüsterte Lotte Breiter, und ihre guten tränenüberfließenden Augen sahen mich an. »O Fräulein,« klagte sie, die Hand in meiner krampfend, »wie hat's nur kommen können? Aber haben Sie keine Angst, ich wache schon über das unglückliche Kind, das habe ich unserm Herrn Georg versprochen, kein Härchen soll ihr gekrümmt werden. Ach Gott, Fräulein, was für ein Unglück! Meine gute, selige Frau, wenn die gewußt hätte, was sie tat mit ihrem Verlangen auf dem Sterbebett? Aber für die Frau ist's auch keine Kleinigkeit, nein, wahrhaftig nicht – ach Gott, was wird nur daraus?«

Ich konnte ihr nicht antworten, stumm schritten wir dem kleinen Meerkirchlein von [Sant'Ampelio] entgegen, und dort saßen wir auf einer Bank und sahen auf das Meer, das seine Wogen blaugrau wie die Morgendämmerung selbst gegen die Felsen warf, und dessen Unendlichkeit wie erlösend auf meine Seele wirkte.

Und schon am nächsten Morgen mußte ich mich von Johanna trennen. Lange noch, als ich schon in dem Zug durch die Landschaft fuhr, klangen mir die Worte in der Seele nach, die sie zum Abschied gesprochen hatte: »Reise ruhig, Tante, stehe ihm zur Seite – sage ihm auch, ich sei ebenfalls ruhig und mutig und daß ich alles Schwere als Buße für unsere Schuld geduldig auf meine Schultern nehme.«

*

Auch bei uns in Zülla wurde es endlich Frühjahr, für uns zwei einsame Menschen ein Glück, es wollte uns ja zu oft das große Haus zu eng werden in unserer Unruhe und Trauer.

Mit allen Kräften hatte sich Jörg Rhoden in die Arbeit gestürzt. Ich sah ihn Mittags nur eine halbe Stunde und um sieben Uhr beim Abendessen; wir sprachen dann über gleichgültige Dinge, aber in unsern Augen standen lauter bange Fragen.

In dieser Zeit ist mir das Pastorhaus lieb geworden wie eine zweite Heimat voll trautester Hingebung; sie wußten das Traurige bereits von Jörg Rhoden selbst. Tagelang haben diese beiden guten Menschen gerungen mit ihrem Schmerz, ihrem Entsetzen; die Pastorin war die erste, die ein mildes Wort für Johanna hatte, der Pastor aber nannte ihren Namen nicht, er vermied, von ihr mit Jörg zu reden, eine tiefe Erschütterung allein sprach aus seinem ganzen Wesen.

»Es ist, als ob sein eigenes Kind gestrauchelt sei,« sagte die Frau mit weinenden Augen, als wir am Kaffeetisch saßen und der alte Mann im Lehnstuhl die Zeitung las, nur um nicht zu sprechen. »Das Schlimmste und das Allerschlimmste dabei ist, liebe Anna, die Lüge!«

Allmählich hatte sich das Gerücht verbreitet, daß Karoline ein Kind erwarte und man ihrer schwankenden Gesundheit wegen die Heimkehr nicht gestatten könne. Es kamen Fragen nach dem Befinden der fernen jungen Frau, es kamen jene scherzhaften Neckereien für den angehenden Vater, die sonst so beglückend sind – ihm marterten sie die Seele. Ich weiß es, wie er zu jener Zeit gelitten hat.

Meinem Versprechen an Johanna getreu, habe ich bei ihm ausgeharrt, aber leicht wurde es mir nicht. Manchmal, wenn er mir gegenüber saß am Frühstückstisch, dann konnten seine jungen Augen mit einem flehenden, beredten Ausdruck in die meinen sehen, als wollten sie ergründen, ob meine stets gleichbleibende kühle Miene nicht doch einem wärmeren Gefühl weichen würde.

Und eines Tags, als ich wieder sein Frühstück sorglich in Papier gewickelt hatte und ihn fragte, ob er Mittag daheim sein würde, da packte er plötzlich meine Hand mit einer fast wütenden Heftigkeit: »Mich ansehen sollen Sie!« rief er außer sich. »Ahnen Sie denn nicht, daß ich fast vergehe vor Schmerz, vor Sehnsucht nach einem guten Wort? Über ein Stück Vieh erbarmen Sie sich, bin ich denn weniger wert? Ein Mensch bin ich, der am Verzweifeln ist vor Angst und Sorge!« Und ehe ich es hindern konnte, lag er vor mir auf den Knien, und seinen Kopf in die Falten meines Kleides bergend, weinte er, wie nur ein Kind weinen kann, erschütternd, fassungslos.

Da brach meine Zurückhaltung, und ich wich ihm nicht mehr aus, wenn er reden wollte, und ich gab ihm die traurigen Briefe, die mir Lotte Breiter heimlich schrieb.

Der Sommer ging über das Land, und die Ernte kam, der Wind fuhr über die Stoppeln, und eines Tags geschah es –. Am vierten Oktober brachte der Postbote eine Depesche, die ich zitternd in Rhodens Zimmer trug. Ich sehe ihn noch, wie er sich gegen den Schreibtisch stützte, als er das Kuvert aufriß:

»Ein Sohn – Mutter und Kind wohl! Breiter.«

Dann sank er in den Stuhl und winkte, ich solle ihn verlassen; ich nahm das Papier auf und ging damit hinaus. Draußen stand der alte Friedrich mit erwartungsvollen Augen. Ich sagte ihm, er möge den Leuten mitteilen, daß ein Sohn geboren sei, und dieser alte ehrliche Mensch weinte vor Freude.

Dann nahm ich mir ein Tuch um und ging ins Pfarrhaus. An der Tür zur Wohnstube trat mir die Pastorin entgegen. Sie bemerkte die Depesche in meiner Hand und wußte es gleich. Sie hatte Tränen in den Augen, als ich ihr das Blatt entgegenhielt.

»Ein Junge –« murmelte sie.

Am folgenden Tag schon brachte die Magdeburger Zeitung unter Familienanzeigen folgendes Inserat:

»Die glückliche Geburt eines Stammhalters beehren sich anzuzeigen

Georg Rhoden und Frau.«

*

Die Wochen vergingen. Im Groß-Züllaer Herrenhaus war neben Karolinens Stube, angrenzend an das Arbeitszimmer des Hausherrn, eine Kinderstube eingerichtet, ein großes, nach dem Garten zu gelegenes Eckzimmer gen Osten, und Pastor Brinkmann war nach Bordighera gereist, um dort den Frauen mit Rat und Tat beizustehen. Der alte Herr sollte Johanna mit seiner treuen Freundeshand in ihr neues, entsagungsreiches Leben einführen, und sie nach Dresden bringen.

Aber es kam anders!

Je näher der Termin rückte, zu dem die Damen erwartet wurden, desto verzweifelter wurde die Stimmung des Hausherrn; er äußerte sich wenig, aber man sah es ihm an. Er war an dem einen Tag ruhelos und unstet auf dem Hof, auf den Feldern, auf weiten Ritten umher gewesen, und den folgenden schloß er sich in sein Zimmer ein und öffnete auf kein Klopfen. Zwei oder drei Tage vor der Ankunft Karolinens fragte er mich: »Können Sie sich eine ungefähre Vorstellung von dem Leben machen, das nun hier anheben soll? Ich nicht!«

Er stand vor mir und ließ mit einer Gebärde die Arme sinken, die die größte Hoffnungslosigkeit ausdrückte. In Wahrheit – ich wußte auch nicht, wie es möglich sein sollte.

»Ich werde es nicht ertragen können,« murmelte er und verließ wieder die Wohnstube, in die er nur getreten war, um mir dies zu sagen.

Und ein andermal begann er aus einem langen Schweigen heraus: »Ich denke, ich werde viel auf Jagd gehen und oft verreisen, und, bitte, Fräulein Maaßen, mein Umzug soll bald vor sich gehen, ich will mein Zimmer von jetzt an oben haben, über dem, das ich jetzt bewohnte; es wird ein wenig Mühe machen – aber – wir können ja ein paar geübte Leute aus der Stadt kommen lassen zum Umsetzen der Möbel.«

Über Hals und Kopf wurde umgeräumt und Wohn- und Schlafzimmer oben eingerichtet. Karoline wollte, daß Rhoden ihr bis Halle entgegenreise, ein paar Stationen früher würde sie sich bereits von Johanna getrennt haben, ich sollte das arme Geschöpfchen in Leipzig erwarten. Letzteres wiederum wünschte Rhoden: »Sie können sich ja denken, in welchem Zustand sie sein wird nach dieser Trennung, Fräulein Maaßen, und darum müssen Sie bei ihr sein.«

Und näher und näher kam der Tag, und an etwas anderes als die Frage: Wie wird es hier? Können die beiden Menschen es denn überhaupt ertragen, miteinander die gleiche Luft zu atmen? dachte ich nicht mehr.

Sie müssen naturgemäß Feinde sein, und doch will Karoline, daß die Komödie der glücklichen Familie vor der Welt gespielt werden soll. Warum denn, mein Gott? Was ist das Rechte? Eine furchtbare Rache, wahrhaftig! Und wenn sie auf ihrem Willen bestehen wird, so muß es ein Unglück geben, es muß kommen.

Zwei Tage vor der Ankunft, als auch ich mich zur Abreise rüstete, um Johanna in Leipzig zu treffen, erklärte Herr Rhoden mir, daß er Karoline nicht in Halle empfangen werde, er habe eine wichtige Abhaltung, er fahre heute mittag in die Stadt, er habe auf dem dortigen Gericht zu tun und müsse möglicherweise noch nach Magdeburg in dieser Angelegenheit.

Der alte Friedrich schüttelte den Kopf, als er hörte, daß sein Herr noch wegreisen wolle. »Nein, kurz vor dem Tag, wo er sein Kind das erste Mal sehen soll. De ollen dämlichen Geschäfte!« sagte er zu mir.

So würde denn Karoline mit dem Kind die Schwelle eines leeren Hauses überschreiten, auf der niemand stand, um sie willkommen zu heißen, denn auch ich sollte am Tag ihres Eintreffens mit dem frühesten fort.

Herr Rhoden ließ mich noch kurz vor seiner Abreise fragen, ob er mich sprechen könne? Der Wagen hielt schon vor dem Portal, die neugekauften Pferde davor, die unruhig hin und her traten. Der Kutscher in der Stallschürze hielt sie mühsam in Ordnung. Jörg Rhoden stand schon auf der Treppe im Reisemantel und Hut und knöpfte an seinen Handschuhen. Als ich zu ihm trat, übergab er mir einen dicken Brief mit Johannas Adresse.

»Bitte, geben Sie es ihr, sie muß das tun, um was ich sie hier bitte, ich verlange das von ihr als ein Zeichen, daß sie mir vergibt. Haben Sie nur keine Angst,« fügte er bitter hinzu, »ein Liebesbrief ist es nicht.«

Der Ton, mit dem er das sagte, tat mir weh bis ins Herz.

»Und ich darf darauf vertrauen,« fuhr er fort, »daß Sie Johanna nicht verlassen werden, nie? Versprechen Sie es mir!«

»Ich verspreche es Ihnen, Herr Rhoden,« sagte ich, ganz benommen von seinem Gesicht, das so sonderbar düster und zugleich entschlossen aussah.

»So haben Sie Dank, und leben Sie wohl!« Er zog meine Hand an die Lippen, dann ließ er sie rasch wieder fallen und ging die Stufen hinunter, nahm die Zügel und schwang sich auf den hohen Sitz des Kutschers. »Los!« rief er, und Lorenz, der zweite Kutscher, sprang rasch zur Seite, so rasend stiegen die jungen Tiere ins Geschirr.

Lorenz schob seine Mütze etwas zur Seite und kraute sich hinter den Ohren, als der Wagen zum weitgeöffneten Gittertor hinausraste. »Na, er wird schonst fertig werden mit die Verbrecher, Fräulein Maaßen,« meinte er, wie um sich selbst zu beruhigen, »haben Sie man keine Angst, der Herr ist umgänglich mit Pferden, das kriegen sone Luders auch balle weg, dann gehn sie wie die Lämmer.«

Ich hatte tatsächlich auch keine Besorgnisse, meine Gedanken waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Die Frage Rhodens gestern: »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie das Leben hier werden soll?« kam mir nicht aus dem Sinn. Und wie ich so durch das schöne, alte, festgebaute Haus ging, durch alle die Zimmer und den Saal und endlich auf der Terrasse stand und über den Park hinwegsah, der so herrlich dalag im bunten Schmuck des Herbstes mit den noch immer smaragdgrünen Rasenflächen, da sagte ich mir, hier könnte ein Paradies sein, und es ist eine Hölle geworden. Eine drängende Angst überkam mich, als ich an die Zukunft dachte, stärker als je. Gegen Abend kam die Pastorin.

»Ich denke mir, Sie haben doch keine Zeit zu Abschiedsbesuchen, liebe Anna,« sagte sie, »da komme ich zu Ihnen. Wie mir Brinkmann schreibt, werden Sie ihn ja in Leipzig treffen, bis wohin er Johanna begleitet?«

Ich nickte, und wir sahen uns eine Weile in die Augen und lasen gegenseitig die Bekümmernis daraus.

»Setzen Sie sich doch ein halbes Stündchen,« bat ich, »ich verkomme vor Angst und Unruhe heute.«

Sie folgte mir in die Stube Karolinens, die ich schon heute etwas heizen ließ, in diese unglaublich nüchterne Stube mit ihren stillosen Möbeln, der Nähmaschine am Fenster, dem birkenen Schreibsekretär, der noch von ihrer Mutter stammte, dem winzigen Fußdeckchen vor dem mächtigen Sofa, neben dem der große, runde, mit einer Wachstuchdecke versehene Tisch stand, und den sechs Rohrstühlen an den Wänden.

Trübe blickte die Pastorin durch den Raum. Dann aber zeigte sie auf die angrenzende, halbgeöffnete Tür: »Dort ist nun wohl die Kinderstube?«

»Ja, und Lotte Breiter ist auch ferner als Kindermuhme ausersehen,« sagte ich.

»So? Na, das ist ja am Ende noch nicht das Schlechteste,« meinte die Pastorin, »zuverlässig ist sie, und wie ich sie taxiere, wird sie das Kind ihres Herrn vergöttern.«

»Glauben Sie, daß Karoline im stande ist, dem Kind eine wahrhaft gute Mutter zu sein?« forschte ich beklommen.

»Anna, da wollen Sie zu viel wissen. Ich hoffe es, aber – ich weiß es nicht, ich habe mich die ganze Zeit her gefragt, was ich wohl getan hätte, und wie ich wohl sein würde an Karolinens Stelle, und die Beantwortung ist mir nicht gelungen. Es wurde mir gleich siedend heiß bei solcher Vorstellung, ich kann nur immer sagen: Karoline tut viel, wenn sie aus Erbarmen, aus Mitleid so handelt.«

»Ich kann kein Erbarmen darin erkennen,« erwiderte ich, »wenn sie groß dächte, so ...«

»So hätte sie gesagt: Ich trete zurück, da habt ihr euch!« nahm mir die Pastorin das Wort aus dem Mund. »Ach, Anna, das sagt sich so – das sagt sich so und ist dennoch so furchtbar schwer! Das wäre ja schon fast überirdisch, engelhaft gedacht und getan.«

»Ganz und gar nicht! Es wäre nur einfach der stille, schlichte Stolz einer vornehm denkenden Frau.«

»Nun ja, es wäre möglich, daß auch ich gesagt hätte: Gehe hin in Frieden, ich will mich freuen, wenn du glücklich wirst,« flüsterte sie und in ihren Augen schimmerte es feucht. »Aber vielleicht ist auch Karolinens Art zu handeln Liebe, wir können es nicht beurteilen, Anna – seien Sie milde.«

»Gott verzeihe mir, wenn ich unrecht tue!« sagte ich bitter, »ich halte ihr Handeln einfach für – Rache! – Bitte, liebste Frau Pastorin, lassen Sie uns von andern Dingen sprechen, ich ersticke, wenn ich an all das Gräßliche denke, was nun kommen wird, denn wie es hier werden soll, und wie Johanna das Leben ertragen wird, das weiß Gott allein, ich sehe keinen Ausweg aus diesem Elend.« Die Pastorin seufzte.

Wir saßen da noch ein Weilchen und sprachen hin und her, das Stubenmädchen brachte die Lampe und den Nachmittagstee, den die Freundin mit mir teilte; sie mochte mich wohl nicht allein lassen wollen in meiner seelischen Erregung. Um acht Uhr ließ sie sich aber doch nicht länger halten.

»Wer weiß, wann Georg Rhoden wiederkommt,« sagte sie, »es hat auch keinen Zweck, ihn zu erwarten. Leben Sie wohl, liebe Anna, möchte Ihr Wirken neben Johanna gesegnet sein und sich das arme, gebrochene Leben der Armen an Ihnen wieder aufrichten können! Geben Sie ihr Arbeit, viel Arbeit, daran wird sie innerlich wieder erstarken; seien Sie nur nicht zu mitleidig mit ihr, darin versehen es die meisten. Aber verzeihen Sie mein Klugsprechen. Sie haben das Kind lieb und werden das Richtige schon für sie treffen.«

Ich nahm ein Tuch um und schickte mich an, die Freundin über den Hof zu begleiten; als wir eben die schwere Tür des Flurs öffnen wollten, drängte es ungestüm von außen dagegen, und wir konnten kaum zur Seite treten, als die hohe Gestalt des Herrn von Breitenfeld schon vor uns stand. Er sah in dem ungewissen Licht der einzigen Flamme, die man an der Deckenlampe angezündet hatte, so kalkweiß und verzerrt aus, daß ich sofort wußte, er kommt, ein Unglück zu melden. »Was ist geschehen?« wollte ich rufen, aber es kam kein Laut über meine zitternden Lippen.

»Erschrecken Sie nur nicht, meine Damen, es ist vielleicht gar nicht so schlimm –« stotterte er hervor, »sie bringen ihn gleich – bitte, Licht anzünden und das Bett zurechtmachen, ich habe telegraphiert nach Halle an den Professor Vogt, er wird mit dem Zehnuhrzug kommen. Ja – was geschehen ist? Natürlich, Sie ahnen ja nichts – – Jörg ist mit dem Wagen auf dem Rückweg von der Stadt gegen die Bahnbarriere gekracht, die Gäule sind ihm durchgegangen, verdammte Äser, ich habe ihm genug abgeraten, sie zu kaufen, dies Luderzeug – gottlob, sie sind verreckt, aber Jörg –« es zuckte in seinem Gesicht, und die Lippen bissen aufeinander – »na, ich weiß ja nicht – solange Atem ist, ist auch Hoffnung! – He, Friedrich, lassen Sie einen von den Kerlen, Lorenz oder einen andern, mit meinem Wagen auf die Station fahren, Professor Vogt aus Halle wird erwartet. Euer armer Herr ist verunglückt. Die Außenlaternen am Haus anzünden! Ein bißchen dalli! Meine Leute tragen ihn her, müssen gleich hier sein!«

Wie in einem tiefen Traum bewegte ich mich, um Anordnungen zu treffen, aber denken konnte ich nicht; nur das eine, immer das eine – da ist ja nun der Ausweg, um den wir gesorgt und gefleht haben, da ist er!

Und dann war überall Licht, und in den Öfen flackerte Feuer, und nach einer bangen Weile, während der ich immer wie betäubt stand, hörte ich Breitenfelds befehlende Stimme: »Sachte doch, zum Donnerwetter!« und schlürfende Tritte und gedämpftes Murmeln, und durch die weit geöffnete Tür trugen ihrer vier starke, schweratmende Männer den Herrn des Hauses in sein Zimmer; er war besinnungslos, leichenblaß, ein Bild des Jammers.

Doktor Zänker folgte auf dem Fuß. »Bitte, meine Damen, Leinentücher, Wasser, wir müssen ihn erst lagern, bevor wir ihn säubern – um Gottes willen – behutsam!«

Mit größter Vorsicht faßten wir alle zu, und dann lag er auf seinem Bett, und Doktor Zänker begann ihn zu entkleiden, das Blut aus einer Stirnwunde zu waschen und ihn gründlich zu untersuchen: »Ich halte es für eine Verletzung der Wirbelsäule; wie schwer? – kann ich vorläufig nicht feststellen,« sagte der Arzt nach einer Weile stummen Schaffens, und das leise Zucken seiner Achseln verriet mir, daß ein Schwerverletzter da vor mir lag.

»So eine Gemeinheit – und morgen kommt die Frau und bringt einen Jungen und Gesundheit mit, und vor der Tür sitzen die Girlanden schon –« flüsterte Breitenfeld grimmig, »und wenn ich nicht zufällig in Wittstern gewesen wäre, so läge der arme Kerl noch da draußen bei den todigen Beestern und hätte selbst wohl schon ins Gras beißen müssen, denn den Weg fährt tagsüber keine Katze und nachts erst recht nicht. So komme ich denn da harmlos auf meinem Dogcart und denke bei dem bißchen Mondschein – Deibel, was liegt denn da auf dem Weg? Und mein Kutscher und ich entdecken dann beim Näherkommen die Bescherung! 'n schöner Abend – weiß der Himmel! Und nu so 'ne Frau, die keine Ahnung hat von der Geschichte und sich freut, weil sie ein Kind auf dem Arm wiegt.«

Doktor Zänker hielt einen Augenblick inne, um auf den Herzschlag des Verunglückten zu horchen. »Herr Baron, meinen Sie nicht auch, Frau Rhoden müßte etwas vorbereitet werden, wie machen wir das?«

»Ich werde es übernehmen,« erklärte die Pastorin »ich fahre gleich mit dem Wagen, der den Professor holt, nach der Station und reise dann mit dem Elfuhrzug der Heimkehrenden entgegen, so weit wie möglich.«

»Ja, bitte, über Halle hinaus,« sagte ich, »denn ich darf hier nicht fort, bevor Frau Rhoden angekommen ist, und Johanna kann nicht allein nach Dresden fahren.«

»Ich reise bis Apolda womöglich,« erbot sich die hilfsbereite Frau, »ich habe dann auch mehr Zeit, und Johanna bringe ich mit her.« Sie drückte mir die Hand, bat mich, ruhig zu sein, lieh sich Geld von Breitenfeld, da sich fand, daß sie ihr Portemonnaie nicht bei sich trug, und von mir einen Hut und Pelzkragen, und dann fuhr sie mit dem Dogcart in die kühle Herbstnacht hinaus.

Breitenfeld und ich saßen zerschlagen und verstört in dem Wohnzimmer des Hausherrn, und ich mußte daran denken, wie sich in dieser Umgebung das Schicksal des armen Mädchens entschied und uns alle mitriß in Verzweiflung und Trauer. Und, merkwürdig genug, sagte in diesem Augenblick Breitenfeld: »Wenn ich nicht wüßte, daß hier doch eigentlich ganz nüchterne und normale Verhältnisse obwalteten, dächte ich, irgend ein dunkles Verhängnis habe Rhoden den Tod suchen lassen, denn, wissen Sie, ein Fahrer wie er und hüben und drüben Brachland und kein Graben zwischen Weg und Feld – gondelt in voller Flucht auf die Barriere los, wo er die Beester doch zehnmal hätte seitwärts reißen können? Es ist zu sonderbar! Übrigens – hier, das nahm ich ihm aus der Tasche, als wir ihn auf die Bahre legten, ich wollte ihn doch nicht so mit allem davontragen lassen; die Leute sind zwar ehrlich, aber der Deibel hat manchmal sein Spiel. Da sind Briefe und Schriftstücke, nehmen Sie sie an sich, Fräulein Maaßen, oder soll ich vielleicht« – er betrachtete die Papiere, die er nebst dem Portemonnaie und der Uhr Georg Rhodens seiner Rocktasche entnommen hatte – »ich will's doch lieber behalten, ich sehe, da ist die Kopie seines Testaments, das er heute auf dem Gericht in der Stadt deponiert hat – so steht da wenigstens auf dem Kuvert; ja gerade heute, wahrhaftig!« Er schüttelte den Kopf. »Na, ich will man sagen, Frauen sind so schnurrig in Bezug auf Testamente und letzte Willen, denken dann gleich, es muß gestorben sein. Ich will's vorläufig behalten, um der armen Frau nicht noch mehr den Kopf zu verwirren. Na, sie kommt übrigens in größerer Gesellschaft heim, Fräulein Maaßen, Pastor Brinkmann ist wohl auch dabei?«

»Ja!«

»Na, und Johannchen Nordmann als dame de compagnie und die alte Breitern als Spreewälderin, ein stattlicher Zug. Ich hätte Karolinen so 'nen Luxus nie zugetraut – und hier das Elend! Pech hat der arme Kerl mit seinen Familienfreuden, ganz kolossal! Denken Sie bloß an die Hochzeit, wo die Mutter es für angezeigt hielt, zu sterben am Polterabend – und nun jetzt! – Na, Gott sei Dank, Friedrich, daß Sie ein Einsehen haben mit 'ner Pulle Mosel – ja, alter Freund, weinen Sie man, es ist auch, weiß Gott, zum Heulen.«

Und während der sonst so lustige Fritze Breitenfeld seinen Mosel in durstigen Zügen trank und dann wieder unruhig im Zimmer umherging, saß ich da, und in meinem Kopfe kreiste immer der eine Gedanke – wie wird Johanna diesen Schlag ertragen? Sie wird sich doch nicht verraten? Was wird Karoline tun, wenn Jörg sterben muß?

Und dann kam der Professor, und die Herren gingen zu Doktor Zänker an das Lager des Kranken.

Friedrich erinnerte mich daran, daß auch in solchen Stunden das Leben sein Recht verlange, daß für eine Erfrischung zu sorgen sei, und daß Mamsell mit mir darüber zu sprechen wünsche. Ich ließ ihr freie Hand, aber ich half dem zitternden Friedrich beim Aufdecken und hörte sein Jammern an.

»Und es hätte doch nun so schön werden können in unser altes Haus,« schloß er, »so 'n Kind bringt ja so viel Sonne mit, und unser Herr hätte so 'n Masse Spaß an es gehabt! Nee, un wenn's wahr is, daß der Herr ein Krüppel bleiben soll, so ein schöner, gerader Mann, wie der war, so 'ne Lust, ihn bloß anzugucken, denn doch man lieber gleich tot, wie der Herr Baron eben sagt. Das erträgt ja so ein Mann auch nich –.«

Und dabei schüttelte er immer den Kopf, und die Tränen rannen der alten, treuen Seele auf sein weißes Chemisett.

Aber wie heiß auch unsere stummen Bitten und lauten Klagen aufstiegen – die Ärzte konnten uns, als sie nach einer bangen Stunde aus dem Krankenzimmer traten, doch keine andere Kunde geben als die, daß, falls der Ärmste mit dem Leben davonkam, er halbseitig gelähmt bleiben würde, da die Wirbelsäule verletzt sei.

Es war, als ob ich einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte! Dieses junge Leben sollte gebrochen, dieser tatkräftige Mann wirklich vernichtet sein in seinem schönsten Alter? Und unwillkürlich kamen auch mir die Bittworte: Herr Gott, lasse ihn doch lieber sterben, als unter all dem Schweren leben, das über ihn gekommen ist!

Und es galt dennoch sich aufzuraffen und der Diakonissin oben zur Hand zu gehen, die der Professor bereits mitgebracht hatte.

Die nette, junge Schwester bereitete oben alles vor zu einem operativen Eingriff; der Kranke war noch nicht wieder bei Besinnung, es schien Gehirnerschütterung obzuwalten. Soviel ich verstand, mußten eine oder zwei Rippen teilweise entfernt werden, in einer halben Stunde sollte es geschehen. Das Stubenmädchen half; es roch nach allerhand Desinfektionsmitteln. Auf einen der größeren Tische wurde eine Matratze gelegt und reine Leinentücher darüber, kurz – alle jene schauerlichen Vorbereitungen fanden statt, die zu jenem Leben erhaltenden Eingriff erforderlich sind.

Und nun saß ich wieder allein, diesmal in meinem Zimmer, in dem schon die gepackten Koffer standen, die in der Frühe der Milchwagen mitnehmen sollte, um sie am Gepäckschalter abzugeben. Plötzlich fiel mir Johanna wieder ein – ja, sie mußte doch auch untergebracht werden. Ich öffnete das Zimmer neben mir, zündete Licht an und begann das eine der Betten zu beziehen. Durch das geöffnete Fenster kam kalte Herbstluft herein, im Kachelofen machte das Stubenmädchen, das ich herbeirief, Feuer.

Dann stand ich, in ein Tuch gehüllt, am offenen Fenster und horchte hinaus. Es war windig geworden, dunkle Wolken jagten am Himmel, das Sausen der hohen Parkbäume bildete gleichsam den Hintergrund für den grellen Schrei eines Nachtvogels. Und in diesem Augenblick kurzer Hundeblaff im Dorf drüben und das Schlagen unserer Schloßuhr droben im Turm – drei dünne, halbverwehte Klänge, denen die Kirchenuhr im Dorfe folgte.

Die Dunkelheit stand jetzt ganz schwarz, draußen auch nicht ein Stern mehr zu sehen. Hinter mir knarrte eine Tür, und Breitenfelds Stimme fragte: »Sind Sie hier, Fräulein Maaßen?« Ich schloß das Fenster und trat ihm rasch entgegen, und bei dem Schein der Stearinkerze bemerkte ich seine geröteten Augen.

»Schauderhaft, liebe Maaßen – wie kann ein Mensch nur Lust haben, Arzt zu werden! Der Professor gibt Hoffnung, aber eine Schwester genügt nicht für die Pflege, kommt noch 'ne zweite – nu liegt er so da, für alle Zeit ein Krüppel – noch im Dusel. Ich muß für jetzt nach Haus, komme gegen Abend zurück; beneide Sie nicht um den Empfang, Fräulein Maaßen. Und wenn Frau Karoline noch bessere Nerven hat, wie sie sie tatsächlich hat, es wird doch über sie kommen heute. Lieber Gott! Sehen Sie, armes Tierchen, nur zu, daß Sie ein bißchen schlafen können, vor zwölf Uhr mittags können ja die Reisenden nicht hier sein. Bitte den Damen vorläufig meine Teilnahme auszusprechen. Adieu – auf Wiedersehen – meine Kleine zu Haus wird wohl vor Angst um mich schon in einer Art stiller Wut sein, sie weiß ja nicht, was los ist, und denkt womöglich, ich kneipe – na, ich danke! Leben Sie wohl!«

»Gute Nacht, Herr Baron,« sagte ich, und als ich der Schwester noch beim Aufräumen geholfen und die Herren Ärzte ins Arbeitszimmer des Hausherrn bei schwarzem Kaffee und Zigarren geschickt hatte – sie konnten erst nach einer Stunde abfahren – sank ich, vor Müdigkeit taumelnd, auf mein Bett.

Als ich erwachte, war es gegen neun Uhr morgens zu meinem Entsetzen, die Haushaltungsmaschine aber war in vollster, geräuschloser Tätigkeit. Als ich dann an der Tür des Krankenzimmers flüsternd nach dem Befinden fragte, sagte mir die Schwester mit blassem, übernächtigem Gesicht, Jörg Rhoden sei noch immer besinnungslos, Doktor Zänker komme um zehn Uhr zurück und bringe gleich eine zweite Schwester mit.

Der alte Friedrich und der Kutscher hatten die Girlanden von der Haustür abgenommen. Der weiße Sand, den die Scheuermagd verschwenderisch auf die steinerne Vortreppe gestreut hatte, war von Regen und Sturm verweht und aufgeweicht, der Hof stand voller Pfützen und es regnete noch stetig weiter.

Als Lorenz mit dem Landauer und dem alten Braunen nach der Stadt fuhr, trug er den ältesten Mantel des Wetters wegen, und über dem Einspänner, der ihm folgte, hatte man das Schutzleder hochgezogen, das Gepäck befand sich bereits unterwegs. Baron Breitenfeld hatte schon gegen neun Uhr durch seinen Reitknecht Erkundigungen einziehen lassen, wie die Nacht verlaufen sei, und hatte sagen lassen, daß er persönlich gegen drei Uhr kommen werde, um nachzufragen.

Es war eine zwar stille, aber doch lebhafte Bewegung im Haus, jeder schaute den anderen an mit der bangen Frage: Wie wird es nun sein hier in ein paar Stunden? Wie wird die heimkehrende Frau die schreckliche Nachricht ertragen? Die Zeit schien bleierne Füße zu haben in dieser kurzen Spanne bis zur Ankunft der Reisenden. Ich ging noch einmal durch alle Zimmer, in der Kinderstube blieb ich stehen. Es sah hier so nach Glück aus, nach trautem, herzigem Glück, und war doch keins. Da war die alte Wiege von Klein-Zülla mit dem Wappen der Cordes, in der auch Jörg Rhoden schon gelegen hatte, ein großer Paravent aus der ehemaligen Kinderstube des Hausherrn mit Münchener und Neuruppiner Bilderbogen verziert, der Spielteppich aus Filz, den die verstorbene Amtsrätin für ihren Einzigen mit bunten Tuchauflagen verziert hatte, der große Wickeltisch und das uralte Badetischchen, in dessen geschnitztem dunklen Gestell das Kupferwännchen hing, gleichfalls mit dem Wappen, und hinter dem mächtigen Kachelofen der tiefe Lehnstuhl, in dem die Mutter sitzen mochte, um das Kind auf ihrem Schoß zu wiegen.

Ach, die Mutter! Und ... mein Gott ... ja ... noch gestern war Jörg Rhoden hier gewesen und hatte die starken, blauen Zuggardinen vor den Fenstern anbringen lassen, damit auch am Tag Dunkelheit für den Schlaf des Kleinen zu beschaffen sei. Nun lag der Mann da zwischen Leben und Sterben! Wenn doch der Tod käme, ihn zu erlösen!

Doktor Zänker trat einen Augenblick zu mir, er war eben gekommen und hatte die Schwester mitgebracht aus der Stadt. Er sah sich flüchtig um.

»Haben Sie das hier eingerichtet?«

»Teilweise; Herr Rhoden hat das meiste getan.«

»Er freute sich wohl mächtig? Armer Herr! Bitte, lassen Sie mir sagen, wenn die Wagen kommen.«

Es war noch ein langes Warten, der Zug hatte Verspätung gehabt, wie sich herausstellte. Gegen zwei Uhr war es, als Lorenz auf den Hof fuhr, der Einspänner war noch gar nicht zu erblicken.

Karoline stieg zuerst aus, hinter ihr Pastor Brinkmann und die Breiter, die mir das Kind, in Tüchern und Schleiern verpackt, herausreichte. Karoline sagte mir kaum guten Tag und ging starr und steif an dem alten Friedrich vorüber, die Treppe empor und trat ins Haus, wir folgten stumm. Die Breiter nahm mir dann das Kind wieder ab und verschwand ohne weiteres in der Kinderstube. Wir anderen standen in peinlichem Schweigen um Karoline, die wie betäubt schien und sich von Friedrich Mantel und Hut abnehmen ließ. Doktor Zänker eilte die Treppe herunter und sprach ein paar Worte des Trostes, auch Brinkmann sagte noch einmal ein gepreßtes: »Kopf hoch, Frau Karoline, Kopf hoch, noch lebt er ja!«

Karoline suchte nach Worten, mochte aber nicht wissen, was sie sagen sollte. Endlich schien sie sich gesammelt zu haben, und mit einer schrillen, gekränkten Stimme fragte sie: »Wer hat denn meinem Mann zu den Gäulen verholfen? Natürlich hat Lorenz ihn getriezt und behauptete, die alten Pferde wären nicht mehr gut genug? Und Breitenfeld hat beim Kauf geholfen. Ewig und ewig passieren Dummheiten, wenn man nicht zu Hause ist, und nun sind wir ja so weit!«

Mit diesen Worten wandte sie sich kurz um und schritt auf die Tür zu, die nach dem Zimmer führte, das Rhoden noch jüngst bewohnt hatte.

»Bitte, gnädige Frau, Ihr Mann liegt oben,« rief Doktor Zänker ihr nach. Und nun stand sie wie angewurzelt.

»Oben?« fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Ja, warum denn? Das ist ...«

»Herr Rhoden wohnt schon seit einigen Tagen oben, in den Zimmern über den seinigen; er hat den Umzug angeordnet,« sagte ich erklärend.

Eine heiße Blutwelle floß über ihr flaches Antlitz. »Ach so,« sagte sie, und mit ihren kurzen Schritten ging sie, den Kopf in den Nacken gebogen, zur Treppe und diese hinauf. Zänker folgte ihr und sprach etwas von größerer Ruhe bei dem Kranken dort oben; aber sie antwortete nicht.

Ich blieb da stehen, bis die kleine volle Gestalt im oberen Korridor verschwunden war, dann ging ich in die Kinderstube. Die Breitern hatte flüchtig ihre Sachen abgeworfen und das Kindchen auf dem Wickeltisch liegen, um es anzuziehen. Der kleine, weiche Kinderkörper dehnte sich wohlig auf dem sauberen Linnen, winzige Fäustchen reckten sich in die Luft, und große, blaue Augen starrten in die fremde Umgebung.

»O lieber Gott, du armes Kerlchen!« sagte ich ergriffen, das schöne, kleine Bürschchen beobachtend.

Und die Alte nickte beim eifrigen Hantieren. »Ich kann's ja noch gar nicht glauben, Fräulein, es kann ja doch wohl nicht möglich sein! Nein, wie da auf einmal die Frau Pastorin in der Coupétür mit der Unglücksnachricht steht,« fuhr sie fort, schüttelte den Kopf und wischte ein paar Tränen aus den Augen – »und Fräulein Johanna ...«

»Liebes, gutes Breiterchen, sagen Sie – wie nahm sie es auf, wie steht es mit ihr?« fragte ich zitternd.

»Ach, Fräulein, wie soll's denn wohl stehen? Stille is se, ganz stille, aber nich erst seit heute. Heute hat se gar nichts mehr gesagt, bloß daß ihre Augen noch ein bißchen starrer geworden sind. Ach nein, Fräulein, wenn Sie bloß wüßten, was ich mit dem unglücklichen Kind habe durchgemacht von dem Augenblick an, wo's ernst geworden is mit unserer Abreise und der Trennung von dem da« – sie zeigte auf das Kind – »sie hat sich nicht gewehrt und hat nicht geweint oder um Aufschub gebeten, nein – nichts – nichts tat sie, aber so blaß ist sie und redet keinen Ton und schlich um sein Bettchen herum, oder sie hielt ihn in den Armen und konnte die Augen nich von ihm lassen.«

»Und wo ist sie denn nun? Kommt sie mit her?«

»Die Frau Pastorin kommt mit ihr im Einspänner, und der fährt doch nicht so rasch, Fräulein – aber hören Sie, da sind sie doch schon.«

Die Breitern hatte das auffallend schöne Kindchen unterdessen in ein frisches Steckbettchen gebunden und legte es in den Wagen. Das Bübchen empfand das aber böse und fing an zu schreien. »Er will durchaus nicht liegen, das macht, weil seine Mama ihn immer so umhergeschleppt hat, Tag und Tag – ich wollt' sagen – seine Tante. Ach Gott, nein – solch eine schreckliche Sache, Fräulein Maaßen, und in so 'nem ehrbaren Haus.«

Sie hatte währenddem eine Milchflasche zurechtgemacht, aber ehe sie noch mit dieser den kleinen Schreier beschwichtigen konnte, stand Johanna in der Tür, und ihre Augen sahen erschreckt nach der Wiege, in der Hans Jörg schrie.

»Liebes Lottchen!« weiter sagte sie nichts, und dann erblickte sie mich und wurde still; auch das Kind verstummte. Ich aber stand wie gelähmt ihr gegenüber. Sie war noch immer das schöne Geschöpf wie vor einem Jahr und doch so anders. Ein leidgebeugtes, in allen Tiefen der Seele erschüttertes Weib, stand sie, und wagte nicht, mich anzuschauen. Der Zug um ihren Mund allein brachte mich zum Weinen.

»Johanna!« rief ich und breitete die Arme nach ihr aus in überströmendem Mitleid, aber sie flüchtete nicht hinein wie sonst. Unter den langen Wimpern gingen die Augen scheu an mir vorüber, und ein hoffnungsloser Ausdruck legte sich über ihr Gesicht.

»Aber, Johanna, kennst du mich denn nicht?«

»Doch, Tante Anna, aber du willst mich ja fortholen von ihm!«

»Johanna,« ich trat zu ihr, »hast du mich denn nicht mehr lieb? Freust du dich denn nicht, mit mir zu leben? Einstmals wußtest du ja nichts Besseres.«

Sie sah mich verständnislos an und schüttelte den Kopf. »Nein, ich freue mich nicht, wie kann ich mich denn freuen?«

»Ach, Fräulein Maaßen,« bat die Breitern, »lassen Sie sie nur. Kommen Sie, Fräulein Johanna, setzen Sie sich hier an den Ofen, Sie frieren ja.« Sie leitete die Arme zu dem Lehnstuhl, und dort blieb Johanna sitzen, nachdem die Breitern ihr Mantel und Hut abgenommen hatte, und sah mit gefalteten Händen und gequältem Ausdruck auf das trinkende, schluckende Kind.

Ich hatte nicht gedacht, daß das gestrige Leid noch übertroffen werden könnte, ich war wie zerschlagen, als ich das Zimmer verließ, um nach der Pastorin zu suchen. Auf dem Flur sprach der alte Friedrich mich an, ob er wohl hinein dürfe, den kleinen Jungherrn zu sehen? Ich ließ ihn an mir vorüber und suchte weiter nach der Pastorin; endlich fand ich sie. Sie saß erschöpft in Karolinens Stube, und als sie mich erblickte, brach sie in Tränen aus: »Gerad wie ihre Mutter, gerad wie ihre Mutter! Sie müssen fort von hier, so bald wie möglich!« schluchzte sie.

»Wird sie denn wollen?«

»Sie darf aber keinen Willen mehr haben, sie hat keinen klaren Begriff mehr, wie sehr sie dieses Gebaren kompromittieren könnte; sie beunruhigt sich kaum um Jörg, der auf den Tod liegt, alles, alles dreht sich um ihr Scheiden von dem Kind! Wie haben wir auf sie eingeredet, in verschiedenster Weise ihr alles vorgestellt, sie antwortete keinen Ton, sie denkt: redet nur, es ist mir alles ganz egal außer dem Einen.«

»Seit wann ist sie denn so?«

»Brinkmann meint, seit dem Tag, wo ihr Karoline in der bekannten Manier gesagt hat: ›So, nun muß das ein Ende haben, wir reisen heim, und du gehst nach Dresden.‹ Sie wissen schon, liebste Anna, es war ja so ausgemacht. Also von dem Augenblick an, wo sie alle nachts den Schnellzug in Bordighera bestiegen, der erste Teil des Komödienspiels ein Ende hatte und der zweite begann und Karoline plötzlich in das Mutterrecht eintrat. – Johanna soll bis dahin ganz vernünftig gewesen sein. Aber dann – vorbei, vorbei!«

In diesem Augenblick scholl der Gong durch die Stille des Hauses, laut und brutal, als wäre kein Kranker hier. Wir sahen uns an, dachte heute denn jemand an Essen? Aber Friedrich steckte bestätigend den Kopf in die Tür: »Die gnä' Frau läßt zu Tisch bitten.«

Wir folgten ganz verblüfft diesem Befehl, und die Pastorin seufzte: »Sie hat ja recht, die Lampe muß Öl haben, wenn sie brennen soll.«

»Lassen Sie mich erst Johanna holen,« bat ich, und als ich ihr den Arm gab in der Kinderstube, stand sie folgsam auf und kam mit. Der Pfarrer und Karoline warteten schon im Speisezimmer. Karoline sah gerötet aus, aber es waren keine Tränen, sondern nur die Folge hoher Erregung. Die eine der Diakonissinnen stand mit Doktor Zänker dort am Fenster und sprach leise mit ihm, und als wir kamen, setzten wir uns alle um den Tisch. Der Pastor und der Arzt begannen ein Gespräch über den Unfall, Zänker teilte mit, wie Herr von Breitenfeld den Verunglückten gefunden hatte, und Karoline füllte die Suppe auf; ich wollte es ihr abnehmen, aber sie litt es nicht.

Es war ein schnelles, stummes Essen; Pastors wollten fort in ihr Heim, und die zurückgekehrten Damen sollten sich legen nach so langer Fahrt und so großer Gemütserregung, schlug Doktor Zänker vor. Um vier Uhr mußte der Professor wieder abgeholt werden vom Bahnhof. »Überhaupt den Kranken recht schonen,« ermahnte der Arzt. »Sie werden viel Kraft gebrauchen, gnädige Frau, aber Fräulein Johanna hilft Ihnen gewiß gern?« wandte er sich an das junge Mädchen.

Es war, als hätte ein belebender Funke in Johanna gezündet, so gespannt hefteten sich ihre Augen auf das Gesicht der Schwester, bittend, flehend.

»Johanna?« sagte Karoline langsam, »ach nein, Johanna geht mit Fräulein Maaßen nach Dresden – wissen Sie, lieber Doktor, es ist hier gerad genug Krabbelei, mir wird schon ganz wirrig, und Johanna ist blutarm, sie kann nicht im Haushalt arbeiten. Ihr ist die Reise gar nicht bekommen, nein, und ehrlich gestanden,« wandte sie sich jetzt an mich, »es ist mir lieb, wenn Sie bald abreisen, morgen oder übermorgen, Fräulein Maaßen, es klingt vielleicht unhöflich,« fuhr sie fort, »aber ich sehne mich förmlich nach Ruhe.«

»Das kann ich ja verstehen, Frau Rhoden, aber ich dachte, Fräulein Johanna könnte sich als Tante ein bißchen nützlich machen, denn – wissen Sie – Krankenpflegerin, Mutter und Wirtschaft zugleich, dies alles auf zwei Schultern, das ist möglicherweise doch zu viel,« warnte Doktor Zänker.

»O,« sagte Karoline und faltete während des Sprechens mit peinlicher Genauigkeit ihre Serviette, »der Kleine hat die ausgezeichnete Breitern, mein Mann die zwei Pflegerinnen – bleibt hauptsächlich nur noch die Wirtschaft, und dabei kann mir niemand helfen. Gesegnete Mahlzeit!«

Sie stand auf, bedankte sich kühl bei Herrn und Frau Pfarrer, zog nochmals den Arzt ins Gespräch und hatte keinen Blick für Johanna, die sich jetzt, wie einer Stütze bedürftig, in meinen Arm gehängt hatte.

Pastor Brinkmann trat zu uns. »Nur Mut, mein Kind, nimm dein schweres Leben auf dich, gehe bald von hier,« sprach er leise. »Siehe, dein Bleiben hier wäre rechtlos und ärgernisgebend; geh und danke deiner Schwester, die deine Schuld vor der Welt verbirgt, in Treue und Aufopferung. Du weißt, was du mir versprochen hast in ernster Stunde.«

Johanna zog die Hand des alten Mannes an die Lippen, küßte auch der Pastorin die Hand und faßte sich an den Kopf, als ob ihr schwindelte. Wir gingen hinauf in unser Zimmer, und ich beredete Johanna, sich zu legen.

»Gib mir meine Medizin, Tante,« bat sie, »dort, in meinem Reisetäschchen liegt sie, der Doktor in Bordighera verschrieb es mir, es ist ein Schlafmittel. Ich muß aufhören zu denken, es ist zu entsetzlich!« Und fast zornig griff sie nach dem weißen Pulver und einem Löffelchen.

Sie sprach noch halblaut vor sich hin im Einschlafen; ich saß an ihrem Bett und hielt die zuckende, heiße Hand; die Gardinen waren zugezogen, so daß eine tiefe Dämmerung herrschte, es war totenstill hier oben, nur der Regen fiel noch immer eintönig rauschend gegen die Fenster und dann und wann ein leises Huschen auf dem Korridor und das vorsichtige langsame Schließen einer Tür in der Nähe des Schwerkranken.

Als Johanna fest eingeschlafen war, verließ ich sie und suchte Karoline auf. Sie saß mit dem Verwalter in ihrer Stube, hatte wieder einen roten, heißen Kopf und fertigte mich kurz ab auf später, wo sie mit mir verrechnen wolle. Die Mamsell rannte mich beinah um, als ich wieder aus dem Zimmer trat. Draußen aber traf ich auf Breitenfeld.

»Nun, wie steht's hier? Ist der Professor schon anwesend?«

Ich leitete ihn in den Salon und antwortete, so gut ich konnte.

»War sie vernünftig?«

»Sehr, sehr, Herr Baron, sie ist eben mit dem Verwalter im Gespräch,« sagte ich.

»Alle Achtung!« stieß er erstaunt hervor, »es geht nichts über gute Nerven! Und der Kronprinz, ist er ganz und heil angekommen?«

»Ja, danke sehr. Soll ich Frau Rhoden benachrichtigen von Ihrem Hiersein?«

»Um des Himmels willen – nee! Aber schicken Sie mir 'nen Kognak – ein Sauwetter ist's! Ich will hauptsächlich den Professor sprechen; apropos – wie geht's Johanna?«

»Sie schläft augenblicklich.«

»Donnerwetter! Eine gute Art, die Nordmanns,« staunte er.

»Sie nahm ein Schlafmittel.«

»So, so! Na darum. Sie macht auch wahrhaftig keinen so robusten Eindruck. Meine kleine Frau hat die Geschichte so ergriffen, liegt zu Bett an Stelle von Frau Karoline und heult in einem fort.«

»Karoline ist hart mit sich –«

»Und mit anderen auch,« ergänzte er, »das weiß ich von früher her – mag ich nicht bei Frauen; aber jetzt wird's ihr zu statten kommen. Na, da haben wir ja den Professor – hören Sie den Wagen? Bitte, Fräulein Maaßen, wenn der Herr oben fertig ist – ich möchte ihn sprechen.«

Als eben der Arzt nach oben gegangen war, Doktor Zänker weilte noch von Mittag her bei dem Kranken, kam Karoline zu mir.

»Die Mamsell hat mir Ihre Bücher übergeben,« sagte sie, »ich danke Ihnen nochmals für Ihre Aushilfe.«

Karoline sah den Baron nicht, der in der Fensternische stand, halb hinter dem Vorhang.

»Was wollten Sie übrigens vorhin von mir, Fräulein?« fragte sie, »ich kann mich nämlich im Punkt von Johannas Abreise auf nichts einlassen, was ich gesagt habe, muß geschehen – wenn Sie etwa mit einer auf dies bezüglichen Bitte kommen, so bedaure ich –«

Ich winkte ihr erschreckt zu, und auch Karoline starrte einigermaßen erschreckt den Herrn von Breitenfeld an, der sich jetzt zu ihr wandte. »Entschuldigen Sie, Baron,« bat sie, »ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht, denken Sie doch, was alles über mich gekommen ist – mein armer Mann, nicht wahr – und – –«

»Mein herzlichstes Beileid, gnädige Frau, und das meiner Frau und meiner Eltern. Sie können denken, wie ich mich sorge um meinen lieben, alten Freund,« sagte der Baron warm.

»Und warum das alles?« fragte sie. »Wäre ich nur daheimgeblieben, dann konnte es nicht geschehen. Aber eine Frau soll zweierlei nicht tun, nicht krank werden und nicht vom Hause fortgehen – das habe ich erfahren.«

Dann wandte sie sich wieder zu mir.

»Also ernstlich, Fräulein Maaßen, Johanna hat gar keine Zeit zu verlieren; sie muß irgend eine ernste Arbeit beginnen, hat lange genug gebummelt – spätestens übermorgen – –«

»Morgen schon, Frau Karoline,« sagte ich kurz, verabschiedete mich von Herrn von Breitenfeld und stieg wieder nach oben, wo Johanna noch im tiefsten Schlafe lag. So, dachte ich und betrachtete sie, nun bist du eine Zigeunerin, die kein Heimatrecht mehr hat, du armes, unseliges Geschöpf du!

Ich holte mir eine Stunde später noch einmal Bescheid über das Befinden des Hausherrn, beorderte ein paar belegte Brötchen nach oben und verschloß die Tür hinter mir, um auch die Ruhe zu suchen.

Es waren in Georg Rhodens Zustand keine Besserung, aber auch keine schlimmeren Symptome zu verzeichnen; vor einer Woche durfte man kaum auf Änderung hoffen, hatte der Professor gesagt.

In der Nacht fuhr ich aus einem bleiernen Schlaf empor, inmitten des Zimmers stand Johanna, ein Licht in der Hand; sie sah sich ganz irre um. »Es schreit, es schreit immerzu, es kann ja doch nicht einschlafen ohne mich, wo bin ich denn? Wo habt ihr es denn?« Sie lief zur Tür in ihrem weißen Nachthemd und rüttelte an der Klinke.

»Johanna, du weckst ihn ja! Er schläft!« flüsterte ich ihr zu, sie festhaltend, »schön und süß schläft er, komm, lege dich ruhig hin, sonst wacht er auf.«

Und sie, die noch unter der Wirkung des starken Mittels stand, ließ sich willenlos wie ein Kind zu ihrem Lager zurückführen. »Ist er nicht lieb? Ist er nicht herzig?« seufzte sie, und dann schlossen sich ihre Augen wieder.

Am andern Morgen ging ich mit ihr durch den Park in das Pfarrhaus. Sie war scheinbar ganz ruhig. Die Breiter und ich wußten, daß sie nicht wiederkehren würde; ihr Koffer war mit dem meinigen schon in aller Frühe nach dem Bahnhof der Stadt geschickt, und Lorenz mit dem Landauer sollte uns von Pastors abholen, mit deren Hilfe ich Johanna zum endgültigen Schluß ihres Aufenthalts hier zu bestimmen hoffte.

Pfarrers waren benachrichtigt; beide wollten uns noch nach der Station begleiten. Ich kam mir schlechterdings vor wie ein Henker, als ich das Parktor hinter uns schloß und sie nun der Überredungskunst ihres Seelsorgers übergab. Pastor Brinkmann nahm Johanna in sein Studierzimmer und sprach mit ihr dort lange Zeit, dann bat er mich, zu ihm zu kommen. Ich hörte noch, wie die Pastorin einen muntern Ton gegen Johanna anschlug: »So, mein Kind, nun wollen wir noch ein wenig plaudern und ein wenig frühstücken, ehe wir fahren.«

Das arme Geschöpf stand wie geistesabwesend, als Pastor Brinkmann die Tür hinter mir schloß. »Sie wird folgsam sein, heute – morgen vielleicht, wie es später wird, das müssen wir sehen, liebes Fräulein Maaßen,« sagte er. »Ich bitte Sie herzlichst und in Johannas Interesse – nur keine Sentimentalität, keine Entschuldigungen ihres Fehltritts. Eine gewisse Härte, eine unbeugsame Konsequenz in Ihrer Anschauung, das ist die Medizin für sie – und Arbeit, viel Arbeit. Machen Sie nicht so ein trostloses Gesicht, liebe Maaßen, Sie haben viel zu verantworten. Johanna muß dahin kommen, sich und ihr Geschick selbst zu vergessen, wenn wir sie gesund erhalten wollen!«

»Wäre dann nicht echte, starke, verzeihende Liebe und Duldsamkeit gegen solch Leiden das beste Vorbeugungsmittel, lieber Herr Brinkmann?«

»Nein,« sagte er laut, »Johanna ist selbst viel zu gerecht gegen sich, und ein weichliches Verzeihen würde sie befremden. Sie darf sich niemals freisprechen lernen von solcher Schuld, tut es auch nicht, dazu habe ich sie nicht erzogen. Sie soll sühnen in Aufopferung ihrer selbst. Nur dadurch wird ihr Gewissen ruhiger werden, durch nichts anderes.«

»Aber ich darf ihr doch immer zur Seite stehen in alter Treue? Sie hat so furchtbar schwer zu leiden, lieber Herr Pastor, ich will es ihr nicht noch schwerer machen, und wenn mir Johanna sagt, ich sterbe vor Sehnsucht nach meinem Kind, dann werde ich ihr nicht antworten: das ist deine Strafe, dann werde ich ihr Mut einsprechen und sie küssen und sie liebhaben, lieber als je vorher.«

»Kind!« Der Pastor legte die Hand auf meine Schulter. »Es wird Ihnen niemand wehren, mitleidig zu sein! Sind wir es nicht alle – meine Frau, ich, selbst die alte, wunderliche Breitern – wer hätte dies schöne, arme Geschöpf nicht lieb? Ich billige ihr auch innerlich alle möglichen mildernden Umstände zu, aber es gibt unumstößliche Begriffe von Recht und Sitte, deren Verletzung nicht im geringsten toleriert werden darf. Lieben Sie Johanna, schenken Sie ihr Mitleid, aber stellen Sie ihr niemals ihre Schuld milder dar, es wäre sündliche Schwäche.«

»Und wie denken Sie über Karoline? Das eine bitte ich, mir noch zu sagen, lieber Pastor.«

Ein Schatten glitt über sein Gesicht. »Sie ist in ihrem Recht,« sagte er hart, »sie tut viel für die, die sie betrogen haben.«

»Und hätte sie nicht mehr tun können, mehr tun müssen?« flehte ich, »ist es nicht auch eine Sünde, etwas durchaus für sich behalten zu wollen, was ihr nicht mehr gehört?«

»Es gehört ihr nach Recht und Gesetz, liebe Maaßen,« sagte er schroff.

Eine halbe Stunde später rollten wir auf der Chaussee und weiter eine halbe Stunde saßen wir im Coupé des Durchgangswagens und fuhren nach Dresden.

Johanna sprach während der ganzen Fahrt kein Wort.

*

Mühsam hatten wir uns eingelebt in unserer kleinen Wohnung, traurig das Winterhalbjahr verbracht. Johanna kränkelte, und ich hatte einen Influenzaanfall zu überstehen, und wenn jetzt, gegen den März hin, noch nichts geschehen war, um sie in die gewünschte Tätigkeit zu bringen, so war es nicht böser Wille ihrerseits und meinerseits, sondern ein Nichtkönnen. Nach Ostern hatte sie sich beworben um die Pflegerinstelle in einem Kinderhospital, zugesagt war es ihr noch nicht, denn einen Befähigungsnachweis hatte sie nicht erbringen können. Ich verdankte den Hinweis auf diese Tätigkeit nur dem Arzt, der in unserm Haus wohnte und mich in der Krankheit behandelt hatte.

Nun kam die Sonne auch wieder in unsere Fenster, und im Vorgärtchen schwollen die Knospen an den Fliederbüschen, und die Schneeglöckchen und Krokus blühten auf den Rabatten. Jede Woche einmal schrieb Lotte Breiter an Johanna, wunderliche geschraubte Episteln waren es, wir wußten aber doch, daß das Kind gedieh, daß der Hausherr immer noch hoffnungslos lag, daß Frau Karoline der großen Wirtschaft selbständig vorstehe, ›wunderbar schneidig‹, wie Lorenz der Breitern gesagt haben sollte, und daß ein Extrapfleger für den Herrn engagiert sei, der ihn anzukleiden habe und füttere, denn der arme Herr sei rechtsseitig völlig gelähmt. Seine einzige Freude wäre, wenn sie, die Lotte, mit dem Jungen nach oben ginge, die gnä' Frau tue dann stets, als sähe sie das nicht, aber sie habe ja so wenig Zeit, sich um Mann und Kind zu bekümmern, denn eben die Wirtschaft ...

Nach solchen Berichten saß Johanna gewöhnlich den halben Tag stumm in ihrer Schlafstube am Fenster, wo ihr kleines Nähtischchen und der Sessel standen, die beide noch von ihrer Mutter stammten. Sie hatte sich jedoch das Fenster fast verbaut mit Blattpflanzen und Blumen, denn ihr war es schrecklich, wenn jemand im Vorübergehen einen Blick auf sie warf; sie war überhaupt nahezu menschenscheu geworden.

Ich hatte einmal mit dem Doktor über sie gesprochen, und ihren Zustand als Heimweh bezeichnet. Dieser, ein noch junger Mann, meinte mitleidig, wir lebten aber auch zu still, etwas Zerstreuung würde angebracht sein! Nach vielem Bitten und Betteln bekam ich Johanna so weit, daß sie mit mir ein Theater besuchen wollte. Damals spielte Agnes Sorma als Gast am Residenztheater, und ich nahm für Sudermanns »Heimat« Billette, ohne das Stück zu kennen; es war ganz neu für Dresden. Wir saßen pünktlich auf unsern Logenplätzen und sahen das packende Stück, das eine Seite unseres modernen Lebens so grell beleuchtet, an uns vorüberziehen läßt. Johanna schien kaum zuzuhören, erst in der Szene, wo Magda sich der Größe ihrer Mutterliebe bewußt wird und in Tönen den Besitz ihres Kindes verteidigt, die ihre Hörer bis ins tiefste Herz hinein erschüttern mußten, da erst bog sie sich vor, hing sie an den Lippen der Darstellerin, und über ihr Gesicht flog die Röte innerer Erregung.

Wir fuhren mit der Pferdebahn nach Haus; dort lehnte sie die kleine Erfrischung ab, die ich ihr anbot, und suchte sofort das Schlafzimmer auf; als ich ihr nachging, stand sie halb entkleidet vor dem Toilettentischchen und sah ihr Spiegelbild an.

»O du Tante,« sagte sie, sich plötzlich zu mir umwendend, »weißt du auch, was ihr aus mir gemacht habt?« Und mit zitternden Händen ihr flüchtig zusammengerafftes schönes Haar auf dem Scheitel zu einem Knoten formend, schrie sie mir zu: »Zu einer pflichtvergessenen, zu einer unnatürlichen Mutter, die schlechter ist als ein Tier – jawohl – dazu, dazu habt ihr mich gemacht! Die ganze Zeit her hab' ich das schon gedacht und bin mir nun klar darüber geworden. Ich lasse mir das nicht mehr gefallen, ich will meinen Jungen! Ich will Hans Jörg haben! Wie kommt Karoline dazu, mir etwas fortzunehmen, das mir gehört? Und ich will es. Ich hole ihn mir, und wenn du dich schämst mit mir – geh! Geh zu den andern verlogenen jämmerlichen Menschen – geh!«

Und sie wies zur Tür und faßte mich hart am Arm, daß es schmerzte.

Es war nicht möglich, ein Wort dazwischen zu werfen, ich mußte schweigen vor dem beinah wilden Gebaren dieses sonst so sanften Geschöpfes, es war ein einziger Schrei ihrer unterdrückten Natur, was mir jetzt entgegentoste, der Schrei der Mutter nach dem, den sie geboren, wie ihn das Tier hat, dem man sein Junges raubte.

Sie warf sich mitten in ihrem Umherrennen und in ihrem Schwall von Worten auf den Teppich, barg das Gesicht in ihren Armen, weinte mit einer verzweifelten Leidenschaft und schrie, bis es schließlich nur noch ein leises Wimmern war.

»Johanna, mein armes – armes –« sagte ich, vor ihr niederknieend, »es geht ja nicht! Sieh es doch ein, es ist ja unmöglich – darum unmöglich, weil du das Kleine unglücklich machen würdest! Du darfst nicht zur ersten noch die zweite Sünde fügen; es wäre ein strafbarer Egoismus von dir, wolltest du das Kind bei dir haben, denn es würde vaterlos dem Gespött der Welt ausgesetzt sein und unglücklich werden. Siehst du das ein?«

»O die schrecklichen Menschen, diese unbarmherzigen!« jammerte sie, »könnte ich doch fort, weit fort, wo uns niemand kennt!«

»Überall sind Sitte und Gesetz gegen euch, Johanna; und höre zu – was für Leid würdest du dem Mann zufügen, den du geliebt hast, nähmst du ihm den Sohn, bedenkst du das wohl? Der ist das einzige, was er hat und liebt.«

Sie wandte mir ihr heißes, verweintes Gesicht zu, halb aufgerichtet sah sie mich verstört an. »Ja,« murmelte sie, »die Schuld bezahle ich allein – es ist mein Los – ich habe kein Recht, ich weiß es, ja ja!«

Sie stand auf, küßte mich und bat, ich solle ihr vergeben, sie wolle nicht wieder so gegen ihr Schicksal rasen. »Aber den einzigen Gefallen tu mir, Tante, laß mich nicht wieder unter Menschen gehen, nicht einen Blick will ich wieder tun in das schreckliche Leben mit seinen tausend Ungerechtigkeiten, bitte, bitte!«

Und ich versprach alles – was hätte ich nicht versprochen!

Über ihren Aufenthalt in Italien verlor sie kein Wort. Nur so ein stilles Sinnen kam manchmal über sie und ein verträumter glücklicher Ausdruck, wenn sie zufällig an ihr Leben dort erinnert wurde. Sie wollte zuletzt aber plötzlich von dem Plan, in das Kinderhospital zu gehen, nichts mehr wissen. O nein, was gingen sie denn diese fremden Würmer an, sie wollte ja überhaupt nicht erinnert sein an dergleichen. Und doch, wo wäre sie nicht erinnert worden? Über uns in der Etage trippelten kleine Füßchen, die Hausmannskinder hockten auf dem Trottoir und spielten Kreisel und beaufsichtigten das Jüngste dabei, das im Wagen schlief, überall auf Wegen und Stegen kleine Menschenknospen, die dem erwachenden Lenz entgegenlachten und zujubelten.

Johanna schritt, weder rechts noch links sehend, an ihnen vorüber, nur der zusammengepreßte Mund verriet, daß sie litt. Sie saß jetzt länger in ihrem Fensterversteck, ganze Nachmittage konnte sie vor sich hin brüten, auf Befragen bekam ich keine Antwort, und als ich böse wurde, hob sie nur ein wenig die Schultern.

Ich bat Doktor Lömsberg, der mich behandelt hatte, sie einmal zu besuchen. Er kam auch, sprach mit ihr und sagte endlich, er könne nichts anderes an ihr entdecken wie immer schon. Ob ich nicht glaube, daß es ihr Temperament sei? Oder vielleicht auch der Einfluß dieser Wohnung? »Ich bitte Sie für jemand, das im Wald aufgewachsen ist, diese steinernen Straßen. Ziehen Sie in eine Vorstadt! Sie ist so ein eigenartiges Geschöpf,« meinte er dann warm, »sehen Sie zu, daß Sie aus dieser Wohnung kommen. Mehr Sonne, mehr Wärme, gehen Sie doch nach dem Hirsch oder nach Pillnitz ...«

»Ach, Herr Doktor,« wehrte ich innerlich erschreckt, »wir müssen uns schon sehr einschränken, das geht nicht gleich so.«

Und es wäre dennoch gegangen, wenn nur Johanna gewollt hätte, aber sie wollte durchaus nicht. Und als Dresdens Umgebung in Blüten stand, so unvergleichlich üppig und schön wie nie, da war Johannas armer Kopf in Schatten gehüllt, und ihre Augen sahen nur noch graue Öde. Tagelang saß sie jetzt so, himmelangst wurde mir, und ich konnte doch nicht helfen; und eines Tags war das Schreckliche geschehen.

Doktor Lömsberg war des öftern bei uns gewesen, hatte zuzeiten unser bescheidenes Abendessen geteilt, und Johanna war ihm mit einer stillen Freundlichkeit entgegengetreten, die mich immer noch hoffen ließ, daß sie sich zusammennehmen könne, wenn sie wolle. Sie sank freilich wie erschöpft zusammen, wenn er uns verlassen hatte.

Eines Tages war sie ausgegangen, und als ich, weil sie mir schon zu lange ausblieb, durch das Fenster spähte, sah ich sie in Gesellschaft des Arztes daherkommen. Sie lief mehr, als sie ging, aber er hielt Schritt; ihr ganzes Gebaren drückte Angst aus, und so ging ich ihr denn entgegen bis zur Entreetür und hielt diese geöffnet. Sie stürzte förmlich an mir vorüber und verriegelte ihre Stubentür hinter sich, der Doktor, der ihr gefolgt war, stand genau so erschreckt wie ich und starrte mich fassungslos an.

»Was will Fräulein Johanna denn? Was hat sie nur?«

»Ich weiß es nicht, ich hoffe von Ihnen Aufklärung zu erhalten, Herr Doktor; bitte, wo trafen Sie sie denn?«

»Fräulein Johanna kam mir auf der Straße nach und sprach mich an. Ich bemerkte sogleich, daß sie in heftiger Erregung war. Ich solle entschuldigen, daß sie hier auf mich warte, begann sie, die Worte überstürzend, sie sei schon oben gewesen in meiner Wohnung, und meine Frau habe ihr gesagt, so um neun Uhr würde ich wohl Georgplatz Nr. 11 sein, wo ich einen schweren Kranken habe. Und da hat sie auf mich unten gewartet. Sie wolle mich einmal etwas fragen, etwas Ärztliches, ob – ob – sie stockte und war absolut nicht im stande, ihre Frage in Worte zu kleiden. Ich redete ihr zu, sie solle doch Vertrauen haben, ich werde auch gern mit ihr zurückkehren in ihre Wohnung, um in aller Ruhe mit ihr zu reden, ob es sie beträfe. Sie aber starrte mich nur immer mit angstvoll großen Augen an, und als ich Miene machte, mit ihr zurückzugehen, rief sie ganz laut: ›Nein! Nein! Nicht nach Hause! Es ist überhaupt weiter nichts, eine ganz belanglose Idee – ich wollte nur wissen: können kleine Kinder sterben an sogenannten Zahnkrämpfen?‹ Und offenbar gereizt durch mein verblüfftes Gesicht, fing sie an zu lachen, ein nervöses, krampfhaftes Lachen, das in ein ebenso hysterisches Weinen überging. Dann aber bezwang sie sich und fragte wieder in heller Angst: ›Können kleine Kinder an Zahnkrämpfen sterben?‹ Ich stammelte ein ›Ja! Gewiß! Aber wie in aller Welt –‹ Und auf einmal flog eine glühende Röte über sie, und sie eilte fort. Natürlich ich hinterher, denn ich sah ja ein, daß hier nicht alles in Ordnung sei. Was ist das? Haben Sie einen kleinen Weltbürger, der ihr so nahesteht?«

Ich wurde ebenfalls glühend rot. »Sie kann nur ihren kleinen Neffen meinen,« antwortete ich und vermied den forschenden Blick des Arztes. »Vielleicht hat sie heute früh aus Zülla Nachricht bekommen; es ist ihr Patenkindchen – na ja, es könnte so weit sein zum Zahnen.«

»Aber diese Aufregung ist unnatürlich,« bemerkte er kühl. »Ich rate Ihnen, Fräulein Maaßen, wenden Sie sich an einen Nervenarzt, es ist das einzig Richtige. Sie hätten die junge Dame sehen sollen bei ihrer Frage – das geht nicht so weiter! Dringend bitte ich Sie, fahren Sie mit ihr zu einem Psychiater. Sind denn in ihrer Familie Geisteskranke gewesen?«

»Ich weiß nicht,« stotterte ich, »mir ist nur bekannt, daß Johannas Mutter sich in einem Anfall von Melancholie das Leben nahm.«

»So! Das genügt vollkommen, um die größte Achtsamkeit auf das arme Mädchen zu haben. Bitte, Fräulein Maaßen, falls ich irgendwie helfen kann, stehe ich zu Ihrer Verfügung.«

Er grüßte sehr artig und ging.

Nun ist es ja wohl so weit, sagte ich mir, nun ist sie auf dem dunklen Weg, und keiner ist da, der mir hilft, sie zu retten! Ich entschloß mich, an einen Psychiater zu schreiben und um seinen Besuch am andern Tag zu bitten, ich wußte ja aus Erfahrung, heute würde Johanna nicht wieder zum Vorschein kommen. Alles Bitten und Rufen an ihrer Tür würde vergeblich sein.

Da kam ein Besuch, ein ganz unerwarteter: Fritz von Breitenfeld! Er wollte doch mal sehen, wie es den Landsleuten in der Fremde gehe. Jörg habe ihn gebeten, einmal vorbeizuschauen. Mein Kummergesicht machte ihn wohl stutzig.

»Na, was ist denn los? Sind Sie krank oder die kleine Johanna? Wo steckt sie denn? Nehmen Sie's nicht übel, aber Sie sehen ja wirklich jämmerlich aus!«

»Ich sorge mich um Johanna, Herr Baron, sie ist krank, ja, ich muß fürchten, daß sie gemütsleidend ist, wie ihre Mutter war.«

»Na, weiter fehlt ja nichts! Wo ist sie denn?«

»Im Bett in ihrem Zimmer.«

»Da darf ich sie wohl gar nicht sehen?«

»Ich weiß nicht. Ich will zu ihr gehen und ihr sagen, daß jemand aus Zülla zum Besuch gekommen ist, vielleicht rüttelt sie das auf aus ihrem Hinbrüten.«

Ich ging nochmals an ihre Tür. »Johanna – es ist jemand aus Zülla da, der will dir erzählen – kommst du nicht einmal in die Wohnstube?«

Da hörte ich ihre Schritte, sie öffnete und kam hastig herüber. Wen sie erwartet hatte, weiß ich nicht, als sie Breitenfeld aber erkannte, erschrak sie und wollte umkehren.

»Aber Fräulein Johanna« – ich sah ihm an, wie erschüttert er war bei ihrem Anblick – »ich habe Ihnen Grüße zu bringen!« Er faßte ihre Hand und zog sie zum Sofa.

Sie saß da wie eine Irrsinnige, die Augen gingen von einem Punkt zum andern, als erspähe sie die beste Gelegenheit zur Flucht; vergrämt, gealtert, ein Anblick zum Weinen.

»Vorgestern bin ich in Zülla gewesen, habe sie alle gesehen, Ihre Schwester und den Jörg und den Bengel mit der ausgezeichneten Breitern. Sie lassen natürlich sämtlich grüßen. Jörg, der arme Kerl, wird im Garten umhergeschoben im Wagen, das Wurm hält er in seinem gesunden Arm, und die Breitern spendet durch ihre angenehme Rundlichkeit, die sie sich jetzt zulegt, den beiden Schatten. So habe ich sie getroffen, meiner Seele – ein rührendes Bild! Frau Karoline kam dann schließlich dazu und jagte die Kindermuhme mit dem Bengel ins Haus; er wäre nicht ganz auf dem Damm, sagte sie, brüllte die ganzen Nächte, es sei vom Zahnen – na ja, großer Gott! kleine Kinder brüllen,« sagte er, als er Johanna zusammenzucken sah. »Die Breitern behauptete dagegen, er schlafe besser an der Luft, und die Sonne täte ihm gut, aber es half ihr nichts, sie mußte rin in die Bude.«

»Ist er sehr krank?« fragte Johanna plötzlich, und eine tödliche Blässe verbreitete sich über ihr Gesicht.

»Herr Gott doch – was machen Sie für Augen, gnädiges Fräulein – ich glaube nicht, das heißt, davon verstehe ich nichts, aber schlimm kann's keinesfalls sein. Ein bißchen bläßlich, dächte ich, wär' der Wurm gewesen – na, was ich sagen wollte, Frau Karoline fing an, von Landwirtschaft zu schwatzen, daß mir grün vor den Augen wurde. Hm! Sie kann ja am Ende mitreden. Und dann, wissen Sie, das Neuste, wir haben schon wieder einen andern Oberförster; der Nachfolger Ihres Vaters, Fräulein Johanna, ist versetzt worden, auf seinen Antrag, glaube ich. Nun haben sie einen entfernten Verwandten von Ihrer Schwester hingeschickt, kennen taten sie sich noch nicht bisher, erst neulich wurden bei seiner Antrittsvisite die Stammbaumangelegenheiten erörtert. Er scheint ja so weit ein ganz netter Kerl zu sein, der Oberförster Ratzing; findet selbstverständlich auch vor Frau Karolinens Augen Gnade. – So, das ist wohl alles, was ich weiß.«

Johanna hatte längst den Kopf sinken lassen und hörte kaum noch auf seine Worte; der Baron warf mir einen traurigen Blick zu und eilte, sich zu verabschieden. Sie gab ihm schweigend die Rechte und suchte dann ihr Zimmer auf. Als ich um die Zeit des Abendbrotes leise mit einem Imbiß an ihr Bett trat, schlief Johanna, scheinbar fest und tief. Da zog ich leise die Tür zu und störte sie nicht mehr diesen Abend. Der Arzt hatte früh noch davon gesprochen, daß Schlaf das Beste für sie sei.

Auch am andern Morgen blieb es lange still in Johannas Zimmer, so lange, daß mir schließlich angst wurde, als ich aber leise die Tür öffnete, fand ich das Zimmer leer. Mein Schreck war groß. Zunächst suchte ich doch noch in der Wohnung nach ihr unter herzklopfender Unruhe und Sorge, aber ohne Erfolg. Eine lähmende Gewißheit überkam mich, sie ist fort, in den Tod, wie auch ihre Mutter! Und was nun tun, wo sie suchen?

Ich stieg zu Doktor Lömsberg hinauf, er war nicht zu Haus. Ich kam zurück und suchte in Johannas Zimmer nach einem Zeichen, das sie mir aus Barmherzigkeit zurückgelassen haben konnte – nichts! Nur in ihrem Nähkörbchen fehlte das fast vollendete Kinderkleidchen und weckte in mir die Idee, daß sie möglicherweise nach Zülla ihren Weg genommen habe. Ich lief zum Postamt und depeschierte an Karoline: »Johanna heimlicherweise Wohnung verlassen, sehr in Sorge, bitte Nachricht, ob dort, ehe weitere Nachforschungen veranlasse.«

Es war Mittag, als ich dieses Telegramm absandte, um vier Uhr hatte ich die Antwort: »Johanna hier eingetroffen in krankem Zustand. Kommen Sie sofort. Doktor Zänker.«

Ich atmete auf, warf die notwendigsten Sachen von Johanna und mir in den Koffer und fuhr abends sieben Uhr über Leipzig nach Halle, wo ich einige Stunden Aufenthalt hatte, bis drei Uhr früh wieder ein Zug weiterging. Ich war ja nur froh, daß Doktor Zänker sich um sie kümmerte, daß nicht das Gräßliche geschehen war.

Es war kühl geworden, und in dem klapprigen Omnibus, der mich von der Station um sechs Uhr früh nach Zülla brachte, war es geradezu kalt. Die Berge waren verschleiert, und unter den Kirschbäumen zur Seite der Chaussee lagen die Blütenblätter, als hätte es geschneit.

Als der Omnibus an dem ersten Wirtshaus des Dorfes hielt, das dem hart angrenzenden Park zu Ehren »Zum Park von Groß-Zülla« hieß, stieg ich aus und versuchte mein Heil an der kleinen Gartenpforte, dem Gasthof gegenüber, die für gewöhnlich geschlossen war. Zufällig erblickte mich der Gärtner von innen und kam, um aufzuschließen.

»Der Herr schläft wohl noch,« meinte der alte Mann, »aber Frau Rhoden, die habe ich schon gesehen bei den Spargelbeeten.« Er wies mit der Hand nach der entgegengesetzten Seite, wo sich der Gemüsegarten befindet, und da mir Karoline schließlich am besten Auskunft geben konnte, lenkte ich meine Schritte dorthin. Gerade als ich den Wirtschaftsgarten betrat, sah ich sie den Mittelgang daherkommen, von einem Mädchen gefolgt, das eine Tragkiepe auf dem Rücken und zwei Henkelkörbe an den Armen trug. Ich schritt ihr rasch entgegen, und als sie mich erkannte, ließ sie das Mädchen an sich vorüber und blieb wie erwartend stehen.

»Nun, da sind Sie ja,« empfing sie mich beim Näherkommen, »war ja gestern eine allerliebste Überraschung! Wie können Sie aber auch ein derartig überspanntes Ding so wenig im Auge behalten? – Höre ich plötzlich in der Kinderstube die Breitern aufschreien, und wie ich hineinrenne, liegt da ein Wesen auf den Knien an der Wiege und schluchzt und schreit und bittet, und da ist's meine Schwester, die sich partout hier unmöglich machen will. Und wie ich an sie herantrete, um sie, ernstlich böse, zu fragen, was sie hier eigentlich suche, fällt sie um und bleibt liegen wie tot. Zum Glück regnete es gestern, und Jörg war in seiner Stube, und Zänker saß bei ihm; der und meines Mannes Pfleger haben sie in ein Zimmer geschafft, und da liegt sie nun mit einer Gehirnentzündung. Na, es mußte ja wieder mal etwas Angenehmes kommen! – Bitte, gehen Sie zu ihr, Sie wissen ja Bescheid, lassen Sie sich von der Mamsell Kaffee bringen, und fangen Sie an, Johanna zu pflegen. Ich kann das nicht, habe zu viel anderes zu tun.«

Nun, viel war wohl für die Arme nach diesem Empfang nicht zu erhoffen. Als ich am Bett der phantasierenden todkranken Johanna saß in dem großen Zimmer droben, wo sie gewohnt hatte, als sie von Italien heimkehrte – ich selbst mit wirbelndem Kopf und elend von der durchwachten Nacht – trat Doktor Zänker ein. Der alte Herr war aufrichtig besorgt und wollte durchaus Näheres über die Umstände wissen, die Johannas Erkrankung vorangegangen sein mußten.

»Sie muß doch irgendwas Schlimmes erfahren haben da in dem verfl... Dresden?«

»Doktor, sie hat Heimweh, nichts weiter als das ist's, glauben Sie mir!«

»Nee, das glaube ich nicht, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, denn das ist längst nicht alles. Natürlich muß sie hier bleiben, so können wir sie nicht fortschaffen, und, Gott weiß, ob sie's übersteht. Also, Eis, immer Eis, und passen Sie auf auf das, was sie spricht, vielleicht kann man doch – eine Liebesgeschichte wird's sein. Was – he?« unterbrach er sich, denn Johanna hatte »Hans« gerufen und »Liebling« und immer wieder »Hans«.

Und auf einmal stutzte der alte Mann, sein ergrauender Kopf bog sich zu mir herunter, und hinter den Brillengläsern sahen seine Augen scharf und starr in die meinigen. »An der Wiege drunten haben sie sie gefunden, ohnmächtig, und der Junge heißt Hans, und sie schreit überlaut diesen Namen. – Kinder, was spielt ihr hier für ein Spiel! Kinder, es geht um eines Menschen Verstand, begreift ihr denn das?« Und als jetzt Karoline eintrat, ging er auf sie zu und fragte sie herrisch: »Was hat sie denn mit Ihrem Jungen, Karoline? Ja, Frau Karoline, umsonst läuft doch eine nicht fort und bricht hier vor dem Kinderbettchen zusammen?«

Mit herzbrechender Angst wartete ich, was Karoline sagen würde. – Aber die war wohl längst in ihrem Innern gegen solche Angriffe, die sie als unausbleiblich erwarten mußte, gewappnet. Sie sah sich den kleinen, dicken, eifrigen Herrn von oben bis unten an mit einem Ausdruck von Unwillen und Erstaunen, der auch einen überzeugten Menschen hätte unsicher machen können.

»Was meinen Sie, Doktor?« fragte sie langsam.

»Nichts!« schrie er ärgerlich.

»O, ich möchte doch bitten,« beharrte sie kühn.

»Nichts!« Er war völlig konsterniert und blaurot vor Ärger.

»Nichts?« wiederholte sie. »Nichts? – das ist ja schön; also, da können wir zur Beratung übergehen. Aus dem Phantasieren darf man ja wohl auf eine Gehirnkrankheit schließen, lieber Doktor?«

Der alte Herr murmelte etwas, das wie eine Ungezogenheit klang, und wandte sich der Kranken zu, die plötzlich im Bett hochsaß mit schreckhaft vergrößerten glänzenden Augen. »Mir gehört er!« schrie sie – »fort von ihm, Karoline soll ihn nicht anfassen!«

Mit weicher Stimme und sanftem Anfassen zwang der Doktor die Kranke zurück in die Kissen, und sich zu Karoline wendend, die unwillkürlich ein paar Schritte zurückgetreten war, sagte er: »Sie ist schwerkrank – wodurch sie so weit gekommen, das wissen Sie vielleicht, Frau Karoline Rhoden – ich weiß es nicht. Sie wird viel Pflege gebrauchen und völlige, absolute Stille und Ruhe. Heut abend werden wir sie im Krankenkorb nach Klein-Zülla bringen in altvertraute Umgebung; Sie sind wohl so gütig, dort etwas lüften und heizen zu lassen – bitte, keine Widerrede, Frau Karoline!« Er hob die Hand.

»Mache ich auch gar nicht, lieber Doktor, ich wollte nur versichern, daß meine Schwester selbstverständlich auch hier bleiben könnte, mich stört sie durchaus nicht, aber ganz wie Sie es für das Zweckmäßigste halten,« sprach Karoline mit ungewöhnlich sanfter Stimme.

Doktor Zänker sah ihr nach, wie sie jetzt zur Tür hinausging, und schüttelte leise den Kopf.

*

Über ein halbes Jahr haben wir gekämpft um Johannas Leben, um Leib und Seele.

Gegen Weihnachten trat die Wendung zum Besseren ein; langsam, langsam gesundete sie, nicht zum blühenden, lachenden Leben, wie die Jugend es verlangte, sondern zu einem ernsten, stillen Dasein im Schatten.

Inzwischen war Doktor Zänker, der ihr seine beste Kraft, sein bestes Können gewidmet hatte, urplötzlich einem Schlagfluß erlegen, und mit seinem Scheiden war Johanna wiederum ein verständnisvoller Freund entrissen, vor dem Karoline einen gewissen Respekt empfand in der Erkenntnis, daß er ein Wissender sei, der menschlich fühlte der armen Entgleisten gegenüber. Er verstand die traurige Lage einigermaßen zu klären und hatte für Johannas Rehabilitierung gekämpft mit aller Kraft, deren er fähig war. Aber Karoline war fest geblieben: »Meine Rechte gebe ich freiwillig nicht auf, in eine Scheidung willige ich nie – wie käme ich dazu!«

Trotzdem war es dem alten Herrn wenigstens gelungen, durchzusetzen, daß Johanna ungehindert in Klein-Zülla bleiben durfte, und daß ihr dann und wann der kleine »Neffe« zugeführt werden solle. Von ihr hatte er dagegen ein unbedingtes Sichfügen in das Schwere verlangt.

Und Johanna wollte, sie wollte alles, und sie wollte nichts für sich; sie wollte arbeiten und dulden, und sie wäre am liebsten gestorben für ihre Schuld. Sie regte wieder die Idee an, im nächsten Frühjahr die von Karoline ehemals geplante Sommerfrische zu eröffnen, und hatte auch den alten Arzt für den Plan zu gewinnen gewußt, und der wiederum hatte Rhoden dafür interessiert, und dieser – was hätte er nicht getan, um ihr einen Lebenszweck zu geben!

Mitten in den Beratungen verließ Doktor Zänker uns, ganz jäh kam es; er war uns allen noch immer als ein rüstiger Mann erschienen. Ein großer Schmerz für Johanna! Ihr erster weiterer Ausgang, ihr erstes Hinaustreten unter Menschen war der Gang hinter dem Sarg des alten Freundes.

Außer einem gelegentlichen Besuch von Pastors sahen wir niemand. Johanna verstand förmlich Spaziergänge aufzuspüren, wo wir keinen Menschen erblickten. Zweimal wöchentlich schob die Breitern den Kinderwagen nach Klein-Zülla und in Johannas Zimmer, dann schloß die alte Frau die Tür hinter ihm und ließ Johanna mit dem kleinen Kerlchen allein. Was da drinnen vorging, weiß ich nicht; die Breiter saß indes bei mir im Vorderzimmer und trank den Kaffee, den ich ihr vorsetzte, und hielt mit gedämpfter Stimme lange philosophische Reden über die Nichtigkeit des menschlichen Lebens, oder sie erzählte von ihrer verstorbenen Herrin, und wie es vordem war in Klein-Zülla, als diese noch jung und bei ihren Eltern hier lebte, am meisten aber bejammerte sie das große Unglück von »unserm Jörg«. Wenn Johanna endlich klopfte, ging Lottchen Breiter hinein zu ihr und schob den blauverhangenen Wagen wieder über die Schwelle. Zuweilen war das kleine Bürschchen in einen neuen Anzug gesteckt, zierlich genäht mit blauen Schleifchen, oder über den Wagen breitete sich ein neues Deckchen oder dergleichen. Und hatte der Wagen mit seinem kleinen, meist schlummernden Insassen und seiner Wärterin Klein-Zülla wieder verlassen, so verschloß sich Johanna aufs neue, als müsse sie sich allein erst wieder zur schweren, äußeren Ruhe durchringen.

Eines Tags, zu Anfang des April, als die Aprikosen und Pfirsiche im Züllaer Garten blühten, waren wir fertig mit der Einrichtung für etwaige Pensionäre, eine ganze Flucht netter, einfacher und doch behaglicher Stuben war durch Johannas Fleiß hergerichtet, lauter alte, vorhanden gewesene Möbel, Vorhänge und Betten, nicht einen Groschen durfte es Karoline kosten. Nun galt es nur noch die Blicke des Publikums auf Klein-Zülla zu lenken, und Johanna hatte bereits an Karoline wegen des Annoncierens in den gelesensten mitteldeutschen Zeitungen geschrieben. Eine Antwort war seltsamerweise nicht gekommen, und Johanna glaubte bestimmt, die Schwester werde heute im Lauf des Tags persönlich erscheinen.

Wir hatten eben als letztes nochmal den großen Saal bewundert, der als gemeinschaftlicher Salon dienen sollte, und dem Johanna wirklich das Ansehen eines behaglichen Raums verschafft hatte, aber als wir wieder in unsere Zimmer zurückkehrten, die ganz wie zu Lebzeiten des Oberförsters eingerichtet waren, fanden wir den alten Friedrich aus Klein-Zülla vor, der Johanna aufforderte, sich heute nachmittag mitsamt Fräulein Maaßen um fünf Uhr in Groß-Zülla einzufinden zu einer Besprechung; Fräulein Johanna möge nur geradeswegs in den Gartensalon gehen.

Johanna war das unsympathisch, ich sah es ihr an.

»Friedrich, wäre es denn gar nicht möglich, daß meine Schwester zu mir käme? Sie könnte dann doch gleich die Zimmer sehen –«

»Ich glaube nicht, gnä' Fräulein, soviel ich weiß, soll eine Art von Familienberatung stattfinden. Der Herr Justizrat kommt auch schon um drei Uhr, weil er vorher noch etwas mit unserm Herrn zu sprechen hat.«

»Gut,« sagte Johanna, »ich werde pünktlich dort sein.« Zu mir aber meinte sie dann: »Mein Gott, Tante, was wird nun wieder sein, was wird Karoline nun wieder wollen?«

»Aber nichts! Was soll es denn sein? Sie wird mit dir über die Höhe der Pensionspreise reden wollen!«

»Nein, nein!« stieß sie hervor, »das hätten wir hier bequemer tun können – und der Justizrat ist ja doch auch dabei – lieber Gott, Tante Anna, viel kann ich nicht mehr ertragen!« –

Wir gingen beide in begreiflicher Aufregung nach Groß-Zülla. Friedrich ließ uns sofort in den Salon treten – gnä' Frau würde gleich kommen.

Das Zimmer war noch leer, und ungemütlich war's dazu, obgleich man die Schutzkappen von den Seidendamastmöbeln der verstorbenen Frau Amtsrat entfernt hatte und auch der schöne, orientalische Teppich ohne die grauleinene Schutzdecke sein farbenleuchtendes Muster zeigte. Johanna ging sofort zur Verandatür und öffnete; wenn auch empfindlich kühle Regenluft eindrang, sie verjagte doch wenigstens die verschlossene Stickluft des selten benutzten Raums.

Nach einigen Minuten des Wartens trat der Justizrat, der alte Freund und Berater der Rhodens, ein. Sein feines, blasses, bartloses Gesicht sah etwas erregt aus, die Wangenmuskeln zuckten, und als er mit Johanna in liebenswürdigster Weise sprach, blickte er wohl absichtlich an ihr vorüber. Er hatte seine schwarze Ledermappe auf den Mitteltisch gelegt und fragte dies und jenes Belanglose über Klein-Zülla. Zuweilen sah er ungeduldig auf seine Uhr und nach der Tür, und endlich ging er und drückte auf die elektrische Klingel. Es war bereits halb sechs Uhr, und Dämmerlicht lag schon über den Zimmern, als Karoline eintrat. Ihr flaches Gesicht war sehr bleich, und kein Wort der Begrüßung hatte sie für uns.

»Es war mir leider nicht früher möglich – ich bitte um Entschuldigung,« sagte sie kurz. Sie war in ihrem grauen wollenen Hauskleid, hatte eine schwarze wollene Schürze vor und trug den Schlüsselkorb am Arm.

»Darf ich die Damen um eine halbe Stunde Aufmerksamkeit bitten,« begann der Justizrat, »ich habe Ihnen im Auftrag und – sozusagen – als Stellvertreter unseres leider kranken Herrn Rhoden etwas mitzuteilen; wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Er wies auf die Sessel, die den Mitteltisch umstanden, und nahm, nachdem wir uns gesetzt hatten, ebenfalls Platz.

»Es handelt sich, verehrte Frau Rhoden, meine ebenfalls verehrten Fräuleins, um das Inkrafttreten einer Idee, mit der sich unser armer, schwergeprüfter Herr seit etwa Jahresfrist unausgesetzt beschäftigt hat, deren Anregung jedoch bereits von der verstorbenen Mutter, der Frau Amtsrat Friederike Rhoden, geb. von Corde, ausgeht. Der Passus in ihren hinterlassenen Aufzeichnungen lautet folgendermaßen.«

Der Justizrat rückte die Brille zurecht, öffnete seine Mappe und entnahm ihr zunächst ein rotes, in Juchtenleder gebundenes Buch, das sich äußerlich in nichts von den gebräuchlichen Tagebüchern unterschied, wie sie junge Mädchen und Frauen zur Eintragung ihrer Erlebnisse benutzen. Er öffnete es bei einem eingelegten Papierstreifen und las, wie folgt:

»Den 18. August 1872.

Mein guter Mann und ich sind heute in meinem lieben Vaterhaus Klein-Zülla gewesen; ich erinnerte mich beim Durchwandern der Räume wieder an die Heimgegangenen, und wie Vater oft so traurig darüber war, daß er keinen Sohn sein eigen nannte, und mir eines Tages sagte, für den Fall, daß du den Vetter Corde durchaus nicht heiraten willst, möchte ich wohl Klein-Zülla zu deinem bleibenden Heim machen, aus dem dich niemand vertreiben darf, zu einem Cordeschen Damenstift möchte ich es machen.

Hätte ich Rhoden niemals gesehen, so würde es also geschehen sein, denn zu meinem Vetter als Gatten hätte ich mich nie entschlossen. Auf dem Rückweg sprach ich mit meinem Mann davon, und er sagte: ›Eigentlich ist Klein-Zülla eine große Sorge für mich, und ich kann ebensowenig wie dein guter Vater herauswirtschaften, was die Unterhaltung kostet. Wenn du willst, machen wir das heute noch, wie es dein Vater wollte. Der Herzog will so wie so gern den großen Waldkomplex Zülla, der sich in seine Forsten wie ein Keil hineinschiebt, kaufen, das Schloß würden wir zurückbehalten und das gelöste Kapital, nach Abtragung der Schulden, der Stiftung zuweisen. Dort könntest du dann als Witwe in netter Gesellschaft dein Leben beschließen.‹

Ich hoffe ja nun nicht, meinen Mann zu überleben, aber der Gedanke, einen Plan meines Vaters zu verwirklichen, hat etwas Verlockendes an sich. Leider fürchte ich, daß das Gut stark überschuldet auf mich kommen wird und bei einem Verkauf das für das Stift nötige Kapital nicht mehr übrigbleibt – aber schön wäre es ...«

Der Justizrat räusperte sich, klappte das Buch zusammen und sah Karoline an, die einen ärgerlichen Gesichtsausdruck hatte, etwa als ob sie sagen wollte, das fängt ja gut an, ich bin neugierig, was nun kommt!

»Ihr Herr Gemahl, dem das schwere Leiden, das ihn in der Blüte seiner Jahre brach, viel Zeit zum Sorgen und Sinnen bei dem inneren Ausbau seines Hauses gelassen hat, beschloß nach reiflicher Überlegung und in der Hoffnung auf ein freudiges Zustimmen seiner Ehefrau und der andern Beteiligten, ein Ausgestalten des Plans, den sein Großvater Corde laut Tagebuch seiner verstorbenen Frau Mutter angeregt hat. Bestärkt wurde unser lieber Kranker noch durch das Hineinspielen eines günstigen Zufalls. Seine Hoheit der Herzog ist Ende vorigen Jahrs noch einmal auf den Ankauf des Klein-Züllaer Reviers zurückgekommen, mit dessen Perfektwerden er einen Lieblingswunsch erfüllt sehen würde. Die Kaufsumme, die er Herrn Rhoden bieten ließ, war sehr annehmbar, und dem ausdrücklichen Auftrag des Herrn Rhoden gemäß verkaufte ich das Forstareal am zweiten Januar dieses Jahres für viermalhundertundfünfzigtausend Mark; es ist dies ein Liebhaberpreis, der sonst nicht zu fordern oder zu erlangen gewesen wäre.

Dieses Kapital hat Herr Rhoden geteilt; zweimalhundertundfünfundzwanzigtausend Mark sind als Eigentum des Cordeschen Damenstiftes ausgesetzt und zweimalhundertundfünfundzwanzigtausend Mark der Frau Karoline Rhoden, geborenen Nordmann, gutgeschrieben; genau so viel mitsamt den Zinsen zu dreieinhalb Prozent beträgt das, was Frau Rhoden von ihrem Vermögen für Tilgung von Schulden, Neuanschaffungen und Verbesserungen in Groß-Zülla aufgewendet hat aus ihrem Privatvermögen. Herr Rhoden schuldet also am heutigen Tag seiner Gattin keinen Pfennig mehr.«

Der Vortragende hielt einen Augenblick inne und sah Karoline an, die sich halb in ihrem Sessel aufgerichtet hatte und mit Worten rang, um ihn zu unterbrechen.

»Einen Augenblick noch, gnädige Frau,« bat er mit seiner glasharten, scharfen Stimme, »ich stehe sofort zu Diensten: In Klein-Zülla wird das Hofgebäude abgebrochen,« fuhr er dann unbeirrt fort, »und der Hof in einen Obstgarten verwandelt, die Schweizerei hier in Groß-Zülla angebaut, und der westliche Flügel des Herrschaftshauses soll zur Wohnung für die Stiftsdamen, deren Zahl auf fünf normiert ist, eingerichtet werden. Am ersten Juli tritt das Stift ins Leben, an diesem Tage erscheinen die erwählten Damen. Sie erhalten völlig freie Station, Wohnung, Heizung, Wäsche, Speisung, Arzt und Medizin, jede von ihnen monatlich fünfundzwanzig Mark Nadelgeld. Sie haben mitzubringen eine kleine Aussteuer an Leibwäsche, die Zahl der Gegenstände ist angegeben in dem Eintrittsstatut.

Als Oberin ist nicht wie sonst üblich die älteste, sondern die jüngste der Damen vorgesehen, da mancherlei Mühen und Unbequemlichkeiten mit dieser Ehre verbunden sind, für jetzt das Fräulein Johanna Nordmann. Fräulein Anna Maaßen als zweitjüngste soll der Oberin als Rechnungsführerin zur Seite stehen, das Vermögen des Stifts verwalte ich, Justizrat Bandelo.

Die drei andern Stiftsdamen, die Herr Rhoden ausgewählt hat, sind:

  1. Die verwitwete Frau Major Zwingerbrück, geborene von Corde, neunundsechzig Jahre alt,
  2. Fräulein Adolfine von Corde, ehemalige Hofdame, fünfundsechzig Jahre alt,
  3. Fräulein Marie Dürrhahn, pensionierte Lehrerin, eine Tante der Frau Karoline Rhoden, vierundfünfzig Jahre alt.

Alle drei Damen befinden sich in bedrängter Vermögenslage und haben mit Freuden diese Zuflucht angenommen.

Herr Rhoden hofft, daß er sowohl die Zustimmung und den Beifall seiner Frau Gemahlin, sowie diejenigen der beiden andern Damen finden wird und bittet um die Unterschrift der hier Versammelten.«

Der Justizrat schloß seine Rede, zog die Füllfeder aus der Tasche, sah uns alle der Reihe nach an, die wir, Karoline mit einbegriffen, stumm und keines Wortes mächtig dasaßen, und schob das Aktenstück zu Karoline hinüber, indem er ihr höflich die Feder anbot.

Sie schob das Papier zurück und sagte heiser: »Bitte, soll nicht die zuerst ihren Namen unterschreiben, der zu Ehren diese ganze, ganze Geschichte in Szene gesetzt ist, meine Schwester, Herr Justizrat? Ehre, dem Ehre gebührt.«

Johanna saß blaß bis in die Lippen im Sessel.

»Bitte, mein Fräulein, unterschreiben Sie hier, an zweiter Stelle,« wandte sich der Justizrat seelenruhig an Johanna, »so, ich danke Ihnen. Also jetzt, gnädige Frau, Ihre Schwester hat unterschrieben.«

»Warum sollte sie nicht,« sagte Karoline, »sie ist ja wohl vorbereitet worden, ich meinerseits, ich bin so ...« Sie verstummte plötzlich, als gereue es sie einzugestehen, daß sie, die Frau des Hauses, von nichts gewußt habe. Sie blickte ein Weilchen vor sich hin, wobei sie auf die Unterlippe biß, dann nahm sie die noch immer höflich gebotene Feder aus der Hand des Justizrats und fragte mit unverkennbarem Hohn: »Wie finden Sie eigentlich diese Idee meines Mannes? Echt krankhaft, nicht wahr? Sonst müßte man sich dagegen wehren mit Händen und Füßen. Aber so, mag es sein. Wenn der arme Mann einmal die Augen zutut, wird das Vormundschaftsgericht wohl die milde Stiftung in die Luft fliegen lassen. Na, also hier steht's, Karoline Rhoden, geborene Nordmann. Man muß Kranken und Kindern den Willen tun.«

Sie warf, nachdem sie geschrieben, die Feder auf das Papier und erhob sich. »Bin ich noch weiter nötig bei diesem Kuchenbacken?«

Der Justizrat musterte sie vom Kopf bis zu den Füßen, wie sie dastand in ihrer gewöhnlichen Art, mit auf die Hüfte gestemmten Armen und dem schwer verhehlten Zorn. »Nein, meine gnädige Frau,« sagte er mit größter Höflichkeit, »Sie können gehen, nur das eine möchte ich Ihnen noch sagen: diese Stiftung ist rechtskräftig! Sie wissen ja, gnädige Frau, vor Gericht muß alles bis auf das letzte Pünktchen aufgeklärt werden, geregelt sein, zumal bei derartigen Stiftungen.«

Sie lächelte noch immer spöttisch. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Justizrat Bandelo, und wünsche allerseits guten Abend.«

Ohne eine Bemerkung schob jetzt der Justizrat mir den Bogen zu, auf dem ich mich auch durch Unterschrift verpflichtete um Johannas willen. Es war ja klar, daß ihr hierdurch eine Heimat und ein Wirkungskreis geschaffen werden sollte.

»Wenn die Damen heimgehen wollen? Auch Sie haben augenblicklich nichts mehr zu tun,« sagte der alte Herr, »und wenn Sie gestatten, suche ich Sie während der nächsten Tage in Klein-Zülla auf, jetzt möchte ich nach oben, um Frau Karoline zu beruhigen, die zweifellos bei ihrem Gatten sein wird.« Der Justizrat küßte Johanna die Hand und sagte etwas Scherzhaftes: Er hoffe, sie führe ein mildes Zepter. Aber sie verstand ihn offenbar nicht. »Ich hätte nicht unterschreiben dürfen,« stieß sie hervor, »Karoline ist damit nicht einverstanden, das sehen Sie doch.«

»Aber ich bitte Sie, was kann sie sonst dagegen haben? Ihre Empfindlichkeit gilt lediglich der Selbständigkeit, mit der Herr Rhoden gehandelt hat, Frau Rhoden will durchaus alles bestimmen, hat aber hierbei gar nicht mitzusprechen. Herr Rhoden hat das alleinige Verfügungsrecht über Klein-Zülla – höchstens das Vormundschaftsgericht – und das ist einverstanden, umsomehr, als es in den Statuten heißt, daß der Erbe nach Ableben des Fräulein Johanna Nordmann das Gebäude mitsamt dem festgelegten Vermögen wieder andern Zwecken zuführen kann, nur muß er für etwaige Insassinnen auf deren Lebensdauer noch sorgen. Auf alle Fälle, Fräulein Nordmann, hieße es, dem Kranken die Lebensader unterbinden, wollte man ihm dieses seit seiner Krankheit gehätschelte Lieblingskind morden.«

Und dann lächelte er fein: »Sie haben ja kein Gelübde abgelegt, gnädiges Fräulein, Sie können jeden Augenblick Ihre ›Stiftsdame‹ an den Haken hängen und heiraten.«

Johanna trat wie verletzt einen Schritt zurück, grüßte kurz und schritt zur Tür. Ich gab dem alten Herrn die Hand, die er noch lächelnd festhielt, und fragte: »Davon darf man wohl nicht reden? Bitte, erwerben Sie für mich Fräulein Johannas Verzeihung.«

Gegen sieben Uhr waren wir zu Hause. Johanna stand im Vorzimmer wie eine Verstörte. Plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und schluchzte: »Mein Gott, er meint es ja so gut, aber er ahnt nicht, was er mir damit tut. Karoline haßt mich ja schon so sehr, und nun dies noch!«

»Auf eine zartere Weise könnte er nicht für dich sorgen, Johanna,« tröstete ich.

»Aber Karoline! Ach Gott – Karoline!« Sie ließ sich auch nicht beruhigen, sie lief fort, und ich hörte, wie sie drüben den dunkeln Saal aufsuchte und die Tür hinter ihr zufiel.

Auch in meinem Kopf schwirrte es von widersprechenden Empfindungen, auch ich zitterte vor einem Wiedersehen mit Karoline, und ich schrie leise vor Schreck auf, als mit einem kurzen Anklopfen zugleich die Klinke gedrückt wurde und sie leibhaftig eintrat; sie mußte uns unmittelbar gefolgt sein. So dämmerig es war an jenem regendunklen Maiabend, ich sah doch ihr erregtes Gesicht und das Zittern der Hände, mit denen sie an ihrem nassen Schal zerrte.

»Johanna ist drüben im großen Saal, Frau Rhoden,« beschied ich sie.

»Ach! Sie sucht wohl den Platz aus, wo der Thronsessel für die Äbtissin stehen soll,« meinte sie boshaft. »Na schön, dann werde ich die hohe Dame drüben aufsuchen – vielleicht begleiten Sie mich, Sie können's auch hören, was ich ihr zu sagen habe.«

»Ich werde auf jeden Fall mitkommen, Frau Rhoden.«

»Ach, Sie glauben wohl, ich tue Ihrem Abgott etwas? – Ich denke nicht daran – deshalb brauchen Sie nicht – Johanna steht ja unter so starkem Schutz.«

Bei diesen Worten öffnete sie schon die Tür und trat ein in das weite Gemach, an dessen östlich gelegenem Fenster jetzt Johanna auf einem erhöhten Platz saß und in den Park blickte.

»Na, schönen guten Abend!« begann Karoline, »ich wollte mich nur bedanken bei dir, du hast es wirklich prachtvoll verstanden, den schwachen, kranken Menschen deinen Plänen geneigt zu machen – alle Achtung! Und nobel, wie die Rhodens immer sind, kriegst du gleich einen Hofstaat wie eine regierende Königin: Schloß, Equipagen, Leibarzt, Hofdamen – kurz, allen Tod und Teufel! Ja, du verstehst es – du hast es immer verstanden, mir im Wege zu sein – du –«

Johanna war aufgesprungen und stand vor ihr in der tiefen Dämmerung, das Gesicht dem Fenster abgewandt, so daß ich ihre Miene nicht entziffern konnte, aber ich wußte, daß sie einer Toten mehr ähnlich sein würde als einer Lebendigen, und daß Karoline diese Stunde benutzen würde, um ihr Furchtbares zu sagen. Ich trat neben sie und wollte sie stützen, aber sie machte sich los von mir.

»Was willst du?« fragte sie mit halberstickter Stimme – »ich weiß doch allein, daß ich gesündigt habe an dir, und ich weiß, daß mein ganzes Leben nicht ausreichen wird, um zu sühnen, aber bürde mir nicht mehr auf, als ich tat – ich schwöre dir zu, ich bin genau so überrascht gewesen, wie du es warst von diesem Plan – ich schwöre es dir, Karoline!«

»Deine Schwüre?« sagte Karoline verächtlich, »du – du bist ja viel schlimmer als die gewöhnlichste Diebin, du stahlst mir seine Liebe und sein Herz; du benutztest dazu die Zeit, wo ich krank und wehrlos war – du hast so gemein gehandelt, so gemein, wie die gewöhnlichste Dirne es nicht getan haben würde!«

»Karoline!« schrie das Mädchen gellend, »hör auf! – hör auf! Ich kann das nicht hören, ich kann's nicht! Ich sage dir – ich weiß, daß ich unrecht tat, aber es ist über mich und ihn gekommen, ich weiß nicht – wie! Die Treue hat er dir halten wollen! Bei Gott! – Seine Liebe aber – seine Liebe – die habe ich dir nicht stehlen können, denn die – hast du nie besessen – nie!«

Ihre Stimme überschrie sich fast, und dann sank sie wie taumelnd zur Erde und schlug verzweifelnd die Hände vor ihr Gesicht. »Wäre ich doch tot,« murmelte sie – »ach, ach, ich kann nicht mehr –«

»Wie in einem modernen Drama,« sagte Karoline, als ich Johanna mühsam aufgehoben und sie in einen Stuhl gesetzt hatte. »Also – ich habe seine Liebe nie besessen? Na, auch gut! Aber es ändert doch nichts an der Sache. Er mag dir was vorgeschwatzt haben – was schwatzt ein Mann nicht, wenn er eine betören will! Na, ich habe ihm ja vergeben, er kann nicht dafür, daß er so geworden ist, seine Mutter war eine Corde, und alle Cordes sind Narren von alters her, alle wollen sie was vorstellen und was Besonderes tun – und er setzt dich als Oberin ein und macht das schöne Schloß zu einem Altweiberspittel, na – schön! Es wird Aufsehen machen. – – Jetzt aber komme ich mit Bedingungen! Du hast hier sehr con amore gelebt, und ich habe es mir gefallen lassen, weil mir nichts an einem Verkehr mit dir lag – das muß jetzt aufhören, es fällt bereits auf. Neumanns fragten mich neulich, ob es denn wahr sei, daß wir Schwestern verfeindet wären – man träfe dich ja nie bei uns? Ich habe keine Lust mehr, allein die Komödie weiterzuspielen, und muß dich bitten mitzutun. Von jetzt an wirst du dich des öfteren nach Groß-Zülla bemühen, zumal wenn Besuch anwesend ist. Ich bin nämlich gar nicht eifersüchtig, es wäre auch zum Lachen. Also – du hast zu kommen! Nächsten Sonntag essen Neumanns bei mir, die eine Cousine zum Besuch haben, und Breitenfelds, der Oberförster und der Doktor. Es ist so wie so Zeit,« fügte sie mit verbissenem Lachen hinzu, »daß du in die Welt eingeführt wirst. Fräulein Maaßen ist ebenfalls gebeten. Mach dich fein; Müdigkeit vorzuschützen gilt nicht – ich würde auf jeden Fall Mittel und Wege finden, dich hinüber zu bringen – verstehst du?«

Johanna sprang aus dem Sessel empor, ich fühlte, wie sie sich auf die Knie warf und ihre Arme in der Richtung nach Karoline ausstreckte.

»Nein!« schrie sie, »nein, bitte – nicht! Bitte – nicht, Karoline! Wenn du noch einen Funken von Barmherzigkeit in dir hast – nur das nicht! Bestehe darauf nicht, ich kann ihn nicht wiedersehen – ich kann nicht!«

»Tut mir leid – ich bestehe darauf! Übrigens, Fräulein Maaßen, wollen Sie nicht eine Lampe besorgen?« Und als ich zitternd und eilig gegangen war und nach fünf Minuten wiederkehrte mit der brennenden Lampe, hörte ich Johannas Stimme trostlos und gebrochen.

»Tue es doch! Tue es doch! Mir kann nichts Schlimmeres mehr geschehen! Alles, alles wird mir lieber sein als dieses Leben in Lüge und Sehnsucht, tue es! Schrei es hinaus in die Welt, was ich tat, und ich will mit dem Kind auf die Landstraße gehen und betteln – lieber als das –«

»Nun, du wirst wohl überlegen, denke ich,« antwortete Karoline, »du hast Rücksichten zu nehmen auf den Namen unseres Vaters, auf den Mann, dem du den Kopf verdreht hast, und der dann als der erbärmliche Kerl dastehen würde, der er ja auch wirklich ist – und schließlich auf das Kind, das sich am Ende im Arm einer Bettlerin auf der Landstraße, wie du tragisch bemerkst, nicht gerade wohlbefinden würde. Also, mir ist nicht bange um deinen Entschluß.«

Sie schwieg und sah auf das Mädchen, das am Boden vor ihr kniete und die Hände noch immer verzweifelt vor das Gesicht gepreßt hielt. »Aber du tust so namenloses Unrecht, Karoline,« jammerte sie endlich, »du solltest uns nicht wieder zusammenführen, denn wir lieben uns und werden uns immer lieben bis zum Tod, und das mußt du wissen in diesem Augenblick, wo du fast Unmenschliches verlangst von mir –. Willst du es auch jetzt noch, Karoline?«

Und Karoline sah sie an und lachte, lachte, als ob sie köstlich belustigt wäre, indem sie zur Tür schritt. »Na, ich will's riskieren, Kleine! – Du kommst – sonst – du weißt ...«

Sie war gegangen. Der Schall der festgeschlossenen Tür verklang an den Wänden, und Johanna, meine arme, kaum genesene Johanna, lag am Boden wie vernichtet.

»Das ist das Allerschwerste,« sagte sie, als ich ihr am folgenden Sonntag half, ein einfaches, weißes Kleid anzulegen, »das ist furchtbar schwer, Tante Anna! Wenn ich dich nicht hätte, könnte ich es nicht,« versicherte sie, neben mir zur Kirche gehend.

Es war ein Junitag voller Himmelsbläue und Rosenduft, voller froher Menschengesichter und leuchtender Kleiderpracht, es kam bunt zur Kirche heran auf allen Steigen und Wegen, und Johanna und ich saßen auf unseren alten Plätzen, die wir zurzeit innegehabt, als wir noch vom Forsthaus aus die Kirche besuchten. Viel freundliche Blicke richteten sich auf das schöne, traurige Mädchengesicht, und eine alte Frau hinter ihr sagte mit der knarrigen Altweiberstimme inmitten des Dröhnens und Läutens der beiden Glocken, die sich über uns im Kirchturm schwangen: »Nee, sind Sie's denn nur wirklich, wo haben Se denn Ihre roten Bäckchen gelassen, Freilein Johannchen?«

Johanna erschrak, nickte hastig, und ihre Augen blieben gesenkt auf die gefalteten Hände. Drüben im Pfarrstuhl unter der Kanzel saß Frau Pastor, sie blickte mit ehrlicher Bekümmernis auf das Mädchen neben mir, und oben in dem Herrschaftssitz hatte Karoline Platz genommen, in einem neuen Sommerhut, überreich mit Blumen garniert, und sandte uns einen huldvollen Gruß herunter. Dann verstummten die Glocken, mächtig setzte die Orgel ein, und die Gemeinde stimmte den Choral an: »Lobe den Herren –«. Unser alter Freund aber fand Worte des Trostes und der Ermutigung in seiner Rede, die sich lind und beruhigend auf Johannas Herz legen mochten, wenn sie auch den Sturm in ihrem Innern nicht ganz zu beschwichtigen vermochten. Johanna hat mir später gesagt, es sei ihr zu Mute gewesen wie einem zum Tod Verurteilten an jenem Morgen.

»Tante,« bat sie, schwer an meinem Arm hängend, als wir nach Schluß des Gottesdienstes den Mittelgang der Kirche hinabschritten, »Tante, hilf mir doch, bleibe doch immer neben mir heute – ich kann dir nicht beschreiben – ich bin doch so durchdrungen von meiner Schuld und habe ihn zugleich so wahnsinnig lieb, und das einzige wäre gewesen, ihn nicht zu sehen. – Ach, Tante, hörst du? Bei mir bleiben, bei mir bleiben!«

»Natürlich, Kind ...«

Da zog sie ihren Arm zögernd aus dem meinen und sagte ganz leise: »Ach, du kannst ja gar nicht wissen, wie schwer das alles ist, du kennst meine Liebe nicht – weißt nicht, wie groß sie ist.«

Dann verstummte sie, denn in diesem Augenblick trat Karoline herzu, um uns in ihrem Wagen mit nach Groß-Zülla zu nehmen, vor allem Volk küßte sie Johanna und zog sie angesichts des staunenden Publikums neben sich in den Fond und erwiderte lächelnd die ehrfurchtsvollen und freundlichen Grüße der Bauern und Arbeiter hier und während der Fahrt nach dem Schloß.

»Gelt,« sagte Karoline lachend, »die müssen jetzt doch alle denken, wir fressen uns auf vor Liebe! Und das sollen sie ja auch, das ist der Zweck der Übung. Und heute mittag, da sitzt du zwischen zwei jungen Herren, dem Oberförster und dem Doktor, und Fritz Breitenfeld sitzt dir gegenüber.« Und als sie angekommen waren in Groß-Zülla, sagte sie: »Geh nur gleich zu Jörg in den Salon, ich habe noch in der Küche zu tun.«

Johanna trat hinter mir ein. Wir sahen durch die geöffneten Flügeltüren auf die Terrasse und erblickten den Fahrstuhl, in dem die zusammengesunkene Gestalt des Hausherrn saß.

Johanna fing plötzlich an zu zittern, ein trostloser Jammer malte sich in ihrem Gesicht. »Tante, das ist, das wäre Jörg – der arme, kleine Mann, der – Tante,« – sie wandte sich plötzlich um – »ich kann nicht, nein, ich kann nicht, – laß mich fort!«

»Komm, Johanna, zeig's ihm nicht, wie du dich erschreckst – ich bringe dich zu ihm – komm!«

Da, mit einem plötzlichen Entschluß schritt sie vor, mir bedeutend, ich solle zurückbleiben. Ich ging auf die Zimmertür zu, und als ich sie schloß, sah ich nur noch, wie Johanna auf den Knien lag vor dem Kranken und ihr Gesicht in der Decke verborgen hielt auf seinem Schoß, wie ihre Schultern zuckten in heißem Schluchzen.

Und ich stand draußen im großen Flur, bangend, daß jemand kommen und dieses traurige Wiedersehen stören könnte, aber wohl fünfzehn Minuten verrannen, bevor Karoline erschien.

»Nun?« fragte sie mich, »warum stehen Sie denn hier draußen?«

»Ich warte auf Johanna.«

»Ist sie bei meinem Mann?«

»Ich denke – ja.«

»Warum sind Sie denn nicht mit ihr gegangen? Ich glaube nicht, daß sich Jörg und Johanna Geheimnisse zu sagen haben.«

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte auf solche absichtliche Brutalität, und folgte ihr langsam in den Salon. Karolinens Blicke flogen voraus der Veranda zu, aber als wir diese betraten, saß Jörg Rhoden allein in seinem Fahrstuhl, von Johanna war nichts zu sehen, nur er sah bleicher und verfallener aus als je. Er streifte seine Frau mit einem müden Blick und nickte mir zu, nur an dem Zittern seiner wachsbleichen Hände sah ich, wie tief er erregt war.

»Wenn Sie Johanna suchen, Fräulein Maaßen, sie ist in den Park gegangen,« sagte er leise.

In diesem Augenblick scholl wie erlösend Fritz Breitenfelds Stimme an unser Ohr und das Lachen seiner Frau, und innerhalb der nächsten Minuten war die Terrasse voll Menschen, die sämtlich fröhlich und guter Dinge den Fahrstuhl des Hausherrn umringten.

»Das ist das Rechte, Jörg,« schrie Breitenfeld, »trotz alledem und alledem vom Leben nehmen, was noch zu nehmen ist, und gute Stunden im Freundeskreis sind das Schlechteste nicht. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie ich mich über eure Einladung gefreut habe.« Frau von Breitenfeld aber, die noch immer das kleine naive Mädchen zu sein schien, nahm die Neumannsche junge Cousine am Arm und lief mit ihr die Treppe hinunter in den Park. »Wir werden Johanna suchen!« rief sie zurück.

Sie brachten sie auch wirklich nach einer halben Stunde, beide eifrig auf die in der Mitte Schreitende einredend. Die Erregung lag noch als rosiger Schein über Johannas Gesicht; die kleine Baronin hatte ihr eine blasse Rose in das Haar gesteckt. Sie überragte die beiden Gefährtinnen um einen Kopf in ihrem wundervollen schlanken Wuchs, sie war schön geworden, die arme Johanna, während ihrer Leidenszeit, wunderschön. Der neue Doktor klemmte das Monokel ein, der junge Oberförster machte große Augen, und Fritz Breitenfeld stotterte es ganz ehrlich heraus: »Alle Donnerwetter, Jörg, hat sich aber die kleine Johanna nach ihrer Krankheit 'rausgemacht! Bravo, gnädiges Fräulein, und nun bleiben Sie nur hübsch gesund!« rief er, ein paar Stufen hinab den Damen entgegeneilend, »und vergnügt auch, und wenn zwanzig alte Stiftsdamen um Sie herumkrauchen in Zukunft.«

Sie nahm sich zusammen und lächelte und sprach ein paar Worte, aber ihre Augen hatten das Gehetzte wieder, das die fieberhafte Erregung des Innern verriet.

Als das Gong ertönte, gingen wir in den Speisesaal; Karoline schritt neben dem Wagen ihres Mannes, sie saß auch bei Tisch neben ihm und bediente ihn mit geradezu augenfälliger Liebenswürdigkeit. Man hätte glauben können, daß trotz der Krankheit des Hausherrn, der oben an der Tafel saß und präsidierte in seinem Fahrstuhl, das Glück selbst hier mit zu Tische sitze, so munter plauderten die Gäste, lachte und amüsierte man sich. Johanna saß an der unteren Schmalseite des Tisches zwischen den zwei Herren, die sie mit Blicken fast verschlangen, aber sie hatte einen großen Rosenstrauß vor ihren Teller geschoben, damit sie nicht geradeaus, zu Jörg hinüber, zu sehen brauchte, ihr Lächeln hatte etwas Erzwungenes an sich, und sie schwieg auch meistens. Aber das merkte keiner, auch nicht das tiefe Erbleichen, als beim Dessert die Breitern in ihrem ererbten schwarzseidenen Kleid mit der großen goldenen Brosche erschien und das in Weiß gekleidete, mit blauen Schleifchen geschmückte reizende Kind umherreichte, und wie das Glas, das Johanna mechanisch erhoben hatte, um auf die glückliche Familie und die Zukunft des kleinen Hans anzustoßen, in ihrer Hand so zitterte, daß der Champagner überfloß.

Mit größter Angst sah ich alle die Erfindungen Karolinens mit an, die sie in Szene setzte, um ihren Gästen Sand in die Augen zu streuen, und immer mußte ich mir ausmalen, wie es werden müsse, wenn Johanna plötzlich aufstünde und aus ihrem gequälten Herzen herausschreien würde: Aber das ist ja alles Lüge! – Es ist mein Kind! Und ich lehnte mich wie schwindelnd in den Stuhl zurück ...

*

Johanna behielt den Kopf oben. Sie sprach nicht einmal von Jörg, es schien, als habe der Anblick des Kranken etwas ersterben lassen in ihr. Die ganzen nächsten Tage ging sie umher mit der tiefen senkrechten Falte zwischen der Stirn und sprach wenig oder nichts. Nur mit dem Pastor, der sie besuchte, redete sie über den Platz in der Kirche, den Jörg Rhoden für die Stiftsdamen reserviert haben wollte.

Es war überhaupt viel zu tun für die junge Oberin. Die Briefe des Justizrats trugen ganz ernsthaft den neuen Titel: »An die Oberin des Damenstifts zu Klein-Zülla Fräulein Johanna Nordmann.«

Sie lächelte wehmütig. »Es ist sein Wille, ich muß mich fügen.«

Die drei alten Damen kamen am zwölften Juli auch gemütlich angereist, fanden bekränzte Türen, blumengeschmückte Stuben und ein opferfreudiges, junges Herz, das gewillt war, ihnen das Alter zu erleichtern und zu verschönern. Rührend war die kleine kirchliche Feier am folgenden Sonntag nach dem Gottesdienst. Wir vier Alten und Älteren, inmitten die junge Oberin, saßen vor dem Altar, wie etwa vom Frost getroffenes Laub um eine letzte Rose steht, und Pastor Brinkmann sprach feierliche Worte, schöne Worte zu uns über den Text: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!« Die Gemeinde war versammelt geblieben und lauschte andächtig: oben im Herrschaftsstuhl saßen Karoline, der Doktor Braun, der Justizrat und der Ortsschulze: den kranken Herrn sah man nicht, man konnte ihn nur ahnen.

Pastor Brinkmann bewillkommnete noch einmal zum Schluß die neuen Gemeindemitglieder und wünschte ihnen einen freundlichen, friedlichen Lebensabend in dem schönen Heim. Dann gingen wir unter dem Gesang der Gemeinde aus der Kirche und standen hier mit Johanna, bis Herr Jörg Rhoden, den man eine Seitentreppe heruntergetragen hatte, wieder in seinem Fahrstuhl saß und in Begleitung Karolinens herankam zu uns; Johanna sprach mit gesenkten Augen ein paar Dankesworte, worauf Jörg ihr die Hand küßte, wir anderen traten herzu, ebenfalls dankend, und dann stiegen die drei Alten in den Stiftswagen, während Johanna und ich zu Fuß gingen.

Dieser Handkuß, den Jörg Johanna gab, wiederholte sich in der Folge vieler stiller Jahre bei den regelmäßigen offiziellen Zusammenkünften, die ungefähr vier- bis fünfmal jährlich stattfanden in Groß-Zülla; es waren die drei großen Kirchenfeste, der Geburtstag des Hausherrn und das Erntedankfest, an denen die Stiftsdamen eingeladen wurden zum Mittagessen. – Außerdem sahen sich Jörg und Johanna nie, sie wollten und durften sich nicht sehen aus einem niemals ausgesprochenen, aber lebendigen Taktgefühl. Und so lebte der gelähmte Mann in seinem Erkerzimmer das Leben des Kranken, das er sich erträglich zu machen suchte, indem er las und schrieb und mit Rat und Tat seinem Inspektor zur Seite stand. Und Johanna sorgte in Klein-Zülla für die alten Damen, mit denen wir in ein friedlich stilles Fahrwasser gekommen waren.

Es gab im alten Saal unendlich trauliche Winterabende, an denen wir den Erzählungen der alten Majorin von Zwingerbrück lauschten, die in jugendlich lebhafter Art berichten konnte, oder Fräulein Dürrhahn musizierte; es gab vergnügte Whistpartien mit altmodischen Witzchen und verschämtem leisen Kichern; es gab höchst interessante Berichte von dem Leben bei Hofe, die die ehemalige Hofdame diskret, manchmal nur andeutungsweise und mit gedämpfter Stimme zum besten gab. Und wenn an duftenden Sommerabenden die alten Dämchen in den Wegen des Gartens promenierten, wenn der Flieder in Blüte stand, die Nachtigallen sangen und der Mond silbern durch die hohen Rüstern und Ulmen schien, dann wurden die Erinnerungen wach, und sie sprachen flüsternd von der Zeit, da sie liebten und geliebt wurden, und selbst die grämliche alte Lehrerin wurde weich und vertraute mir an, daß sie niemals über die Treulosigkeit ihres Geliebten zur Ruhe gekommen sei, der Anatole Mouton geheißen habe und Sprachlehrer gewesen war in dem Institut, dem sie angehörte. Er sei eines Tages verschwunden gewesen und die Vorsteherin des Instituts hatte die verlassene Braut Marie Dürrhahn gebeten, den unmoralischen Menschen zu vergessen – er sei verheiratet gewesen, und seine Gattin habe nach ihm verlangt, das heißt, sie hatte ihn durch die Gerichte suchen lassen.

Seither war Marie Dürrhahn nur noch ein halber Mensch gewesen, wie sie versicherte, nur noch Arbeitsmaschine. Aber was sie gelitten, ehe sie so weit kam, das zu begreifen und doch resigniert ihre Pflicht zu tun, davon könne sich niemand einen Begriff machen.

Das hörte Johanna mit immer gleichem Interesse und immer gleicher Teilnahme; sie war unermüdlich im Trösten, in der Unterhaltung, in kranken und gesunden Tagen. – –

Auf leisen Sohlen, im ewigen Einerlei, gingen die Tage und Jahre vorüber. Kaum merklich alterten die Menschen. Der gute Pastor Brinkmann und seine Frau – sie waren silberweiß geworden, und man hatte es kaum bemerkt, sie hatten sogar schon eine Urenkelin, und es war, als ob sie sich selbst darüber wunderten, so still schien die Zeit zu stehen bei uns. Das Vorrücken des großen Zeigers sahen wir nur immer, wenn das Junkerchen kam, wie die alten Damen den Hans Jörg zu nennen pflegten. Der war aus dem Steckbettchen und den Kleidern heraus in die Jungenhöschen gewachsen und trabte im Matrosenanzug über den Wiesenweg nach Klein-Zülla, wo die vielen Tanten mit Schokoladeplätzchen und Bleisoldaten auf ihn warteten, und er pflegte sich gewöhnlich mit einem wilden Zärtlichkeitsausbruch Johanna in die Arme zu stürzen, und sein runder brauner Jungenkopf schmiegte sich an ihre Brust und die Arme schlangen sich um ihren Hals: »Du, Tante Jo, hast du mir die Leine zum Pferdchenspielen fertiggestrickt?«

Und Johanna machte sich los und wies ihn an, die Damen zu begrüßen, und fragte dann, ob auch seine Mutter wisse, daß er hergelaufen sei. Und wenn er trotzig den Kopf schüttelte, tat sie böse und schickte ihn heim. Eine Mutter müsse immer erst gefragt werden.

Ja, daran merkten wir, daß die Jahre gingen, allein an dem Jungen, wie er so wuchs und klug und kräftig wurde. –

Johanna kam in die Mitte der Zwanziger und war ein ernstes, schönes Geschöpf geworden; und Karoline, die ihr um sechs Jahre voraus war, hatte die Dreißig überschritten. Auch sie war verändert, hatte abgenommen, war mager und eckig geworden. Die Pastorin behauptete, das komme von ihrer furchtbaren Quecksilbrigkeit her, mit der sie in ihrem Haushalt umhersause. Übrigens würde sie leider mit jedem Tag ihrer verstorbenen Mutter ähnlicher, und der trockene Husten gefalle ihr, der Frau Pastorin, gar nicht; aber Karoline klagte nie und versicherte stets, sehr wohl zu sein.

Eines Tags geschah doch einmal etwas. Als das sechsjährige Junkerchen anfangen sollte zu lernen und Jörg Rhoden sich bereits um einen Erzieher bemüht hatte, kam die sparsame, praktische Karoline auf die Idee, diesen Elementarunterricht könne ja ich, die ich doch Gouvernante von Beruf sei, übernehmen. Sie erschien eines Tags höchst selbst bei mir und trug mir ihren Wunsch vor, wobei sie geschickt einzuflechten verstand, daß ich natürlich dafür kein Honorar zu beanspruchen habe, da ich so wie so schon gänzlich von ihres Mannes Güte lebe. Fräulein Dürrhahn werde gewiß sehr gern meinen Posten im Stift übernehmen. Ich ging Johannas wegen, die mich mit bittenden Blicken ansah, gern auf diesen Plan ein, und so wanderte ich täglich nach Groß-Zülla, um das Junkerchen zu unterrichten, früh hin und häufig erst gegen Abend zurück.

Bei diesem beständigen Aufenthalt in Groß-Zülla hatte ich vollauf Gelegenheit, das Leben im Herrenhaus zu beobachten, und das war seltsam und traurig genug. Karoline ging ganz in der Wirtschaft auf, Mann und Kind sah sie nur flüchtig bei Tisch, und diesen Tisch teilten jetzt der Inspektor und zwei junge Herren, die als Eleven anwesend waren; auch eine Einrichtung Karolinens, dies letztere. Zu den Mahlzeiten ließ sich Jörg Rhoden von Emil, dem zum Kammerdiener erhobenen Pfleger, die Treppe hinab bis in den Flur tragen. Dort stand der Fahrstuhl bereit, und in diesem wurde er an den Tisch geschoben. Er sagte mir einmal, es sei ihm eine Pein, aber des Jungen wegen wolle er zugegen sein.

Es herrschte fast immer tiefes Schweigen während des Essens; wenn einige auf die Wirtschaft bezügliche Fragen zwischen dem Herrn und dem Inspektor gewechselt waren, dann wagte niemand mehr den Mund aufzutun, höchstens daß Karoline das Kind anherrschte wegen einer kleinen Ungeschicklichkeit. Immer saß der Junge nach solchen Worten, die mit einem sonderbar gereizten Ton gesprochen wurden, purpurrot vor Scham neben seinem Vater und wagte kaum weiter zu essen. Trotzdem nahm Jörg das Kind nie in Schutz, höchstens daß er die schmale Jungenhand mit der seinigen unter dem Tischtuch festhielt.

Jedermann aß schweigend und ziemlich eilig, und die drei Herren verließen mit stummer Verbeugung das Zimmer, sobald der Nachtischapfel geschält und verzehrt worden war. So ging es Tag für Tag schon seit langem, sagte die Breiter, »aber wenn der Junge nachher oben bei seinem Vater ist,« fügte sie hinzu, »so hält er sich schadlos für das Schweigen bei der Mutter, da steht ihm der Schnabel nicht einen Augenblick still, da fragt er mehr, als zehn Gelehrte beantworten können.«

Die Breitern versorgte Hans Jörg noch immer, er liebte sie sehr. Wenn man ihn fragte, wen er am liebsten hätte? kam stets das Wort »Vater« zuerst heraus, nach ihm Bolo, wie er die Breiter nannte; später aber, als er Johanna erst verstand und des öftern sah, nannte er sie gleich nach seinem Vater, Tante Jo oder die Obertante, womit er Johanna auch bezeichnete, indem er Oberin und Tante in eins zog.

Ich brachte ihm bei, daß er gleich nach dem Vater die Mutter nennen solle bei seiner Antwort auf obige Frage, aber da sah er mich ganz ruhig an, schüttelte den Kopf und erklärte: »Die Obertante hab' ich mehr gern!« Im Lernen war das Kind unermüdlich und von großer Fassungskraft; es war eine Freude, diesen Unterricht zu leiten; weniger leicht war es, ihn außerhalb der Lehrstunden zu behandeln, einen wilderen Buben mochte man nicht leicht finden.

Jörg Rhoden schien sich dieses Temperaments zu freuen, Karoline aber strafte ihn unnachsichtlich um jedes zerrissene Höschen, jedes Fleckchen im Anzug.

Fritze Breitenfeld war inzwischen auch Vater geworden, ein kleines Mädchen schrie ihm in der Wiege, er verbarg seinen Neid um den Jungen auch gar nicht. Der joviale Herr wurde eines Tages Zeuge, wie Karoline ihren Jungen maßregelte, indem sie ihn heftig und unschön durch die gartenseitige Tür in das Wohnzimmer stieß, weil er nicht gleich zum Unterricht gekommen war. Da scholl plötzlich des Barons Stimme wuchtig durch das Zimmer: »Aber in drei Deibels Namen, weshalb knuffen Sie denn den Jungen, gnädige Frau? Beim Spielen kann so'n Kind doch mal vergessen, daß es in den Unterricht muß. Sein Sie doch froh, verehrte Gnädigste, daß Sie so 'nen frischen gesunden Bengel haben – da gäbe mancher was drum! – Recht so, Junge, weine nicht, deine Mutter tut das nur so aus Angewohnheit, die meint's gar nicht so schlimm; das nächste Mal wird sie lachen, wenn du zu spät kommst, paß nur auf.«

»Ich werde darüber genau so wenig lachen das nächste Mal wie eben,« sagte Karoline. »Was Sie mit Ihrem Mädchen machen, Herr von Breitenfeld, darum kümmere ich mich nicht, bitte aber auch dringend, daß Sie dem Bengel das Wort nicht reden. Wie nötig dem die Strenge ist, können Sie gar nicht beurteilen. Entschuldigen Sie!« Zugleich zog sie Hans Jörg zur gegenüberliegenden Tür hinaus, damit er sich die Hände wasche.

Der Baron aber ging kopfschüttelnd, um seinen Freund oben aufzusuchen, und ein paar Minuten später kam Hans Jörg wieder in das Zimmer, blaß und mit einem so unglücklichen Ausdruck in seinen hübschen Jungenaugen, daß sie noch mehr denen Johannas glichen als sonst. Er klagte aber nicht, sondern setzte sich stramm mit seinem Heft und seinem Lesebuch mir gegenüber, nur sah er mich nicht mehr so strahlend, erwartungsvoll an wie sonst, sondern blickte aus dem Fenster. »Soll ich nun anfangen, Tante?«

»Ja, wenn du magst, Hans Jörg, oder willst du erst noch etwas fragen?«

»Nein, Tante, nur bitte ich dich, sag doch Vater nichts, daß Mutter wieder so böse auf mich war.«

Die Bitte klang so rührend von dem Sechsjährigen, der scheu an mir vorübersah, daß ich eine seiner Hände ergriff und sagte: »Hans Jörg, der Onkel Breitenfeld hat recht, Mutter meint es gar nicht so.«

Da blickte er mich unsicher an und fragte: »Warum tut sie es denn erst?«

»Mutter hat so viel im Kopf, Hans Jörg.«

»Die Obertante hat auch viel im Kopf und ist doch immer gut mit mir wenn ich komme, und sie streichelt mich und küßt mich, und Mutter küßt mich nie.«

»Ja, Hans Jörg, das ist etwas anderes. Du kommst zu uns doch nur auf Besuch, und – sieh mal, Unpünktlichkeit ist etwas sehr Häßliches, für einen Jungen ganz besonders.«

»Dann will ich es nicht wieder tun, Tante.«

»Schön, mein Jungchen, und nun bitte ich dich, sage auch niemals zur Obertante, daß Mutter manchmal Grund hat, dich zu schelten, es könnte sie betrüben.«

»Hat sie mich denn so lieb?« fragte er mit frohem Erstaunen.

»Ja, Hans Jörg, und nun fangen wir wohl an?«

»Ja, Tante, aber bloß noch eins – warum darf ich dann nicht alle Tage zu euch kommen? Warum dann immer nur zweimal in der Woche – sag's doch Mutter, daß ich alle Tage darf.«

»Nein, mein Junge, das geht nicht. Sieh, du würdest unsere alten Damen nur stören, die Tante Jo würde es auch nicht wollen, sie hat viel, viel zu tun.«

»Aber der Doktor kommt doch so oft zu euch?«

»Nicht zu uns, zu der alten Frau Majorin, die ist krank.«

Er schüttelte den Kopf. »Mutter sagte gestern abend zu Vater, Doktor Braun läuft sich rein die Absätze ab um Johanna.«

Ich erschrak, und weil ich in meiner Verwirrung nichts zu antworten wußte, überhörte ich des Kleinen Geschwätz und begann mit dem Unterricht.

Als ich an einem der folgenden Nachmittage nach Haus kam, ein heißer Augusttag ging zu Ende, fand ich den Abendtisch vor dem Mittelbau des Hauses gedeckt, und Johanna kam mit einem Körbchen voll reifer Pfirsiche von der Spalierwand an der Südseite her mir entgegen. Sie beschleunigte ihre Schritte ein wenig und fragte, wie es drüben gehe. Wie sie es immer tat, wenn ich von dort zurückkehrte.

»Gut,« sagte ich, dann wußte sie, daß Besonderes nicht vorgefallen sei.

»Aber ich habe Neuigkeiten für dich,« sagte sie, »warte nur einen Augenblick, ich setze nur die Früchte auf den Tisch, dann gehen wir noch einmal im Garten auf und ab, ehe wir mit dem Abendessen beginnen, und ich erzähle es dir. Weißt du, wer mich besucht hat?« fragte sie, als sie zurückkehrte, »aber das rätst du auch nicht, Anna – denke dir, die alte Frau Hildebrandt erschien auf einmal, als unsere Damen gerade auf einem Spaziergang abwesend waren und ich hier ganz allein auf unserm Platz saß. Du weißt ja, ich habe immer eine Schwäche für die alte Seele gehabt, aber als sie mir erzählte, daß ihr Sohn sich Mitteldorf gekauft hätte, da verging mir das Freuen, es ist so nahebei hier –«

»Ja, aber warum denn?«

»Die Geschichte mit der Karoline damals.«

»Ach, Hannele, das ist aber doch ganz gleichgültig.«

»Ja?« fragte Johanna zögernd, »aber der Karl Hildebrandt und sie haben sich einmal wirklich geliebt, und wer das gekonnt hat, vergißt es nicht leicht.« Sie brach ab, und eine fahle Blässe überzog ihr Gesicht. »Aber ich muß mich wohl schämen, daß ich solche Phantasien spinne. Karoline ist so charakterfest, nicht einer ihrer Gedanken würde abschweifen, sie steht so sicher in ihrer Treue – und ich –«

»Kind,« bat ich, »philosophiere nicht wieder über solche Dinge – –«

Als wir schweigend weitergingen, sahen wir den Doktor, der die rückseitige Gartentür, durch die auch wir stets den Weg über die Wiese nach dem Dorf nahmen, eben aufschloß – als Arzt der alten Damen besaß er den Schlüssel – und nun rasch uns entgegenschritt. Er war ein mittelgroßer, etwas zur Fülle geneigter Herr von vierzig Jahren ungefähr, mit einem von blondem Vollbart gezierten, fast zu rosigen Gesicht, das den Ausdruck ziemlichen Selbstbewußtseins trug. Wir kannten ihn schon an die fünf Jahre, seitdem der gute, alte Doktor Zänker tot war, ohne uns ihm näher angeschlossen zu haben. Johanna wich ihm aus, wenn irgend möglich, ich hatte ihn so hingenommen wie etwas Notwendiges, ohne weiter über ihn nachzudenken, und erst des Jungen Bemerkung neulich hatte mich auf ihn und seine häufigen Besuche in letzter Zeit aufmerksam gemacht.

Beim Näherkommen lüftete er den Hut über dem glänzend dunkelblonden Scheitel und rief uns einen guten Abend entgegen.

»Haben Sie einen Teller saure Milch für einen armen Junggesellen, hochwürdigste Frau Oberin?« fragte er scherzend, »bei mir zu Haus ist's öde und leer, die Wirtschafterin mitsamt dem Mädchen sind zum ›Vogelschießen‹ in die Stadt gefahren.«

»Wenn Sie vorlieb nehmen wollen, werden wir uns freuen,« antwortete Johanna, und eine Entschuldigung murmelnd, ging sie rasch vor uns dem Haus zu, als habe sie zum Empfang des Gastes noch Anordnungen zu treffen. Der Ausdruck ihres Gesichts stand keineswegs im Einklang mit den freundlichen Worten.

Der Doktor blieb stehen und sah ihr nach, dann wandte er sich zu mir, und plötzlich meine Hand ergreifend und pressend, fragte er hastig, während die flackernde Röte einer großen Verlegenheit sein Gesicht überzog: »Sagen Sie mir doch, wie soll ich es anfangen, Fräulein Nordmann näherzukommen? Das ganze Repertoire einer regelrechten Courmacherei habe ich erschöpft und bin heute noch so klug wie vor bald fünf Jahren. Damals war sie noch sehr jung,« fuhr er fort, »ich habe auf Anraten der Frau Rhoden gewartet mit meiner Werbung bis jetzt, aber nun – man kann doch nicht alt und grau unter solchen Umständen werden!«

Und als ich ihn erschrocken ansah, fügte er hinzu: »Frau Rhoden hat mich an Sie gewiesen, sie behauptet, keinerlei Einfluß auf ihre Schwester zu haben; aber jedenfalls steht sie der Angelegenheit sympathisch gegenüber.«

»An mich, Herr Doktor? Da hat man Sie aber sicher an die Unrechte adressiert, denn auch ich habe keinerlei Einfluß auf Fräulein Nordmann; sie ist eine vollkommen in sich abgeschlossene fertige Natur, und wenn sie Ihre Annäherung übersehen hat, so ist das höchst wahrscheinlich, weil sie sie nicht wünscht. Ich kann Ihnen, glaube ich, mit ziemlicher Sicherheit verraten, daß Johanna sich nicht verheiraten will.«

»Aber, Sie gestatten, daß ich zunächst noch einige bescheidene Zweifel in Ihre Meinung setze,« fuhr er fort, ohne im geringsten aus seinem Gleichgewicht gebracht zu sein. »Es käme doch nur auf eine unumwundene Frage an? Fräulein Nordmann hat mich vielleicht noch gar nicht verstanden – wenn der Rechte käme, wenn ich der Rechte wäre – es ist nur sehr peinlich, direkt mit dieser Frage vor sie zu treten, Fräulein Maaßen – Sie haben ganz bestimmt Einfluß auf Fräulein Johanna, ich habe doch Augen im Kopf! Sie verehrt Sie wie eine Mutter, fragen Sie sie für mich – ich muß Gewißheit haben, und schließlich –: ich bin doch nicht der erste beste? Meine Familie ist hochangesehen in Stettin, und ohne irgendwelche Mittel bin ich keineswegs. Ich habe Fräulein Johanna lieb – seit ich sie das erste Mal sah, das kann ich ehrlich behaupten.«

»Aber lieber Doktor, damals hatten Sie, denke ich, eine Braut?«

»Hatte ich auch, aber die Geschichte ging in die Brüche, mußte naturgemäß in die Brüche gehen – wir paßten nicht zueinander. Sagen wir also – ich habe mich vom ersten Sehen an für Fräulein Johanna interessiert, vielleicht ist auch der Entschluß zur Auflösung meines Verlöbnisses durch dieses Gefühl beeinflußt worden, wahrscheinlich sogar. Seit Jahren toggenburgere ich nun schon unter ihren Fenstern – das halte ich einfach nicht mehr aus – also –«

»Herr Doktor, ersparen Sie sich eine Enttäuschung,« unterbrach ich ihn, »Johanna hat ihre Gründe, die Ehe zu verschmähen, sie steht unter dem Einfluß der furchtbaren Krankheit ihrer Mutter. Sie werden wissen, daß diese sich das Leben nahm in geistiger Umnachtung. Auch Johanna kämpft mit Anfällen schwerer Melancholie, und dies genügt, um sie von einer Verbindung – sowohl mit Ihnen, wie mit irgend einem andern abzuhalten.«

Er blieb stehen. »Na, bei Gott, unsere heutigen jungen Mädchen denken weit voraus, sind riesig aufgeklärt. Was die Mutter in den Tod trieb, kann persönlichen Erlebnissen entstammen, eine glückliche Ehe wird höchstens günstig auf solche Zustände wirken. Wie können Sie ein schönes, junges, zum Glück geschaffenes Mädchen nur in solchen Ideen bestärken. Na, da bin ich doch selbst schließlich der Mann, der handeln muß; ich danke Ihnen, Fräulein Maaßen, und bitte Sie einzig und allein, nichts gegen mich zu reden, wenn ich Fräulein Johanna jetzt irgendwie und wo festnagle, um sie zu fragen.«

Er nahm den Hut ab und schritt rasch vorwärts dem Tisch entgegen, an dem bereits die alten Damen Platz genommen hatten. Johanna war nicht zu sehen. Als das Mädchen erschien mit den zierlichen blauen Glasschalen, in denen die dicke Milch stand mit der köstlichen gelblichen Sahneschicht darauf, bestellte es zugleich eine Empfehlung von dem Fräulein Oberin, und sie lasse um Entschuldigung bitten, wenn sie nicht mitessen könne, sie fühle eine heftige Migräne herannahen, und Ruhe sei das einzige Mittel dagegen.

»Das letztere stimmt,« sagte der Doktor grimmig, warf seinen Stock auf den nächsten Tisch und aß mit rotem Kopf und einigen höhnischen, nur mir verständlichen Bemerkungen seine Milch aus, ohne sich von der kleinen, durch seine Gegenwart hochbeglückten Tafelrunde besänftigen zu lassen. Kaum war unsre Abendmahlzeit beendet, als er schon aufbrach, was die alten Damen in größte Betrübnis versetzte.

»Guten Abend!« sagte er, ihre Bitten und bedauerlichen Ausrufe abschneidend, »verlassen Sie sich darauf, ich komme morgen wieder und übermorgen und alle Tage. – Meine Empfehlungen an Fräulein Nordmann und gute Besserung!«

Droben im Schlafzimmer fand ich Johanna ganz außer sich. »Warum wird mir auch das nicht erspart? Merkt denn dieser Mann gar nicht, daß ich ihm immer geflissentlich aus dem Weg gehe? Die ganze Zeit her war er noch bescheiden, irgendwas muß den unseligen Vorsatz wieder neu in ihm gestärkt haben. Und sieh – da ist ein Brief gekommen von Jörg, ich wage nicht, ihn aufzumachen – nie hat er sonst an mich geschrieben – nie –«

Mit zitternden Fingern hielt sie den Brief mir hin. »Öffne du – ich bitte dich!«

»Nein, Johanna, das ist deine Sache!«

Sie zögerte noch, dann ritzte sie das Kuvert mit einer Hutnadel, die auf der neben ihr befindlichen Kommode in einem Kissen steckte, auf und überflog das Schreiben. Nur wenige Zeilen las sie, dann drückte sie es mir in die Hand: »Tante, Tante! Denke dir doch – lies – lies!« Und als ich meine Augen auf das Papier warf, stand dort:

»Liebe, hochverehrte Schwägerin!

Karoline sagt mir eben, daß Du Gelegenheit habest, an der Seite des Doktors Braun glücklich zu werden, daß Du Dich gern hinüberretten möchtest in einen füllen Hafen und das Alte zu vergessen trachtest, so viel es gehe.

Welchen Eindruck diese Nachricht auf mich machte, soll hier unerwähnt bleiben, nur um eins bitte ich Dich, nimm keinerlei Rücksicht auf mich, auf meinen Sohn, handle, als hättest Du mich nie gekannt. – Was Du auch tust, es sei gesegnet! Jörg Rhoden.«

»Tante, wie sie lügt, wie sie plump lügt!« Johanna lief ganz außer sich im Zimmer auf und ab. »Was will sie damit? Bin ich ihr denn im Weg? Wie kann sie mir so viel Schlechtigkeit zutrauen? Muß ich nicht genug schon mich verstellen, muß ich das Unmögliche nicht möglich zu machen suchen in der peinlichen Lage, in der ich bin?«

Dann lachte sie, wie sie stets in Situationen lachte, in denen ihre Nerven sie im Stich ließen. »Herr Gott im Himmel, ist es denn noch nicht genug?« stieß sie hervor, »das albernste Intrigenstück reicht ja nicht heran an diesen Streich! Was soll ich denn nur tun, um mich Karolinens zu erwehren – was soll ich tun?«

Dann schritt sie nach ihrem Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch; ich sah, wie ihre Feder flog, wie sich während des Schreibens die Röte der Empörung noch vertiefte. Nach einer Weile rief sie: »Tante – lies!«

Sie reichte mir den Bogen und ich las die Worte:

»Ich habe niemals daran gedacht, der großen Lüge meines Lebens eine noch größere hinzuzufügen! Johanna.«

»Das sollst du Jörg geben – hörst du, Tante – das mußt du tun! Du mußt Gelegenheit finden! Und dies hier an Karoline.«

Liebe Schwester!

Du hast, wie mir Onkel Pastor damals versicherte, sehr viel für mich getan, hast mir den guten Namen gerettet und mich bewahrt vor Schande und Verwerfung. Ich bitte Dich, ein Weiteres tun zu wollen: laß mich mein stilles Leben weiterleben und sieh ein, daß ich mich nicht verheiraten kann und will. Du bist ja so gewandt in allen Dingen und wirst gewiß Herrn Doktor Braun gegenüber die richtigen Worte finden, um ihm die Hoffnungslosigkeit seiner Bewerbung klarzumachen. Wenn nicht, so muß ich es selbst tun, aber ich weiß nicht, wie weit hierbei meine Kunst zu lügen noch reicht, ich bin fast am Ende mit ihr. Johanna.

»Du gibst ihr das, hörst du?«

»Ja, ja! Johanna, beruhige dich doch!«

»Das kann ich nicht sogleich. Es schmerzt mich, wenn du nicht fühlst, was mir Karoline antun will, wessen sie mich für fähig hält. Und warum? Warum hat sie diesen Wunsch, diesen wahnsinnigen Wunsch, begreifst du es, ahnst du es? Irgend etwas steckt dahinter, umsonst fängt Karoline so etwas nicht an. O, und Jörg, was mag Jörg von mir denken? Daß ich ihn verraten soll, daß ich einem fremden Menschen seine und meine Schuld gestehen soll? Oder glaubt Karoline, daß ich ... daß ich ... schweigen soll dem Mann gegenüber, der mir seinen Namen geben will?«

Sie wußte nicht, wie sie sich ausdrücken sollte, schlug die Hände vor das Gesicht und begann leise und bitterlich zu schluchzen. Ich zog sie neben mich auf das Sofa und lehnte, wie so oft schon, ihren Kopf an meine Brust.

»Weine dich aus, Kind, dann wirst du ruhiger werden.«

*

Johannas Brief gelangte durch mich in Karolinens Hände, Lotte Breiter vertraute ich den andern an für Jörg. Ich saß dann in der Wohnstube mit Hans Jörg und gab ihm Unterricht und vergaß über den intelligenten Fragen des Jungen alles andere. Es war heute der Tag, an dem ich mit ihm botanisieren zu gehen pflegte, ein bei Lehrerin und Schüler äußerst beliebter Unterricht.

Während der Kleine verschwand, um seine Botanisierbüchse und sein Hütchen zu holen, schlüpfte Lotte Breiter mit blassem Gesicht zu mir herein. »Was ist denn nur heute geschehen? Die Herrschaft hat ein großes Wortgefecht eben gehabt, das heißt, der Herr war ja ziemlich still, aber die Frau, – bis in den Flur hier unten hat man's gehört. Ach, Fräulein, überhaupt unsere Frau ...« setzte sie hinzu und schüttelte den Kopf.

»Was ist's mit der Frau?«

»In schrecklicher Stimmung ist sie, sie muß wohl krank sein; sie zieht den einen Fuß immer nach, und ich glaube, sie ängstigt sich darum, denn, wissen Sie, bei ihrer Mutter hat's gerade so angefangen.«

»Was denn?« fragte ich erschreckt.

»Die Krankheit, wo sie dann dran gestorben ist, und gerade im selben Alter, so sagte man Justchen, mit der ich neulich davon sprach. Und so was ist ja wohl erblich, und das geht ihr nun im Kopf herum und macht sie wütig und toll, und so was zu denken ist ja auch gräßlich, der Herr zeitlebens krank, und wenn sie auch eines Tages zu liegen kommt, – ach du meine Güte,– was sich da so ein armer Mensch alles ausmalt!«

In diesem Augenblick kam Karoline herein; unwillkürlich sah ich sie prüfend an und fand sie heiß, fiebernd, mit verzerrtem Gesichtsausdruck; es schien mir, als ob das linke Bein etwas schleppte. Ich wollte nach ihrem Befinden fragen, aber sie ließ mich nicht zu Worte kommen.

»Bestellen Sie doch meiner Schwester, daß ich noch mit ihr selbst sprechen würde über den bewußten Punkt – Sie wissen wohl worüber?«

»Ja, Frau Rhoden, aber ich glaube, es ist vergeblich, und die beiderseitige Aufregung würde ganz unnütz sein!«

»So? Das wird sich finden! Wie denkt sie sich denn ihre Zukunft? Das Phantasiestift drüben erreicht eines Tags doch sein Ende, die Alten können nicht ewig leben, und dafür, daß keine neuen Damen einziehen, werde ich schon sorgen. Na, und dann? Denkt Johanna, daß ich vor Jörg sterben werde? Da irrt sie sich, auf Jörg soll sie ja nicht warten! Wenn sich ihr eine neue anständige Versorgung bietet, sollte sie zugreifen.«

»Ich glaube nicht, daß Johanna schon je die Möglichkeit Ihres Todes erwogen hat, Frau Rhoden,« sagte ich.

»Ach! Da kennen Sie meine Schwester nicht,« antwortete sie ebenso ruhig, »und Doktor Braune sollte die berühmte Diagnose über mich und mein Leiden drüben im Stift verschwiegen haben? Lehren Sie mich doch die Menschen kennen!«

»Nicht ein Wort, Frau Rhoden! Ich hörte an diesem Morgen zum ersten Male etwas davon, daß Sie sich nicht wohl befinden.«

»Wer sagt das? Ich befinde mich doch sehr wohl –. Glauben Sie mir, ich bin gesund.«

»Sie sprachen doch eben von Ihrem Leiden.«

»Ach so? Die Doktoren übertreiben ja alle! Wenn ich noch denke, wie es mit Jörg war – nicht ein Jahr sollte er mehr leben nach dem Unglück! Na, dem geht's wie einer gekitteten Schüssel, noch dreimal so lange hält die als eine neue. Da sitzt er und schreibt seine Reiseerinnerungen und wählt die Bilder dafür, und ein halbes Dutzend Journale reißen sich darum, und dann kriegt er Briefe und Anfragen, und wer weiß was noch. Das hält ihn aufrecht, er wird jedes Jahr fester, ich gedenke es ebenso zu machen; ich rackere mich freilich in der Wirtschaft ab, und keine Seele dankt mir dafür. Aber zum Verzagen ist's nicht, ich renne Leute wie Johanna noch zehnmal um. – Na, es wird sich finden, wozu rege ich mich auch noch auf?«

Sie hatte währenddem ein Wirtschaftsbuch aus dem Schreibsekretär geholt und sich vor dessen Platte zum Arbeiten gesetzt. Hans Jörg stürmte in das Zimmer und stand dann still, mit erschreckten Augen, als er seine Mutter erblickte. »Ich wollte bloß die Tante abholen,« bemerkte er.

»Na, du!« brummte sie, »ich fress' dich doch nicht.« Aber als der Junge schüchtern an sie herantrat, um ihr adieu zu sagen, gab sie ihm nicht die Hand, sondern bemerkte kurz: »Adje, du Schlingel, und bitte pünktlich dasein zum Essen.«

»Heute esse ich ja bei der Obertante,« erinnerte er, »es ist doch Mittwoch.«

Karoline zuckte plötzlich zusammen und vertiefte sich in ihre Zahlenreihen, sie hörte auf mein »Adieu« nicht mehr oder wollte es nicht hören. Gedankenvoll ging ich neben Hans Jörg durch den Park.

»Die Mutter hat Schmerzen,« sagte der Junge, »im Bein hat sie welche. Gelt, Tante, das muß eklig sein, wenn man so recht rennen möchte und kann nicht.«

Und gleich darauf schoß er wie ein Pfeil auf das Pförtchen los, das wir aufschließen mußten, um in den Wiesenweg nach Klein-Zülla zu gelangen.

Zwei Wochen später erhielt ich von Jörg Rhoden die Aufforderung, seines Sohnes Erziehung völlig in die Hand zu nehmen, da er dem Einfluß der allzu nachgiebigen Lotte Breiter entzogen werden müsse, und zu diesem Behuf ganz nach Groß-Zülla überzusiedeln. Fräulein Dürrhahn werde für ihre Mühewaltung als Rechnungsführerin gebührendermaßen entschädigt werden.

Ich legte Johanna den Brief vor; in Wahrheit verließ ich sie sehr ungern; sie hatte schon durch meine zeitweise Abwesenheit allzuviel Arbeit; durch mein Fehlen wurde es naturgemäß noch mehr, sie ging ohnehin schon über ihre Kräfte. Aber Johanna war hochbeglückt über Jörg Rhodens Verlangen und drängte zu raschem Ja!

»Du mußt, Anna, du mußt – ich bin so viel ruhiger, wenn ich dich dort weiß. Auch auf Karoline wirst du einen guten Einfluß haben, und – für mich, mein Gott, für mich ist's so beruhigend, dich dort zu wissen, so wohltuend, wie ich nicht beschreiben kann.«

So packte ich denn meine Siebensachen, und an einem Septembermorgen gegen Ende des Monats nahm ich einen scherzhaften Abschied von Klein-Zülla und den lieben, alten Bewohnerinnen und ging nach Groß-Zülla, feierlich eingeholt vom Junkerchen, das die Zeit, mich drüben zu haben, kaum erwarten konnte. Die Breitern hatte den Jungen herübergeleitet und blieb fortan in Klein-Zülla, in der Wohnung des ehemaligen Försters Schertz, die sie mit unserm alten Justchen teilte, welch letztere schon länger ihr Domizil dort aufgeschlagen hatte.

Johanna begleitete mich noch ein Stückchen auf dem Wiesenweg; wir gingen schweigend und beobachteten den Jungen, der in wilden Sprüngen vor uns her jagte und wieder zurückkehrte mit ein paar blaßlila Herbstzeitlosen in den Händen, die er für Tante Jo gepflückt hatte. Als sie sich bei ihm bedankte mit ein paar Küssen, die er lebhaft erwiderte, und er sich nun wieder entfernt hatte, flüsterte sie mir zu: »Gib ihr nach, wenn sie ihn nicht so oft herüberschicken will, ich werde ganz geduldig, ganz verständig sein, denn ich weiß ja, du bist bei ihm. Glaube mir, es ist besser, er kommt nicht so oft.«

»Warum denn aber, Johanna? Du lebst doch sozusagen von seinen Besuchen.«

Sie blieb stehen, ihre großen Augen sahen mich voll mühsam verhaltener Tränen an. »Ich glaube, sie liebt ihn, Anna,« sagte sie fast heiser.

»Wen? Den Hans Jörg?«

»Ja, und sie ist eifersüchtig auf seine Liebe zu mir.«

»Das glaube ich nicht, Johanna.«

»Doch, doch! Verlaß dich darauf! Ich habe Karoline und den Jungen beobachtet, als sie neulich mit ihm hier in Klein-Zülla war, im Garten da unten am Wasser. Da hat sie mit ihm gesessen und ihm Papierkähne gemacht; er wollte immer mehr haben. ›Eine ganze Flotte will ich,‹ rief er, und sie tat es unermüdlich. Ich stand hinter dem vergitterten Fenster der Waschküche und konnte jedes Wort hören. ›Nun noch zehn,‹ forderte der unersättliche kleine Kerl endlich. ›Gut,‹ sagte sie, ›noch zehn Stück, aber du mußt mich liebhaben und mir zehn Küsse dafür geben.‹ ›Nein, nicht zehn – einen Kuß, das ist genug,‹ bestimmte er. ›Dann mache ich auch nur einen Kahn.‹ ›Na ja, dann meinetwegen –‹ ›Und jetzt gleich, im voraus, Hans Jörg.‹ Es war ein Weilchen ganz still, und dann hörte ich den Hans Jörg zählen und dazwischen immer das Geräusch eines Kusses. Beim siebenten erklärte der Junge: ›Nun ist's aber genug.‹ ›Noch drei Küsse oder einen ganz langen, und dabei sagst du: Liebe, liebe Mutter!‹ bettelte Karoline. ›Ach nein!‹ ›Tu es doch!‹ ›Nein, nicht mehr – weil du nicht willst, daß ich einen Pony kriegen soll.‹ ›Der ist zu teuer für dich, Junker Obenaus!‹ ›Das schadet doch nichts. Die Lotte meint doch, du bist so fürchterlich reich.‹ ›Lotte sagt das?‹ ›Ja!‹

Nach einer Pause begann Karoline wieder: ›Ich werd' mal sehen, ob du lieb mit mir sein wirst, dann kriegst du vielleicht auch den Pony.‹ ›Du sollst mich auch liebhaben und dann noch den Pony,‹ erklärte er. ›Ich habe dich ja lieb, Hans Jörg!‹ ›Vater hat mich lieber.‹ ›Vater verzieht dich bloß.‹ ›Und Tante Jo hat mich auch lieber,‹ behauptete er plötzlich, ›weil sie mich niemals haut.‹ Danach stockte das Gespräch, und plötzlich klang des Jungen Stimme. ›Nun weinst du wohl? Weine doch nicht, ich will auch keinen Pony haben.‹

Was dann noch vor sich ging, weiß ich nicht, ich hörte Karoline irgend etwas halblaut und scharf sagen und sah sie in ihren langsamen, jetzt so schleifenden Schritten den Gartenweg heruntergehen. Und der Junge, der kam auch nach einer Weile zum Vorschein, und als ich ihn leise anrief und ihm bedeutete, er solle rasch hinter seiner Mutter herlaufen und lieb mit ihr sein, sah mich sein trotziges, blasses Gesicht an, und er schüttelte den Kopf: ›Nein, Mutter hat mich eben doch wieder gehauen und geschupft und hat gesagt: Dann lauf doch in des Kuckucks Namen zu deiner Tante Jo, kannst gleich da bleiben!‹

Ich sage dir, Anna, ich habe die ganze folgende Nacht nicht schlafen können, so furchtbar hat mich Karoline gedauert. Anna, beste Anna, mach du doch, daß Friede wird zwischen den drei Menschen drüben, dann will ich Gott auf den Knien danken und dir, so sehr – so sehr!«

Sie fiel mir um den Hals, preßte mich an sich und wandte sich dann rasch zum Gehen. Hans Jörg lief ihr nach, um ihr zu sagen, daß er sie sehr bald besuchen werde mit mir; sie solle ja nicht weinen um die Tante Anna, er werde diese gewiß nicht ärgern, und auch Lotte Breiter solle sich nicht mehr grämen.

So war ich denn wieder in Groß-Zülla droben, in der schönen, großen Stube, in der ich schon früher einmal wohnte, und nebenan hatte man den Jungen untergebracht auf seines Vaters Wunsch. Die ehemalige Kinderstube schien diesem nicht geeignet zum Lernen, Hans Jörg werde zu sehr von dem, was auf dem Hof vorgehe, gestört. Die Wipfel der alten Linden und Kastanien vor den Fenstern meiner Stube hätten dafür etwas Ernstes, Gesammeltes, das beruhigend auf ihn wirken werde. Es war auch so – das Kind wurde ruhiger und schloß sich ungemein herzlich an mich an. Ein Näherkommen zwischen Karoline und ihm vermochte ich aber nicht herbeizuführen.

Karoline war zu ungleichmäßig in ihrem Wesen ihm gegenüber, sie schwankte beständig hin und her zwischen Ausbrüchen einer wilden Zärtlichkeit, die das Kind eher abstieß, und einer ebenso jähen Abneigung, die sich in Ungerechtigkeiten Luft machte. Und dabei sah sie täglich elender aus.

Doktor Braune hatte nicht eher geruht, bis er einen Korb von Johanna heimtrug, etwas, das auf Karolinens Befinden einen sehr ungünstigen Einfluß übte; sie sah grün und gelb aus und fühlte sich offenbar sehr elend.

Ich war an dem Nachmittag, als diese Angelegenheit zur Sprache kam, mit Hans Jörg im Zimmer des Hausherrn, das allmählich seine alte Gestalt wieder angenommen hatte und dem früheren jetzt völlig glich. Die hohen Büchergestelle waren von unten heraufgebracht und hier in die Wände eingelassen worden, ebenso die Vertäfelung der Decke ähnlich hergestellt wie unten. Selbst der Kamin von unten war hier oben eingebaut worden, und im Erker stand der Fahrstuhl des Kranken vor dem Schreibtisch. Es war fast genau so wie früher, nur daß man von hier oben eine weitere Aussicht hatte, hinüber bis zu den Giebeldächern von Klein-Zülla, die aus den Rüstern und Ulmen seines Gartens malerisch auftauchten.

An diesem Septembertag, der kühl und trübe zu Ende ging, saß ich also mit Hans Jörg in des Hausherrn Zimmer nahe dem Fenster an einem Tischchen und hielt eine Geographiestunde. Der Vater wollte, daß dies in seiner Gegenwart stattfinde, ebenso wie die Anfänge des Lateins, wobei er mich ja sehr unterstützen mußte, weil ich wenig davon verstand.

Ich erzählte dem eifrig zuhörenden Kind von der Gestalt der Erde, den Meeren, dem Festland, während Herr Rhoden in der Nähe des Kamins auf einem Ruhebett lag und zuhörte. Da ging die Tür drüben, und Karoline kam herein, rot, aufgeregt. Sie stellte sich mit untergestemmtem linken Arm vor ihren Mann auf, mit der Rechten ihm einen Brief entgegenhaltend: » Da schreibt Braune, daß er auf die Ehre, unser Hausarzt zu sein, verzichten müsse,« begann sie mit zitternder Stimme. Sie warf dem Kranken den Brief auf die Decke, indem sie hinzufügte: »Haben wir mal wieder Johanna zu danken, daß wir nun in plötzlichen Fällen ohne Hilfe dasitzen und sterben und verderben können!«

»Wir werden es ertragen müssen und sehen, daß wir uns anderweitig helfen,« beruhigte Jörg, »Scheibendorf ist ja nicht so weit, und der Doktor Liebe ist eine recht sympathische Persönlichkeit.«

»Und bis diese ›sympathische‹ Persönlichkeit eintrifft, kann man tot sein!«

»Möglich, aber ich vermag die Entschließung des Herrn Doktor Braune doch nicht zu ändern.«

»Ja, du bist gewiß heilsfroh darüber, ich kann es mir ja vorstellen,« klang es zurück.

»Karoline, dort sitzt Hans Jörg!«

Sie wandte sich um; sie war leichenblaß. »Mach, daß du hinauskommst,« herrschte sie das Kind an, »hier ist doch keine Schulstube!«

Ich erhob mich ebenfalls. »Es war nur des großen Globus halber, Frau Rhoden, und weil Hans Jörgs Vater es wünschte,« entschuldigte ich unsere Anwesenheit, und folgte dem Kind, das sich eiligst entfernte. Was noch zwischen dem Ehepaar verhandelt wurde, weiß ich nicht.

Abends bei Tisch erschien Karoline nicht. Die Mamsell sagte, gnä' Frau sei krank, der Kleine aber wisperte mir zu, der Kutscher sei hinüber nach Scheibendorf, um Doktor Liebe zu holen, weil Onkel Braune doch böse auf uns sei. Mama huste so sehr. Die Stimmung an der großen, von einer Hängelampe beleuchteten Tafel war noch gedrückter als gewöhnlich, früher als sonst stand man auf. Ich schickte das Stubenmädchen mit der Frage zu Karoline, ob Hans Jörg seiner Mutter »gute Nacht« sagen dürfe. Die Antwort lautete: »Nein!«

So kamen wir nach oben; ich zündete die Lampe an und holte meine Handarbeit herzu; das Kind spielte mit seinen Bleisoldaten auf dem alten Mahagonitisch, und so vergingen einige Stunden. Mitten in einem heißen Kampf zwischen Preußen und Franzosen erschien das Stubenmädchen: ich solle gleich zu Frau Rhoden kommen. Als ich in das ungemütliche kahle Schlafzimmer trat, dessen Fenster wohl wenig geöffnet werden mochten, so beklommen war auch heute die Luft, sah ich den Doktor Liebe, der mit der Untersuchung von Karolinens Lungen beschäftigt war. Er nickte mir nur flüchtig zu und wiederholte sein: »Bitte, recht tief Atem holen, gnädige Frau!« Dann fuhr er schweigend fort, sein Hörrohr aufzusetzen und zu lauschen, und als er endlich Karoline, die im Bett aufrecht saß, wieder half, sich niederzulegen, fragte er, ob die gnä' Frau früher einmal an chronischen Lungenkatarrhen gelitten habe?

»Ja – damals – als – ehe das Kind geboren wurde, da war ich lange im Süden wegen – Lungenspitzenkatarrh – aber der ist ganz geheilt.«

»Und es kamen gar keine Beschwerden wieder?«

»Niemals, Herr Doktor – überhaupt, das war damals nur eine Folge von Erkältung; ich bin kerngesund.«

»Gewiß! Aber schonen sollten Sie sich doch. Hätten Sie nicht Lust, wieder einmal dem deutschen Winter aus dem Weg zu gehen, gnädige Frau?«

Karoline lachte schrill auf. »Nein! Nein! Was denken Sie denn, Herr Doktor, als ob ich das könnte! Der kranke Mann und der Junge – nicht zehn Pferde kriegen mich von Zülla fort. Davon reden Sie, bitte, kein Wort mehr.«

»Nun, einstweilen brauchen Sie ja noch keine Reisepläne zu entwerfen, aber, bitte, halten Sie sich ein paar Tage im Bett auf, gnä' Frau, und messen Sie früh und Abends Ihre Temperatur, ich komme morgen wieder vor.«

Er verließ das Zimmer, und ich stand nun Karolinen allein gegenüber. Ein glänzendes, fieberrotes Gesicht lag in den weißen Kissen.

»Ich glaube fast, der Mensch hat recht,« sagte sie vor sich hin, dann redete sie mich an. »Ich wollte nur bitten, Sie wissen ja noch ein bissel Bescheid von früher, nur daß die Leute merken, eine Oberaufsicht ist noch da, für den Fall, daß ich wirklich liegen bleiben muß ...«

»Gewiß, Frau Rhoden, schonen Sie sich nur.«

»Es ist gar nichts ... es ist gar nichts Böses,« sagte sie, mich fixierend, »zu besorgen ist nichts, das sagen Sie nur meinem Mann und auch der Johanna, nichts wie ein bißchen Katarrh und der ewige Ärger.«

»Aber regen Sie sich doch nicht auf,« bat ich, »Johanna wird es leid tun, glauben Sie nur.«

Sie unterdrückte ein kurzes Lachen. »Ja, ja,« sagte sie, »schon gut, schon gut! ... Aber so rasch geht's nicht! Nein!« schrie sie plötzlich auf und schlug auf ihre Federdecke, »ach Gott ... ach Gott ... Das kannst du nicht wollen! Und ich gehe nicht fort, ich gehe nicht!« rief sie drohend und sah mich an. Sie sprach offenbar im Fieber.

Und dann wollte sie Hans Jörg sehen. Ich schickte das Stubenmädchen hinauf und ließ den Jungen holen; vor der Tür des Schlafzimmers erwartete ich ihn. »Mutter ist krank, Hans Jörg, du mußt sehr artig und folgsam sein,« flüsterte ich ihm zu.

Er trat befangen und unsicher an das Bett und streckte die schmale, feste Jungenhand nach ihr aus: »Gute Nacht, Mutter!«

Sie faßte ihn und zog ihn ganz nahe an sich heran. »Gib mir einen Kuß,« sagte sie. Da wich das Kind zurück und schüttelte den Kopf.

»Auf der Stelle komm her und küsse mich!« schrie Karoline, sich aufrichtend.

»Ich darf aber nicht, Tante Jo hat's verboten,« rief der Junge weinerlich.

»Aber, Hans Jörg!« flüsterte ich erschreckt.

»Und es ist doch wahr, Tante Anna,« verteidigte er sich, »sie hat's doch neulich zu Lotte gesagt, sie soll nicht erlauben, daß Mutter mich küßt.«

»Das hast du falsch verstanden. Siehst du, Hans Jörg, nun ist deine Mutter traurig.«

Karoline war in die Kissen zurückgesunken und stierte fassungslos zu uns herüber. »Na, nun weiß ich's ja, das konnte ich mir ja denken,« stammelte sie. »Geh!« schrie sie dann.

Ich wandte den Jungen um und schob ihn zur Tür hinaus.

»Das gedenk' ich ihr! Das gedenk' ich ihr!« sagte Karoline, als ich rasch zurückkam.

»Es muß ein Mißverständnis sein, Frau Rhoden,« suchte ich sie zu beschwichtigen, »ich werde nachforschen und es aufklären; was versteht denn solch ein Kind davon, wie eine Sache gemeint ist. Das einzige könnte sein, weil Sie jetzt husten, Frau Karoline.«

»Ich bin nicht krank, ich will ihr's beweisen, daß ich stärker bin als sie und als ihr alle! Und um den Husten? Lächerlich! ... Weil ich ihr nicht Platz machen will, aber nun gerade nicht ... nun gerade nicht! Geben Sie mir ein Schlafpulver, Braune hat sie mir noch verschrieben.«

Sie deutete auf das Pappschächtelchen auf dem Tisch vor ihrem Bett, und als ich es ihr gegeben hatte, nickte sie mir zu mit dem fieberhaften Gesicht. »Gehen Sie nur, morgen früh bin ich gesund und ...« Das weitere erstarb in einem langen, unverständlichen Geflüster.

Ich verließ das Zimmer nicht, ich wartete, auf einem Stuhl sitzend, an ihrem Bett, bis sie in festem Schlummer lag; endlos lange schien es mir zu dauern, bis sie einschlief, dann erst ging ich in den oberen Stock. Hans Jörg war auf dem Sofa eingeschlafen, der alte Friedrich, der ihm Gesellschaft geleistet haben mochte, saß, ebenfalls schlafend, im Lehnstuhl daneben. Ich weckte den Alten und schickte ihn ins Bett, dann trug ich das schlafende Kind aufs Lager und entkleidete es; es wurde kaum wach. »Nicht küssen, Mutter!« lallte es, »Mutter will mich immer küssen, Tante.« Ruhig schlief es weiter.

Ich trat noch ans Fenster und schaute über den schweigenden Garten hinweg, und ich wußte, daß nicht weit von meinem Zimmer, dort im Erker, ein ruheloser, armer Mensch saß, der mit brennenden Augen hinüberschaute nach dem alten Giebelhaus von Klein-Zülla, und daß von dorther traurige, sehnsüchtige Augen auch zu seinen Fenstern spähten und heiße, heimliche Tränen geweint wurden. Ich wußte es, obgleich ich es nie gesehen, denn der Mund der beiden schwieg seit langem von ihrem Leid, und ihre Blicke eilten vor anderen nie zueinander. Und ich wußte, daß sie schon längst verdorben und gestorben wären an ihrer großen traurigen Liebe, wenn das Kind nicht gewesen wäre, für das sie leben wollten und mußten. Und ein großes Mitleid mit diesen beiden überkam mich und mit dem armen Weib, das unten im Haus lag und fieberte und nicht sterben wollte, weil es nicht verzeihen konnte.

Am anderen Morgen stand Karoline richtig wieder aufrecht da und sah mit einem sonderbar höhnischen Lächeln in ihrem blassen Gesicht auf mein Erstaunen. Ja, ja, so leicht gebe ich mich nicht! stand darin, ihr sollt euch noch wundern!

»Aber das ist ja prachtvoll, Frau Rhoden,« sagte ich, meinen trüben Gedanken von gestern den Laufpaß gebend.

»Nicht wahr? Ja – wir Nordmanns haben großartige Konstitutionen, dabei kann man uralt werden. Erzählen Sie nur Johanna, wie gut es mir geht, vergessen Sie es nicht!« antwortete sie und ging mit rasselndem Schlüsselbund an mir vorüber, den Wirtschaftsräumen zu.

Es war so! Der Junge hatte recht! Als ich mit meinem Zögling am Nachmittag des folgenden Tages in Klein-Zülla gelegentlich unseres Spazierganges vorsprach, gab Johanna ohne weiteres zu, sie habe Lotte Breiter gefragt, ob es nicht zu vermeiden gehe, daß Hans Jörg von seiner Mama geküßt werde. Wie nun Lotte das dem Kind beigebracht habe, ahne sie nicht, aber wohl nicht auf die richtige Weise, es sei auch sehr schwer; jedenfalls habe sie Sorge um Karoline, die möglicherweise das Leiden ihrer Mutter geerbt habe, und um das Kind infolgedessen auch. Mein Bericht von des Kindes Kußverweigerung machte Johanna vollkommen unglücklich, und Karolinens Annahme, daß sie, Johanna, an Karolinens Kränkeln gar eine Hoffnung knüpfe für sich, versetzte sie in einen wahren Sturm von Empörung, der rasch einer großen Niedergeschlagenheit Platz machte.

»Anna – das denkt sie – das? Aber warum sollte sie mir denn nicht alles Schlechte zutrauen? Das Recht dazu hat sie ja, und ich kann mich nicht einmal beklagen! Mein Gott, was tue ich denn nur, um ihr Frieden zu verschaffen und uns allen – was denn nur?«

Es war in ihrem Zimmer, der Junge leistete inzwischen im großen Saal den alten Damen Gesellschaft und trank den Tee mit ihnen. Johanna saß vor ihrem Schreibtisch und sah todunglücklich aus.

»Gehst du denn jetzt heim?« fragte sie mich.

»Nein, ich will noch in den Wald mit Hans Jörg, und zwar bald, Johanna. Wenn es irgend geht, komme ich nach Tisch noch einmal herüber; der Junge ist gern gesehen in seines Vaters Zimmer.«

»Schön!« Sie nickte mir zu. »Heute abend kommen zwar Brinkmanns zum Whist mit den Damen, aber ich habe eine halbe Stunde Zeit zum Sprechen mit dir.«

Ich holte mir den Jungen mit einiger Mühe aus dem Saal, denn die Hofdame hatte ihm gerade eine Geschichte von zwei Pagen erzählt, die bei der Hochzeit einer Prinzessin ungemein viel Beweise fürstlicher Huld in Form von Bonbons und sonstigen Leckerbissen bekommen hatten, aber schließlich entließ ihn Fräulein Corde aus ihren Armen, und er wehrte energisch allen Abschiedszärtlichkeiten der anderen. »Jungen lassen sich nicht küssen!« rief er, indem er mit dem Ellbogen stieß.

Die Damen lachten, und er stürmte aus der Tür. Erst auf dem schmalen Brückchen, das über die Zülla auf den sogenannten Jägerstieg in den Wald führte, holte ich ihn ein.

»Aus Bonbons würde ich mir gar nichts machen an Stelle von so einem Pagen,« erklärte er, »wenn sie ihm wenigstens einen Pony geschenkt hätte, die alte Prinzessin. Ich würde ihr gleich sagen: Essen Sie's nur selbst – ein Pferd ist mir lieber!«

»Und das würde so bescheiden klingen und so wohlerzogen – du kleiner Renommist!« bemerkte ich.

»Darf man denn zu einer Prinzessin nicht immer sagen, was man denkt?«

»Nicht immer, und zu anderen Leuten auch nicht – wenn man ihnen nicht vielleicht weh tun will.«

Er sah mich an, wie um Aufklärung bittend.

»Du bist ja noch sehr jung, Hans Jörg, und verstehst vieles nicht zu unterscheiden, aber ein Junge von Zartgefühl hätte zum Beispiel seiner Mama nicht zugerufen: ›Es ist mir verboten worden, dich zu küssen!‹ Das hat ihr sehr weh getan.«

»Aber, Tante, ich wollt' ihr doch nicht weh tun.«

»Gewiß, und Tante Jo hat vielleicht recht, aber sie hat nie gewünscht, daß du deiner Mutter so begegnen sollst. Deine arme Mutter ist bitter gekränkt – erstens zürnt sie Tante Jo wegen des Verbots, das doch nur gut gemeint war, dann erfährt sie durch die Mitteilung, daß Tante Jo ängstlich ist, wenn sie dich küßt, daß sie krank ist, gefährlich krank, denn Tante Jo glaubt, du könntest Mutters Husten bekommen, wenn du sie küßt, und diese Erkenntnis kann Mutter sehr schaden. Du hättest wirklich in diesem Fall mal ein wenig nachdenken sollen, lieber Junge, oder –«

»Aber Mutter hätte nicht eher geruht, bis sie den Kuß hatte; sie hätte mich am Ende noch gehauen, Tante.« In Erinnerung an einige Ungerechtigkeiten fing er an zu weinen; in seinem Jungengesicht stand ein Ausdruck ratloser Verwirrung.

»Ist sie denn nun sehr traurig, die Mutter?« forschte er dann, »und wie soll ich's denn nun machen, daß sie wieder gut wird? Ich hab' so Angst vor Mutter, Tante; wenn sie lieb zu mir ist, dann bin ich immer allein mit ihr und sie hält mich so fest, so fest und fragt immer bloß, ob ich sie auch wirklich lieb habe, und dann weint sie und fragt, ob ich nicht Tante Jo doch lieber habe? Was soll ich denn da sagen – ich habe die Tante Jo doch lieber.«

»Komm, mein Junge,« sagte ich erschüttert, »wir wollen uns etwas ausdenken, was Mutter Freude macht. Und nun hör zu: du lernst ein Gedichtchen auswendig, und das sagst du ihr her, paß auf, wie sie sich freut.«

Und während ich über ein solches nachsann, mußte ich immer wieder die Tränen abwischen, die sich mir in die Augen drängten. Wie sollte das alles enden? Mußte das Kind nicht Schaden nehmen an seiner Seele? Hatte ich nicht eben den ersten Anstoß gegeben zu einer Verwirrung in seinem Herzen? Wie sollte es werden, wenn er heranwuchs, wenn er vielleicht eines Tages die Wahrheit erfahren mußte?

Als wir in der leichten Dämmerung des Septemberabends wieder nach Haus kamen, sagte der alte Friedrich, Fräulein Johanna sei bei Frau Rhoden, und seine Augen blickten mich ängstlich an. »Sie sind in gnä' Frau ihrem Zimmer; ach, Fräulein Maaßen, vielleicht klopfen Sie mal an, ich habe vorhin Frau Rhoden so laut und heftig sprechen gehört.«

Ich hatte auf einmal wieder Herzklopfen – Johanna hier – was wollte sie? Sich entschuldigen? Ich sah mich nach dem Jungen um; er war hinaufgelaufen in sein Zimmer, vermutlich in der Erwartung, daß ich folgen werde, um ihm seine Rechenstunde zu geben, die zwischen sechs und sieben Uhr auf dem Stundenplan für heute stand.

Ich zögerte noch immer, an Karolinens Tür zu pochen, aber der alte Friedrich sah mich schon wieder so bittend an, daß ich mich entschloß, hinüberzugehen. Und im selben Augenblick, als ich eintrat, sagte Johanna mit leiser, zitternder Stimme: »Es ist schwer genug, was wir tragen, mache doch die Last nicht noch drückender, Karoline, durch solche unmöglichen Beschuldigungen.«

Sie stand am Ofen und hielt nervös die Hände gegen die Schläfen gepreßt, indem sie Karoline nachsah, die im Zimmer hin und her schritt, heiß und rot vor Zorn und offenbar wieder fiebernd. Als sie mich erblickte, rief sie: »Es ist nur gut, daß Sie kommen, Fräulein Maaßen, hat der Junge nun gesagt, daß Johanna ihm verboten habe, artig zu mir zu sein, mich lieb zu haben, oder hat er's nicht gesagt?«

»Verzeihung, das hat er nicht gesagt! Er hat sich geweigert, Sie zu küssen, weil er wußte, daß Tante Jo es nicht gern sah, so lange Sie husten. Von verbieten, Ihnen gegenüber lieb und artig zu sein, ist selbstverständlich keine Rede gewesen.«

»Das kommt auf eins heraus,« erklärte Karoline, »der Junge wird stutzig, wenn man ihm dergleichen sagt, es ist überhaupt eine unglaubliche Arroganz, daß Johanna sich erlaubt, meinen Sohn bestimmen zu wollen, wie er sich gegen mich verhalten soll. Das geht sie gar nichts an, gar nichts

Karoline schlug bei diesen Worten mit der flachen Hand auf den Tisch und gab einer hölzernen Fußbank, die ihr beim Umherlaufen im Weg stand, einen Tritt, daß sie laut polternd gegen die Nähmaschine sauste.

Johanna sah mich hilfesuchend an, ihre entfärbten Lippen wiederholten nur tonlos: »Das geht mich gar nichts an?«

»Allerdings!« schrie Karoline. »Entweder der Junge ist mein Kind, oder er ist es nicht, hineinpfuschen lass' ich mir nicht in die Erziehung, verstanden!«

»Aber es war doch Fürsorge von Johanna, begreifen Sie denn das nicht?« versuchte ich sie zu besänftigen.

»Schweigen Sie doch gefälligst,« rief Karoline in ihrer drastischen Art. »Ich bin ein Schaf, daß ich Sie vorhin zum Zeugen rief, Sie, die Sie mit Johanna stets unter einer Decke gesteckt haben und noch stecken. Sie hetzen wahrscheinlich auch noch das Kind gegen mich auf; das Kind, das ich aus Gnade und Barmherzigkeit aus dem Sumpf gezogen habe, um es in anständigen Verhältnissen aufwachsen zu lassen, das wird verhindert, Vertrauen zu mir zu fassen! Es ist abscheulich, schändlich! Und von jetzt ab hören seine Besuche drüben auf, und daß eine andere Erzieherin zum Herbst eintritt, dafür werde ich auch sorgen!«

»Karoline, ich bitte dich, wofür hältst du uns denn nur?« sagte Johanna heiser, »nimm das zurück, ich bitte dich, zerreiße doch nicht den einzigen schwachen Faden, der mich noch an das Leben bindet! Ich schwöre dir zu, mir ist des Kindes Charakterbildung so heilig, wie sie dir nur sein kann, und seine Zukunft auch, das ist doch wohl zu verstehen.«

»Verteidige dich nicht, Johanna,« rief ich empört, »zum Glück hat der Vater doch auch noch ein Wort mitzureden bei diesen Arrangements.«

»Ja, natürlich der Vater, der Vater, und den habt ihr ja auch auf eurer Seite!« höhnte die erbitterte Frau.

»Karoline,« bat Johanna, »höre auf, du tust dir grenzenlos weh und uns auch. Ich weiß, daß ich gefehlt habe, aber, laß mich nicht so büßen. Ich bin hierhergekommen, schwer genug ist mir der Schritt gewesen, um ein Mißverständnis aufzuklären, und du ...«

»Du bist gekommen, ja, das sehe ich, aber ich habe dich nicht gerufen,« warf Karoline brüsk ein, »denn daß du das Kind gegen mich einnimmst, davon kannst du dich nicht reinwaschen, es war ein unnützer Gang, den du dir gemacht hast.«

Johanna verstummte ob dieser verlogenen Grobheit. Sie nahm ihr Tuch vom Stuhl und wollte gehen, aber man sah, wie sie nur mühsam sich aufrecht erhielt.

»Noch einmal so ein Pröbchen von Verrat und Aufhetzerei,« fuhr Karoline fort mit erhobener Stimme, »und der Herr Junker fliegt hinaus, und mit der Herrlichkeit ist's zu Ende – darauf verlaß dich!«

Und in diesem Augenblick öffnete sich leise die Tür, und an Johanna vorüber sprang Hans Jörg mit roten Wangen und leuchtenden Augen auf Karoline zu, drückte ihr in scheuer Liebkosung ein paar rote Astern in die Hand, die er eilig aus einem Gartenbeet gerissen haben mochte, und war mit ein paar Verlegenheitssprüngen ebenso fix wieder hinaus, ohne Johanna und mich nur anzusehen.

Karoline stand da in unverkennbarer Bestürzung über diese schlagende Widerlegung ihres Mißtrauens. Sie biß die Lippen aufeinander, jeder Muskel ihres Gesichtes zuckte, sie hielt die Augen gesenkt und zerdrückte die kleinen Stengel in ihrer zur Faust geballten Hand. Dann wandte sie sich kurz um und ging in ihr Schlafzimmer, ohne uns eines Abschiedsgrußes zu würdigen.

»Komm, Johanna,« sagte ich, »ich bringe dich nach Hause; deine Schwester ist krank und unglücklich.« Sie ließ sich fortführen, und ich schlug mit ihr den Pfad durch den Gemüsegarten ein, damit Hans Jörg uns nicht etwa finden könne.

»Aber, liebes Kind,« setzte ich vorwurfsvoll hinzu, »wie konntest du nur zu Karoline gehen, um dich zu entschuldigen – nun glaubt sie sich vollends im Recht.«

Johanna liefen jetzt einzelne schwere Tränen über die Wangen. »Ich wollte ihr nur all das schreckliche Mißtrauen ausreden,« sagte sie, »und habe es nur noch schlimmer gemacht.«

»Es ist lauter Angst, die aus ihr spricht,« tröstete ich, »sie sieht sich vereinsamt, ohne Liebe, und das einzige, daran ihr Herz noch hängt, der Junge, macht sich nichts aus ihr, neigt der anderen zu, die sie haßt. Vergib ihr nur, sie fühlt ihre Schwäche so sehr, daß sie ungerecht wird.«

»Vergeben?« wiederholte Johanna. »Habe ich ihr zu vergeben? Doch nur sie mir, immer sie nur mir. Mein Gott, wie soll ich es ertragen, das Kind nicht mehr zu sehen? Es wird ja alles ganz unhaltbar.« Und nach einer Weile: »Hast du Hans Jörg gesagt, er solle seiner Mutter Blumen bringen?«

»Nein, Johanna! Ich habe ihn nur aufmerksam gemacht, daß er sie kränkte mit seiner Kußverweigerung und suchen müsse, ihr zu zeigen, daß er sie lieb habe.«

»Das hat er sich allein ausgedacht, der liebe, kleine Kerl,« flüsterte sie, und ein leises Lächeln stahl sich über ihr verweintes Gesicht.

Als eine Woche später die übliche Einladung von Jörg und Karoline Rhoden an die Damen in Klein-Zülla abgeschickt wurde, die Geburtstagsfeier Hans Jörgs mit ihm zu begehen, kam die Antwort, daß alle gern kommen würden bis auf Fräulein Nordmann, die sich nicht wohl genug fühle; sie leide schon seit einigen Tagen an heftigen Kopfschmerzen.

Fräulein Dürrhahn hatte diese Absage geschrieben, und Jörg Rhoden las sie in meiner und Hans Jörgs Gegenwart.

»Johanna ist krank?« fragte Rhoden besorgt. »Was ist es, Fräulein Anna; waren Sie bei ihr? Hat sie einen Arzt?«

»Ich war seit längerer Zeit nicht drüben, Herr Rhoden, etwas Gefährliches ist es aber keineswegs, denn ich sprach die Breitern gestern. Wenn irgend eine ernstere Erkrankung eingetreten wäre, hätte sie es mir erzählt.«

Er sah mich forschend an. »Wie kommt es denn, daß Sie ein paar Tage lang nicht drüben waren?«

»Das ist Zufall,« stotterte ich.

»Tante Anna will bloß nicht,« rief auf einmal Hans Jörg; »ich wollte gestern zu Tante Jo, und da sagte sie, wir müßten durchaus in den Wald gehen, da schreien jetzt immer die Hirsche.«

»Nun, und du hast dich doch über das Schreien der Tiere gefreut? Stand wirklich ein Hirsch da?« fragte Jörg Rhoden.

Hans Jörg richtete sich auf und bezeichnete die Höhe der Geweihe: »Du, Vater, ein feiner mit so einem Geweih, in den lichten Tannen stand er und rührte sich nicht, als wir hinschauten; und nachher, als wir ein bißchen fort waren, hat er so laut geschrien, daß sich Tante Anna erschreckt hat. Nicht wahr, Tante, wie ein Löwe hat er gebrüllt.«

Rhoden nickte wehmütig. »Ja, ja, ich höre jetzt Abends das Schreien der Hirsche bis in meine Stube, und es gab mal eine Zeit ...« er verstummte und schwieg, ein trauriges Lächeln um seinen Mund. »Du, mein Junge,« fuhr er fort, aus kurzem Sinnen aufschreckend, »du sollst nachher mit Tante Anna, wenn es ihr paßt, nach Klein-Zülla gehen und fragen, ob die Tante Jo sehr krank ist. Und wenn Sie verhindert sind, liebes Fräulein Maaßen, schicken Sie das Kind mit Friedrich hinüber.«

Ich hatte auf der Zunge zu sagen: ach, lieber nicht, bitte nicht – es macht böses Blut! Aber ich durfte den leidenden ahnungslosen Mann nicht aufregen. »Ich könnte ja lieber allein gehen,« wagte ich vorzuschlagen, »weil – vielleicht ist's Influenza – oder etwas anderes – Ansteckendes.«

»Nein, nein,« bettelte das Kind, »ich will mal wieder zu Tante Jo, lieber Vater, Tante Anna soll mich mitnehmen – sag ihr's.«

»Wen hat denn meine Frau noch eingeladen?« forschte Jörg Rhoden.

»Die üblichen Gäste wohl,« antwortete ich, »die Scheibendorfer und den Oberförster, der diesmal mit der jungen Frau kommt, Pastors und die Neuburger –«

Jörg Rhoden seufzte. Diese Geburtstagsfeier war ihm von jeher so entsetzlich, so taktlos erschienen, so unsagbar peinlich gewesen.

»Und die Scheibendorfer bringen ihr kleines Mädchen mit,« berichtete Hans Jörg, »aber was soll man denn mit der machen, sie kann ja kaum laufen; wenn ich nur ein paar Jungen hätte, die mitkämen, aber alle haben sie keine Kinder.«

»Diesmal aber kommt ein Junge mit, Hans Jörg,« tröstete ich, »Tante Pastors Enkelsohn, der ist nur ein Jahr älter als du und mit seiner Mutter zu Besuch hier.«

»Nun steck die Nase ins Buch, mein Junge,« schnitt Jörg Rhoden das Plaudern ab. Und während das Kind sich in ein Additionsexempel vertiefte, suchten meine Gedanken Karoline auf, die seit jenem Nachmittag in einer sonderbaren Laune umherging und seit Tagen schon die eifrigsten Vorbereitungen machte zur Geburtstagfeier des Kleinen, obwohl sie sich sehr elend fühlte und ihn kaum zu beachten schien in meiner Gegenwart. Aber daß sie des Kindes Herz mit allerlei Liebenswürdigkeiten heimlich zu gewinnen trachtete, das erfuhr ich durch dieses selbst. Heute früh erst hatte er mir freudestrahlend erzählt: »Du, Tante, was glaubst du, was mir Mutter schenkt übermorgen? Ich weiß es – groß ist's und braun und läuft auf vier Beinen.«

»Bilde dir nichts ein,« sagte ich kühl, obwohl ich wußte, daß im Stall der Ackerpferde ein Pony seit ein paar Tagen stand, den Karoline, praktisch wie sie war, einem Karussellbesitzer abgekauft hatte, dessen blitzendes Zelt auf dem Dorfplatz stand. Das Tierchen zog, mit einer Binde vor den Augen, die Maschine im ewigen Rundgang. Der Eigentümer hatte zu Lorenz gesagt, es sei zu schwach für diese Arbeit. Lorenz hatte zu dem Inspektor davon gesprochen, und dieser, der des Jungen Wunsch kannte, hatte es Karolinen mitgeteilt. Da der Pony tatsächlich preiswert war, erstand sie ihn für den Jungen. »Für die paar Jahre, die Hans Jörg es benutzen wird, reichen des Tieres Kräfte vollauf,« meinte sie. Ob Jörg Rhoden etwas wußte von diesem lebendigen Geburtstagsgeschenk, ahnte ich nicht.

Daß Johanna nicht krank war, das wußte ich bestimmt, auch wollte ich auf keinen Fall Hans Jörg mitnehmen zu ihr. Ich brachte ihn auch richtig von seinem Vorhaben ab und installierte ihn bei der Pastorin, die ihm ja heute etwas bieten konnte: einen Spielkameraden von seinem Alter. Der Pastor versprach den Jungen einen Spaziergang zu den Hünengräbern, und darüber entsagte Hans Jörg seinem Plan, Tante Jo zu besuchen, aber grüßen solle ich sie, trug er mir wiederholt auf.

Johanna traf ich in ihrer Stube vor dem geöffneten Schreibtisch, in dessen Schränkchen eine ganze Menge Photographien standen, alle von dem Kind, die letzte und größte, ein Amateurbildchen, das Fritz Breitenfeld von ihm geknipst hatte, in der Mitte.

»Kommst du wirklich einmal, Anna?« fragte sie. »Das ist lieb von dir. Wie geht es drüben?«

»Ich soll fragen, ob du wirklich krank bist, Johanna!«

»Wer fragt das? Karoline?«

»Nein, Jörg Rhoden.«

Eine feine Röte stieg ihr ins blasse Antlitz. »Ach, nicht eigentlich – aber ich muß doch einen Grund für mein Nichtkommen angeben, nicht wahr?« sagte sie, trübe lächelnd, »und ganz erlogen ist's auch gerade nicht, ich fühle mich matt, und es wäre mir, abgesehen von der Unmöglichkeit, nach den letzten Vorgängen hinüberzukommen, auch so eine große Qual gewesen, diese Komödie weiterzuspielen. Ich bin beinah glücklich, durch Karolinens Benehmen verhindert zu sein, der Einladung zu folgen. Wenn ich nur nicht so schreckliche Sehnsucht hätte nach dem lieben kleinen Kerl!«

»Er ist bei Pastors und läßt dich grüßen; er bekommt ein Pony von Karoline, und darauf reitet er zu Tante Jo. Ich hoffe immer noch, Karoline soll ihre Torheit einsehen, und dann kannst du ihn öfter wieder haben.«

Sie schüttelte traurig den Kopf und brach schnell ab. »Du trinkst doch heute den Tee mit uns?« fragte sie, »ich glaube, es ist gleich so weit. Gehe immer voran in den Saal, ich komme sofort nach.«

Drüben in dem großen behaglichen Raum, dessen mächtiger Kachelofen die herbstliche Kühle vertrieb, und in dem der gedeckte Tisch schon unter dem Kronleuchter stand, saßen auf dem Sofaplatz in dem hinteren Teil des Saals, eine Lampe vor sich auf dem runden Tisch, die drei Damen, mit Lesen, Handarbeiten und dergleichen beschäftigt. Es war natürlich ein großes Freuen über meinen Besuch, aber alle drei bestürmten mich sogleich mit Fragen nach Johanna. »Sie ist so sehr verändert seit einiger Zeit, sonst hatte sie doch ein herzliches Wort, ein freundliches Lächeln für uns, jetzt sitzt sie da wie abwesend,« klagte die Majorin von Zwingerbrück, und die Hofdame fügte hinzu: »Sie muß Schreckliches erlebt haben trotz ihrer Jugend und irgendwie daran erinnert worden sein – so ist man, wenn große Seelenqualen einen gepackt halten.«

»Nun,« meinte das nüchterne Fräulein Dürrhahn, »ich denke mir, sie ängstigt sich um die Karoline, deren Mutter fing auch so an, auch mit dem Bein und dem trockenen Husten; das geht ihr wohl durch den Kopf, und wenn's auch keine große Liebe ist zwischen den beiden, schließlich – Schwester bleibt doch Schwester.«

»Es ist möglich,« sagte ich, Platz nehmend, »daß Johanna sich ängstigt, aber nötig hätte sie es nicht; Frau Karoline ist ganz ordentlich wieder auf den Füßen, und der neunte Geburtstag des Jungen soll großartig gefeiert werden.«

Dann kam die Rede auf den Domizilwechsel des Doktors Braune. Die alten Damen lächelten sich verständnisvoll an, und die Majorin, die unglücklich verheiratet gewesen war, seufzte: »Nun, ich kann's ihr nachfühlen, unserer lieben Johanna – es ist besser so!« Fräulein Dürrhahn wußte von dem neuen Arzt, mit dem Doktor Braune sozusagen getauscht hatte, daß er verheiratet sei, erwachsene Töchter besitze und davon gesprochen habe, sich eine Villa zu bauen, weil sie kaum Platz in der alten Doktorwohnung fänden.

Dann kam Johanna, wir setzten uns zu Tisch, und das bevorstehende Fest in Groß-Zülla bildete das Gesprächsthema. Sie stritten sich lustig und amüsant, was für ein Spruch in diesem Jahr auf der Riesentorte stehen sollte, die Hans Jörg Jahr für Jahr von ihnen zu erhalten pflegte. Und endlich schlug Fräulein Dürrhahn vor, ein Verschen selbst zu machen und ihn darin zu vermahnen, die Tanten in Klein-Zülla nicht wieder zu vergessen, wie es in letzter Zeit geschehen sei, etwa so:

»Wir wünschen, lieber Hans Jörg, aufs beste
Dir vielmals Glück zu deinem Feste,
Und daß wir sind nicht gleich vergessen,
Sobald du den Kuchen hast aufgegessen.«

Johanna saß stumm unter uns und schien mit ihren Gedanken völlig wo anders, bis Fräulein Dürrhahn ihr ganz plötzlich den Teller füllte: »Essen, verehrte Oberin, essen! Wir dürfen nicht zugeben, daß Sie uns krank werden.«

Da nahm sie sich zusammen und aß. Auch ich sagte ihr noch einmal, als sie mich später durch den Garten begleitete: »Nimm dich zusammen, Johanna; du weißt nicht, wie bald du deine vollen Kräfte nötig haben wirst.«

Sie schüttelte den Kopf: »Ich habe zu nichts mehr Lust, zu nichts mehr Kraft, ich habe immer nur das eine Gebet zu Gott, daß ich nicht mehr zu leben brauchte!« –

Und ehe ich noch anfangen konnte, sie ein wenig zu schelten, hatte sie mich verlassen und war in der Nacht verschwunden. So ging ich betrübt allein weiter mit meinem Laternchen und holte mir den Jungen aus dem Pfarrhaus ab, wo ich ihn mit heißen Wangen bei einem Buch traf, vor dem er mit seinem neugewonnenen Freund Willy saß. Sie lasen an dem großen Familientisch in der Wohnstube vom gehörnten Siegfried.

Feuer und Flamme war das Kind auf dem Heimweg, und das Hünengrab, die Siegfriedssage und der Drache wirbelten bunt durcheinander in seinem Köpfchen. Als wir leise durch den Flur des Groß-Züllaer Herrenhauses gingen, um unsere Zimmer zu erreichen, trat Karoline plötzlich aus der Stubentür und fragte das Kind, es bei den Schultern fassend: »Wo bist du gewesen?«

»Bei Willy!«

»Wer ist denn – –?« Sie besann sich nicht gleich.

»Er war in der Pfarre, Frau Karoline. – Was haben dir Onkel und Tante Pastor gesagt, Hans Jörg?«

»Viele Grüße!« bestellte er, und glücklich, wie er war, legte er die Arme um den Hals Karolinens und hielt ihr die Wange zum Kuß hin.

»Sprichst du die Wahrheit, Bengel?«

Da ließ er sie los und sah sie mit trotzigen Augen an; ohne ein Wort wandte er sich und lief der Treppe zu.

»Vielleicht erkundigen Sie sich bei Pastors selbst,« sagte ich ruhig. »Gute Nacht, Frau Rhoden!«

Ich folgte dem Kind, verletzt bis ins tiefste Herz. Der Schall von Karolinens heftig zugeworfener Tür eilte uns nach und erstarb schütternd an den Wänden des oberen Korridors.

*

Hans Jörgs Geburtstag brach an. Der Knabe wurde zunächst an seines Vaters Bett gerufen und kam selig mit einer kleinen silbernen Taschenuhr zurück. Außerdem trug er voll Stolz ein Portemonnaie in der Hand, das in neuem Kleingeld drei Mark enthielt. Das erste Taschengeld, das er von nun an jeden Monat erhalten sollte.

Ich hatte ihm die deutschen Volksmärchen geschenkt, wofür er mich stürmisch abküßte. Und dann gingen wir zum Frühstück hinunter, das heute in der Wohnstube Karolinens eingenommen wurde, weil man im Eßzimmer bereits mit dem Decken der Tafel begann. Der Gärtner brachte Blumen und die ersten Weintrauben vom Züllaer Spalier, die er besonders für das Geburtstagskind aufgespart hatte, die Mamsell erschien mit einem Kuchen, und der alte Friedrich überreichte eine kleine Reitpeitsche mit silbernem Köpfchen: »Sieh, Jungchen, mit der Gerte in der Hand hat dein Herr Vater das Reiten erlernt, dazumal, da war ich noch Reitknecht bei dem seligen Herrn Großvater. Dein Herr Vater hat mich die Reitpeitsche mal als Andenken geschenkt. Vielleicht tust sie mal brauchen, da mög sie dich viel Glück bringen!«

Der beglückte Junge dankte dem Alten ganz gerührt und ließ die kleine Peitsche kaum beim Frühstück aus der Hand.

Karoline saß stumm dabei, nachdem sie ihn auf die Stirn geküßt hatte. Als er mit seinem Frühstück fertig war, faßte sie ihn an die Hand und sagte: »Draußen, im Garten, findest du auch etwas von mir, komm mit.« Er riß sich aber schon los, ehe wir noch die Tür im Flur erreicht hatten, und als wir ihm folgten, sahen wir ihn schon vor dem Pony stehen, um dessen Hals er beide Arme geschlungen hatte, und den er in grenzenlosem Jubel stürmisch auf die borstige Mähne küßte.

»Mein Pferd! Mein liebes, liebes! Wie heißt du denn? Lorenz, den Namen, den mußt du doch wissen.«

»Ich weiß ihn nicht, Junkerchen! Du kannst 'n ja selbst benamsen.«

»Mutter, sag doch, wie soll er heißen?« rief Hans Jörg ihr zu. Dann stutzte er, sich einen Augenblick besinnend. »Ich hab's! Ich hab's – Sleipner soll er heißen, davon hat Onkel Pastor gestern erzählt, Mutter!« Und er war der stolz lächelnden Frau entgegengesprungen. »Ich danke dir auch viele, viele tausend Mal, liebe Mutter!« Und gleich hinterher: »Darf ich's der Tante Jo zeigen, darf ich?«

Sie ward blaß, und das Lächeln erstarb; in peinvollem Zögern stand sie da.

»Ach, bitte, bitte!« stammelte der Junge.

»Nein, Hans Jörg,« mischte ich mich ein, »nicht heute, du kannst noch nicht reiten, und Mutter müßte sich ängstigen. Heute nicht.«

»No,« meinte Lorenz, »ich gehe ja doch nebenher und führe das [Tier], was soll dem Kind denn passieren?«

Ich sah Hans Jörg flehentlich an, hinter Karoline stehend, und da verstand er mich.

»Aber einmal um den Rasenplatz darf ich doch?« Und als Karoline nickte, half Lorenz ihm in den Sattel, und das Kerlchen saß so sicher und fest darin, daß es eine Freude war. Und dann schwenkte er das Hütchen zum Fenster seines Vaters hinauf, und ein jubelnder Schrei: »Väterchen, ich freue mich so!« flog zu ihm hinauf.

»Haben Sie noch etwas für mich zu tun?« fragte ich Karoline, die neben mir stand und jede Bewegung des Kindes betrachtete.

Sie schüttelte den Kopf, ohne die Blicke von Hans Jörg zu lassen. »Nein! Und der Junge hat ja wohl Ferien heute?«

»Ja, Hans Jörg hat Ferien, er braucht mich nicht, wenn Sie also erlauben, möchte ich Johanna besuchen; sie wird sich sehr einsam fühlen heute – meinen Sie nicht, Frau Karoline?«

»Ganz wie Sie darüber denken,« antwortete sie gleichgültig.

»Ich danke Ihnen, Frau Rhoden,« sagte ich, und bald darauf schritt ich rasch durch den Park, froh, so ohne weiteres fortgekommen zu sein. Heute würde Hans Jörg mich nicht vermissen, er hatte eine Uhr und ein Pferd und einen Spielkameraden.

Den ganzen Tag über saß ich bei Johanna. Wir sprachen von vergangenen schweren Tagen, von ihrer nie ersterbenden Reue, von ihrer Liebe zu dem Kinde; gegen drei Uhr machten wir einen einsamen Waldspaziergang. Daß der Junge heute in all seiner Seligkeit zu ihr gewollt hatte, das machte sie glücklich. »Wenn er nur so bleibt, aber das ist ja nicht anzunehmen,« meinte sie, »wenn er mir so systematisch fremd gemacht wird. Aber es muß ja wohl so sein, ich muß es tragen.«

»Das wird vorübergehend sein,« tröstete ich immer wieder, »Karoline muß zur Einsicht kommen.«

Und dann saßen wir wieder im behaglichen Zimmer beim Kaffee, und Johanna zeigte mir ein Paketchen feiner schwarzer Jungenstrümpfe. »Könntest du die ihm wohl mit unter seine Wäsche tun – andere Sachen getraue ich mich gar nicht ihm zu schenken. Und dann noch dieses Bild von seinem Großpapa, das soll er auf seinen Arbeitstisch stellen. Ich lasse ihm sagen, er möchte so gut und brav werden, wie der einst war.«

Sie weinte dabei immer leise vor sich hin, dann raffte sie sich aber gewaltsam zusammen, trocknete die Tränen und sprach von anderen Dingen mit wahrer Selbstverleugnung. Sie erzählte scherzhafte kleine Geschichten von den Wortgefechten der Hofdame und der Lehrerin, und daß sich die beiden trotz aller Plänkeleien gern hätten, und wie drollig zuweilen die Majorin dazwischenfahre, wenn jene beiden nicht zur Ruhe kommen könnten über ihre Schraubereien.

Ehe wir uns versahen, war es Abend geworden, und die durchdringende Stimme des Fräulein Dürrhahn, das Lachen der Hofdame erschollen vor unserer Stubentür. Die Damen waren zurückgekehrt und wollten ihrem Fräulein Oberin den Festbericht bringen.

»Ach, lieber Gott!« seufzte Johanna leise, indem sie sich erhob, um den Eintretenden entgegenzugehen. Sie waren alle drei in bester Laune, sie hatten jede ihrer lieben jungen Oberin etwas mitgebracht – Kuchen, Blumen, Konfitüren, und es wäre ganz besonders reizend gewesen heute, die Breitenfelds wären doch famose Leute und hätten versprochen, zum nächsten Stiftungstag zu kommen. Ihr lieber Patronatsherr sei ein bißchen still gewesen, »aber ich bitte Sie, Johanna – bei dem Leiden, immer so jahraus, jahrein an den Sessel geschmiedet, das ist doch kein Wunder!« Die Neuhofer langweilig wie immer, die neue Frau Oberförsterin – na, das weiß man noch nicht, noch zu sehr Unschuld vom Land, hat kaum den Mund aufgetan, um ja und nein zu sagen; die pastorliche Frau Tochter wäre der Abklatsch ihrer prächtigen Mutter, ihr Junge stäche aber gegen das Junkerchen ab wie ein Pony gegen ein Vollblut, aber sonst wohlerzogen und artig. Das Breitenfeldsche Baby sei wie ein kleiner Engel, aber eigensinnig, und die Frau Karoline habe sich als Hausfrau rein selbst übertroffen.

Ich rüstete mich nun zum Aufbruch, nahm die Geschenke für Hans Jörg und küßte Johanna. »Ich dachte noch immer, er würde ein Momentchen kommen,« flüsterte sie mir zu – »man wird so töricht, Anna; er ist ja nun wohl Feuer und Flamme für Karoline – Gott, es ist ja so natürlich!«

Als wir Abschied genommen hatten und ich die Treppe hinunterstieg, sah ich Lotte Breiter dort stehen. »'n Abend, Fräulein, wenn Sie erlauben, bringe ich Sie nach Hause; bin zwar auch eben erst gekommen von der Geburtstagsfeier, aber es ist graulich dunkel heute abend, und Sie haben keine Laterne mit.«

Ich wehrte ihr, aber sie bestand auf ihrer Begleitung. Sie war fast feierlich in ihrem schwarzen Tuchmantel mit drei übereinanderfallenden Kragen, wie er hierorts üblich ist zum Kirchgang, und unter dem Kapotthut leuchtete die weiße Krause ihrer Haube vor.

»Ich muß Ihnen nun man sagen, warum ich mich an Sie gedrängt habe, Fräulein Maaßen. Nämlich, eben hat's doch noch was gegeben in Groß-Zülla und war doch bis dahin alles zur Zufriedenheit abgegangen.«

»Was gab's denn schon wieder – um Gottes willen?« sagte ich, erschreckt stehen bleibend, und versuchte in der Dunkelheit das Gesicht der alten Frau zu erforschen.

»Nur nicht stehen bleiben, Fräulein Maaßen, kommen Sie doch man,« bat die Alte, mich weiterziehend, »hier kann doch gerade die schmale Stelle sein, und dann fallen Sie noch in die Zülla. Jott, es is ja gar nich mal was, wenn's 'ne andere Mutter und 'n anderer Sohn wäre. – Also, der Junge ist heute ganz aus dem Häuschen vor Seligkeit, sein Vater gibt ihm ja nu von heute an Taschengeld, na, das wissen Sie ja, und so ein kleines Portemonnaie hat er, mit drei Mark drin, und seine Mama hat ihm nach Tische noch ein Ausgabebuch geschenkt, damit alles ordentlich zugeht. Und wie vorhin die Gäste fort sind, da fragt ihn seine Mutter, die Gläser und feines Porzellan wieder in den Wandschrank stellte, auf dem Flur, was er nun wohl machen werde mit dem vielen Geld. ›Ach, das habe ich gar nicht mehr!‹ sagte da der Junge ganz vergnügt, der ihr Gläser zureichen half, wie ein kleiner Kavalier – zu niedlich. ›So?‹ fragte Frau Rhoden, ›wo ist's denn geblieben?‹ – ›Das habe ich der Arbeiterfrau Lüders hingeschickt, sie soll ihrem Jungen was dafür kaufen, er hat heute auch Geburtstag und hat gar nichts gekriegt, weil alles Geld immer nur für Gustav seine Medizin weggeht in die Apotheke; das hat mir Lorenz heute früh erzählt.‹

Und nun, was meinen Sie wohl, Fräulein? 'ne andere Mutter hätte sich gefreut innerlich wie nicht gescheit, weil ihr Kind mitleidig und teilnahmsvoll ist – und unsere Frau, was tut sie? Kreidebleich wird sie und kriegt den Jungen zu fassen und gleich über den Stuhl gezogen und – hintenvor! Ich stand da nicht weit von und half Friedrich das Silber zählen, und ich stürze auf sie zu und schreie: ›Aber, Frau Rhoden!‹ Da stieß sie mich vor die Brust, daß es mir noch weh tut, am liebsten hätte sie mich auch geschlagen. Na, der Junge tat keinen Muck, aber er sah aus wie die Wand, als er wieder aufrecht stand und seine Mutter mit finsterer Miene betrachtete. Und sie hielt, ganz keuchend vor Aufregung, das Jungchen an den Schultern und sagte: ›So, du Schlingel, merk auf, das kriegst du jedesmal, wenn du zu noble Mucken hast – ich will dich lehren zu verschwenden, du sollst geben nach deinen Verhältnissen – verstanden? Fünfzig Pfennig wären genug gewesen. Hoffentlich merkst du dir diesen Denkzettel, weil gerade dein Geburtstag ist.‹

Damit ließ sie ihn stehen, packte ihre letzten Gläser weg, schloß den Schrank zu und ging in ihre Stube. Ich trat zu dem Kind und wollte es trösten, da lief es wie gejagt die Treppe hinauf. – Nun, Fräulein, was soll denn man bei die Behandlung bloß werden aus so 'nem Jungen? Ich hätte vor Kummer beinah geheult.«

Mich trieb es jetzt, Groß-Zülla zu erreichen. Lieber Gott, die alte Frau hatte recht, es ging nicht ohne Krach mehr ab. »Machen Sie nur, daß Sie nach Hause kommen, Lottchen,« sagte ich, »ich muß doch rascher gehen, und im übrigen – es kann doch dem Kind nicht schaden, wenn's mit Geld umgehen lernt. Gute Nacht!«

»Ach, das glauben Sie ja selbst nich, Fräulein Maaßen!« rief sie mir empört nach, »und mit Prügel lernt der nichts!«

Und ich dachte: Wie recht hast du!

Als ich in des Jungen Zimmer trat, atemlos vom eiligen Gehen, saß das arme Kerlchen am Tisch und blätterte in seinem Märchenbuch. Ich wollte nicht tun, als ob ich etwas wüßte, aber ich erschrak vor dem Ausdruck von Leid in dem schönen Kindergesicht, er war augenblicklich Johanna erschreckend ähnlich mit dem tiefen Schatten unter den trostlosen Augen.

»Na, Liebling, war's schön?« fragte ich, mich unbefangen stellend. »Was liest du denn?«

»Ich blättere nur so, Tante,« antwortete er.

»Wirst müde sein, mein Junge, komm, du gehst zu Bett.«

Er nickte und schlug das Buch zu.

»Hast du Väterchen schon gute Nacht gesagt?«

»Ja, vorhin. Er sitzt im Dunkeln, im Erker, wie alle Abend und hat mich geküßt, und ich sollte noch bei ihm bleiben, aber ich friere so sehr heute abend, es ist kalt hier – gelt, Tante? Oder was es sonst ist.«

»Sieh mal,« begann ich und ließ den bebenden jungen Körper sich an mich schmiegen, »das schickt die Tante Jo mit Glückwünschen, es ist das Bild von deinem Großpapa, dem sollst du ähnlich werden, Hans Jörg, läßt sie dir sagen.«

Er nickte und sah stumm auf das Bild.

»Und da, so schöne, feine Strümpfe, die hat sie dir selbst gestrickt, die Tante.«

Er streichelte über das Päckchen, dann sagte er wieder: »Mich friert so sehr, Tante.«

Ich zog ihn eiligst aus und legte ihn nieder, die schlanken Glieder flogen nur so unter der leichten Decke, aber die Augen waren weit geöffnet und sahen mich fragend und trostlos an.

»Bist du nicht müde, mein lieber Kerl?«

»Nein!« Er schüttelte den Kopf.

»Soll ich noch mit dir sprechen – ja? Nun, dann erzähle mir zuerst von deinem Reiten, und was sagt dein Freund Willy zu dem hübschen Pferdchen?«

»Ich mag den Pony nicht haben!« stieß er hervor, und dann brach er in heiße Tränen aus, aber kein Wort der Anklage. Lange nach Mitternacht schlief er ein, und am anderen Tag saß ein erschöpfter, bleicher Junge beim Unterricht mir gegenüber. Der kleine Pony blieb vergessen stehen im Stall, und Karoline schritt mit aufeinandergebissenen Lippen und bösen Augen an uns vorüber.

Das Kind geht hier zu Grunde, dachte ich – so darf es nicht bleiben!

Die Entscheidung auf meine bange Frage kam wieder einmal rascher, als alle dachten. Tagelang schlich das Kind umher, nicht wissend, was es beginnen, wie es wieder Stellung zu seiner Mutter finden sollte. Karoline aber hielt mir eine Standrede. Es war am folgenden Sonntag, als ich Hans Jörg durch fortwährendes Bitten und Vorstellungen dahin gebracht hatte, mit Lorenz in den Stall zu dem Pferdchen zu gehen, weil dieses doch unschuldig wäre und sich vielleicht nach ihm sehne. Ich saß nun in meiner Stube mit Briefschreiben beschäftigt, als sie eintrat im schwarzen Sonntagskleid, schwarzer Taftschürze, den unvermeidlichen Schlüsselkorb am Arm.

»Der Junge hat alle schlimmen Gewohnheiten seiner Eltern,« begann sie, »er wirft das Geld weg, sobald er es hat, und er trotzt mit den Leuten, die ihn belehren wollen. Er wird Ihnen ja alles gleich geklatscht haben, das merke ich daraus, daß Sie ihm zur Gesellschaft trotzen. Aber das kann ich Ihnen sagen, Fräulein Maaßen, wenn nicht mit allergrößter Strenge die Rhoden-Cordeschen Edelmannsmucken ausgetrieben werden, so wird er ein ebenso lottriger Wirtschafter wie – wie seine Großmutter zum Beispiel. Einem Verschwender aber hinterlasse ich keinen Groschen – verstehen Sie? Nötig hab' ich's ja, Gott sei Dank, nicht, ihn als meinen Erben zu betrachten. Also wirken Sie gegen diesen anererbten Leichtsinn, wenn Sie es gut meinen mit ihm. Und dann, die Übelnehmereien bitte ich ihm ebenfalls möglichst auszutreiben, ich bin mit derartigen Dingen zur Genüge geplagt seitens seines Vaters, und auch Johanna hat von jeher Genügendes darin geleistet.«

Sie wollte gehen, ohne eine Antwort abzuwarten, da rief ich ihr nach: »Hans Jörg hat mir kein Wort gesagt, daß Sie ihn im Zorn gezüchtigt haben an seinem Geburtstag, das habe ich von anderer Seite und zu meinem tiefsten Bedauern erfahren. Daß das Kind empfindlich darüber ist, finde ich sehr natürlich; der kleine Kerl müßte kein Ehrgefühl besitzen, wenn er solche jähe Bestrafung für eine Sache, die weit eher zu loben wäre als zu tadeln, erleidet. Was er getan hat, zeigt einen so glücklich veranlagten Charakter, daß jede Mutter erfreut sein würde. Und an Stelle eines gerührten Mutterkusses bekommt er eine im Jähzorn verabreichte Prügelstrafe. Sie werden ihn seelisch und körperlich verderben, meine verehrte Frau Rhoden, wenn Sie in ähnlicher Weise weiter verfahren. Ihre Drohungen, ihn zu enterben, aber – verzeihen Sie, daß ich auch hierauf zurückkomme – werden mich in meinen Erziehungsprinzipien nicht einen Augenblick schwankend machen.«

Sie war stehen geblieben, die Türklinke in der Hand, mit allen Zeichen der Empörung, daß ich mich unterstand, so zu sprechen.

»Dann macht in des Kuckucks Namen den Jungen zu einem Verschwender, mir kann's egal sein,« rief sie dann, sich zu einem Lachen zwingend, »wenn er Zülla mal verpulvert hat im ererbten Größenwahn, werdet ihr es wohl einsehen, daß ich recht hatte.«

Sie verschwand und schloß die Tür mit einem gehörigen Knall. Ich hörte, wie sie den Korridor entlang eilte, der Treppe zu. Tief erregt blieb ich zurück in dem Bewußtsein, es kann nicht, es darf nicht so weiter gehen. Nach kurzem Überlegen beschloß ich, Pastors zu besuchen und Hans Jörg mitzunehmen. Ich fand den Jungen im Stall. Er saß, dem Stand seines Ponys gegenüber, auf der Futterkiste, mit den Beinen schlenkernd, in zusammengekrümmter, schlapper Haltung und mit traurigen Augen. Er wurde ein bißchen belebter, als er hörte, daß er seinen Freund Willy besuchen sollte in der Pfarre, der morgen schon wieder abreisen mußte zum Schulbeginn.

In der Pfarre angekommen, ließ ich ihn bei Willy in der Wohnstube und ersuchte den Pfarrer um eine Unterredung unter vier Augen; dort schüttete ich ihm mein gequältes Herz aus und schloß mit den Worten: »Der Junge verkommt bei uns, lieber Herr Pastor, sein Vater ist zu kränklich, um ihn nach seiner Absicht zu erziehen, seine Mutter will gewiß das Beste, aber sie wird einen Egoisten aus ihm machen, und Tante Jos Einfluß ist leider ausgeschaltet neuerdings. Ich werde in meinem Wirken durch Karoline, durch deren beständige Tadel, behindert und bin nicht im stande, das arme Kind vor all den wunderlichen Experimenten Karolinens zu schützen. – Und was nun? Ich halte für das Beste, den Hans Jörg in eine Pension zu bringen, in der er gleichmäßig eine freundliche und liebevolle Behandlung erfährt, mit gleichalterigen und gleichstrebenden Jungen aufwächst und eine gute Schule hat.«

»Jörg Rhoden wird sich sträuben mit aller Macht,« antwortete Brinkmann. »Bedenken Sie, der Junge ist der ganze Inhalt von Rhodens Leben, er wird sich nur schwer von Hans Jörg trennen ...«

»Gewiß, aber das muß uns gleichgültig sein, darunter darf das Kind nicht leiden. Herr Rhoden ist übrigens ein zu einsichtsvoller Mann, der sein Kind nicht egoistisch liebt. Und Sie, Herr Pastor, müssen ihm das klarmachen, und das beste wäre, Sie könnten ihm sagen: ›Meine Tochter, die ich erzogen habe, die eine vorzügliche Erzieherin selbst ist, bürgt Ihnen dafür, daß das Kind in ihrem Haus die richtige, liebevollste Stätte finden wird, deren es so sehr bedarf.‹«

»Meine Tochter? Haben Sie denn mit ihr davon gesprochen?« fragte der Pastor.

»Nein, aber ich denke mir, es wäre das beste für das Kind und eine Beruhigung für die Eltern, und wenn ich Ihre Meinung über diesen Vorschlag kenne, will ich gern mit Ihrer Tochter reden.«

Er war nachdenklich geworden. »Na, überlassen Sie das mal mir und meiner Frau, liebe Anna,« sagte er dann, »ich will die Geschichte mit ihr besprechen und vielleicht gemeinsam auch mit unserer Tochter. Es ist aber, das muß ich sagen, kein übler Gedanke; sie sowohl wie ihr Mann haben des öfteren schon bedauert, keinen Gefährten für Willy zu haben. Iburg liegt gesund, das Gymnasium ist altbekannt als vorzügliche Lehranstalt. Daß unser Schwiegersohn ein Prachtmensch ist, das wissen Sie so gut wie wir.«

»Freilich!« unterbrach ich ihn, »sonst hätte ich gar nicht davon angefangen. Wenn Sie sich also klar geworden sind, so besuchen Sie unseren armen Herrn recht bald, nicht wahr?«

»Das wird ein Stückchen Arbeit geben,« meinte er, sein schwarzes Tuchkäppchen rückend, »besonders wenn ich an Frau Karoline denke.«

Als ich in die Wohnstube kam, wurde dort gerade von der jungen Pastorin der Tisch gedeckt. »Sie erlauben doch,« fragte sie mit ihrer lieben, schlichten Art, »daß Hans Jörg heute einmal der Gast von unserem Willy sein darf? Die Jungen freuen sich so sehr darauf, zusammen zu bleiben.«

»Gewiß, ich werde Hans Jörg bei seinen Eltern schon entschuldigen, Frau Pastor. Wo sind denn die Jungen jetzt?«

»Johanna Nordmann kam eben, uns zu besuchen und ist mit Hans Jörg ein bißchen in den Garten gegangen, und meine Mutter macht indessen Willy für das Essen fein.«

Ich ging in den Garten und fand Johanna und Hans Jörg eng umschlungen in der fast kahlen Laube sitzend. Hans Jörg hatte seinen Kopf an Johannas Schulter gelehnt und schluchzte herzbrechend; das ganze Leid, das das kleine Kerlchen mit sich umhergetragen hatte, floß ihm nun in der lieben Nähe der Tante Jo aus dem gequälten Herzen.

Ich wandte mich um, als ich das sah, und wanderte in den Gängen des Pfarrgartens umher und von da durch die kleine Pforte, die immer offen war, auf den Kirchhof; ich wollte diese ihnen so unverhofft geschenkte Stunde nicht stören. Als es halb eins schlug, kam Johanna auf dem Mittelweg des Friedhofs daher, und in ihren Augen stand eine traurige Frage: Was habt ihr aus dem Kind gemacht? Aber sie sagte nur: »Hans Jörg sieht so blaß aus, Anna, was ist's mit ihm?«

Ich überhörte es und fragte: »Darf ich heute bei euch essen?« Und als sie nickte, nahm ich ihren Arm und schritt mit ihr gleich durch die große Kirchhofspforte auf den Weg nach Klein-Zülla und begann von diesem und jenem zu sprechen, nur nicht von dem, was den Jungen so traurig machte. Sie aber ließ nicht locker.

»Er will es mir nicht sagen, liebe Anna, aber von dir verlange ich es zu erfahren. Ich will es wissen

»Ja, Herzenskind, wir sprechen nachmittags darüber,« bat ich, »hier auf der Landstraße geht das nicht. Er hat eine kleine Ungerechtigkeit erlitten, und, weißt du, er ist ein besonders stolzes und zugleich auch weiches Kerlchen, unser Hans Jörg, da geht so was doppelt tief.«

»Karoline!« sagte sie leise. »Wer anders sollte denn auch das Kind wohl kränken als sie? Ach Gott, Anna –« Sie schwieg.

Als ich ihr nach dem Essen in ihrem stillen Zimmer alles auseinandersetzte und von dem Plan sprach, den Pastor Brinkmann und ich gefaßt hatten, fand ich sie sofort einverstanden. »Es soll mir eine Erlösung sein, wenn ich ihn erst bei guten Menschen weiß, Anna,« sagte sie, »ich sehe ihn ja so wie so nicht, oder doch nur höchst selten und weiß ihn mit Freuden den Konflikten fern, die ihn jetzt umgeben. Du hast das richtige gefunden, Tante Anna.«

So bereitwillig wie sie, die ja auch nichts zu verlieren hatte bei dem Weggang, fand Pastor Brinkmann den Vater keineswegs. Als ich gegen fünf Uhr nach Hause kam, erfuhr ich von Friedrich, daß der Herr Pastor seit einer halben Stunde zum Besuch bei Herrn Rhoden sei, und daß auch Karoline ihrerseits Besuch bekommen habe von der gnä' Frau aus Neuhof und den Fräulein Töchtern. Das Stubenmädchen trug eben einen Teller voll frisch gebackener Waffeln in das Speisezimmer, und Friedrich erkundigte sich, ob er noch eine Tasse für mich bringen dürfe?

Ich dankte und suchte meine Stube auf. Und da saß ich nun in der sonntägigen Stille des alten Hauses, hatte ein Buch vor mir liegen und wollte lesen, aber es ging nicht. Im Kachelofen brannte ein frisch aufgelegtes Holzscheit, und Friedrich brachte mir leise und schmunzelnd eine Tasse Tee. »Ich weiß ja längst, daß Fräulein Maaßen vor der Gnädigen aus Neuhof davonläuft,« meinte er, »aber den Tee sollen Sie doch nicht entbehren, und für den Hans Jörg habe ich ein paar Waffeln reserviert, der muß ja nun wohl balde kommen.«

Nach einer Stunde ungefähr klopfte es, und Pastor Brinkmann kam zu mir. Er hatte sich heiß geredet. »Fräulein Anna, gehen Sie nur mal hinüber zu ihm, und sprechen Sie weiter; in der Hauptsache ist er ja wohl einverstanden, aber nun kommt Karoline daran.«

Lange saß ich dann drüben bei dem armen Mann an jenem Nachmittag und sah, wie es in ihm arbeitete und wühlte und wie er endlich sagte: »Ich sehe das alles ein und begreife, daß es geschehen muß, aber wie ich ohne Hans Jörg leben soll, das vermag ich noch nicht zu begreifen, liebe Anna. Er war mein Sonnenstrahl, meine einzige Freude, die Minuten habe ich gezählt bis zu der Zeit, wo er in mein Zimmer kommen mußte – und nun – und jetzt?«

»Es gibt Ferien, Herr Rhoden, und wenn Sie jetzt die Minuten zählen, so zählen Sie ferner die Tage und Wochen, und während der Ferien, da hat er seine ganze freie Zeit für Sie übrig.«

»Und Sie? Sie gehen dann auch?« fragte er traurig.

»Doch nur bis Klein-Zülla, Herr Rhoden, und wenn Sie wünschen, komme ich, so oft Sie wollen, und Sie diktieren mir in die Feder – nicht wahr?«

»Ich bitte Sie darum,« sagte er, »kommen Sie, kommen Sie täglich! Einen Menschen, der mit mir denkt und fühlt – einen einzigen, den muß man doch am Ende haben.«

»Ja!« versicherte ich. »Das muß man, das kann man verlangen.«

Und dann schwieg der arme, in seiner Jugendkraft gebrochene Mann lange Zeit und saß in schmerzlichem Sinnen versunken. Ich wollte mich entfernen, da hielt er mich. »Bleiben Sie – nur noch eine Frage, liebe Anna.« Seine Stimme klang merkwürdig heiser. – »Ich möchte Ihnen noch eine Aufklärung geben, nämlich, als Breitenfeld das letzte Mal hier war, da tat er eine Äußerung, die mich erschreckt hat. Da fragte er mich, als wir beide hier allein saßen und von alten Zeiten sprachen, plötzlich: ›Jörg, nimm mir die Frage nicht übel – sag mal – war es wirklich ein Unglück, das du mit den Gäulen hattest, oder – hast du ein bißchen nachgeholfen?‹

Ich verstand ihn ja sofort, ich wußte, er hatte die Kopie meines Testaments aus meiner Tasche genommen, als ich ohnmächtig dalag, er wußte, daß in meinem Leben irgend etwas nicht stimmte, er ahnte es auch schon länger wohl, denn wir kannten uns so genau – wenn man ein ganzes Jahr lang jede Minute miteinander verlebt hat in fernen Ländern, dann liest einer dem anderen jeden Gedanken aus den Augen.

Aber hier hatten ihn seine Kombinationen im Stich gelassen, er wußte nur, daß irgend etwas vorlag, hatte mich auch ein paarmal gefragt, warum ich denn meine Lust am Leben eingebüßt habe, aber ohne Antwort zu bekommen. Ich habe ihm auf die Frage, die er vor drei Tagen hier aussprach, geantwortet, daß lediglich ein böser Zufall waltete, der mich zu einem lebenslänglichen Krüppel machte, und er hat es mir geglaubt.

Vielleicht haben auch Sie, liebe Anna, vielleicht gar Johanna ähnliche Zweifel gehegt? Sollte es der Fall sein, dann bitte ich Sie, mir zu glauben, daß ich nie daran gedacht habe, meinem Leben ein Ziel zu setzen, so unglücklich, so verzweifelt ich auch gewesen bin. Ich bin an dem Unglück selbst schuld, aber nur insofern, als ich mit Entsetzen an das Leben gedacht habe, das meiner von dem folgenden Tag an wartete, und darüber das Aufpassen als Pferdelenker vergaß. Ein Feigling bin ich nicht, und in dem Moment auszureißen, wo ein Paar Augen, die das größte Anrecht haben an mich und mein Leben, der Heimat entgegensahen in Schmerz und Bangen, in dem Augenblick, wo ich mein Kind in die Arme schließen sollte – das werden Sie und Johanna mir wohl nicht zutrauen. Jetzt bin ich zwar nur noch ein Viertelmensch, aber ich lebe doch, und ich will weiter leben, bis – –«

Er brach ab.

»Man läßt das Hoffen nicht, liebe Anna,« fuhr er dann fort, »ich denke noch immer, Karoline wird milder werden, wird einsehen, daß sie mich nicht hindern darf, Johanna das zu geben, was ihr zukommt – meinen Namen. Sie versichert mir ja, so oft ich es hören will, daß sie mich nicht aus Neigung geheiratet, daß ihre Liebe immer nur Groß-Zülla gegolten habe. Mit einer Offenheit, die unglaublich ist, erzählte sie es mir so und so oft, und deshalb bleibe sie, setzte sie hinzu. Einmal aber muß ihr doch die Erkenntnis kommen – glauben Sie nicht auch?«

Ich wollte ihm die Hoffnung nicht nehmen, ich nickte nur.

Unser Gespräch war kaum beendet, da klopfte es und Karoline trat ein; in der leichten Dämmerung konnte ich doch noch die flackernden Augen, das heiße Gesicht erkennen.

»Also, du hast mal wieder alles über den Haufen geworfen,« sagte sie gereizten Tones zu ihrem Mann, »zuerst warst du doch vollkommen einverstanden mit der Hauserziehung, und jetzt – aber da darf ich mich wohl bei Ihnen bedanken?« wandte sie sich an mich.

Jörg Rhoden antwortete für mich: »Ich glaubte nach reiflicher Überlegung auch in deinem Sinn zu handeln, Karoline. Eine Erziehung im Hause hat etwas Abgeschlossenes, Exklusives, und du willst doch, wie du stets betonst, keinerlei hochmütige Mucken in dem Kind großziehen; wenn er aber für ernste Arbeit taugen soll, muß er beizeiten lernen, mit andern zu verkehren.«

»Na, das hätte doch wirklich noch Zeit gehabt,« warf sie ein.

»Durchaus nicht, Karoline; er muß nach Sexta jetzt, sonst wird er zu alt, um das Gymnasium durchzumachen.«

»Herr Gott! Wozu denn das Gymnasium? Schicke ihn doch in eine Realschule; was braucht denn einer, der zeitlebens auf seiner Klitsche sitzt, Griechisch und Lateinisch?«

»Das wäre gegen unsere Familientradition,« antwortete Jörg Rhoden, kühl und mit gerunzelter Stirn zu ihr hinüberblickend.

»Familientradition? Als ob Seine Durchlaucht von höchstfeinem Prinzen redet!« lachte sie auf. »Na – Familientradition – sei so gut!«

»Mein Urgroßvater, Großvater und Vater – alle haben sie das Gymnasium durchgemacht, alle haben sie in Bonn ein Jahr studiert, und alle sind sie dann beim Militär eingetreten und sind Offizier gewesen, bis der Vater sie rief, um das Gut zu übernehmen. Davon gehe ich für meinen Sohn auch nicht ab, es sei denn, daß ich sterbe, bevor er in der Ulanka steckt. Ich gebe zu, ich hatte die Absicht, Hans Jörg durch einen tüchtigen Lehrer bis etwa zur Sekunda hier im Haus vorbereiten zu lassen, weil ich glaubte, eine Trennung von ihm nicht ertragen zu können, aber Pastor Brinkmann hat recht, dem Jungen geschieht kein Gefallen damit, und der ist doch die Hauptperson bei der Geschichte. Folglich – er geht mit kommendem Neujahr nach Iburg.«

»Hoffart und Stolz wachsen auf einem Holz, pflegte mein Großvater zu sagen,« zitierte Karoline.

»Es redet jeder von seinem Standpunkt aus, Karoline, wie er es versteht. Übrigens – alle Achtung vor deinem Großvater, er ist ein rechtschaffener und ein kluger Mann gewesen, aber er war ein Bauerngutsbesitzer, und alle seine Vorfahren waren Bauern; ihm hätte es natürlich ferngelegen, seinen Sohn studieren zu lassen, wir aber – nun, ich sagte das schon vorhin ...«

»Dir wäre auch wohler, wenn dein Vater ein Bauer gewesen wäre mit vernünftigen Ansichten,« erklärte sie, »und mir damit auch.«

»Das erstere ist möglich, das zweite wohl gewiß!« gab er zu, trübe vor sich hin lächelnd. »Nun aber ist's genug; sei nicht böse, Karoline, ich bin angegriffen, laß es nun gut sein. Bitte, Fräulein Maaßen, wenn Hans Jörg kommt, schicken Sie ihn zu mir.«

Ich verließ das Zimmer, Herrn Rhoden gute Nacht wünschend; Karoline aber blieb sitzen auf dem Stuhl, auf dem sie vorhin Platz genommen hatte, in noch kampfbereiterer Haltung als vorher.

Als einige Minuten später Hans Jörg in mein Zimmer trat, fiel mir das heiße Gesicht des Kindes auf und sein verwirrter Blick.

»So furchtbares Kopfweh habe ich, Tante,« klagte er, und als ich nach seinem Handgelenk griff, fand ich einen jagenden Puls.

»Du mußt ins Bett, du wilder Strick. Warum bist du denn nicht viel früher gekommen?«

»Ich bin schon lange fort von Pastors,« antwortete er.

»So? Wo warst du denn?«

»Bei Tante Jo. Ich hatte solche Sehnsucht, und sie hat mich hergebracht mit Lotte Breiter bis vor die Tür. Du solltest mir etwas Tee kochen, Tante Anna, läßt sie sagen, und morgen den Doktor rufen.«

Ich führte das Kind ins Schlafzimmer, entkleidete es, brachte es ins Bett und legte dann auf den fiebernden Kopf eine kühle Kompresse. »Mir ist so schlecht, Tante Jo,« flüsterte er, »bleibe hier.«

Es war keine Viertelstunde, seit ich Herrn Rhodens Zimmer verlassen hatte, als ich wieder anpochte und eine heftige Rede Karolinens, die ich noch gehört, unterbrach.

»Na also, wenn ich keine Stimme haben soll bei seiner Erziehung, so geht mich der Junge, von diesem Augenblick gerechnet, auch nichts mehr an – nichts mehr! Und auch künftig nicht – du weißt, was ich damit meine! Sieh zu, wie du allein fertig wirst mit dem, was du dir aufgepackt hast. Ich habe mich lediglich des Jungen wegen mit der Wirtschaft geplagt, weil ich dachte, wir könnten doch einmal einen vernünftigen Menschen und einen guten Wirt für Zülla aus ihm machen, für einen grand seigneur spare und arbeite ich aber nicht, so torhaft bin ich nicht – basta!«

Ich stand da und kam nicht zum Sprechen, so überstürzten sich die Worte der zornigen Frau. Jörg Rhoden aber, der mir die Angst wohl ansah, fragte mich mit matter Stimme, was ich für ein Anliegen habe.

»Hans Jörg ist krank zu Hause angelangt, ich wollte Frau Rhoden eben bitten, herüberzukommen, er scheint starkes Fieber zu haben.«

»So schicken Sie zum Arzt,« sagte Karoline kurz und schritt an mir vorüber aus dem Zimmer; ich hörte, wie sie an Hans Jörgs Stubentür vorbeiging, den Korridor entlang der Treppe zu. Jörg Rhoden und ich sahen uns an, bittere Qual sprach aus seinem Blick.

»Klingeln Sie nach dem Emil,« sagte er dann, »er kann mich zu dem armen Jungen fahren; lassen Sie den Doktor holen, er ist heute abend bei Breitenfelds zum Whist, also den Wagen direkt dorthin. Unser neuer Züllaer Doktor ist mir noch so gänzlich unbekannt – also, den Doktor Liebe aus Scheibendorf.«

Als der Arzt nach ungefähr Fünfviertelstunden erschien, kam auch Herr von Breitenfeld mit. Er hatte gefürchtet, es sei etwas mit seinem Freund Rhoden geschehen und wollte ihm zur Seite stehen, nun war es der Junge, dem es galt. Er stand neben Jörg Rhoden, der noch immer im Fahrstuhl am Bett seines Jungen saß und angstvoll dem Ausspruch des Arztes entgegenlauschte. Dieser erklärte nach kurzer Besichtigung des stark delirierenden Kindes, daß sich zweifelsohne ein Scharlachfieber entwickeln würde, und daß die Pflege äußerst sorgsam sein müsse. »Wir haben eben eine Epidemie,« schloß er, »die leider recht schwere Fälle aufweist, also äußerst sorgsame Pflege und Absperrung. Wer wird die Wartung des Kindes übernehmen?« setzte er fragend hinzu.

»Ich natürlich, Herr Doktor,« sagte ich sofort.

»Na, ich will denn auch nur machen, daß ich fortkomme, meiner Kleinen wegen,« meinte Breitenfeld.

»Ja, allerdings, Herr Baron, und bitte, ziehen Sie sich um und waschen Sie sich gründlich, bevor Sie das Kind sehen.«

»Schön, wir fahren doch miteinander, Herr Doktor? Ich erwarte Sie unten bei Frau Rhoden, sie weiß wohl noch gar nichts? Wo ist sie denn anzutreffen, Jörg?«

»Meine Frau?« Herr Rhoden sah ihn verlegen an. »Ich glaube, sie wird unten sein. Bitte, erzähle ihr, daß Hans Jörg sehr krank ist,« bat der erschöpfte Mann.

Breitenfeld ging. Wir fuhren Jörg Rhoden wieder in sein Zimmer, und ich folgte dem Doktor Liebe dorthin, um mir noch Instruktionen für die Pflege geben zu lassen, nachdem ich den alten Friedrich am Bett des Kindes zurückgelassen hatte.

Mitten in den kleinen Vortrag des Arztes hinein kam Breitenfeld von seinem Besuch bei Karoline zurück. Er sah sonderbar aus, halb verwundert und halb verärgert, und sagte: »Du, Jörg, deine Frau erklärt, es tue ihr leid, aber sie könne nicht kommen – sie – hätte Scharlach noch nicht gehabt und möchte sich der Ansteckung nicht aussetzen. Na, nimm mir's nicht übel – aber das ist doch ein sonderbarer Standpunkt von einer Mutter! Ist's denn ausgeblasen, daß sie die Krankheit bekommen muß, Doktor?«

»Nein, Herr Baron, es gibt aber ängstliche Naturen, und Frau Rhoden – wie ist's denn jetzt mit ihrem Husten, Herr Rhoden?«

»Ich denke, er ist besser, sie klagt nicht,« beantwortete dieser die Frage.

»Aber allein wird Fräulein Maaßen es nicht leisten können,« meinte der Doktor.

»O, gewiß kann ich's! Darüber machen Sie sich keine Sorgen,« erklärte ich, »und für alle Fälle hole ich mir Lotte Breiter.«

Ich wünschte Herrn Rhoden gute Nacht, bat ihn, sich nicht zu ängstigen und wollte zu meinem Kranken zurückkehren, als Baron Breitenfeld nachkam und mich im Korridor festhielt: »Einen Augenblick, Fräulein Maaßen,« begann er flüsternd, »hören Sie mal, das ist ja eine Deibelsgeschichte – die Frau Karoline erklärt mir eben, sie habe sich mit Jörg entzweit wegen der Erziehung des Jungen, und sie gedenke für einige Zeit Zülla zu verlassen, denn sie habe es satt, sich täglich zu ärgern bis zum Sterben. Ich soll Jörg sagen, daß sie morgen verreisen will, wahrscheinlich werde sie nach dem Süden gehen, sie nähme Lotte Breiter mit. Der Doktor Liebe habe es längst gewünscht, daß sie dorthin solle; und mit dem Jungen könne ihr Mann dann machen, was er wolle, ihr sei es gleichgültig.

Na, ich habe ihr gesagt, daß, wenn ich einen Jungen hätte, ich auch derjenige sein wolle, der über Schule, Erziehung und derartiges zu bestimmen wünsche, und daß mir meine Frau da nichts hineinreden dürfe; außerdem wäre es aber wohl nicht der geeignete Moment, das Kind zu verlassen! Schwerebrett noch einmal – ob sie denn kein Herz im Leibe habe? Da – sie muß halb irrsinnig sein vor Wut – sagte sie: ›Der Junge? Was geht mich denn der Junge an? Der ist übrigens gar nicht verlassen, wenn ich nicht hier bin, passen Sie nur auf, da ist erstlich die Maaßen, und da erscheint die Tante Jo, die freuen sich über alle Beschreibung, wenn ich gehe – das glauben Sie mir, lieber Baron. Aber sagen Sie nur meinem Mann auch, das wäre nicht für immer, ich käme wieder, er solle sich nicht zu sehr freuen, er, und die andern auch nicht!‹ So ähnlich räsonierte sie.

Liebes Fräulein Maaßen – ich hatte ja keine Ahnung, daß hier irgend ein Konflikt entstanden ist; war es denn bereits öfter der Fall gewesen – oder neuerdings erst? Ja, und zum Henker, ich kann doch unmöglich dem armen Kerl so eine verrückte Bestellung machen.«

Ich war grenzenlos bestürzt über seinen Bericht. »Herr Baron, Karoline hatte einen kleinen Streit wegen Hans Jörg, der Junge soll in Pension – wünscht Herr Rhoden; wir alle, die das Kind lieben, wünschen es auch, nur Karoline weigert sich, und – sehen Sie, gerade ihr Einfluß ist dem Hans Jörg nicht gut! Bald überschüttet sie ihn mit Zärtlichkeiten und überreichen Geschenken, und bald schlägt sie ihn, weil er zum Beispiel einem armen Kind sein Taschengeld schenkte.«

»Das weiß ich alles, und daß nun der Pastor gekommen ist und dem armen Jörg Vernunft gepredigt hat, und daß der geistliche Herr dann zu ihr hinuntergestiegen ist und dort auf Karoline eingeredet hat, um sie gleichfalls zu überzeugen – aber vergebens, wie es scheint. Ich sage ja, es ist auf alle Fälle ein Segen, wenn der Junge unter gleichmäßige und feste Zucht kommt, aber das scheint Frau Karoline nicht zu begreifen. Hier, in dieser Frauenzimmerwirtschaft, geht er vor die Hunde – Pardon, Fräulein Maaßen, aber es ist doch so ... 'raus damit in kräftige, kühle Luft! Was Karoline betrifft – lassen Sie sie reisen in Gottes Namen, wenn sie sich nicht zu guter Letzt selbst auf sich und ihre Mutterpflichten besinnt.« Er wandte sich zu Jörg Rhodens Zimmer, blieb aber dann noch einmal stehen. »Was meint denn die Karoline eigentlich mit der Drohung, sie werde nicht für immer fortgehen, und die andern sollten nicht zu früh jubilieren?« fragte er, mich mit durchdringenden Blicken musternd. »Meint sie etwa die Johanna mit ›die andern‹?«

Ich konnte nicht antworten, so betroffen war ich; ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen schoß, und wie es ebenso plötzlich zurückströmte zum Herzen. »Ich ahne wirklich nicht, Herr Baron,« stotterte ich mit versagender Stimme.

»Na, na! Karoline ist wohl eifersüchtig – wie?«

»Ich weiß nichts davon.«

»Von früher her noch? Wahrscheinlich! – Herrje, na ja, ich erinnere mich – an seinem Polterabend war's – wie er mit so 'nem befremdend sehnsüchtigen Blick das hübsche Mädel anstarrte und für Karoline keinen Blick hatte. Ja, Herrgott! Reden Sie doch einen Ton, Fräulein Maaßen, oder reden Sie lieber nicht – ich werde wohl recht haben. Wie Jörg zu Karoline gekommen ist – das war mir, ehrlich gestanden, immer schleierhaft. Na, diesen Passus von Karolinens Bestellung werde ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis verschweigen –«

Er blieb noch stehen und pfiff, an mir vorüberstarrend, leise durch die Zähne. »So! So!« murmelte er dann, »und nun ist mir so manches klar – darum heiratet das reizende Geschöpf nicht und spielt die Oberin, darum ist der Verkehr der Schwestern so äußerst formell ...«

»Herr Baron!«

»Mein Wort darauf, Fräulein Maaßen – über meine Lippen kommt keine Silbe. Na, jetzt will ich zu Jörg, um ihm die Reisepläne der Gnädigen zu unterbreiten. Ja, ja, liebe Maaßen, es ist 'ne alte Geschichte, doch ewig bleibt sie neu – sagt ja wohl Heine?«

»Herr Baron,« begann ich nochmals ganz fassungslos –

»Na, gute Nacht,« unterbrach er mich, »ich bin stumm wie ein Grab, verlassen Sie sich darauf.« Er schüttelte mir die Hand und ging in Georg Rhodens Zimmer.

Doktor Liebe, der eine halbe Stunde unten bei Karoline geweilt hatte, kam zu mir herein und sagte: »Ich komme morgen mittag wieder, jetzt muß ich heim; der Baron bleibt noch hier, und das ist gut. Er will seinen tieferregten Freund nicht verlassen, es scheint da noch allerhand zu sein, das nicht vor mein Forum gehört, er wird die Stunde Wegs nach Scheibendorf dann gehen. Gute Nacht, mein Fräulein.«

Erst gegen zwei Uhr in der Nacht hörte ich den Baron den Korridor entlang schleichen und unten das Schließen der gartenseitigen Haustür. Durch die tiefe Stille schallten deutlich seine elastischen Tritte über den Kiesgrund herauf, er nahm seinen Weg durch den Park. Und ich saß im Lehnstuhl am Bett des fiebernden Kindes und sorgte und grämte mich. Würde Karoline wirklich in diesem Moment Zülla verlassen, und wie würde Johanna die Nachricht von der Erkrankung Hans Jörgs ertragen und das erzwungene Fernbleiben von seiner Pflege, seinem Krankenbett?

*

Nach banger Nacht, in der das Kind keinen Augenblick einen erleichternden Schlaf genoß, kam die Entscheidung – Karoline ging wirklich!

Der alte Friedrich erzählte es mir, als er das Frühstück brachte; er hatte eben den großen Koffer vom Boden geholt. Ich versuchte es, Karoline zuzureden, bat sie, zu bleiben, bis Hans Jörg das Schlimmste überstanden habe, aber sie drehte mir kurz den Rücken zu. Ich hatte gleich beim Öffnen der Tür bemerkt, daß sie den gekniffenen Zug um den Mund hatte, und daß Lotte Breiter mit hochrotem Kopf am Ofen stand.

Eine Stunde später klopfte die Breiter an die Tür der Krankenstube und flüsterte mir zu: »Heute abend bin ich pünktlich bei Ihnen, Fräulein, ich will man bloß sehen, daß die Gnädige erst alles in Schick hat; gehe eben zu Kantor Kragens, ob nicht denen ihr Mariechen mit will mit der Gnädigen, sie ist grad' außer Stellung und war schon öfter mit der Herrschaft auf Reisen. Ich kann gnä' Frau nicht begleiten, ich bin zu alt zum Reisen und dann – unser Junkerchen, nein – ich hab's höflich und kurz gesagt, ich könnte nicht mit. Und nu is sie in die Bredullie, die gnä' Frau, un helfen möcht' ich ihr doch; von den Stubenmädchens hier hat sie in aller Welt nichts, die kennen kaum die Umgegend von Zülla.«

Ich dankte der guten Seele herzlich und sagte, sie möge nur getrost für Frau Rhoden sorgen bis zu ihrer Abreise, ich hätte schon noch Kräfte für die Pflege des Kindes in der nächsten Nacht.

Über Hals und Kopf gingen die Zurüstungen für die Reise vor sich; um vier Uhr Nachmittags ließ Karoline mich hinunterrufen. Jörg Rhoden saß gerade am Bett des Kleinen, ich konnte also ohne Sorge gehen.

Karoline war tatsächlich reisefertig. Im Schlafzimmer schnallte Mariechen Kragen, die Küsterstochter, die mit Freuden die Stelle als Reisejungfer angenommen hatte, eine Plaidrolle zu, und die Breiter flüsterte noch mit ihr über allerlei ihr zukommende Verpflichtungen.

»Ich wollte Ihnen nur sagen,« begann Karoline, »daß Ida Dürrhahn hier die Wirtschaft führen wird, ihre Geschäfte drüben kann ja meine Schwester noch übernehmen.«

Sie wollte möglichst ruhig tun, es gelang ihr aber nicht. Ich sah es ihr an, daß nur der alte Trotz und der Zorn darüber, daß ihre Wünsche hinsichtlich der Erziehung des Kindes nicht berücksichtigt wurden, sie forttrieben.

»Es wäre besser, Sie blieben jetzt hier,« sagte ich deshalb.

Sie biß sich auf die Lippe, ich sah es zucken in ihrem Gesicht, aber sie schüttelte den Kopf: »Wozu? Man braucht mich nicht mehr hier zu Lande. Wie gesagt – wann ich wiederkomme, weiß ich noch nicht,« fuhr sie fort, »aber darauf können Sie sich verlassen, ich bleibe nicht fort für immer. Meinem Mann möchten Sie wohl mitteilen, daß ich reise und wohin.«

»Gewiß, wenn Sie nicht selbst – –«

»Wir haben uns eben adieu gesagt,« erklärte sie kurz.

»Und wenn das Kind nach Ihnen fragt?«

Sie lächelte spöttisch. »Wohl schwerlich – Tante Jo ist ja da!«

»Liebe Frau Karoline,« bat ich, »gehen Sie nicht so fort, Sie haben ja doch den Jungen lieb, sehr lieb – bleiben Sie hier; wer weiß, ob Sie ihn je wiedersehen?«

Sie trat von mir weg zum Fenster; ich sah, wie ihre Schultern bebten in kaum verhaltenem Schmerz. Nach einer Weile aber sagte sie halb über die Schulter weg, und ihre Stimme klang schrill und spitz: »Nun will ich Sie nicht länger aufhalten, gehen Sie nur wieder nach oben – ich kann und will meine Reise nicht aufschieben.«

Es war der alte, häßliche, eigenwillige Klang, und wenn sie so redete, war alles Zureden nutzlos.

»Dann reisen Sie glücklich, Frau Rhoden,« wünschte ich und verließ das Zimmer.

Als ich wieder in das Krankenzimmer trat, saß Jörg Rhoden noch immer am Bett seines Jungen, und seine gesunde Hand lag auf dessen fieberheißem Köpfchen. Unbeschreiblich elend und bleich sah er aus, hinfälliger als seit langer Zeit.

»Geht Karoline?« fragte er, und als ich nickte, seufzte er auf und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen.

*

Sehr krank wurde unser Junge. In der sechsten Nacht glaubten wir, und Doktor Liebe widersprach uns nicht, er werde sterben, und da holten wir Johanna.

Der Kleine war gebadet worden und lag nun stöhnend und delirierend auf seinem Kissen. Jörg und Johanna saßen stumm und blaß am Bettchen, das man in die Mitte des Zimmers geschoben hatte, er hüben und sie drüben. Es waren Stunden für sie beide, die zu durchleben allein der Sühne genug gewesen wären für ihre Schuld, auch wenn all die grenzenlos schweren Jahre nicht vorangegangen wären. Und sie wagten nicht zu klagen, sie saßen, als habe ihnen der Schmerz die Sprache geraubt und das halbe Bewußtsein, und außer dem pfeifenden Atmen des Kleinen war nichts weiter zu hören als das leise Ticken der Uhr an der Wand.

Minutenlang tauchten die Blicke der beiden Menschen ineinander, verzweifelte, fragende, entsetzlich bange Blicke, und dann irrten sie wieder auf das veränderte Gesicht des Kindes nieder. Doktor Liebe wartete in Jörg Rhodens Zimmer. Ich wollte mich auf den Fußspitzen aus dem Gemach stehlen, aber Johanna hob die gefalteten Hände zu mir herüber, und ich blieb. Ich setzte mich in eine der tiefen Fensternischen und starrte in die Nacht hinaus.

Als das Kind unruhiger wurde und lauter zu stöhnen begann, warf sich Johanna vor dem Bett auf die Erde und legte ihren Kopf neben dem seinen auf das Kissen, und es schien, als werde es ruhiger. Rhoden winkte mir erschrocken, ich solle Johanna aufrichten, aber sie wehrte sich energisch; und als ich ihr zuflüsterte, du mußt dich ja unfehlbar anstecken, schüttelte sie nur ihren Kopf und schluchzte leise in ihrem namenlosen Schmerz.

Jörg Rhoden saß in seinem Krankenstuhl. Er fand keinen Trost für die Ärmste, trostlos wie er selbst war.

Es waren furchtbare Stunden.

Das ganze Haus war wach in dieser Nacht. Auf dem Korridor saß der alte Friedrich neben Lotte Breiter, und sie schluchzten und weinten. Und ich wußte, unten in dem großen Hausflur waren die andern: der Lorenz, das Stubenmädchen, die Mamsell und die Küchenmädchen, und mitten zwischen ihnen, aufs tiefste geknickt, das sonst so resolute Fräulein Dürrhahn. Die Ärmste schämte sich, schämte sich bis zum Verzagen für ihre Cousine Karoline, die das Kind verlassen hatte in dieser Lage, um einen Zank, um ein Nichts. »Einer Mutter sollte es doch gleichgültig sein, welche Schule ihr Kind besucht, wenn es nur gesund und lebensfreudig heranblüht. O diese Karoline, o dieser dummstolze Dickkopf der Dürrhahns, den sie besitzt in doppelter Stärke!« Gram war sie ihr von dieser Stunde an, das alte Fräulein, aus innerster Seele, sie hatte es mir hundertmal versichert während dieser Tage.

Aber auch diese Nacht ging vorüber, und das arme, schwache Lebenslicht des Kindes kämpfte zuckend weiter gegen den Ansturm der tückischen Krankheit, und immer wieder flackerte das geduldige Lämpchen empor. Gegen Abend endlich – wir hatten nicht eine Stunde Schlaf gefunden – schien das Kind ruhiger zu werden, die Fieberröte zu weichen – es schlief, ohne zu phantasieren.

Alles atmete auf, nur Johanna schüttelte traurig den Kopf, sie wagte nicht zu hoffen. »Ihr sollt alle schlafen,« sagte sie, »sobald eine Veränderung eintritt, wecke ich euch.« Ich aber wollte das nicht, ich blieb bei ihr. Neben das Bett des Kleinen wurde eine Chaiselongue gerollt und mittels einiger Kissen ein Lager hergestellt, so daß sie ihr Gesicht dem Kind zuwandte. Jörg Rhoden schlief den Schlummer tiefster Erschöpfung in seinem Rollstuhl drüben, und ich zog mich wieder in den bequemen Lehnstuhl der Fensternische zurück. Das Zimmer war kaum erhellt von dem schwachen Dämmerlicht der Nachtlampe. Ich konnte von meinem Platz aus nicht erkennen, ob Johanna mit geschlossenen Augen lag, oder ob sie wachte, mir kam es fast vor, als habe der Schlummer sie überwältigt. Auch mir drückte wiederholt der Schlaf die Augenlider herab. Es war so totenstill im ganzen Haus, und vor dem Fenster rauschte bei völliger Windstille ein starker Landregen herab, einschläfernd, gleichmäßig, ununterbrochen.

Ein paarmal schreckte ich auf, es war mir, als habe mich jemand gerufen, aber ich erblickte immer das gleiche friedliche Bild der beiden Schlummernden. Dann muß ich auch eingenickt sein auf einige Minuten. Plötzlich, jäh erwachte ich dann, fröstelnd, kalt, als habe ein Luftzug mich getroffen, – und da sah ich auch wirklich drüben vor dem Bett einen Schatten stehen, eine dunkle Gestalt, und die Tür des Zimmers war halb geöffnet. Johanna aber schien nichts zu bemerken, und als ich zitternd unter den Vorhängen hervortrat, sank diese schwarze Gestalt mit einem wimmernden Laut an dem Bett nieder und barg den Kopf in die Kissen, und da erkannte ich – Karoline!

Karoline, die wir schon jenseits der Alpen glaubten, sie war hier! Sie war an der Seite des Kindes, dem sie gelobt hatte, Mutter zu sein, das sie verlassen hatte in Zorn und Trotz!

Ich schlich mich hinter ihr vorbei und zur Tür hinaus, die ich zuzog. Draußen auf dem Korridor stand Fräulein Dürrhahn, und ihr starres Gesicht sah noch bleicher aus als gewöhnlich.

»Wo, um Gottes willen, kommt denn Karoline her?« flüsterte ich.

»Eben jetzt ist sie gekommen,« sagte das kleine Fräulein, »kein Mensch hat eine Ahnung gehabt, ich hörte nur plötzlich die Hunde auf dem Hof bellen, und dann klopfte jemand laut an meine Fenster mit einer Stange. Sie können denken, wie ich erschrak – und wie ich hinausschaue, steht unten jemand im strömenden Regen und ruft mir etwas zu – ich reiße das Fenster auf, und da schreit die wohlbekannte Stimme: ›Bitte, laß aufschließen, Marie, ich bin's – Karoline!‹

Da habe ich den alten Friedrich geweckt, und der hat aufschließen müssen, und dann ist sie gleich nach oben gegangen, klatschnaß wie sie war, und nur das hat sie mir gesagt, daß sie in Konstanz ein Telegramm erreichte von Doktor Liebe, und daß sie umgekehrt sei auf der Stelle.«

»Na, es ist mir lieb,« setzte die kleine dicke Person aufseufzend hinzu, »ich hätte mich mein Leben lang nicht wieder beruhigt über ihr Benehmen. Sie muß sich aber umziehen, schicken Sie sie heraus, Tee lasse ich schon kochen. – Sie ist nämlich die anderthalb Stunden von der Stadt her in offener Bauernkarrete gefahren, einen trockenen Faden hat sie nicht mehr am Leib.«

Ich ging wieder in die Krankenstube, da war Johanna eben erwacht und stand auf bebenden Füßen Karoline gegenüber, auf der andern Seite des Bettes, und beide Schwestern sahen sich an wie verstört. Und dann schrie Karoline plötzlich auf und rutschte auf den Knien um das Bett herum zu Johanna und umfaßte ihre Knie: »Johanna! Johanna – du – du sollst mir vergeben – du sollst mir vergeben!«

Und ebenso plötzlich saß Johanna auf ihrem Lager und hielt Karolinens Kopf in ihren Händen und warf irre, hilfesuchende Blicke zu ihr hernieder und auf das Kind und wiederholte immer ganz leise: »Still, still, wecke ihn nicht – wecke ihn nicht, er ist ja so furchtbar krank, Karoline!«

»Johanna!« – Die heimgekehrte erschütterte Frau aber schien das nicht zu hören, sie stieß in Pausen die Worte hervor, heiser, jammervoll, verängstigt: »Johanna, wenn ich schon halb irre bin vor Angst um den Jungen, wie muß es dir erst sein – Johanna, vergib mir – ich fühle es ja schon lange, aber ich wollte immer nicht –! Im Recht bist du, nicht ich – ach, großer Gott im Himmel – erbarm dich, erhalte das Kind! – Und, Johanna, ich will gehen, bald will ich gehen, aber du mußt es wissen, was ich innerlich durchgemacht habe – es hat ja so erst kommen müssen, daß ich einsehe, wie das Recht, auf das ich pochte, so äußerlich war, so tot, so hinfällig – das innere, das große, heilige, innere Recht war dein, das wuchs so schreckhaft überzeugend in meinem Gewissen empor, daß ich erdrückt wurde von Angst und Reue. Und – das Kind, wenn es jetzt stirbt, dann stirbt es an mir, und Jörg stirbt an mir und daran, daß ich ihm mein erbärmliches sogenanntes Recht entgegenhielt, das doch keins ist – liebe, liebe Johanna – ach Gott, ich weiß nichts weiter –«

»Karoline,« sagte Johanna, »dem ist nicht so, du bist im Recht, und wir haben es dir gekränkt – beruhige dich! Angesichts des sterbenden Kindes laß uns nicht streiten, ich bitte dich. Vergib in dieser Stunde, die uns endlich – endlich –«

»Es stirbt nicht, es darf nicht sterben,« stieß Karoline hervor, »nein! Nein! Ach, laß mich doch sprechen in eben dieser Stunde, ich weiß nicht, ob ich später den Mut noch einmal finden werde. Ich habe ja Jörg betrogen von Anfang an, habe ja den andern, den Karl Hildebrandt, nie vergessen können; Jörgs Mutter hat es gewollt – meines Geldes halber, und ich ließ mich gleich bereit finden, weil es mir schmeichelte, weil ich Zülla so schön fand, und ich wußte doch, daß er nur gezwungen zu mir kam, daß er nur, um seiner kranken Mutter zu willen zu sein, bei Vater um mich fragte. Alles habe ich erfahren, auch daß Jörg sie noch in ihrer Sterbestunde gebeten hat, sie solle ihn von seinem Versprechen losgeben – und dennoch blieb ich, ich hatte den Mut zu bleiben, und dann – dann kam meine Strafe. Johanna,« fuhr sie hastiger flüsternd fort, »er hat mich immer verachtet, nicht 'mal mein Geld hat er gewollt, und der andere, dem ich die Treue aufgesagt hatte um Jörgs willen, der hat mich erst recht verachtet!

Und da habe ich es erzwingen wollen, da wollte ich nicht um ein Haarbreit weichen von dem Platz, auf dem ich stand, da habe ich gearbeitet für Jörg in seiner Wirtschaft wie ein Lasttier um einen freundlichen Blick, und da habe ich das Kind an mich locken und fesseln wollen mit jeder Güte und jeder List, und keiner von beiden hat sich danach umgeschaut. Und ich bin bitterer geworden mit jedem Tag und habe euch alle drei verkümmern sehen und habe mich darüber gefreut, denn ich litt ja noch schlimmer. Und es war doch mein Recht, auf dem ich stand, das Buchstabenrecht, das Recht des Gesetzes! Aber ich bin dabei krank geworden – hier – hier!« Sie schlug sich gegen den Kopf und die Brust. »Und ich habe alle Qualen der Verzweiflung durchgekostet, als das Kind, das ich liebe als hätte ich es geboren, sich von mir abwendete. Dann war ich auf einmal in meinem ohnmächtigen Schmerz so allein da draußen in der Fremde, und die Sehnsucht schrie in meiner Seele, und das Gewissen quälte mich, und alles stand so schwarz vor mir. Und als die Depesche kam: ›Wenn Sie Ihren Sohn noch lebend sehen wollen, dann eilen Sie‹, da habe ich gedacht: Vielleicht ist es doch noch nicht zu spät, vielleicht kannst du dein Unrecht sühnen, vielleicht vergibst du mir, Johanna – um Gottes willen – vergibst du mir?«

Und als sich Johanna erschüttert niederbeugte zu ihr und die Arme um sie legte, glitt die schwer erschütterte Frau ohnmächtig ihr zu Füßen.

Johanna und ich trugen sie in mein angrenzendes Wohnzimmer und legten sie auf das Sofa, dann holte ich mir Fräulein Dürrhahn, die da noch immer auf dem Korridor wie angewurzelt stand, und wir begannen Karoline in höchster Eile zu entkleiden und zu erwärmen, und als wir sie in die warmen Decken und Kissen gebettet hatten, da überfiel die kaum zum Bewußtsein Gelangte ein Hustenanfall, der nur schwer zu stillen war; dann lag sie wieder in gänzlich ohnmachtartigem Zustand.

Marie Dürrhahn übernahm es bereitwillig, bei Karoline zu bleiben, Johanna aber schlich hinaus zu Hans Jörgs Bett und saß unbeweglich dort.

Ich blickte im Lauf der nächsten Stunden ein paarmal zu Karoline hinein und sah sie in der nämlichen Lage, und ebenso unbeweglich lag drüben das Kind, und Lotte Breiter, die meinen Platz im Erker eingenommen hatte, nickte mir zu und machte Zeichen, als schlafe er fest. Der erste graue Schein des Morgens stahl sich in die Fenster, da lag Karoline noch ebenso still, das Gesicht nach oben gewendet, aber die Augen waren geschlossen.

Ich schlich mit Marie Dürrhahn aus dem Zimmer, den Korridor entlang und die Treppen hinunter, wir wärmten uns an dem noch immer heißen Kachelofen des Eßzimmers, und Marie machte sich an der Kredenz zu schaffen und kochte Kaffee auf der Spirituslampe.

»Fräulein Maaßen,« sagte sie noch einmal halblaut, »hätten Sie das für möglich gehalten von der Karoline?«

Ich schüttelte den Kopf. Gott gebe, daß sie es wirklich so meint, wollte ich sagen, und dann besann ich mich, daß ja dies alte Fräulein gar keine Ahnung haben konnte von dem wahren Sachverhalt und doch vielleicht einiges erlauscht haben mochte, und ich sagte nur: »Karoline hat so viel Unverständliches geredet, sie mag wohl Fieber haben.«

»So?« Fräulein Dürrhahn goß Kaffee ein und warf ein paar Stücke Zucker in die Tasse, und dann redete sie noch allerlei zu mir, das mir nicht mehr ins Bewußtsein drang, denn mich überkam trotz aller Aufregungen, trotz des starken Kaffees ein tiefes Schlafbedürfnis, und ich versank in eine Art Halbschlummer. Ich hörte wohl die alte Lehrerin im Zimmer umherschleichen, ich hörte Türen gehen und fühlte das aufsteigende Tageslicht durch meine Wimpern dringen, ich hatte das Gefühl, einen schweren Traum überstanden zu haben, den ich noch nicht ganz abzuschütteln vermochte, ich hörte Stimmen, hörte Wagenräder über den Kies knirschen, die Uhr schlagen, aber wie ein Bann lag es über meinen Gliedern, ich konnte mich nicht regen, und endlich scholl Lotte Breiters Stimme dicht an meinem Ohr: »Fräulein Maaßen, Fräulein Maaßen, es ist neun Uhr, der Herr Doktor ist oben, und unser Jungchen hat große, helle Augen!«

Ich staunte sie an, ich konnte mich noch gar nicht zurechtfinden, dann aber stand ich auf den Füßen und lief ihr voran die Treppe hinauf. Oben saß Doktor Liebe an des Kindes Bett, und Johanna beugte sich auf der andern Seite über den Jungen; sie hatte ihre Haare noch nicht geordnet, die schönen schweren Zöpfe hingen ihr über die Schultern, und Hans Jörg hielt den einen in seiner Hand und sah zu Johanna hinauf wie staunend; als er mich erblickte, erkannte er mich, »Tante Anna,« sagte er leise, »Tante Jo, das ist Tante Anna – wo ist Mutter?«

Johanna vertröstete ihn, sie werde später kommen, jetzt sei sie müde und schlafe ein wenig.

»Und du sollst auch schlafen, kleiner Wicht,« sagte Doktor Liebe, »laß die Flechte los, Tante Jo ist ebenfalls müde; du hast uns viel zu schaffen gemacht, du schlimmer Kerl.«

Da legte er sich schlummertrunken auf die Seite und schlief weiter in die Genesung hinein.

»Und wie geht's Frau Rhoden?« fragte ich den Arzt.

Er hob die Schultern. »Es ist eine Nervenkrisis, sie wird innerlich viel durchgemacht haben. – Wollen Sie sich nicht des näheren erkundigen bei der Jungfer, die mit ihr war? Ich hatte Karoline auf Ihren Wunsch benachrichtigt, als es schlechter wurde mit dem Kind; es war ja schon unnatürlich, daß sie abreiste, und nur durch total überreizte Nerven zu erklären. Die Depesche scheint erschütternder gewirkt zu haben, als ich annehmen konnte. Schlaf! Schlaf ist für sie das beste!« fügte er hinzu.

Und Karoline schlief, wie wenn sie nimmer erwachen wollte, und Hans Jörg schlief und neben ihm auf dem Sofa Johanna, und Lotte Breiter schlief im Lehnstuhl im Erker. Eine Totenstille war im Haus, als ich in Jörg Rhodens Zimmer ihm gegenüber saß, um dem Erstaunten zu berichten von den Geschehnissen dieser Nacht. Er saß ganz still, er begriff noch kaum, daß sein Kind gerettet war, daß die Liebe zu seinem Kind, die Furcht, es zu verlieren, Karoline in tiefer Erschütterung zurückgeführt habe.

*

Was nach Karolinens Genesung zwischen Jörg Rhoden, seiner Frau und Johanna vereinbart worden ist, habe ich nie erfahren. Ich weiß nur, daß das, was Johanna wollte, und auf das sie bestand mit unbeugsamer Festigkeit, geschehen ist. Johanna duldete nicht, daß Karoline hinausging in ein einsames Leben, um ihr Platz zu schaffen. Niemand außer den Eingeweihten hat je etwas davon erfahren, daß Karoline fort wollte, um Hans Jörg die rechte Mutter zu geben.

Johanna blieb dabei, Karoline würde trotz ihres guten Willens unter einer Trennung zusammenbrechen, sie wäre nicht stark genug für solche Lösung. Aber Johanna wollte allein bleiben, sie wollte auch ferner ihr Leid allein auf längst gewöhnten Schultern tragen – sie blieb in ihrer Stellung in Klein-Zülla. Nicht öfter, eher weniger als sonst, sahen sich die Schwestern, aber wenn es geschah, an Festtagen oder bei Familienberatungen, etwa Hans Jörgs wegen, dann waren es freundliche, gute Worte, die sie füreinander hatten. Nicht daß Karoline mit einem Male ihre Natur verändert hätte – sie blieb kleinlich in allen möglichen Dingen, und ihr Verhältnis zu Jörg Rhoden war kühl, gemessen, aber sie sah doch die Hauptsache mit ganz anderen Augen an, und mit keiner Silbe mischte sie sich in Hans Jörgs Erziehung. Aber sie ging auf in Liebe und Zärtlichkeit für ihn, sie sorgte für hübsche Kleidung, für große Eßlisten, an die Adresse der Frau Pastorin, seiner Pensionsmutter, gerichtet, und dafür, daß er dereinst ohne Sorgen auf einem mustergültigen Rittergut sitzen dürfe.

Sie unternahm alle möglichen Verbesserungen und Neuerungen für den Besitz, die sie aus ihrem Vermögen bestritt; sie baute eine Brauerei, sie vergrößerte das Gestüt, sie tat das alles mit einer Umsicht sondergleichen. Wenn dann der in die Ferien heimgekehrte Sohn mit ihr in den Ställen und der Weide, in der Brauerei und der Hühnerbrutanstalt auf ihre Bitte umherging und sein jugendlich begeistertes: »Famos, Mutter! Ganz famos!« rief, dann flog über ihr unschönes, flaches Gesicht ein strahlender Glanz, und sie fragte: »Nicht wahr, du wirst dies alles in Ehren halten, wenn deine Mutter nicht mehr lebt?« Und er fiel ihr um den Hals: »Aber wie werde ich das tun, Mutter, aber wie! Du darfst aber noch lange nicht sterben – du – was sollte denn werden ohne dich hier in Groß-Zülla und aus dem armen Vater?« – »Es geht auch ohne mich, wirst's sehen,« antwortete sie ruhig. »Sehr lange wird's nicht mehr dauern.« – Hans Jörg erzählte es mir, und seine Blicke fragten ängstlich: Ist denn Mutter wirklich krank?

Auf Johannas Wunsch blieb ich in Groß-Zülla, hauptsächlich für Jörg. Ich schrieb für ihn, plauderte mit ihm und las seine Korrekturen, erzählte ihm von Klein-Zülla und von den alten Damen und gab den Vierten ab bei der Whistpartie mit Pfarrer Brinkmann und Baron Breitenfeld. Und so in ebenem Tritt vergingen Jahre um Jahre. Ein wehmütiger, gleichmäßiger Friede breitete über die Dächer der beiden Züllaer Häuser seine Flügel. Wir wurden älter und älter unter dem Schutz dieses Friedens, und eines Tages sagte Johanna, als ich sie besuchte: »Sieh, Tante Anna, wie viele weiße Haare ich habe,« und sie beugte melancholisch lächelnd den schönen Kopf zu mir herunter, damit ich es sehen sollte. Hans Jörg aber wuchs draußen immer stattlicher heran, und seine Besuche wurden die Merksteine unseres Lebens. Eines Tages machte er sein Abiturientenexamen und zog auf die Universität nach Bonn.

Als ich gegen Weihnachten dieses Jahres seine abgelegten Sachen durchsah, um sie an bedürftige Dorfbuben zum Heiligabend zu verschenken, fand ich in einem schwarzen Tuchrock, den er wohl als Tanzstundenschüler getragen hatte, ein Blättchen Papier mit Versen darauf. Die habe ich mit Lächeln unter Tränen gelesen; ein Liebesgedichtchen war es, wohl sein erstes. Und dann habe ich es Jörg Rhoden vorgelesen; der lachte ordentlich jung wieder auf, ich hatte ihn seit Ewigkeiten nicht lachen hören.

»Das sind selige Tage,« meinte er dann, »Tanzstunde, erste Liebe, Rosen und Verse!« Der Titel des Gedichtes lautete nämlich: »An Thinka mit roten Rosen!« – »Wer mag die Thinka sein?«

Und am selbigen Nachmittag gab ich es auch Johanna, und auch sie mußte lächeln. Es war so unbeholfen und so poetisch dabei.

»Gib es doch auch Karolinen,« bat Johanna.

Karoline war am stolzesten darauf und sagte: »Mein Gott, allzulange braucht's nicht mehr, dann ist die Zeit da, und eine junge Frau kommt, und die braucht nicht mal mehr eine Aussteuer, liebe Maaßen, so häufen sich Linnen und Gänsedaunen. Aber das erlebe ich nicht mehr,« setzte sie nachdenklich hinzu, »das fühle ich.«

Nach jahrelangem Stillstand klagte sie wieder über Stiche in der Brust und Schmerzen im Bein und hielt sich gebückt wie eine alte Frau, aber trotzdem sollte Hans Jörgs Geburtstag gefeiert werden; er war auf Ferien daheim und wurde zwanzig Jahre.

Wieder berieten die Stiftsdamen über ein Geschenk für ihn, aber sie waren nicht mehr alle die gleichen wie damals. Nur Marie Dürrhahn lebte noch, resolut wie vor Jahren, und die alte Hofdame, die war sechsundachtzig Jahre alt geworden. Die Majorin von Zwingerbrück schlummerte auf dem Kirchhof, und nicht weit von ihr unser lieber Pfarrer Brinkmann. Mutterchen Brinkmann wohnte als Witwe in der Giebelstube des Pfarrhauses, und ihr Benjamin wartete des Amts als Pastor, er war auch schon ein Mann in den Vierzigern.

Also, wieder berieten die Stiftsdamen über das traditionelle Verschen, das die Torte zieren sollte, aber es kam keins zu stande. Die Tochter der Frau von Zwingerbrück, verwitwete Geheimrat Harden, und noch eine vierte, ein ältliches Stiftsfräulein von Corde, minder elegant als die Hofdame, aber ungemein behaglich und seelengut, Tochter eines längst verstorbenen preußischen Generals, waren hinzugekommen. Sie hatte im Glanz der vornehmen Stellung gelebt und hatte hinter den Kulissen mit sieben Geschwistern gehungert und gedarbt; und mit Ausnahme ihrer selbst, die nun die Stiftsstelle gefunden, darbten die anderen weiter und schlugen sich kümmerlich durchs Leben. Alle hingen sie an Johanna mit größter Verehrung, denn sie wußte immer zu helfen in ihren Nöten und Sorgen.

Also, diesmal kam für die Torte kein Vers zu stande, aber Fräulein von Corde, die jüngere, besorgte zwanzig Lichter und ein langes Lebenslicht, und als in der Frühe des Oktobermorgens, da noch der Herbstnebel in den Waldbäumen hing wie weiße, zerrissene Schleier, Hans Jörg angestürmt kam, um mit Tante Jo zu frühstücken, brannten die Lichter festlich um den Kuchen, und die Stiftsdamen machten dem schönen, schlanken Menschen förmlich den Hof. Die sechsundachtzigjährige Hofdame erinnerte ihn, wie er früher auf ihrem Schoß gesessen, aber einen Kuß von ihr nicht hatte haben wollen.

»So töricht wäre ich gewesen?« fragte der Schalk lachend, »das muß ich wieder gutmachen,« und der junge hübsche Student schloß das kleine, verrunzelte Geschöpfchen in seine Arme und gab ihr einen schallenden Kuß.

»Schau, Tante Jo!« sagte er, die ihn lachend schalt, »schau, Fräulein von Corde ist ganz rot geworden!«

Am Mittag waren sie alle drüben zur Festtafel, alle bis auf Johanna, die war noch immer das gleiche menschenscheue Geschöpf, eine Gesellschaft machte sie krank. Und wieder blieb ich bei ihr an diesem Tag und machte einen Waldspaziergang mit ihr, aber fein langsam, denn ich konnte nicht mehr so rasch gehen wie sie. Und wieder sprachen wir über vergangene Zeiten. Als ich gegen Abend nach Hause ging, fand ich die Jugend beim Tanzen in der großen Wohnstube.

Ja freilich, wir hatten jetzt in unserer Gesellschaft Jugend, den Hans Jörg und die Wirtschaftseleven, und von den Mädchen waren einige groß geworden und trugen lange Kleider und aufgesteckte Zöpfe: die Neuhoferschen Mädel, die Töchterlein des Doktors und Pastors Enkelkind, und dann die Annemarie Breitenfeld.

»Ein entzückendes Töchterchen hast du, Fritz,« lobte Herr Rhoden sie, und Vater Breitenfeld kniff ein Auge zu und sah seinen alten Freund verschmitzt an. »Schau, Jörg, deinen Bengel, er ist Feuer und Flamme, er geht ordentlich ins Zeug!«

Karoline hielt ihrem Sohn eine Strafpredigt. »Du solltest auch einmal mit den anderen tanzen, immer hast du die Annemarie am Bändel, sie ist noch ein halbes Kind, du verdrehst ihr den Kopf!«

Aber Hans Jörg hatte sie wohl nicht verstanden, oder wollte sie nicht verstehen, er ließ das reizende Kind im weißen Kleid mit dem blaßblauen Gürtel und der Fülle goldenen Haares nicht aus den Augen, nicht einen Moment.

»Na, na,« meinte Herr von Neuhofer, »das wäre am Ende gar nicht ohne! Die Güter grenzen so schön aneinander, Frau Rhoden –«

Endlich aber kam die Mama der Annemarie, der man noch immer das bewegliche Frauchen ansah, das der große, stattliche Mann einst »seinen Sonntag« nannte, und hielt das schlanke Töchterlein fest. »Nun ist's genug, Annemarie, wir müssen heim.«

»Wie schade!« sagte sie, und ihre Augen suchten den schönen, jungen Menschen.

»Wenn gnä' Frau Mama erlaubt, erkundige ich mich morgen, wie den Damen das kleine Fest bekommen ist?« fragte Hans Jörg, der Frau von Breitenfeld die Hand küssend.

»Verdammter Schwerenöter!« murmelte leise Herr von Breitenfeld.

Das war der Anfang von Hans Jörgs Liebe. Es hatte gute Weile bis sie voll erblühte, Annemarie war erst sechzehn Jahre alt, und es folgten trübe Zeiten diesen Tagen fast unmittelbar.

Karoline kam zum Sterben, ihr Leiden wuchs rasch. Sie wußte es, sie war darein ergeben. Sie wollte nicht, daß Johanna sie pflegen sollte, aber sie freute sich, wenn die Schwester kam und an ihrem Bett saß.

Hans Jörg diente in der benachbarten Garnison sein Jahr ab und gedachte als Leutnant einzutreten. So oft er konnte, besuchte er die Mutter.

Eines Abends, im Juli war es, kam das Ende, rascher, als wir es gedacht hatten. Ich saß bei der Kranken, deren Bett man in ein gartenseitiges Zimmer gestellt hatte, wo Sonne und Blumenduft durch die Fenster eindrangen und gute erquickende Luft. Sie lag sehr matt und hielt Johannas Hand ganz fest; bisher war sie stumm gewesen. Auf einmal begann sie: »Karl Hildebrandt hat mir damals gesagt, als ich ihm die Mitteilung machte, daß ich mich anders besonnen hätte und Jörg Rhoden heiraten wollte: ›Du bist eine große Sünderin, Karoline, du brichst die Treue um eines ganz gemeinen Vorteils willen! Ich habe kein Gut, wir hätten ringen und arbeiten müssen zusammen, und das wäre schön gewesen, wenn du mich wirklich lieb gehabt hättest. Du aber willst gleich im Vollen sitzen und trittst mein Herz mit Füßen. Geh nur hin; wie ich über dich denke, brauche ich wohl nicht erst zu sagen, wirst es allein wissen. Ich kann weiter nichts, als dich verachten!‹ Das bin ich nie losgeworden. Ach, das war bitter, das war bitter! Und er grollt mir noch immer, ich weiß es. Und dann, Jörg ist mir untreu geworden, aber aus Liebe wurde er es, nicht um eines Vorteils willen. Und Onkel Pastor hat mir einmal gesagt, als ich mein Recht behauptete und nicht zugeben wollte, daß Johanna und Jörg sich vereinigten, um in Ehren und Ordnung ihr Kind aufzuziehen: ›Karoline, du bist im Recht nach dem Gesetz, niemand kann es dir bestreiten, aber das Recht behaupten, ist nicht immer das rechte. Und das, was an deinem Tun aussieht wie Edelmut, ist ganz etwas anderes, etwas Unedeles ist's, Karoline. Aber, du bist ja im Recht, mache, was du willst!‹

Ach, so schrecklich war das alles, so schrecklich!«

Und dann, als Johanna ihre Hand streichelte und sie bat, nicht mehr an das Traurige zu denken, sagte sie heftig: »Ich kann nicht anders, ich kann nicht anders!« Und nach einer Weile: »Rufe doch Jörg, mir wird so angst!«

Und als er über die Schwelle geschoben wurde in seinem Fahrstuhl, bin ich aus dem Zimmer gegangen; ich wollte ihre letzte Stunde nicht stören, denn daß es die letzte war, sah ich an den veränderten Zügen Karolinens.

Eine Stunde später trat Johanna zu mir mit verweinten Augen.

In jener Nacht habe ich lange, lange bei dem stillen Mann gesessen, bis Hans Jörg eintraf, der seinen Vater weinend in die Arme schloß.

*

Nach Abschluß des Trauerjahrs wurde Karolinens Testament, ihrer besonderen Bestimmung gemäß, eröffnet. Es enthielt folgende drei kurze Paragraphen:

»Ich hinterlasse:

1. Für die Armen von Groß- und Klein-Zülla fünfzigtausend Mark zu Händen des Herrn Pastors Brinkmann.

2. Mein ganzes Vermögen meinem geliebten Sohn Hans Jörg Rhoden.

3. Die Sorge für meinen Gatten Jörg Rhoden meiner Schwester Johanna Nordmann in Klein-Zülla, mit der innigen Bitte, seine Lebensgefährtin, meine Nachfolgerin, werden zu wollen, wie sie es mir mündlich versprochen hat am 22. November 1901.

Herr, vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!

Emilie Karoline Rhoden,
geb. Nordmann.

Groß-Zülla, den 30. Oktober 1902.«

*


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