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Einige Tage nach diesem Vorfall erschien Friedel und brachte mir einen langen Brief von Eberhardt. Es war ein banges und doch wunderschönes Gefühl, als ich ihn in meiner Hand hielt. – Seit langer Zeit wieder ein Brief von ihm. Er schrieb:
Margarete!
Dein unvergleichlich edles, gutes Herz gibt mir den Mut, diese Zeilen an Dich zu richten. Ich weiß es, Du hast mir verziehen, hast Dich meines verlassenen Kindes angenommen, ohne mir den leisesten Vorwurf für meine – nennen wir die Sache beim richtigen Namen – Treulosigkeit zu machen. Wäre etwas imstande gewesen, mir mein Vergehen noch schwärzer erscheinen zu lassen, so war es Deine Milde, Dein Erbarmen für mich und mein Kind. Ich danke Dir, Margarete, und bitte Dich zugleich, nimm in den folgenden Zeilen das ganze reumütige Bekenntnis meiner Irrtümer, meiner Vergehen hin. Ich schreibe es Dir, denn ich weiß, wollte ich es Dir mündlich zu Deinen Füßen bekennen, so würde Deine liebe Hand sich leise auf meinen Mund legen, und Deine Augen würden mild versöhnend auf mir ruhen, während Du sagtest: »Oh, ich vergab dir schon lange, ich mag das garstige Zeug nicht mehr hören, was du mir da erzählen willst!« Das weiß ich bestimmt, denn ich kenne Dein gutes Gemüt. Du würdest mir auf jeden Fall eine Beschämung ersparen wollen, die ich mir nicht ersparen kann, und Du mußt und sollst alles wissen. Es ist nötig für – doch davon später.
Gretchen, ich habe Dich geliebt, rein, aufrichtig und schwärmerisch. Du warst eben meine erste Liebe, das ist genug gesagt, das mußt Du aber auch gefühlt haben. Ich war glücklich, sehr glücklich, und mein einziges Sehnen gipfelte in dem Wunsche, Dich mein Weib nennen zu können. – Da kam die Gräfin Ruth Satewski in das Schloß. Wir hatten einmal in frühester Jugend eine Leidenschaft füreinander gehabt, als das kleine graziöse Mädchen noch mit eingeflochtenen Zöpfen und im kurzen Kleidchen einhersprang. Aber so jung, so klein sie war, das reizende Kind verstand damals schon, den Kopf des blöden Kadetten vollständig zu verdrehen. Wir bildeten uns ein, Brautleute zu sein, und quälten einander sogar mit Eifersucht, z. B. wenn ich ein anderes kleines Mädchen öfter beim Drittenabschlagen geklopft oder beim Fanchonspielen gehascht hatte, oder wenn sie mit gar zu verführerischer Miene mit meinem Vetter, dem langen Edgar, zu flüstern beliebte. Das war während der Sechswochenferien in Bonn bei meinen Eltern. Dann ging ich wieder ins Korps nach Potsdam und sie mit ihrer Gouvernante ins heimatliche Schulzimmer, wo uns wahrscheinlich die romantischen Ideen unter lateinischen und französischen Vokabeln verschwanden. Ich hatte sie nicht wiedergesehen, ich hatte nur gehört, daß sie vermählt war, und dachte manchmal, sie muß eine schöne Frau geworden sein, dieses kleine brünette Geschöpf mit den wunderbaren Augen.
Dann kam eine Zeit, Gretchen, wo ich alle Augen der Welt über Deinen süßen blauen Sternen vergaß, die glücklichste, gesegnetste Zeit meines Lebens. Und da auf einmal strahlten mir wieder jene dämonischen dunklen Augen entgegen. Ich gestehe es ehrlich – ich war frappiert von der außergewöhnlichen Schönheit meiner Cousine, doch fühlte ich mich so sicher in Deinem Besitz, daß mir gar nicht der Gedanke kam, sie könne uns gefährlich werden. Doch die junge Witwe war nicht allein schön, sie war auch klug und kokett, und in der Langeweile ihres Witwenstandes fing sie an, ihre Netze nach mir auszuwerfen. Sie stieß auf Widerstand, ich war geflissentlich ungalant und mitunter sogar ungezogen gegen sie, das reizte sie noch mehr. Mit der ihr eigenen Schlauheit sagte sie sich: »Es muß ein Grund da sein, weshalb er sich von mir zurückzieht. Ein Mann läuft nicht ohne weiteres davon vor einer schönen Frau, wenn nicht Motive vorhanden sind, die ihn dazu zwingen – suchen wir die Ursache dieses Sprödetuns!« – Sie suchte und fand – fand, daß ich Dich liebte!
Ich bin überzeugt, daß sie gelacht hat, als sie dies entdeckte, und zu sich selbst gesagt: »Wenn es weiter nichts ist?« Sie fing ihren Feldzugsplan sehr fein an, sprach von Dir als von einem guten, lieben Mädchen, entfaltete ihr ganzes brillantes Unterhaltungstalent in glänzendster Weise, plauderte, neckte und mokierte sich auf die pikanteste und angenehmste Art der Welt. Und als es ihr gelungen war, als sie sah, daß mich diese sprühende, oft frivole Unterhaltung amüsierte, und ich ihr belustigt zuhörte, da fing sie an, mich auf den Pastor Renner aufmerksam zu machen, zuerst mit ein paar hingeworfenen Worten, so daß ich kaum ahnen konnte, sie seien für mich berechnet. Dann erzählte sie allerliebst komisch eine Szene – wobei sie bewunderungswürdig seinen Gang und seine Sprache nachahmte – wie er Dich anschmachte, und was er sage, und wie sehr sie sich über so eine beginnende Liebe à la Voß' Luise amüsiere.
Zuerst achtete ich nicht darauf, dann kam etwas wie Eifersucht über mich und ich beschloß aufzupassen – möglich, daß man in dieser Leidenschaft alles sieht, was man sehen will. Ich glaubte zu bemerken, daß Du Dich dem jungen Manne gegenüber keineswegs so benahmst, wie es einer Braut zukommt, und daß er geradezu unverschämt war. In meinem Unmut wurde ich kühler gegen Dich, ich nahm öfter meine Zuflucht zu meiner Cousine, saß ganze Abende lang in ihrem Boudoir, während sie im spitzenbesetzten Negligé auf der Chaiselongue ausgestreckt lag, und plötzlich war ich so weit gekommen, daß ich für das schöne kokette Weib eine heiße Leidenschaft fühlte. Zwar zuckte mein Herz im Anfang noch krampfhaft auf, wenn sie mir von Deiner heimlichen Verlobung mit dem jungen Prediger erzählte, aber ein Blick auf das schöne Gesicht ließ es wieder ruhig werden. Offen gestanden, Gretchen, ich habe nie recht eigentlich an Deine Untreue geglaubt, aber ich wünschte mitunter, es möchte der Fall sein, damit ich nicht diese Qual zu ertragen brauchte. Ruth zog mich an sich, wie einen Nachtschmetterling das Licht. Wenn ich bei ihr war, hatte ich alles vergessen, auch Dich, Gretchen! Und dann sah ich später Deine verweinten Augen, Dein bleiches Gesicht, und war in einer Stimmung, daß ich mir am liebsten eine Kugel vor den Kopf geschossen hätte – so erbärmlich, so ekelhaft kam ich mir vor.
Das einfachste wäre gewesen, ich hätte Dich gefragt: Gretchen, liebst du mich noch, oder ist es wahr, was man mir erzählt? Dann wäre ja alles gut geworden – aber ich wollte nicht, der Bruch mit Ruth wäre unvermeidlich gewesen, und ich konnte nicht leben ohne sie. So ließ ich es gehen – wie mir zumute war, das hat mir wohl jeder ansehen können.
So kam ein Abend, an dem ich wieder mit kaum zu bemeisternder Sehnsucht nach Bendeleben geritten war und in das kleine Boudoir Ruths trat. Ich hatte einige Tage vorher einen Brief für Dich an die Schloßgärtnerin abgegeben, er war in einer Anwandlung von Reue geschrieben. Antwort hatte ich darauf nicht erhalten. Ruth lag nicht wie sonst auf dem Sofa, sondern ging aufgeregt, mit blitzenden Augen und leicht geröteten Wangen im Zimmer hin und her. Als ich eintrat, verbarg sie schnell ein Papier in ihrer Tasche. Ich sah sie ganz entzückt an, schöner war sie mir noch gar nicht erschienen als in dieser Aufregung in dem leichten, weißen Hauskleide.
Sie schien erfreut, mich zu sehen, und – Gretchen, was soll ich diese Szene ausmalen! – ich sagte ihr, daß ich sie liebe. Zur Belohnung dafür erzählte sie mir, daß es definitiv gewiß sei, du wärst verlobt mit dem jungen Pastor, allerdings noch heimlich. Ich gestehe, ich erhielt einen Augenblick meine Besinnung zurück, ich starrte sie an, als phantasiere sie. Aber bald fühlte ich eine namenlose Verachtung für Dich, ich war wütend über Deine Untreue und vergaß ganz, daß ich ebenfalls treulos handelte. Eine häßliche, frivole, verzweiflungsvolle Stimmung erfaßte mich, ich konnte der schönen, eben noch so heiß begehrten Frau kein Wort mehr von Liebe sagen, und in beißender Rede ergoß sich meine Laune über sie, über Dich, über jeden, der mit mir sprach.
Ich sah Dich dann nachher bei Tische neben dem vermeintlichen Bräutigam und hörte Dich das Lied singen, das Du einst an jenem Abend gesungen hast, wo ich Dir zuerst begegnete. Ich stürzte fort, ich wollte nichts hören und lief wie ein Wahnsinniger in dem dunklen Park umher. Ich verfluchte alle Weiber, ich haßte Ruth, ich haßte Dich noch mehr – da trafen wir uns. Ich höre noch Deine bebende, flehende Stimme, mit der Du meinen Namen riefst. Ich nahm mich gewaltsam zusammen – Du solltest nicht wissen, wie ich litt – und ging anfangs stumm an Dir vorüber, ich wollte Dir zeigen, wie grenzenlos ich Dich verachtete. Ich ritt dann, nach einer stürmischen Szene mit Bergen und dem Onkel, in der Nacht fort wie ein Verrückter, Bergen jagte mir nach – seine Fragen, seine Zusprache machten mich nur noch wütender. Zum Glück war ein Kommando auf einige Monate nach Potsdam zu stellen. Bergen vermittelte, daß ich es übernehmen durfte; er blieb bei mir bis zur Abreise. Noch vorher kam Dein Brief. Ich warf ihn ungelesen ins Feuer. Bergen ahnte wohl, um was es sich handelte. Er fragte mich auch nach Dir, ich aber antwortete ihm nicht und verließ G. mit zerrissenem Gemüt.
Kaum war ich in Potsdam angelangt, so traf bereits ein Brief meiner Cousine ein, dann noch einer und noch einer. Schließlich fand ich Gefallen an den kleinen, eleganten, kapriziösen Billetten. Ich antwortete zuerst nur kurz, dann länger, regelmäßig, und schließlich hatte mich die Schreiberin ebenso bezaubert wie in Person. Diese Briefe waren zuletzt Liebesbriefe in aller Form geworden, und als ich Weihnachten von meinem Kommando zurückkehrte, wußte ich schon, daß mich eine zärtliche Braut erwartete. Onkel und Tante waren hoch erfreut, nur Bergens betrachteten mich mißtrauisch. Hanna mied geflissentlich meine Nähe.
Die Wahrheit zu sagen, der Gedanke war mir peinlich, ich könnte Dir begegnen. Ich hatte erfahren, daß Du keineswegs die Braut des jungen Pastors geworden warst. Es dämmerte mir bereits eine Ahnung auf, meine schöne Braut könne ein unredliches Spiel gespielt haben. Doch ein Blick auf diese zierliche Gestalt und dies strahlende Gesicht ließen mich jeden Zweifel vergessen. Einmal erzählte mir der reizende Mund unter allerhand Plaudereien auch von Dir, daß Dein geistlicher Freier sich urplötzlich von Dir zurückgezogen habe. Diese Äußerung zog eine Reihe von Gedanken nach sich. Ich glaubte zuerst, der junge Mann habe vielleicht von unserem früheren Verhältnis Kunde bekommen und sei deshalb zurückgetreten. Dann aber kam mir wie ein blendendes Licht der Gedanke: sie hat ihm einen Korb gegeben! Ach, Gretchen, welch ein Rätsel ist doch das Menschenherz! – Ich war treulos, ich liebte mit aller Glut eine andere, und doch, die Vorstellung, Du könntest mich noch lieben, könntest meinetwegen jenen abgewiesen haben, rief ein unsäglich wonniges Gefühl in mir hervor.
Diese Vorstellung schwand nicht. Ich horchte mit Eifer auf jedes Wort, was auf Dich Bezug hatte, und dabei rückte die Zeit näher und näher, die mich für immer mit Ruth vereinigen sollte. Manchmal war ich in unbeschreiblicher Aufregung. Es gab Tage, wo ich stundenlang an meinem Schreibtische saß, mit leerem Briefbogen vor mir. Ich wollte an Dich schreiben, Dir sagen, wie alles gekommen, um Aufklärung bitten – und dann schien es mir wieder unmöglich. Ich warf die Feder weg und ging unter die Kameraden. Dort, wo man mich als Bräutigam der schönsten Frau beneidete, wo ich die Fragen nach dem Befinden der Gräfin beantworten, die Komplimente der älteren Offiziere über mein Glück, die begeisterten Reden über Ruths wunderbare Schönheit hören mußte, schalt ich mich selbst einen dummen Teufel und warf mit aller Gewalt die peinigenden Gedanken und Zweifel in den finstersten Winkel meines Herzens. Ich zwang mich, stolz und glücklich zu scheinen.
Am andern Tage ritt ich dann zu meiner Braut, und wenn ich sie so vor mir stehen sah in all dem Zauber, dann glaubte ich selbst einen Augenblick, das Glück habe mir seine köstlichste Perle in den Schoß geworfen. Unter solchen Kämpfen und Zweifeln kam der Hochzeitstag. Nun gab es keine Umkehr mehr. – Am Tage vorher war ich in unsere, mit allem erdenklichen Luxus eingerichtete Wohnung, war in Ruths blaues, spitzenduftiges Boudoir getreten und hatte daran gedacht, wie ich mir früher dies alles so anders ausgemalt hatte. Ich dachte auch an Dich, Gretel, daß Du nie solch einen weichlichen Luxus beansprucht haben würdest. Deine hohe, schlanke, keusche Gestalt mit dem flechtengeschmückten Kopfe, sie wäre mir hier in dieser üppigen Umgebung sonderbar erschienen. Nein, hier gehörte eben nur solch eine zierliche Fee hinein, wie sie es war. Jenes Gespräch kam mir wieder in den Sinn, in welchem ich davon schwärmte, wie reizend es sein müßte, wenn mir nach der Heimkehr vom Dienst mein nettes, reizendes Frauchen eine Tasse Kaffee an das Sofa brächte. Ich habe mich müde hingestreckt, und sie sieht mich dann freundlich an mit ihren süßen, blauen Augen. – Ich mußte bitter lachen. Ich hatte ja eine ganze Menge Diener im Hause! Ach nein, Gretchen, das kam nicht vor, ein solch idyllisches Leben liebte Madame nicht. Unser Haushalt war auf größtem Fuße eingerichtet. Wenn ich morgens um fünf Uhr aufstand und zum Exerzieren ging, servierte mir ein Diener in untadeligen Gamaschen und gleicher Krawatte einen vorzüglichen Kaffee. Wenn ich bestaubt und müde zurückkehrte, empfing mich niemand als der Untadelige. Ich zog mich um und durfte dann in aller Form meiner jungen Frau, die im elegantesten Negligé in ihrem Spitzenhimmel auf dem Diwan lag, einen Besuch abstatten. Dann machte Madame Toilette, und die Garnison und die Einwohner des alten G. wurden in Staunen gesetzt durch ebendiese Toilette und die reizende Equipage. Es wurden die Frauen der Kameraden aus der Kinderstube oder vom Nähtisch aufgescheucht, denn Madame machte Besuche. Häufig war sie zur Speisestunde noch lange nicht zu Hause, und ich hatte die Wahl, entweder allein zu essen oder hungrig in den Dienst zu gehen. Manchmal, wenn ich wartete, um das Vergnügen zu haben, mit ihr zu dinieren, wurde mein Hunger so wütend, daß ich beim Brotempfang die Kerle um ihr Kommißbrot beneidete. Wenn ich dann in unser elegantes Speisezimmer trat, wurde mir versalzene Suppe und verkohlter Braten serviert, und Madame war entweder ausgefahren oder ausgegangen, oder wenn das nicht, so bekam ich Vorwürfe über die unpassende Zeit meines Dienstes, als ob ein Leutnant – aber genug davon!
Unser Salon war kaum einen Abend leer von Besuch, die Einladungen wurden verschwenderisch ausgeteilt. Die Kameraden sämtlicher hier garnisonierenden Regimenter, der benachbarten kleinen Garnisonen und die Edelleute der umliegenden Güter waren zahlreich vertreten. Glänzende Diners, Soupers und Bälle wechselten miteinander ab. Ruth strahlte wie eine Königin inmitten ihres Hofstaates, und ich biß die Zähne aufeinander und suchte mit möglichst freundlicher Miene die Gäste zu empfangen, die meine Frau einzuladen für gut befunden hatte. Bergen und Hanna zogen sich bald gänzlich von diesen Festen zurück. Und als Ruch einst auf einem Kasino-Balle in gar zu unmöglicher Toilette erschien, kam Hanna am andern Tage, machte ihrer Schwester ernstliche Vorwürfe über ihr extravagantes Leben und erklärte ihr, daß sie der Gegenstand des allgemeinen Stadtklatsches geworden, daß es nicht begreiflich sei, wie eine Frau sich so zum Brennpunkt der Aufmerksamkeit machen könne. Ruth soll sich halbtot gelacht und gemeint haben, in Wien sei das noch ganz anders gewesen. Hanna ging unverrichteter Sache und fast betrübt wieder fort.
Zum Unglück war dies gerade der Tag, an dem auch ich mir vorgenommen hatte, mit meiner Frau ein paar ernstliche Worte zu sprechen; ich ahnte nicht, daß Hanna bereits dagewesen. Ich sagte Ruth, die ich unmutig und verstimmt in ihrem Boudoir fand, unverhohlen meine Ansichten über unser Leben, über die Summen, die unser Haushalt koste, über die Ungemütlichkeit, die ein solcher fortwährender Trubel mit sich bringe, und bat sie schließlich, wenn sie nicht meinetwegen sich zu einer stilleren Lebensweise entschließen könne, so möge sie es ihrer Person zuliebe tun. Es müßte diese ewige Unruhe endlich nachteilige Folgen für sie haben. Ruth nahm anfangs meine Worte mit eisiger Ruhe auf. Aber dann fing sie an, sich zu verteidigen. Sie geriet in die höchste Aufregung, warf mir vor, daß sie ein jammervolles, elendes Leben in diesem Neste führe, daß es schrecklich sei, einen Mann geheiratet zu haben, der sich mit seiner Person in den Sklavendienst des Königs begeben, und der noch nicht soviel Freiheit genieße, um mit seiner Frau zu einer anständigen Zeit zu Mittag zu essen. Und nun gönne er ihr nicht einmal die elenden Zerstreuungen, die sie sich hier schaffen könne. Gott weiß, was sie noch sagte, bis ich, um den leidenschaftlichen Affekt, in den sie gekommen, und der sich schließlich in konvulsivisches Weinen auflöste, zu beruhigen, mich vollständig in alles ergab.
So ging das Leben weiter. Dann folgten ein paar kurze, stille Wochen, und ich schloß meinen kleinen Sohn in die Arme. Ich glaubte anfänglich, mit seinem Erscheinen müßte auch das Herz der Mutter sich in anderen Bahnen zu bewegen lernen; ich hatte bis dahin die Mutterliebe als den höchsten Impuls des weiblichen Gemütes betrachtet und baute meine schönsten Hoffnungen darauf. Mit einer Wonne ohnegleichen saß ich in meiner nun so stillen Wohnung, und wenn das Schreien des Kindes zu mir drang, dünkte es mich köstlicher als alle Musik, die sonst durch diese Räume geschallt hatte. Aber ich hatte nicht richtig gerechnet. Die Geburt des Kindes schien auf Ruth nur insofern einen Eindruck gemacht zu haben, als sie die Veranlassung wurde, ein möglichst glänzendes Tauffest zu feiern. Während sie noch im Bett lag, schrieb sie eine Menge Bestellungen an Modehändler und Delikateßgeschäfte und plauderte mit nervöser Hast von den Paten, von der Anschaffung eines massiven silbernen Taufbeckens und anderer Dinge. Tante Bendeleben pflichtete ihrem reizenden Kinde eifrig bei, und so wurde denn die Feierlichkeit mit allem möglichen Pomp in Szene gesetzt. Als dies vorbei war, fing die alte Lebensweise wieder an. Sie tanzte, ritt und fuhr, und meine Bitten, meine Vorstellungen, doch nicht die Pflichten der Mutter zu vergessen, wurden übel aufgenommen, und es kam häufig zu kleinen Szenen. Endlich glaubte ich sie dadurch zu zwingen, daß ich meine Begleitung zu den Bällen und Gesellschaften ablehnte, besonders in der Zeit, als das Kind kränkelte. Das erstemal blieb sie schmollend zu Hause und schloß sich in ihr Boudoir ein, später ging sie allein, und ich hatte nichts gewonnen.
Ich glaube, daß ich nicht immer das Rechte getroffen habe, um sie auf bessere Wege zu leiten; aber ich habe mich wenigstens redlich bemüht, dies zu tun, das weiß der Allmächtige.
Mit den Damen der Kameraden hatte sie sich meistens sehr schlecht gestellt. Sie hatte ein mokantes Wesen, und das Kapitel der wirtschaftlichen Tätigkeiten, der Kinderstubenereignisse war ihr ein Greuel. Sie machte kein Hehl daraus, daß ihr die Kaffee- und Damengesellschaften im höchsten Grade langweilig seien, und zeigte dies selbst in Gegenwart der Frauen meiner Vorgesetzten so ungeniert, daß sie sich das allgemeine Mißfallen zuzog. Meine Bitten, doch meinetwegen sich gegen diese Damen liebenswürdiger zu zeigen, wurden geringschätzig abgelehnt mit der Bemerkung, sie hoffe nicht, daß in Preußen auch die Frauen der Offiziere unter Subordination ständen. Ich litt sehr unter diesen Verhältnissen, aber sie schien es nicht zu bemerken. Ihre Schönheit, ihr Geist sicherten ihr um so größere Erfolge bei der Herrenwelt, und ich blieb völlig machtlos ihr gegenüber.
So standen die Angelegenheiten, da trat Ruth eines Morgens zu ungewöhnlicher Stunde in mein Zimmer. Erregt und hastig teilte sie mir mit, daß sie gezwungen sei, augenblicklich nach Wien zu reisen, weil ihre cidevant Schwiegermutter, die alte Gräfin Satewski, gestorben sei. Sie wollte die Nachricht soeben brieflich erhalten haben. Ich verweigerte meine Einwilligung sofort, weil der Kleine mit fieberglühendem Köpfchen in den Armen der Wärterin lag und unruhig schrie. Ich wünschte, obgleich Ruth sich nicht besonders um das Kind bekümmerte, doch die Nähe der Mutter, in der Hoffnung, daß, wenn es gefährlicher krank werden sollte, die Mutterliebe das flatterhafte, oberflächliche Herz durchdringen, und sie sich der Pflege des Kindes widmen werde.
Meine Frau zog sich schmollend zurück. Bald hörte ich, daß die Kammerjungfer das Anspannen bestellte. Ich ging in das Kinderzimmer, der Kleine war ruhiger, und die Wärterin, die ihn singend hin und her trug, meinte, es seien die Zähnchen, die ihn quälten. Da trat Ruth ein, zum Ausfahren gerüstet. »Wo fährst du hin?« fragte ich, als sie nach einem flüchtigen Blick auf das Kind wieder aus der Tür schreiten wollte. »Nach Bendeleben«, sagte sie nachlässig und mit den Schultern zuckend. »Ich will mir bei meinen Eltern den Rat in dieser Angelegenheit holen, den ich bei meinem Herrn Gemahl nicht finden konnte.« – »Halt!« rief ich, da ich annahm, daß sie dort von dem Unwohlsein des Kindes nichts erwähnen würde. »Ich begleite dich – einen Augenblick.« Sie schien unangenehm überrascht, konnte jedoch nichts einwenden, und so fuhren wir ab.
Als ich in Bendeleben angekommen in den kleinen Salon trat, sah ich Dich, Gretchen, zum ersten Male wieder – so blaß das kleine Gesicht und in tiefer Trauer, schutzlos, ohne Vater und Mutter! Ich mußte mich unendlich zusammennehmen, um meine Bewegung zu verbergen. Da kam meine Frau schonungslos hervor mit ihrer Anklage, und Dir mußte mit einem Schlage klarwerden, in welch unglücklicher Ehe wir lebten, und wie elend ich geworden war! – Auf welche Weise sie ihren Willen durchsetzte, hast Du mit angehört. Oh, Gretchen, ich bin schon manchmal recht unglücklich gewesen, aber an jenem Abend, als ich Dich, Deine traurigen Augen sah, und auf der andern Seite die Frau, an die mich törichte Leidenschaft gekettet hatte, da schlug es mit wilden Wellen über mir zusammen – ich war froh, daß sie nicht wieder zur Stadt fuhr, froh, daß sie nach Wien reiste. Wie lange sie blieb und wie wenig sie nach mir und dem Kinde fragte, hast Du wohl gehört. Dann kam sie mit dem festen Entschluß zurück, sich von mir zu trennen.
Einmal schrieb sie mir von Wien aus, ich sollte ihr einen Schmuck schicken, den sie dort bei einem berühmten Juwelier modern fassen lassen wollte. Sie gab an, wie ihre Kassette zu öffnen sei, und bemerkte dabei, daß sie ihren Wunsch sehr bald erfüllt zu sehen hoffe. Ich ging in ihr Boudoir, öffnete die große, silberbeschlagene Kassette, die auf dem Tisch neben ihrem Diwan stand – denn Ruth liebte es, in müßigen Stunden mit ihren blitzenden Diamanten zu spielen, wie ein Kind mit seiner Puppe. Ich fand den Schmuck und nahm ihn von seiner dunklen Samtunterlage. Ein Glied des Kolliers war ausgebrochen, und Ruth hatte mir geschrieben, es liege eingewickelt oder in einer kleinen Schachtel in dem zweiten Einsatz des Kastens. Ich hob den ersten Einsatz heraus und suchte zwischen einem Gewirr von Ketten, Perlschnüren und Armbändern, erblickte auch richtig ein weißes Papier, wickelte es auf und fand – Gretchen, was meinst Du wohl? – fand das Stück aus dem Kollier, gewiß, aber noch etwas – fand ein Stück Papier mit meinen Schriftzügen. Einen Brief an Dich! – Meine Finger zitterten heftig, als ich das Papier glättete und las. Gretchen, es war der Brief an Dich, auf dessen Antwort ich so vergeblich gewartet hatte – damals kurz vor unserem Bruch. Das Ausbleiben der Antwort hatte mich in jenem Verdacht bestärkt, daß Dein Herz nicht mehr mir gehöre! – Wie soll ich Dir sagen, was ich empfand, als ich diese Entdeckung machte! Eine ohnmächtige Wut ergriff mich. Ich habe an jenem Abend heiße Tränen in meinem einsamen Zimmer vergossen über meine Irrtümer, mein verfehltes Leben. Immer und immer wiederholte ich mir den letzten Satz aus Deinem früheren Briefe: »Wilhelm, wenn man Dir je etwas Böses sagen sollte über mich, so wirst Du es nicht glauben. Denn Du weißt ja, daß kein Mensch auf der Welt Dich so treu liebt wie Deine Grete. Ich wäre das elendeste Geschöpf, wenn Du mich einmal weniger lieben könntest als jetzt – aber das ist ja auch unmöglich!« – An diese einfachen Worte dachte ich immerfort. Dann schwebte mir Dein blasses Gesicht vor mit den traurigen Augen, die mich so fragend, so vorwurfsvoll anblickten. Ein Glück, ein großes Glück, daß sie nicht zu Hause war, die mich um das Teuerste auf Erden betrogen hatte.
Gretchen, wie hat sie es nur angefangen, diesen Brief in ihre Hände zu bekommen? Oh, wieviel Elend hätte es Dir und mir erspart, wäre er richtig bestellt worden! Und doch, ich konnte ihr nicht allein die Schuld beimessen. Warum war ich so schwach, warum ließ ich mich durch ihre kokette Schönheit blenden? Ach, ich schäme mich noch, Gretchen, vergib mir ganz, ich habe wirklich schwer gebüßt.
Doch weiter. Ruth kehrte zurück, unfügsamer als je, nachlässiger gegen das Kind und mich als früher. Die ganze Reife war überhaupt nur ein Vorwand gewesen. Ich sah aus ihrem Benehmen, wie sehr sie sich danach sehnte, die lästige Fessel abzustreifen. Ihre schönen Augen suchten unablässig nach irgendeinem Vorwande dazu. Wie ein Raubtier erschien sie mir, das jeden Moment zum Sprunge bereit ist.
Eines Tages nun kam die erwünschte Gelegenheit. Ruth hatte die Einladung zu einem Diner auf dem Lande angenommen, ich aber abgelehnt. Mir ekelte vor diesem Komödienspiel, ich konnte mich nicht als den glücklichen Ehemann aufspielen, der ich ganz und gar nicht war. Ich saß an meinem Arbeitstisch und schrieb irgend etwas Dienstliches oder an Bergen, ich weiß es nicht mehr. Dann flogen meine Gedanken wieder dahin, wo sie jetzt so oft weilten – zu Dir. Ich nahm Dein Bild aus meiner Brieftasche, zog Deine Briefe aus dem Geheimfache des Schreibtisches und versenkte mich mit ganzer Seele in jene wundervolle Zeit, da sie geschrieben worden waren. Ich hatte alles um mich vergessen, als mich die Stimme des Kleinen, der laut und ängstlich schrie, aufschreckte. Ich eilte durch die Zimmer nach der Kinderstube. Es war nur ein blinder Lärm gewesen, der kleine Bursche saß schon wieder lachend auf dem Schoß der Wärterin. An Deine Briefe denkend, schritt ich rasch zurück und gewahrte, als ich in mein Zimmer trat, die Schleppe von Ruths blaßgelbem seidenen Kleide, die eben hinter der dunklen Portiere verschwand. Sofort eilte ich ihr nach und fragte, ob sie mich zu sprechen wünschte. Sie stand im anstoßenden Zimmer in grande toilette. Sie hatte die kleinen Fäustchen geballt und die dunklen Augen waren mit unbeschreiblicher Wut und Verachtung auf mich gerichtet. Sie fing an, ihre Rolle zu spielen, und fürwahr, sie war eine so routinierte Schauspielerin, daß ich mich im ersten Moment täuschen ließ. »Rühr mich nicht an!« rief sie mir entgegen, »was willst du von mir? Ich verlange nicht nach dir.« Und mit rauschender Schleppe verließ sie den Salon, wo ich, nicht wissend, was dies bedeuten sollte, zurückblieb. Bald hörte ich sie fortfahren, und erst am anderen Tage sah ich sie in der Kinderstube wieder. Ich hatte den ganzen Morgen Dienst gehabt und sehnte mich nun, in das Gesicht des kleinen, ahnungslosen Buben zu blicken. Mein Gruß blieb unerwidert. Nach einer Weile sagte sie mir, sie habe mit mir zu sprechen, ob ich zu ihr kommen wolle. Ich ging nach einer Stunde in ihr Boudoir. Sie stand am Fenster und zerriß die Spitzen ihres feinen Taschentuches. »Ich habe es nun satt, dieses Leben an deiner Seite«, leitete sie brüsk unser Gespräch ein. »Ich kann es nicht mehr ertragen, mich getäuscht und betrogen zu sehen. Bisher habe ich immer noch geglaubt, daß ich mich vielleicht irrte. Aber seit kurzer Zeit weiß ich bestimmt, daß man mich hintergeht. Ich will zu meinen Eltern fahren und bitte dich, mich zu begleiten. Ich muß Entscheidung haben, noch heute – auf der Stelle, oder ich werde verrückt.«
»Sehr gern«, sagte ich, »obgleich ich vorläufig noch keine Ahnung davon habe, was du mit dieser Rede meinst. Ich glaube aber selbst, daß es gut ist, wenn wir die Entscheidung herbeiführen – ich werde das Anspannen bestellen.« Ich ging, mir den Kopf zerbrechend, was sie mit diesem »getäuscht und betrogen werden« gemeint habe. Dann saßen wir stumm nebeneinander im Wagen, wie hätte ich ahnen können, welche Pläne und Intrigen in diesem schönen Kopfe geschmiedet wurden, der mit der Miene gekränkter Unschuld in den weichen Kissen des Wagens lag? – Auf welche Weise sie den Bruch herbeizuführen suchte, hast Du selbst miterlebt, Gretchen. Dieser geniale Gedanke war ihr gekommen, als sie tags vorher Deine Briefe auf meinem Schreibtisch liegen sah, während ich einen Augenblick zu dem Kinde gegangen war. Sie benutzte sie vor den erschrockenen Eltern als Beweismittel meiner Untreue, und das Mittel verfing, wie Du ja leider selbst mit ansehen mußtest.
Wie namenlos gern hätte ich Dich damals, als Du so leichenblaß in dem Zimmer standest und mit verstörter Miene und entsetzten Augen die Leute ansahest, die sich von Dir wandten wie von einer Verbrecherin – wie namenlos gern hätte ich Dich schützend in meinen Arm genommen und gesagt: »Fürchte dich nicht, ich bin bei dir!« Aber ich durfte es ja nicht, noch war ich der Gatte einer anderen. – Als Du das Zimmer verlassen hattest, nahm ich aus meiner Brieftasche jenen Brief von mir, den ich in Ruths Schmuckkästchen gefunden hatte, und sagte mit ruhiger, kalter Stimme: »Hier ist noch ein Brief, der dazu gehört und den du gewiß schmerzlich vermißt hast, um die Sammlung vollständig zu machen!« Sie wurde einen Augenblick sehr blaß und wußte nicht, was sie erwidern sollte. Ich benutzte den Moment der Ruhe und wandte mich zu Frau v. Bendeleben, die noch immer ganz fassungslos schien. Mit dürren Worten sagte ich ihr, daß Ruth schon vor meiner Verlobung mit ihr gewußt habe, daß ich Dich liebe, daß sie Dich aber bei mir verdächtigt habe, daß sie diesen meinen Brief an sich gebracht und unterschlagen habe, damit ich, vergeblich auf Antwort harrend, zuletzt an Deine Untreue glauben sollte. Daß ich diesen gravierenden Zeugen ihrer Handlungsweise neulich in ihrer Kassette gefunden habe, als ich den Schmuck nach Wien schicken mußte! »Du siehst, liebe Tante«, fügte ich hinzu, »daß das Hervorziehen dieser Briefe und die Miene der beleidigten, überraschten Gattin eine ganz ausgezeichnete Komödie ist, die sie meisterhaft spielt. Es ist aber eine ganz unnütze Anstrengung gewesen. Hätte Ruth nur noch wenige Tage sich geduldet, so würde ich ihr in aller Ruhe den Vorschlag einer Scheidung gemacht haben. Sie hätte sich viel Aufregung dadurch erspart und nicht nötig gehabt, das Schloß meines Schreibtisches zu ruinieren, indem sie mit einem falschen Schlüssel das Schubfach öffnete, in welchem diese mir so werten Briefe lagen.« Damit näherte ich mich dem Tische, nahm die Briefblätter zusammen und barg sie in der Tasche meines Waffenrockes. »Es sind die Briefe einer Braut an den Verlobten«, sagte ich, »begreiflicherweise keine Lektüre für einen Dritten.«
Das leidenschaftliche Temperament Ruths brach aber jetzt in vollstem Maße hervor. Scham über die Entdeckung ihrer Lügen, Wut über meine Ruhe und gedemütigter Stolz ließen sie jede Rücksicht vergessen. Die Worte sprudelten ihr unaufhörlich von den roten Lippen, während in den Augen Tränen des Zornes standen, und die kleinen Hände sich ballten. »Ich hasse dich! Ich verachte dich!« das waren Ausdrücke, die in tausendfachen Variationen auf mich geschleudert wurden. Ruhig ließ ich sie austoben und wandte mich wieder zu Frau v. Bendeleben. Ich erwartete von ihr ein Wort der Autorität. Ich habe immer viel von ihrem Verstande gehalten. Aber sie saß immer noch da, die Hände gefaltet auf dem Tische, und schien für die Exaltationen ihrer Tochter kein Ohr und für mich kein Auge zu haben. Endlich warf sich Ruth ihrer Mutter zu Füßen und mit einem Schrei barg sie den Kopf in den Falten ihres Kleides. Da stand sie auf, warf mir einen kalten Blick zu und sagte mit lauter Stimme, so daß Ruths Schluchzen sofort verstummte: »Es ist genug! Es ist ein Glück, daß es so kommt. Ich sage dir nur eines: wenn Ruth, wie du behauptest, gewußt hat, daß du bereits ein Verhältnis mit der Tochter des Pastors Siegismund unterhieltest, so muß sie dich, bei Gott, sehr geliebt haben, daß sie trotz alledem deine Gattin wurde, du Undankbarer! Und nun verlaß uns, mein armes Kind bedarf der Ruhe. Bendeleben wird mit dem Justizrat R. sprechen und die Scheidung einleiten.«
Ich konnte nicht anders, ich mußte laut auflachen, als ich den Korridor entlang schritt, über diese Auffassung der Angelegenheit. Fürwahr, meine Tante ist eine kluge Frau, das ersah ich aus der geistreichen Wendung, die sie der Sache gab! Aber der Mann kämpft vergebens mit allen Waffen der Logik gegen die selbstgeschaffenen Ideen einer Frau. Ich versuchte auch nicht, meine Tante eines Besseren zu überzeugen, sondern ging zu dem Baron. Diesen traf ich in feindlichster Stimmung an. Er machte mir die heftigsten Vorwürfe, daß ich so wenig Standesbewußtsein gehabt habe, um ein bürgerliches Mädchen heiraten zu wollen. Er sagte, daß ich durch diese Liebschaft ihn blamiert, seine Tochter unglücklich gemacht habe, und noch verschiedenes, was ich Dir nicht wiederholen will. Auf Dich war man ebenfalls sehr böse, mein Gretchen. Du armes Mädel hättest eben in Deiner Stellung auf dem Schloß kein Herz haben dürfen. Und doch pochten unsere jungen Herzen rascher, als wir einander sahen, und die Liebe, der es ja ganz gleichgültig ist, ob eine Krone über dem Namenszug beider prangt, oder ob diese auf einer Seite fehlt, zog uns zueinander hin. Und das soll ein Verbrechen sein!
Ich schied von meinem Onkel, ohne mich zu einer Verteidigung meiner Handlungsweise herbeizulassen, wie er wohl gehofft hatte. Nur sagte ich ihm, daß ich die Scheidung beantragen und demzufolge mit meinem Anwalt schon morgen sprechen würde. Er stutzte einen Augenblick, und den Eklat fürchtend, schlug er mir eine längere Trennung von meiner Frau vor: sie könne unter dem Vorwande ihrer wankenden Gesundheit längere Zeit auf Reisen gehen, und die Gemüter würden sich dann vielleicht beruhigen. Später sei eine Versetzung in eine andere Garnison möglich, und Ruth werde mir die Täuschung vergeben und ruhiger werden.
»Ich habe Ruth nicht getäuscht«, sagte ich, »sie hat mir gar nichts zu vergeben. Ich habe nichts dagegen, wenn sie verreist, kann aber leider den einmal gefaßten Entschluß der Scheidung nicht zurücknehmen, da ich in meiner Ehe zu der festen Überzeugung gelangt bin, daß unser Verhältnis nicht besser, wohl aber immer unglücklicher werden wird. Es ist also das beste für Ruth, das beste für mich, und ich tue, wie gesagt, morgen den ersten Schritt in dieser Angelegenheit.«
»Gut«, sagte mein Onkel und verbeugte sich, aber er war leichenblaß dabei. »Ich will nicht hindernd in den Gang dieser traurigen Geschichte eingreifen. Ich werde veranlassen, daß meine Tochter abreist, und werde meinerseits ebenfalls meinen Rechtsanwalt beauftragen – und somit hätten wir uns für jetzt nichts mehr zu sagen, sollt' ich meinen?« – »Nichts, Onkel«, sagte ich, nahm meine Mütze und ging. Was nun folgt, kennst Du. Ich brachte Dir mein Kind, die Scheidung wurde eingeleitet, und an jenem Tage, vorgestern, als meine Tante Dir das Kind abnehmen wollte, hatten Ruth und ich morgens die letzten Termine, zuerst bei dem Prediger, der auch unser Kind getauft hatte, dann vor Gericht.
Ich trat schweren Herzens in das Zimmer des alten Geistlichen. Es war zwar nur eine leere Formalität zu erfüllen, aber gerade diese formelle Notwendigkeit ist unter Umständen äußerst peinlich. – Kaum hatte ich Zeit gehabt, den würdigen Herrn zu begrüßen, als ein Wagen vorfuhr und gleich darauf die Frau v. Eberhardt hereinrauschte, so schön, so frisch und mit so strahlendem Lächeln, als ob sie einen freundschaftlichen Besuch machen wollte. »Ah, guten Tag, mein Freund!« rief sie mir in vollkommen unbefangenem Tone zu, begrüßte den Geistlichen, sprach in seine wirklich ergreifende Rede hinein und klappte ihr Sonnenschirmchen auf und zu. Zuletzt gähnte sie ganz herzhaft, indem sie in echt wienerischem Dialekt, den sie manchmal bei besonders guter Laune annahm, bemerkte: »Ja, schaun's, Hochwürden, das ist alles recht schön, 's hilft aber doch nicht, 's bleibt alles beim alten. Wir haben halt beide keine Lust mehr zueinander – gelt, Eberhardt?«
»Und Ihr Sohn?« fragte ganz entrüstet über diese leichtfertige Äußerung der Geistliche. »Wollen Sie das Kind, das Gott Ihnen anvertraut hat, nicht lieber unter dem Schutz beider Eltern aufwachsen sehen? Soll das Kind den Segen eines geordneten Familienlebens entbehren? Oh, überlegen Sie!«
»Ei, mein Sohn wird von seinem Vater mehr geliebt, als es zehn Mütter imstande wären. Höchstens kann's ihm schaden, wenn er sieht, daß von den Eltern eins nach hier strebt, das andere nach dort – es ist besser so.« Sie stand auf und legte ihre Hand auf den Arm des Geistlichen, der sie ganz entrüstet betrachtete. »Leben Sie wohl, Hochwürden! Haben Sie Dank für Ihre Mühe! Ich muß jetzt noch einige Besorgungen machen und nachher ist noch Termin – auf Wiedersehen, mein Freund!« nickte sie mir zu, machte ihre graziöse Verbeugung und war aus der Tür. Der alte Mann stand da mit einem Gesicht, aus dem Ärger und Besorgnis zugleich sprachen. Er hatte gewiß schon manches Ehepaar in dieser Situation vor sich gehabt, hatte schon schmerzliche Reue und häßliche Verstocktheit dabei kennengelernt, aber diese Auffassung war ihm gewiß noch nicht vorgekommen. Er drückte mir nach ein paar Augenblicken des Schweigens die Hand und sagte leise: »Es ist besser so, mein Herr, sie hat recht.« – Vor Gericht ging es ungefähr ebenso. Mein Anwalt beanspruchte das Kind für mich, und sie war sofort bereit – doch das weißt Du ja.
Als ich vorgestern nach minutenlanger, schweigender Fahrt neben meiner Tante durch den Korridor des Schlosses schritt, um in das Zimmer meines Onkels zu gelangen, hörten wir Klavierspiel – eine Masurka, so exakt, so schwungvoll, wie eben nur Ruth diesen reizenden polnischen Tanz zu spielen versteht. Ich sah sie im Geiste dasitzen mit blitzenden Augen und dem bezaubernden Lächeln um den kleinen Mund. Frau v. Bendeleben blieb unwillkürlich stehen und preßte die Hand gegen die Brust. Sie war leichenblaß, dann fragte sie den alten Johann, der uns entgegenkam, seit wann die junge Frau zurückgekehrt sei und ob Besuch im Saale wäre. Aber noch ehe der Diener antworten konnte, verstummte das Klavierspiel, und Ruths glockenhelle Stimme trällerte eines jener kleinen französischen leichtsinnigen Chansons, die in heiterer Gesellschaft aus dem Munde einer schönen Frau geradezu berauschend wirken, mit diesen Verhältnissen aber häßlich kontrastierten. Ein langer Triller, der wie schalkhaftes Lachen klang, beschloß den Gesang. Ich kannte dieses Lied zur Genüge, Ruth hatte es oft in ihrem Salon gesungen, und gerade dieser lachende kokette Schluß hatte ihre Gäste stets in höchstes Entzücken versetzt. Diesmal brachte es eine entgegengesetzte Wirkung hervor. Frau v. Bendeleben riß die Tür auf und stand ihrer Tochter plötzlich gegenüber, mit einer so drohenden Miene, daß der heitere, sonnige Ausdruck von dem schönen Gesicht beinahe verschwand. Ich sah nur noch, wie sie das Notenbuch, in dem sie geblättert, auf den Flügel warf, und hörte Frau v. Bendelebens atemlose, bebende Stimme, mit der sie fragte: »Du kannst heute singen?« Dann wurde die Tür geschlossen, ich entfernte mich rasch und ging in meines Onkels Zimmer.
Ich reichte ihm die Hand, sagte ihm, daß ich von heute an nicht mehr sein Sohn, daß ich gerichtlich von Ruth getrennt sei, und bat ihn, mir als Onkel nicht die ganze Zuneigung zu entziehen, die ich ehedem in so reichem Maße besessen hatte. Er sah ergriffen aus und erwiderte leise, er habe gehofft, es würde nicht zum Äußersten kommen. Er habe noch darauf gerechnet, daß das Kind uns diesen Schritt als zu schwer erscheinen lassen würde, da es doch gewiß niemand von uns beiden missen wollte. Ich sah, er wußte noch nicht, wie die Entscheidung ausgefallen war. »Hast du Ruth denn noch nicht gesprochen seit ihrer Rückkehr aus der Stadt?« fragte ich. – »Nein, mein Gott, ich bin erst vor einer halben Stunde nach Hause gekommen«, erwiderte er. »Ich weiß gar nicht, daß sie schon wieder zurück ist. Ich glaubte, sie kehre erst gegen Abend heim – schon deshalb, weil sie weiß, daß du heute nachmittag hier sein würdest.«
»Oh«, erklärte ich, »wir sind in aller Freundschaft voneinander geschieden – Ruth war nie liebenswürdiger als heute, in Gegenwart der Richter, sie –«
»Und das Kind?« fragte der Baron plötzlich.
»Gehört mir, Onkel!«
»Das ist nicht möglich!«
»Ja, es ist so«, bestätigte Frau v. Bendeleben, die eben eintrat, »und zwar hat Ruth, wie sie mir eben selbst sehr ruhig sagte, das Kind freiwillig abgetreten.« Armer Onkel, dies traf ihn ebenso unvorbereitet und niederschmetternd, wie es seine Gattin getroffen hatte. Er starrte erst mich an und dann seine Frau, als könne er es nicht fassen. Frau v. Bendeleben hatte die Lippen fest aufeinander gepreßt und blickte mit resignierter Miene durch das Fenster auf das saftige Grün der Linden und Kastanien im Park. Eine Weile war alles still, dann fragte der Baron leise: »Wo ist Ruth, ich möchte sie sprechen?«
»Vergebene Mühe, Bernhard, laß sie«, sagte Frau v. Bendeleben und legte die Hand auf ihres Mannes Arm. »Es ist besser so, das Kind bleibt Wilhelm – wir werden bald wieder ganz allein sein, Bernhard, denn sie – sie will morgen schon fort nach Wien!« Die Stimme bebte bei den letzten Worten, und dann rollten ein paar große Tränen aus den noch immer schönen Augen. Sie wendete sich rasch und schritt zur Tür hinaus. Der Baron saß auf einem Lehnstuhl und starrte vor sich hin, ein schmerzlicher Zug lag um seinen Mund. Dann stand er auf und reichte mir die Hand: »Behüt dich Gott, mein Junge. Geh jetzt, ich möchte – ich will –« er vollendete nicht, es schien ihm plötzlich ein Gedanke zu kommen, und mich ansehend, sagte er: »Junge, du wirst mir hoffentlich nicht den Kummer machen und deine alte Liebe heiraten? Versprich mir das, und du sollst mein ganzes Herz behalten. Sieh, die Grete ist ein Prachtmädel, aber zieh sie nicht aus ihrem Stande.«
Und nun, Gretchen, laß es Dich nicht verdrießen, daß ich Dir diesen Wunsch meines Onkels so unverhohlen schreibe. Denn meine Antwort darauf soll zugleich eine Frage an Dich sein, Gretchen. – Ich sagte ihm: »Das kann ich nicht versprechen, Onkel, denn mein nächster Schritt wird sein, die um Verzeihung zu bitten, die ich so arg beleidigt und gekränkt habe, und sie zu fragen, ob sie mir vergeben – ob sie noch jetzt mein Weib werden will?«
Gretchen, laß Dich nicht kümmern, was mein Onkel geantwortet hat, und sage Du ein Ja auf meine demütige Bitte. Verzeih mir und werde mein! Ich bereite Dir eine Heimat da, wo ich meine Jugend verlebte. Am Rhein, am schönen Rhein wollen wir wohnen, und alles, was Dich beglücken, was Deinen Mund lächeln, Deine schönen Augen strahlen machen kann, das will ich tun, damit Du die bange Zeit vergißt, die Du durch mich erlebt hast. Frage Dein Herz, Margarete. Nicht wahr, Du liebst mich noch? Man kann ja so schwer die erste Liebe vergessen – sollte es bei Dir anders sein? Schreibe nur ein Ja oder ein Nein auf einen Zettel, den mir Friedel überbringen soll. Ach, Gretchen, und nicht wahr, es ist ein Ja?
Ich habe Dir alles gesagt, ich habe mein Betragen keineswegs beschönigt; sei gut, sei mild, Margarete, und werde mein! Ich zähle die Stunden, bis Deine Antwort kommt. Sieh das Kind an, wenn Dir die Entscheidung schwerfällt; was soll aus ihm, was aus mir werden ohne Dich, Margarete!
Wilhelm v. Eberhardt.
Ja, ich war sehr glücklich geworden. Ich hatte mich nicht einen Augenblick besonnen auf die Antwort, die ich ihm schicken wollte, und Friedel trabte sehr bald nach Beendigung der langen, ausführlichen Lektüre mit einem Briefchen von mir, welches das lakonische Ja enthielt, der Stadt zu. Der brave Mensch blickte mir forschend ins Gesicht, als ich ihm die Botschaft in die derben Hände legte. Ich muß wohl sehr glücklich ausgesehen haben, denn er war mit einem raschen Sprunge im Sattel, schnalzte mit der Zunge und rief noch halb zu mir gewendet: »Nu aber tritt ein bißchen zu, alter Junge! Der Herr Leutnant wartet wie ein Kind auf den Heiligen Christ!« Dann war er auch schon um die Ecke verschwunden.
Ich ging ins Haus, nahm das Kind in die Arme und küßte es. Ich erzählte ihm eine lange Geschichte von einer Mama, die es sehr liebhaben würde. Kathrin sagte nichts, aber sie streckte mir ihre alten Hände entgegen, und in den greisen Augenwimpern hingen ein paar Tränen, die ersten, die ich je aus diesen Augen fließen sah. Was kümmerte mich der Baron, was die Meinung der Welt, er bedurfte meiner, das war genug. Alle anderen Bedenken schwanden vor diesem beglückenden Bewußtsein.
Und dann der Tag, an dem er kam, und ich zum zweiten Male als Braut in seinen Armen lag. Und unsere Liebe war eine gestärkte, gekräftigte, durch nichts mehr zu trennende.
Die Stunden waren so schön, zu schön, als daß ich sie beschreiben könnte. Wäre es möglich gewesen, mein Glück noch zu steigern, so hätte es ein Brief von Hanna getan, den Wilhelm mir mitbrachte. Mit Herzklopfen öffnete ich ihn: es war die Antwort auf jenes Schreiben, worin ich ihr mitteilte, daß ich nun doch Eberhardts Weib werden würde, zwar gegen den Willen ihrer Eltern – und dies sei betrübend für mich –, aber ich könnte nicht anders, weil ich ihn so von ganzer Seele liebhätte. Die gute, liebe Hanna, sie schrieb so zart, so innig und sandte mir, vereint mit ihrem Manne, die aufrichtigsten Segenswünsche. Sie tröstete mich über das Zürnen ihrer Eltern und hoffte, daß sich einst noch alles zur Zufriedenheit gestalten würde. »Tue Deine Pflicht«, schrieb sie noch zuletzt, »mache den armen Eberhardt und sein Kind glücklich, für anderes hast Du jetzt nicht zu sorgen, das liegt in Gottes Hand!« Das war das richtige Wort gewesen, und ich stellte all mein Tun unter den Schutz unseres himmlischen Vaters und beugte mich demütig unter der Last des Glückes, das mich beinahe schwindlig machte.
Ach, dieser Tag, er blieb der Glanzpunkt meines Lebens! Ich sehe mich noch in der kleinen Stube neben Eberhardt auf dem Sofa, zwischen uns das reizende Kind mit dem dunklen Lockenköpfchen. Er hatte einen Arm um die kleine Gestalt geschlungen, die andere Hand ruhte in der meinen, und dabei erzählte er mir Pläne für die Zukunft. Kathrin, die bei mir die Stelle der Mutter oder Ehrendame vertrat, saß wie immer auf ihrem Platz am Ofen und nickte mit dem Kopfe zu allem, was er sagte. Zum neuen Jahre hoffte er seine Versetzung zu erhalten. Dann wollte er von Weihnacht an Urlaub nehmen und am dritten Feiertage sollte uns Pastor Renner auf immer verbinden. Kathrin sollte unter der Pflege des verständigen Mädchens und der Oberaufsicht der Frau Renner in dem Vaterhause verbleiben, und ich wollte meinem Gatten in unsere neue Heimat folgen.
Mir wurden die Augen feucht, als ich daran dachte, die alte, treue Seele zu verlassen. Aber ich hatte keine Wahl mehr, ich gehörte ja ihm für immer. Wir wollten sie alljährlich besuchen, mußten wir ihr versprechen. Mein Gott, wenn man die alte, gebrechliche Gestalt ansah, dann konnte man an einen Abschied auf Nimmerwiedersehen denken.
Ein schriftlicher Verkehr zwischen Eberhardt und mir wurde verabredet. Friedel sollte jede Woche einmal herüberreiten und einen Brief bringen und holen. Sehen wollten wir uns nicht so oft, um nicht den Leuten Anlaß zu müßigem Geschwätz zu geben. Weihnacht war ja so nahe, noch zwölf Wochen, und dann sollten wir uns für immer haben. Da mußte es schon ertragen werden, daß wir uns nicht so oft sehen und sprechen konnten. Es gab ja auch soviel für mich zu tun, und eine Ausstattung, zierlich und hübsch, mußte ich auch noch besorgen – hatte mir doch mein Vater schon bei Lebzeiten eine Summe dafür bestimmt.
Ach, das Glück! Wie sieht die Welt so wunderbar eigen aus, wenn das Herz so voll ist von heiliger, süßer Freude. Ein rosiger Schein umleuchtet Gegenwart und Zukunft, was kann nun noch Trübes kommen? Vergangenes Leid ist ja kaum noch Leid, es dient nur dazu, das Jetzt strahlender und reizender zu machen. Wie ich so dasaß, das schlafende Kind auf meinem Schoß, den Kopf an die Brust des geliebten Mannes gelehnt und von seinem Arm umschlungen, da war meine schönste Stunde gekommen, und Gott sei noch heute der heißeste Dank dargebracht, daß ich sie so voll, so ungetrübt erleben durfte.
Ach, wie bald, wie bald kam das Entsetzliche!
Es war der November gekommen. An einem stürmischen Tage – es war am zwanzigsten, der, sooft er auch bis jetzt wiederkehrte, nichts von seiner Bitterkeit in meiner Erinnerung verloren hat – war ich drüben gewesen bei Frau Renner, bei meiner zweiten Mutter, wie ich sie zuweilen liebkosend nannte. Auf dem blassen, stillen Gesicht des jungen Pfarrers rief dieser Name immer ein leises, trauriges Lächeln hervor. Die Gute, sie verdiente ihn auch. Mit Rat und Tat stand sie der verwaisten Braut bei, und eine wirkliche Mutter hätte kaum umsichtiger und besorgter für ihre Tochter sein können als sie. Als ich ihr zögernd und doch so freudig gestand, daß ich nun doch noch Wilhelms Braut geworden sei, da flog wohl für einen Augenblick ein Schatten über ihr altes Gesicht, und ein besorgter, kummervoller Blick richtete sich nach der Tür zum Studierzimmer ihres Sohnes, wo er seine Predigt verfaßte. Aber dann ergriff sie warm meine Hand und wünschte mit herzlichen Worten Glück. Auch der junge Pastor sagte mir am anderen Tage einige freundliche Worte. Nur kam es mir vor, als ob seine Hand zitterte, wie sie die meine erfaßte, und als ob die tiefe Stimme leise erbebte. Als ich ihm voll ins Gesicht sehen wollte, da wendete er sich ab und schritt weiter.
Heute nun war ich, wie schon gesagt, ein Stündchen drüben gewesen. Der Sturm hatte mich, als ich über die Straße schritt, tüchtig gefaßt und ich konnte mich eines frostigen Schauers nicht erwehren. Willy jauchzte mir freudig entgegen. Ich nahm das Kind auf den Arm und stand mitten in der Stube. Kathrin nickte mir schläfrig zu. Da war es mir auf einmal, als zöge sich ein Nebel um meine Augen, als strahle die Lampe nur ein blasses, falbes Licht aus. – Ich setzte das Kind rasch auf den Boden und faßte mit der Hand an meine Stirn. In diesem Augenblick schlug es auf dem kleinen Kirchturm sechs Uhr. Hatte ich den Kleinen erschreckt durch das rasche Heruntergleiten, oder hatte er sich weh dabei getan, ich weiß es nicht. Er blieb einen Moment starr an der Erde sitzen und schrie dann plötzlich laut und ängstlich auf. Ich nahm ihn rasch wieder empor, er war wieder ruhig. Aber mich erfaßte ein banges Gefühl, mein Herz klopfte heftig. Ich schritt rasch ein paarmal in der Stube auf und ab und horchte auf den Sturm, der das Haus umtobte, dann sah ich wieder auf Kathrin, die eingenickt war. Auch das Köpfchen des Kindes hatte sich auf meine Schulter gesenkt. Leise legte ich den kleinen Schläfer auf das Sofa und drehte die Lampe so, daß der Schatten auf sein Gesicht fiel, dann preßte ich die Hände auf mein Herz und suchte mich des unheimlichen Bangens zu erwehren, das so plötzlich über mich gekommen war. Ich zog Eberhardts Brief aus meinem Kleide, den mir Friedel morgens gebracht hatte, und las ihn Wort für Wort noch einmal durch. Draußen heulte der Wind in allen Tonarten und meine Unruhe steigerte sich immer mehr.
Ich bin nicht abergläubisch, aber in dieser Stunde habe ich geahnt, daß ein furchtbares Geschick über mich hereingebrochen war. – Was ich alles tat an jenem Abend, um meine Unruhe zu bemeistern, ich weiß es nicht mehr. Später, nach dem Abendessen, als Kathrin und der kleine Bursche schliefen, versuchte ich zu lesen, um meine Gedanken zu fesseln. Umsonst, sie schweiften immer wieder fort. Es war totenstill in dem kleinen Gemach, und doch lauschte ich mit allen Sinnen: es war ein Hinaushorchen in die Ferne. Ich dachte an ihn, und ob seine Gedanken wohl auch so ängstlich bei mir weilten. – Draußen hatte sich das Unwetter verdoppelt. Ich lag dann in meinem Bett und lauschte dem Heulen und Toben des Windes und den gleichmäßigen Atemzügen des Kleinen neben mir, schlaflos und bange.
Endlich, gegen Morgen, kam ein wenig Schlummer. Ach, später habe ich mir oft gewünscht, daß ich nie wieder erwacht sein möchte. – Mich schreckte ein heftiges, lautes Pochen auf. Ich fuhr empor in meinem Bett und lauschte mit Herzklopfen, ob es nicht ein Traum gewesen sei – aber nein, da tönte es schon wieder, lauter und deutlicher fiel der Klopfer der Haustür auf seine Metallplatte; gleichzeitig drang der Ruf: »Marie! Marie!« an mein Ohr. In einem Nu war ich in meinen Morgenkleidern, eilte mit einem Licht hinaus und öffnete die Tür. Ein kalter Luftzug drang herein und verlöschte das Licht; ich sah nur noch eine Gestalt eintreten. Wer es war, konnte ich in der Finsternis nicht erkennen. Die Frage erstarb mir auf den Lippen, denn eben kam auch Marie mit ihrer Lampe die Treppe herunter, und der Schein fiel flackernd und unsicher auf Friedels verstörtes Gesicht. Ein Blick auf ihn sagte mir, daß etwas Schreckliches geschehen sei. Er war ohne Mütze, die Haare hingen Wirr um das Gesicht, die Augen irrten angstvoll von mir zu Marie und wieder von Marie zu mir. – Er wollte sprechen und konnte nicht, und ich starrte ihn an, ohne vor Todesangst ein Wort sagen zu können. »Jesses Maria!« schrie das Mädchen auf. »Der Friedel! Was ist da passiert?«
»Der Herr Leutnant!« stammelte er endlich nach einer Pause, die mich das Klopfen meines Herzens deutlich hören ließ. »Der Herr Leutnant –« schrie er dann auf und warf sich zu meinen Fußen – »ist tot! Gestern abend! Oh, der barmherzige Gott soll mir meine Sünden vergeben, aber ich wollt', ich wäre tot! Ach, Fräulein, der Jammer, der Jammer!« Und der Mensch brach in lautes Weinen aus, während ich mir die Hand vor die Stirn legte und einen entsetzlichen Traum zu träumen glaubte. Wie im Traume hörte ich den Schrei des Mädchens, das Schluchzen des Menschen zu meinen Füßen; in meinen Ohren tönte es immer: »Tot! Gestern abend!« Mein Herz war mit einem Male so still geworden, als hätte es aufgehört zu schlagen. –
Dann lachte ich laut auf, es war ja lächerlich, was sie da sagten. Wilhelm sollte tot sein? Mein Wilhelm? Das war ja einfach unmöglich. Wie konnte er sterben, er, so voll Leben und Gesundheit, wie konnte er kalt und starr daliegen, an den ich Tag und Nacht mit aller Glut der Sehnsucht und Liebe dachte? – »Seid ihr verrückt?« rief ich zornig und stieß Friedel weg, der noch immer mein Kleid erfaßt hielt. Dann ging ich in die Stube, tastete mich nach Kathrins Bett und rief: »Kathrin! Wach auf und sage du den Menschen, daß es nicht wahr ist, sage ihnen, daß Wilhelm nicht tot sein kann. Nein, es kann ja nicht sein, es ist ja nicht möglich!«
Ich erinnere mich noch ganz deutlich dieser Worte und der Ruhe, der Gewißheit, womit ich sie aussprach. Ich war völlig im Besitz meiner Sinne, obgleich man mir später oft erzählte, daß man für meinen Verstand in dieser Stunde gefürchtet habe. Nein, ich war vollständig bei mir. Ich hielt eben das Gräßliche nicht für möglich. Ich konnte es nicht fassen, daß ich das Teuerste auf Erden verloren, daß ich von dem Gipfel des Glückes bis in das tiefste Elend geschleudert sei. –
Das Mädchen hatte, wie ich später erfuhr, die Frau Renner geweckt mit dem Rufe: »Ach, kommen Sie doch nur, der Herr Leutnant ist tot, und das Fräulein ist wahnsinnig geworden!« Ich saß noch auf dem Bett der zum Tod erschreckten Kathrin, deren zitternde kalte Hände die meinen hielten – um mich her die Dunkelheit des frostigen Novembermorgens, – da bemerkte ich Licht im Wohnzimmer und hörte Stimmen. Dann kam das Licht auch in die Schlafstube, und das leichenblasse Gesicht der guten alten Renner schaute mich mit unverhohlenem Entsetzen an. Ich ging ihr entgegen und ließ mich in das Wohnzimmer führen. Dort stand Friedel an die Tür gelehnt, den Kopf in seinen Armen verborgen. Das Mädchen war bemüht, Feuer anzumachen im Ofen.
»Gretchen, mein armes Kind«, sagte die kleine Frau, und große Tränen rannen über die blassen Wangen, »Trost kann ich Ihnen nicht geben, das vermag nur Gott.« – Friedels dumpfes Schluchzen, die bebenden Worte der alten Frau fuhren mir wie ein Dolchstoß ins Herz: die Überzeugung, daß das Schreckliche doch wahr sei, trat mit furchtbarer Deutlichkeit vor meine Seele. »Wilhelm! Wilhelm!« schrie ich in rasendem Schmerz auf – dann weiß ich nichts mehr von dieser bitteren Stunde.
Als ich wieder zu mir kam, war es heller Tag geworden, ein klarer, reiner Wintertag. Ich erwachte mit dem vollständigen Bewußtsein des grenzenlosen Leids, das mich betroffen. Mit einer Ruhe, die ich noch jetzt bewundere, und mit einer Kraft, wie sie eben nur in solchen Leidenstagen der liebe Gott uns verleiht, stand ich auf und kleidete mich an, obgleich Frau Renner lebhaft dagegen war. Dann wollte ich Friedel sprechen, um aus seinem Munde zu hören, wie und auf welche Weise die schreckliche Katastrophe herbeigeführt worden sei. Er war aber schon fort, und Frau Renner sagte mir mit vor Weinen erstickter Stimme, Eberhardt habe ein junges Pferd geritten, dieses sei durchgegangen und habe sich mit ihm überschlagen. Da sei er mit dem Kopf an einen Prellstein geschleudert worden und sofort tot gewesen.
Ich schauderte, mein Herz zog sich zusammen: sein Bild stand vor mir – das schöne Gesicht entstellt, die dunklen Augen geschlossen –, starr blickte ich ins Leere hinaus, dann aber kam mir der Gedanke: »Du mußt ihn sehen, noch einmal sehen, das letztemal!«
Ruhig zog ich mir ein schwarzes Kleid an, dasselbe, welches ich zur Trauer um meinen Vater getragen, dann fragte ich nach dem Kinde – man hatte es zu Renners drüben gebracht. Es wurde geholt, die kleine Waise. Ein Jammer ohnegleichen füllte meine Brust, und ich konnte doch nicht weinen, ach, nicht eine Träne trat in mein Auge. Der Kleine fürchtete sich vor dem schwarzen Kleide und meinem blassen Gesicht und verlangte nach Kathrin, die der Schreck vollständig sprachlos gemacht hatte. Ich nahm Hütchen und Mantel des Kindes und zog es an, band mir ein schwarzes Tuch um, nahm den Kleinen auf den Arm und schritt an der starren Frau Renner vorüber, aus der Haustür und durch den Park nach dem Schlosse. Was ich eigentlich wollte – klar war es mir selbst nicht. Das Kind jauchzte einem Schwarm Vögel zu, die hoch oben im blauen Himmel schifften. Ich sah nichts, vor meinen Augen stand das schreckliche Bild des Todes.
Mechanisch setzte ich meinen Weg fort und gelangte, ohne jemand zu sehen, ins Schloß. Frau v. Bendeleben saß an ihrem Schreibtischchen, als ich eintrat. Dann sprang sie auf und hielt sich mit zitternden Händen an der Lehne ihres Stuhles, während ein entsetztes »Barmherziger Gott!« über ihre blassen Lippen kam.
»Hier ist das Kind«, sagte ich, »jetzt muß ich es Ihnen geben, denn es hat keinen Vater mehr –!«
Ich trat noch einen Schritt näher und wollte den Kleinen in ihre Arme legen. Aber er klammerte sich mit beiden Händen um meinen Hals und schaute trotzig die blasse Frau an, die mit unverstelltem Entsetzen dastand.
»Gretchen«, sagte sie dann tonlos, »was sprichst du? Wer hat keinen Vater mehr?«
»Wilhelm v. Eberhardt ist tot!« erwiderte ich laut, aber ich mußte mich mit der Hand auf die Tischplatte stützen und konnte kaum den Kleinen noch halten. Frau v. Bendeleben sank in den Sessel zurück. Eine lange Pause entstand, als ich ihr das Kind auf den Schoß gesetzt und gesagt hatte: »Sei gut gegen die Dame, sie hat dich lieb!« Dann streichelte ich noch einmal mit der Hand über das dunkle Lockenköpfchen und wandte mich zum Gehen – meine Schritte schwankten. Was mein Herz in diesem Augenblicke empfand, war das Schwerste von allem, das kann nur ich ermessen.
Als ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich den Ruf: »Gretchen!« und gleich darauf das heftige Weinen des Kindes. Mit aller Gewalt zog es mich wieder zurück. Ich kämpfte einen Moment schwer mit meinem Herzen, aber dann riß ich mich los und trat in das Zimmer des Barons. Er hatte einen Brief in der Hand und sein Gesicht in einem Tuche verborgen. Als er mich sah, trat er zu mir, und einen Blick auf mein schwarzes Kleid und mein verstörtes Gesicht werfend sagte er leise: »Ich weiß es schon, mein Kind – hast du irgendein Anliegen an mich?«
»Ich will ihn nur noch einmal sehen«, bat ich, »nur noch einmal.«
»Er stand dir sehr nahe, Margarete, zuletzt?« sagte er.
»Er war mein Bräutigam!« erwiderte ich leise.
Der Baron zuckte zusammen, dann sagte er: »Du kannst mitfahren, ich habe bereits das Anspannen bestellt – warte einen Augenblick, ich will nur meiner Frau die Trauerkunde bringen.«
»Sie weiß es schon«, bemerkte ich.
»Weiß es schon? Durch wen?«
»Durch mich. Ich brachte ihr das Kind!« Das letzte klang wie ein Aufschrei und meine Hand fuhr nach dem Herzen. Der Baron strich liebkosend über mein Haar und eine Träne rann langsam über seine Wange, als er murmelte: »Armes, armes Kind!«
Kurze Zeit nachher rollten wir in eiliger Fahrt auf dem Wege nach G. Man hatte Mantel und Decken für mich in den Wagen gelegt, aber ich fror nicht, trotz der eisigen Kälte. Der Schmerz machte mich vollständig unempfindlich für alles. Wir fuhren vor dem stattlichen Hause vor, in welchem Wilhelm mit Ruth gewohnt hatte und nachher geblieben war. Friedel öffnete uns die Haustür, er sah ganz verweint aus, und in der Tat, als er mich erblickte, rannen die Tränen aufs neue aus seinen Augen. Er geleitete uns die Treppe hinan und fühlte uns in Wilhelms Zimmer. Der Baron fragte, wo die Leiche sei; Friedel deutete auf eine Tür und flüsterte: »Dort nebenan.«
»Bleib hier, Gretchen«, sagte der Baron, »ich werde erst nachsehen, wie es dort aussieht.« Er ging, begleitet vom Diener. Ich schaute umher in seinem Zimmer, dort lag noch alles, so wie er es gestern gesund und frisch verlassen – um als Toter heimzukehren. Unter dem Spiegel tickte die große Uhr, auf dem Tische lagen Handschuhe, Bücher, Zeitungen. Der Sessel vor dem Schreibtisch war zur Seite geschoben, als wäre er eben aufgestanden, um Friedel einen Brief für mich in die Hand zu geben. Ich nahm die Feder vom Tintenfaß, die seine Hand erst gestern noch gehalten. Ach, war es denn Wirklichkeit? Hatte er mich verlassen für immer? Ein wilder Schmerz bäumte sich auf in meinem gepeinigten Gemüte. – Was hatte ich getan, daß Gott mich so furchtbar strafte? Warum mußte ich leben mit dieser Qual? Warum lag ich nicht auch kalt und starr neben ihm da drinnen? –
Da öffnete sich die Tür und Friedel trat herein. »Nun können Sie kommen, Fräulein Gretchen«, sagte er leise und schob die Vorhänge zurück. Ich folgte ihm schwankend. In dem völlig leeren Zimmer hatte man ihn aufgebahrt, es war einst der Salon des Hauses gewesen, aber die scheidende Frau hatte seine luxuriöse Einrichtung mit fortgenommen. Nur die prächtigen, roten seidenen Vorhänge vor den Fenstern waren geblieben, und durch sie fiel ein rosiger Schein auf das bleiche, stille Angesicht vor mir im Sarge, es wie mit einem Schimmer des Lebens überhauchend. Wortlos stand ich an dem Sarge und sah hinab auf mein gestorbenes Glück. Die Gedanken, die damals in mir tobten, Gott mag mir verzeihen, demütig waren sie nicht. Es war ein Auflehnen gegen das unerbittliche, rauhe Schicksal, und doch, wie machtlos kämpfte das arme Herz dagegen!
Friedel weinte immer noch. »Ach, Fräulein«, sagte er endlich, »ich wollte, es käme eine Träne in Ihre Augen! Sie sehen so schrecklich blaß, so finster aus. Weinen Sie doch, lassen Sie eine Träne in den Sarg fallen. Er hat ja keine Ruh' im Grabe, wenn die nicht um ihn weinen, die ihn geliebt haben.«
»Friedel! Wenn ich nur weinen könnte!« schrie ich auf. Aber ich konnt's ja nicht. »Wilhelm, bleib bei mir, was soll ich ohne dich in der Welt!« Und dann beugte ich mich nieder und legte mein Gesicht an seine kalte Wange und küßte seinen Mund. So blieb ich lange, lange allein mit ihm, denn auch Friedel war gegangen. Ich sprach zu meinem Eberhardt flüsternd und schaute in sein liebes Gesicht, dann schnitt ich mir eine seiner Locken ab. – Das Zimmer hatte man mit Orangenbäumen geschmückt, und zahlreiche Kränze und weiße Rosen bedeckten den Toten, sie alle hatten noch gestern in voller Pracht geblüht, ja gestern noch!
»Nicht einmal einen Kranz hab' ich für dich, mein einziger Schatz!« flüsterte ich. »Was kann ich dir nur mitgeben in dein kühles Grab?« Da fiel mir ein, daß Kathrin meiner Mutter noch im Sarge ein kleines Medaillon von der Brust genommen hatte, welches eine Locke enthielt, die einst die Verstorbene mir abgeschnitten, auf meine neugierige Frage hatte Kathrin erwidert, wenn man einem Toten Haare von einem Lebenden mit in die Erde gäbe, so zöge ihn der Verstorbene bald nach sich. Entschlossen nahm ich eine kleine Schere, band mein Haar auf und schnitt mit raschem Griff einen meiner langen braunen Zöpfe ab, die sein Entzücken gewesen waren. »Hier, mein Wilhelm, das ist noch besser wie Blumen«, flüsterte ich und legte die Flechte unter die Tücher auf sein Herz. – »Nun leb wohl, hab' Dank für alles und hole mich bald!«
Ich wollte mich noch einmal niederbeugen, um ihn zu küssen, da wurde die Tür aufgemacht und mehrere Offiziere traten ein, gefolgt von dem Baron. Ich wandte mich von dem Sarge ab und schritt gesenkten Blickes aus dem Zimmer, ein paar Rosen von seinem Sarge und die Locke in der Hand. Im Begriff, die Tür zu schließen, hörte ich, wie einer der Herren fragte, wer ich sei. Der Baron sagte laut und doch mit einer gewissen Verlegenheit in der Stimme: »Die Dame, die sein Kind in Pflege hatte.« Ich nahm auch das noch hin, es schmerzte nicht, es tat mir eben nichts mehr weh. Etwas wie ein verächtliches Lächeln mochte wohl um meinen Mund gezuckt haben über dieses Ableugnen meiner Rechte seitens eines Mannes, den ich wie einen Vater geliebt hatte, und der auch mich liebte vor anderen. Sein Stolz konnte sich selbst in diesem Moment nicht verleugnen. – Dann ertönte eine andere Stimme: »Verzeihen Sie, Herr Baron, wenn diese junge Dame Fräulein Margarete Siegismund ist, so hat uns Eberhardt bereits vor längerer Zeit angezeigt, daß er sich mit ihr verlobt habe. Im Offizierkorps ist dies hinlänglich bekannt, und wir werden nachher sofort Veranlassung nehmen, der Braut unseres verstorbenen Kameraden zu kondolieren.«
Ich hörte noch etwas wie beifälliges Murmeln mehrerer Stimmen, dann nahm ich mein Tuch um und wollte gehen, obgleich ich nicht wußte, wohin. Aber ich hätte um keinen Preis Beileidsbezeigungen anhören können, so herzlich sie auch gemeint sein mochten.
Friedel kam und brachte mir mein Bild und die Brieftasche Eberhardts, die er aus seinem Waffenrock genommen hatte. Ich fragte ihn, ob er nicht wisse, wo ich bleiben könnte, bis das Begräbnis vorüber sei.
Er nickte. »Warten Sie einen Augenblick, Fräulein.« Nach einem Weilchen kehrte er zurück, begleitet von einer korpulenten, gutmütigen Bürgersfrau, deren kleine blaue Augen von Tränen überflössen. Sie war die Wirtin vom Hause und bot mir in freundlicher Weise ein Zimmer an bis morgen abend. Dankbar nahm ich es an und saß dann still darin, in meinen Schmerz versunken. Die Nacht brachte ich auf dem Sofa zu, und am anderen Morgen früh schlich ich mich leise hinauf, um noch einmal seine lieben Züge zu sehen. Aber der Sarg war bereits geschlossen. So ging ich wieder hinunter und saß allein in dem kleinen Stäbchen, stundenlang.
Da hörte ich auf einmal den taktmäßigen Schritt heranmarschierender Soldaten, Kommandoworte, das Sprechen vieler Menschen. Ich trat ans Fenster und sah die Leichenparade aufgestellt. Die Offiziere der Garnison standen leise flüsternd in der Straße. Ich lehnte mich mit der Stirn an die Scheiben und starrte hinunter auf die bunte Menge, die ihm die letzte Ehre erwies. Ich dachte, daß ich nun so allein sei, daß unter all den vielen keiner ihm so nahe gestanden hatte wie ich, und daß sich doch niemand um mich bekümmere – da öffnete sich die Tür meines Zimmers, und als ich mich umwandte, blickte ich in das alte, liebe Gesicht der Frau Renner. Ihr Arm umfaßte mich, während ich zitternd am Fenster stand und den Sarg aus dem Hause tragen sah. – Die Trommeln wirbelten, der Trauermarsch erklang und der Zug setzte sich in Bewegung. Ich aber schaute dem blumengeschmückten Sarge nach und umklammerte krampfhaft die Hände der kleinen Frau, bis er um die Straßenbiegung verschwunden war.
Dann wandte ich mich um und sagte noch einmal: »Leb wohl, leb wohl – nun ist alles vorbei.« –
Die kleine Frau zog mich aufs Sofa, faßte mich liebevoll um und wollte sprechen; der Jammer ließ sie aber nicht dazu kommen. Sie weinte nur still, und so saßen wir da, während sie draußen auf dem Kirchhofe ihn einsenkten in die kahle, gefrorene Erde – mein Glück, mein alles.
Dann schreckte ich auf, die schmetternden Klänge eines lustigen Marsches trafen mein Ohr: sie kehrten zurück vom Begräbnis; und immer lauter und näher erschallten diese übermutigen, lustigen Weisen. Ach, es war sein Lieblingsmarsch gewesen. Unter diesen Klängen war er damals in Bendeleben eingezogen, hatte er mir einst so verwegen, so lustig in die Augen geschaut, damals, als die Regimentskapelle auf dem großen Rasenplatze vor dem Schlosse spielte. »Oh, die Jugend, das Leben ist doch wunderschön!« hatte er damals gesagt, und ich hatte mit eingestimmt und mitgejubelt. Noch als ich ihn zum letzten Male sah, pfiff er diese Melodie und schaukelte sein Kind auf den Knien!
Oh, diese Erinnerungen, wie sie mich packten, mir zeigten, wieviel süßes Glück ich verloren! Aber was die furchtbare Gegenwart nicht gestattete, das weckte die Mahnung an die wonnige Vergangenheit – ich schlang meine Arme um den Hals der alten Frau und schluchzte und weinte aus dem tiefsten Grunde meiner gequälten Seele. »Gott sei Dank, sie weint!« das war alles, was die alte Frau sagte.
Und nun, meine liebe Freundin, habe ich kaum noch etwas von mir zu sagen, mit ihm war eben alles ins Grab gesunken, was das Leben mir wert gemacht hatte – was nun folgte, war kein Leben mehr, war ein Vegetieren ohne jedes Interesse.
Noch manchen schweren Schlag habe ich zu ertragen gehabt, aber der willkommene Gast, die Freude, ist nie mehr bei mir eingekehrt. Wohl ist mir noch mancher herzlich entgegengekommen, und ich lernte auch, nachdem ich die ersten schweren Jahre überstanden, diese Herzlichkeit und Liebe anerkennen, aber ich selbst – ich konnte mich nicht mehr freuen, das hatte ich verlernt in jenen schrecklichen Stunden.
Bald nachher hatte ich gänzlich vereinsamt an Kathrins einfachem Hügel gestanden, noch jung und nicht imstande, eine Beschützerin, und sei sie auch noch so schwach, zu entbehren. Auf Bendeleben hatte man mir damals eine Heimat angeboten, um so mehr, da Eberhardts Kind lange nach mir weinte und bangte. Ich sollte ihn erziehen, sagte mir Frau v. Bendeleben, aber ich lehnte ab. Es war wohl ein wenig Stolz von mir: ich wollte nicht da Erzieherin sein, wo ich im Begriffe gestanden hatte, die Mutter des Kindes zu werden. Dann fürchtete ich mich auch, weich zu werden und dereinst den Abschied nicht ertragen zu können, wenn es seiner Mutter plötzlich einfallen sollte, ihn nach Wien zu fordern. Ich hatte recht gehabt. Ruth vermählte sich zum dritten Male, mit dem jungen Fürsten Bodresky, und da die Ehe kinderlos blieb, adoptierte später der Fürst seinen Stiefsohn. Er wurde im katholischen Glauben, zu dem auch Ruth übertrat, erzogen und scheint mit der bestechenden Persönlichkeit den ganzen Leichtsinn seiner Mutter geerbt zu haben. Jetzt ist er längst verheiratet und hat es nur der Größe seines fürstlichen Vermögens und der enormen Mitgift seiner Frau zu verdanken, daß es ihm noch nicht gelungen ist, sich zu ruinieren. Ach, manchmal denke ich, wenn Gott seinen rechten Vater hätte leben lassen, und wir beide ihn erzogen hätten, ob da nicht ein trefflicher Mensch aus ihm geworden wäre. Wer so, verweichlicht von dem raffinierten Luxus, mit dem ihn seine Mutter umgab, in den Händen gewissenloser Hofmeister, in der gefährlichen Moral der Jesuiten erzogen – konnt' es anders kommen?
Ich blieb also fest und ging nicht nach Bendeleben, obgleich Hanna mir es beinahe übelnahm. Zu Frau Renner, zu der einfachen Frau, zog es mich, die mir freundlich den Aufenthalt in ihrem Hause anbot. Wie zart und schonend bin ich dort behandelt worden, sowohl von ihr wie von dem jungen Pastor. Seinen Worten verdanke ich es auch, daß ich mich demütig unter Gottes Hand beugte, anstatt mit ihm zu hadern. Ich wurde stille nach und nach, aber die Wunde meines Herzens ist nimmer geheilt, und noch heute, noch jetzt blutet sie, sobald die Erinnerungen kommen.
Von den Personen, die mir in meiner Jugend so nahe standen, lebt niemand mehr außer dem Pastor Renner in Weltzendorf, der, jetzt ein alter Mann und mein einziger Freund, seine Tage beschließen will in dem Hause, das einst mein Vaterhaus war. Die erste, die heimging und deren Tod mich mit heißem Schmerz erfüllte, war meine süße Hanna. Ganz plötzlich erlag sie einer epidemischen Krankheit und ließ, noch nicht sechsundzwanzig Jahre alt, ihren trauernden Gatten und drei kleine Kinder zurück. Wir waren im gleichen Alter, und ich fragte wieder, warum der liebe Gott nicht mich hatte sterben lassen, anstatt die zu fordern, die noch so unentbehrlich war, und für die ich so gern gegangen wäre.
In demselben Jahre trat auch eine Lebensfrage an mich heran: Pastor Renner bot mir seine Hand. Er hatte mich schon längst geliebt, schon damals, als ich noch das hübsche, glückliche Mädchen war, das so wild zu reiten und herzhaft zu lachen verstand. – Ich habe einen schweren Kampf gekämpft zwischen Dankbarkeit und dem unvergeßlichen Andenken an den einzigen, den ich je geliebt. Die Augen der alten Frau sahen mich ängstlich und forschend an, und doch, ich konnte mich nicht entschließen, seine Frau zu werden. Er hatte Anrecht auf ein Herz, das sich ihm ganz hingab, und ich hatte ja keins mehr. Mit vielen, vielen Tränen bat ich, mich nicht für undankbar zu halten, aber ich könne nicht die Seine werden. Er fügte sich. Ich sah, es machte ihm Schmerz, aber er ist mir trotz alledem ein wahrer Freund geblieben sein Leben lang.
Zwei Jahre später führte er seiner Mutter eine junge Braut zu, rosig und frisch, deren blaue Augen voll Seligkeit an den ernsten Zügen des Bräutigams hingen. Da beschlossen wir – seine Mutter und ich – das junge Paar zu verlassen und in mein altes Heim zu ziehen. So geschah es. Wir richteten die alte Pfarre wohnlich ein für die junge Frau. Wir freuten uns dann später, wenn wir das blonde Köpfchen am Fenster gegenüber sahen, wie sie eifrig nähte, oder wenn sie, flink wie ein Wiesel, das klappernde Schlüsselbund an der Seite, herüberhuschte und einen wichtigen Rat von der Mutter verlangte.
So lebten wir still, wir beiden Frauen, und nur wenn die Erinnerung an vergangene Zeiten bei mir einkehrte, konnte ich wieder plaudern. Dann dankte ich Gott, daß ich so Schönes erleben durfte. Eines Tages wurde ich auf das Schloß gerufen: der Hausherr lag auf dem Sterbebett. Ich habe ihn gepflegt fünf lange Wochen Tag und Nacht, habe ihm die Augen zugedrückt, die mich noch einmal dankbar anblickten, und habe wenigstens einen kleinen Teil der Schuld abgetragen, die mir die Dankbarkeit für frühere glückliche Zeiten auferlegte.
Die Witwe war trostlos und klammerte sich in ihrem Jammer an mich. Bei der Beerdigung sah ich auch Bergen und Ruth wieder, beide mit ihren Söhnen. Willi, jetzt Fürst Bodresky, war ein bildschöner Junge geworden, dunkel, feurig und lebhaft, während Wilhelm v. Bergen das Wesen seines Vaters hatte: gerade und schlicht, mit bewußtem Willen. Ruth war noch die kokette, lebhafte, elegante Erscheinung wie früher, aber ein Leben voll steter Aufregung und Abwechslung hatte den Schmelz der Jugend vorzeitig von dem wundervollen Antlitz verwischt. Sie sah in manchen Augenblicken trotz ihrer dreißig Jahre müde und alt aus. Mich beachtete sie nicht, und, was mich am meisten schmerzte, sie hielt den Sohn geflissentlich von mir fern. Der hübsche Junge tat scheu und fremd gegen mich. Bergen war desto herzlicher, wir sprachen viel von Hanna und der schönen Zeit von damals, auch Eberhardts gedachten wir, und ich weinte mich satt in seiner Gegenwart. Er wußte ja, wieviel ich gelitten.
Bald nach dem Begräbnis, und zwar auf Ruths Andringen, wurde Anstalt zum Verkauf von Bendeleben gemacht. Frau v. Bendeleben sollte mit nach Wien übersiedeln, Fürst Bodresky mochte das Gut nicht übernehmen. Bergen hatte nicht das nötige Kapital dazu und war auch zu gern Soldat, und auf die Kinder könnte man nicht warten, meinte Ruth – unterdessen hätten gewissenlose Pächter das Gut ruiniert. So dauerte es nicht lange, da zog die Herrin von Bendeleben mit ihrer Tochter, der Fürstin, nach dem glänzenden Wien, und in dem alten aristokratischen Hause, unter dem stolzen Wappen der Bendelebens, ging jetzt ein bürgerlicher, behäbiger Besitzer aus und ein. An den vornehmen, hohen Zimmern, wo jahrhundertelang nur Bendelebens gelacht und getrauert hatten, tobte eine Schar flachshaariger, kompakter Kinder, die sogar mit der Armbrust nach den bunten Göttern am Plafond des Speisesaales schossen, bis der wackere Vater und die brave Hausfrau, um nicht den Anblick von verstümmelten Nasen und fehlenden Augen zu haben, die vorwurfsvoll auf sie niederzublicken schienen, den Tüncher kommen und die ganze bunte Herrlichkeit weiß übermalen ließen, das »Vive la joie« dazu. Ach, gab es denn wirklich einmal eine Zeit, wo man das »Es lebe die Freude!« hätte rufen mögen?
Mir preßte es das Herz zusammen, als ich fremde Leute da schalten sah, wo ich meine glücklichsten Tage verlebt hatte. Der alte Park mit seinen stillen Plätzen, seinen samtgrünen Rasenflächen, er kam mir entweiht vor, als ich eines Tages die wilde Jagd der Kinder darin herumtoben und die Gänse und Enten vom Hühnerhofe darin umherspazieren sah. Anne Marie war langst mit ihrem Manne davongezogen, denn die neue Gutsherrschaft brauchte keinen Gärtner. Die frühere Ordnung, die Stille war ganz abhanden gekommen.
Ach, wenn der Baron das hätte sehen können! Er hätte nicht Ruhe im Grabe und würde der Tochter, die dieses alte Familiengut zum Verkauf gebracht hatte, geflucht haben. Aber so geht es, gerade das Kind, auf dessen adlige Gesinnungen er so stolz war, es verschacherte jetzt das Haus seiner Väter, an dessen Erhaltung doch des Vaters ganzes Herz gehangen hatte. – »Warum hat er's nicht im Testament verboten?« sagte Frau Renner. Ja, warum? Weil er seinen aristokratischen Hinterbliebenen alles andere zugetraut hätte – nur nicht diese pietätlose Handlung.
Und so lebten wir weiter, jahrelang, ein Leben, in dem sich nichts ereignete und suchten uns nützlich zu machen. Ich unterrichtete die kleinen Kinder des Pastors und half der jungen Frau in der Wirtschaft. Dann wurde meine gute, alte Renner kränklich, und nach langem Hin- und Herüberlegen meinte der besorgte Sohn, daß es besser sei, sie wohne in der Stadt, wo sie jeden Augenblick ärztliche Hilfe haben konnte. Ich begleitete sie natürlich, und ich tat es nur zu gern. Dann war ich ja seinem Grabe nahe, das ich bisher nur selten besuchen konnte. Dies machte mir den Aufenthalt in der engen Stadt lieb und angenehm. Und so zogen wir hierher in diese Wohnung hier. Die Hausbesitzer haben dreimal gewechselt, aber die Mieterin ist dieselbe geblieben, und sie ist alt und grau geworden in diesem Stübchen. Ich habe hier meiner alten Freundin nach langer Krankheit die Augen zugedrückt und habe versucht, ihr den Lebensabend heiter zu gestalten durch freundliche Pflege und herzliches Eingehen auf ihre Interessen und Freuden. Ich habe mich auch nach ihrem Tode noch immer gefreut, wie zu ihren Lebzeiten, wenn die Kinder und die blühenden Enkel aus dem stillen Dorfe kamen. Sonst habe ich keine Bekanntschaften geschlossen – auch keine gesucht in der Stadt.
Zum Kirchhof bin ich seither jeden Tag gegangen. An schönen Sommerabenden nehme ich meine Arbeit mit und sitze an seinem Grabe auf der kleinen Bank, die ich dorthin stellen ließ. Wenn der Flieder duftet und die Rosen blühen, bleibe ich lange Stunden dort und kann mich kaum trennen von dem liebsten Platze auf der Welt.
So ist mein Leben hingegangen, einförmig, freudenarm, und – nutzlos werden Sie sagen, mein liebes Kind. Sie haben recht, mir ist der Wirkungskreis einer Frau und Mutter versagt geblieben. Ich habe mich weder an öffentlichen Vereinen beteiligt, noch an irgendwelchen Werken des allgemeinen Wohles, wo ich hätte an die Öffentlichkeit treten müssen. – Ich bin kein neidisches Gemüt, aber wenn ich ein fremdes herzliches Glück sehe, so tut es mir weh, und es ist mir am wohlsten zu Hause in meiner Einsamkeit und Stille. Ich habe mir auch im stillen einen kleinen Wirkungskreis geschaffen, und ich weiß, es gibt Menschen, arme Menschen, die mit Liebe und Dankbarkeit an mir hängen.
Bedauern Sie mich aber nicht, mein liebes Frauchen, ich habe auch schöne Stunden. Wenn ich an dem kleinen Klavier sitze und die Lieder spiele, die ich einst gesungen in der fernen, schönen Jugendzeit, dann taucht sie lebendig vor mir auf, so zauberhaft, so schön wie damals. Dann reite ich wieder auf feurigem Pferde neben ihm durch den Wald, dann sieht wieder der Mond hernieder und zeigt mir sein liebes, dunkles Auge, und in mein Ohr tönen jene herzlichen Worte, die das Herz nie vergessen kann. Wohl mir, daß ich sie einmal durchleben durfte, jene berauschende Zeit, nicht jede hat solche Erinnerungen in ihrem Unglück.
Und jetzt sind sie alle tot die anderen, tot die stolze Frau v. Bendeleben, tot auch die schöne gefeierte Fürstin Ruth, tot des Pfarrers sorgliche Hausfrau und der bravste Freund, Heinrich v. Bergen – die einen noch jung, die anderen schon müde vom Leben. Nur der Pastor Renner lebt noch und Ihre alte Freundin mit den weißen Haaren. Uns beide wird Gott auch bald abrufen. Und wenn erst ein grüner Hügel über dem Sarge sich wölbt, dann wird niemand ahnen, welche Freude und welcher Kummer einst die Herzen bewegte, die nun so still geworden sind. Ach, ich wünschte mir nur eines, aber das kann ja nicht in Erfüllung gehen: ich möchte einst neben Eberhardt auf dem stillen Kirchhofe liegen; doch – es ist ja nicht möglich. Und nun verzeihen Sie mir, daß diese meine Erzählung so lang, so ausführlich geworden – ich kam wieder hinein in die alten Erinnerungen, möchten sie doch nicht zu langweilig sein für Sie. Leben Sie wohl, herzlich wohl. Ich wünsche, daß die milde Luft Italiens Ihre Frau Mutter stärke und kräftige. Bleiben Sie nicht zu lange mehr aus und denken Sie manchmal an Ihre einsame alte Freundin. Gott befohlen und auf Wiedersehen in herzlicher Liebe
Ihre
Margarete Siegismund.
Ich habe sie nicht wieder gesehen, meine alte Freundin, deren rührende Geschichte die vorstehenden Blätter enthalten. Mein Aufenthalt in Italien dehnte sich über den ganzen Winter ans. Mein Mann nahm später Urlaub und kam uns nach, er brachte mir Grüße und einen Brief von der lieben Nachbarin. Es sollte der letzte sein, den ich von ihr empfing. Ich bekam keine Antwort auf meine verschiedenen Schreiben, und dann im März von fremder Hand einige Zeilen, denen man es ansah, daß sie beim Schreiben gezittert hatte. Sie meldete mir, daß meine gute, alte Freundin dieses unvollkommene Leben mit dem besseren Jenseits vertauscht habe – sie habe noch herzlich meiner gedacht und den Schreiber dieser Zeilen beauftragt, mir ihre letzten Grüße zu überbringen und den Dank für manche heitere Stunde, die sie durch mich an ihrem stillen Lebensabend genossen habe. Sie ruhe auf dem Gottesacker zu Weltzendorf – war noch hinzugefügt – neben ihren Eltern und Kathrin. Unterzeichnet war der Brief: Friedrich Renner, Pastor emer. Weltzendorf, den 26. März 1875.
Meine Tränen fielen auf die unsicheren Schriftzüge, und aufrichtig war meine Trauer. Ich hatte sie recht von Herzen liebgehabt, die einsame alte Dame, die so viel Trübes erlebte in der Welt. Möge sie ruhen in Gottes Frieden! –
Frühling war es, als wir wieder in unsere Heimat einkehrten, und was für ein Frühling! Die ganze Atmosphäre war erfüllt von Blütenduft, die Sträucher und Bäume schimmerten im hellsten Grün und die Festungswälle sahen ganz blau aus von all dem Flieder, der dort blühte. Uns gegenüber in der Wohnung, wo sonst das alte liebe Gesicht herausschaute, stand ein junges Mädchen mit langen, goldblonden Zöpfen und putzte die Fensterscheiben spiegelblank, während sie vergnügt und unbekümmert um die Leute in die warme Luft hinaussang:
Mein Herz, tu dich auf, laß den Frühling herein!
Es wohnten schon wieder andere Menschen drüben. Es bleibt eben kein Fleckchen leer, und wenn einer geht aus diesem Leben, wie bald ist keine Lücke mehr zu erkennen! Es tat mir weh, dieser Anblick, so anmutig das Bild auch war, und ich habe noch manche Träne geweint, ehe ich mich daran gewöhnte, das alte, freundliche Gesicht dort nicht mehr zu sehen.
Während dieser schönen Frühlingstage wurde in einem heiteren Kreise unserer Freunde eine Landpartie beschlossen. Verschiedene hübsche Punkte der Umgegend wurden ins Auge gefaßt; endlich schlug irgend jemand Weltzendorf vor, und zu meiner größten Freude ging dieser Vorschlag durch. An einem sonnigen, blauen Maitage rollten wir unter blühenden Obstbäumen dem Ziele unseres Ausfluges zu. Ich war still im Gegensatz zu der anderen Gesellschaft, ich dachte daran, daß ich den Ort sehen sollte, wo meine alte Freundin gelebt und geliebt und wo sie nun auch ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. Im Wagenkasten lag ein Kranz von Frühlingsblumen, den ich auf ihr Grab legen wollte.
Gespannt sah ich die grauen Mauern des stattlichen Schlosses aus dem lichten Grün der Linden und Kastanien auftauchen, das große Dorf lag wie begraben unter Blütenbäumen und der kleine Kirchturm ragte schlank darüber weg in den blauen Himmel hinein, wie ein Hirt, der seine Herde bewacht. – – Wir fuhren in das Dorf, stiegen am Wirtshause aus, und eine kleine, saubere Dirne zeigte uns den Weg zu dem Park, den der jetzige Besitzer (vermutlich einer der hoffnungsvollen Armbrustschützen) galanterweise uns zur Verfügung gestellt hatte. Auf dem Rasen standen Tische und Bänke, und in buntem Durcheinander wurde der landesübliche Kaffee mit Bergen von Kuchen vertilgt. Die Regimentsmusik spielte die lustigsten Weisen zum Ergötzen der ganzen Einwohnerschaft des Dorfes, die sich zahlreich jenseits des kleinen Flüßchens, der hier die natürliche Grenze des Parkes bildet, versammelt hatte.
Ich allein war zerstreut, ich mußte ja immer an die denken, die hier einst gewohnt. Und wenn mein Auge in das Dunkel der prachtvollen Baumgruppen tauchte, dann war es mir immer, als müßte dort eine schlanke Mädchengestalt im blaßblauen Kleide mit den dunklen Flechten um den Kopf heraustreten. Oder es müßten ein paar Reiterinnen die Allee entlang brausen mit blitzenden Augen und dem Übermut der Freude auf den rosigen Gesichtchen, die schlanken Gestalten Eberhardts und Bergens ihnen zur Seite. – Dort auf dem kleinen Balkon, der so keck an dem Turm klebt, hatte sie wohl gestanden, die erste unverständliche Sehnsucht der Liebe im Herzen, und zu den Sternen aufgeschaut. Hier auf diesem Platze vielleicht hatte sie den ersten Brief gelesen, und an jener kleinen Brücke war es, wo sie in dunkler, stürmischer Nacht bewußtlos zusammensank, als ihr beinahe das Herz brach über seine Untreue.
Gegen Abend schlich ich mich heimlich fort aus dem Kreise der Tanzenden, ließ mir den Blumenkranz aus dem Wagen reichen und suchte mir eine kleine Dirne, die mich nach dem Kirchhof geleiten sollte. Ich ging, mein leichtes Sommerkleid auf der staubigen Straße zusammenraffend, hinter dem kleinen Flachskopf her. – »Das ist das Pfarrhaus«, sagte das Kind nach einem Weilchen und wies auf ein leidlich schmuckes Häuschen, dessen Fenster mit wildem Wein fast zugewachsen waren. Die alte Linde stand noch in dem kleinen Vorgarten und beschattete eine Bank, auf der ein etwa zwölfjähriges Mädchen, eifrig im Gesangbuche lesend, saß, während die frischen Lippen sich leise bewegten, als lerne es auswendig.
Ich war stehengeblieben. Als das Kind mich bemerkte, stand es rasch auf, machte einen verlegenen Knicks und lief schleunigst und dunkelrot mit seinem Buche in die geöffnete Haustür hinein. Nun wandte ich mich nach dem gegenüberliegenden Hause, das mußte ja ihr Vaterhaus sein – auch dies lag tief im Schatten zweier Linden, die zu beiden Seiten der alten Sandsteintreppe standen. Die Fenster waren weit geöffnet und ließen die milde Fruhlingsluft hinein. An einem derselben saß im Lehnstuhl ein alter Mann mit schneeweißem Haar und sah gespannt nach mir herüber. Dann erhob er sich und trat gleich darauf vor die Haustür. Ich ging hinüber und stand vor dem Greise, der sein schwarzes Käppchen vom Haupte nahm und mit freundlicher Stimme fragte: »Sie sind gewiß die junge Freundin von Fräulein Siegismund? Ich habe Sie schon lange erwartet und will Sie gern zum Kirchhof begleiten.« Er reichte mir die Hand und schritt dann rüstig neben mir her, die hohe Gestalt noch ungebeugt, das Auge klar und mit einem forschenden Ausdruck auf mich gerichtet.
»Ich bin noch gerade zur rechten Zeit gekommen, um meiner alten Freundin die Augen zuzudrücken«, fuhr er dann fort. »Sie hat mir viel Liebes und Gutes von Ihnen erzählt, und ich freue mich, daß sie noch spät ihr Herz jemandem erschlossen hat. – Ich habe sie dann mit hierhergenommen in ihre Heimat. Mag ihr die Ruhe hier sanft sein auf dem kleinen Kirchhof, wo sie als Kind schon gespielt hatte. – Hier ist das Grab«, fügte er hinzu und zeigte auf einen mit frischem Rasen belegten Hügel, »dort ruhen ihre Eltern, und dies hier ist Kathrins Ruhestätte.«
Ich trat näher und legte meinen Kranz auf den weißen Marmor des einfachen Steines. »Margarete Siegismund«, las ich leise, »geboren den 30. Mai 1812, gestorben den 25. März 1875. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.«
Mir liefen still die Tränen aus den Augen, ein unendlich wehmütiges Gefühl hatte mich ergriffen.
Der alte Mann neben mir schaute stumm auf das Grab, dann sagte er leise: »Weinen Sie nur, mein liebes Kind, sie ist es wert, beweint zu werden. Ein holderes Wesen, ein edleres Herz, einen rechtlicheren Charakter gab es selten auf dieser Welt. Ich weiß nicht eine Handlung von ihr, die nicht den Stempel echter Weiblichkeit und Demut getragen hätte. Sie hat viel gelitten im Leben, aber sie verstand es, wie keine, zu dulden!«
Fürwahr, ein schöner Nachruf aus dem Munde ihres Jugendfreundes!
Ich reichte ihm stumm die Hand. Als wir so standen, da flammte die Sonne noch einmal im höchsten Purpur auf und warf ihren roten Schein auf den kleinen Kirchhof und über die stillen Gräber, und das Gesicht des greisen Mannes sah wunderbar jung aus. Ein leiser Abendhauch bewegte die alten Lindenbäume an der niedrigen Mauer, und aus dem Park drangen die innigen Melodien eines Schubertschen Liedes herüber. Es war ein wunderbarer Friede zu dieser Stunde in der Natur, eine weiche Sehnsucht nach etwas Hohem und Heiligem schien in der Luft zu schweben und von den Lippen des alten Mannes klang es wie träumend: »Das ist der Friede nach heißem Kampf, und endlich kommt ein Wiedersehen!«
In der Ferne verhallten die Töne. Am Himmel verglomm das Abendrot und über dem kleinen Gotteshause funkelte der Abendstern. Nun erscholl die Glocke des Kirchleins und läutete den Abend ein. Zuerst leise, dann immer voller und voller zogen die Töne über die stillen Gräber in die weiche Luft hinaus, und es klang wie Frieden und Wiedersehen!