Hermann Heiberg
Menschen untereinander
Hermann Heiberg

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Siebentes Kapitel.

Es war frühmorgens. Kay hatte eben noch einmal seines Schwiegervaters Brief gelesen und wanderte, den Inhalt überdenkend, in seinem von Möbeln und Kunstschätzen reich angefüllten Zimmer auf und ab.

Mechanisch blieben seine Augen an den Gegenständen haften und zuletzt an einem Bilde, das in einen Ebenholzrahmen gefaßt, über seinem Schreibtisch hing. Es war ein sprechend ähnliches Porträt von Mercedes aus dem verflogenen Jahre.

Während Kay immer und immer wieder seine Augen auf das Bild richtete, gingen gleichzeitig seine Gedanken zu ihr. Ihre Krankheit beschäftigte ihn außerordentlich und erfüllte ihn mit großer Sorge. Er zürnte seinen Schwiegereltern, daß sie sich nun erst, da es vielleicht zu spät war, seiner offenen Hand erinnert hatten.

Mercedes! Wie schön sie war mit den dunkeln tiefen Augen! Wie sanft ihr Lächeln, wie gütig der Ausdruck in dem blassen Antlitz.

Schon seit Monaten war Kay mit dem Gedanken umgegangen. sich einmal nach Hamburg aufzumachen, um sie wieder zu sehen. Nur kluge Besonnenheit hatte ihn davon zurückgehalten. Nun fand sich ein Anlaß, aber ein gar trauriger.

Von Mercedes gingen Kays Gedanken zu seiner Frau. Er wußte, jetzt würde Clementina-Julia ihre Forderung wiederholen, Carmelita aus dem Hause zu geben. Und er wollte nicht; aber wenn er sich dann alles vergegenwärtigte, was vorgefallen war, schien ihm doch kein anderer Ausweg möglich.

Und sie, die kleine Carmelita, war das Opfer, um das er sich den Frieden erkaufen mußte.

In Kay erhob sich der alte Widerstreit, und sein Ich lehnte sich auf gegen seine Frau. Endlich griff er, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, noch einmal zu dem Schreiben und las den Schluß des Briefes.

Seine Schwiegereltern wollten nach Schleswig ziehen! Sicher ein guter Entschluß. Vielleicht mit einiger Unbequemlichkeit für ihn – Kay – verbunden. – Aber er hatte doch keine Bedenken. Er würde schon die gute Mitte zu finden wissen. Seine Schwiegereltern mischten sich nicht in seine Angelegenheiten. Clementina-Julias Mutter war die Sanftmut und Güte selbst, und der alte Graf eine viel zu timide, allem Streite abgewandte Natur, um Unfrieden herbeizuführen.

Und dann hatte die Übersiedelung noch eine gute Seite. Mercedes gelangte in seine unmittelbare Nähe. Noch einmal hefteten sich Kays Blicke auf das Bild. Freilich – mit ihrem Kommen wuchsen die alten Gefahren. Sie hatte ihn geliebt, er wußte es; und sie liebte ihn noch. – –

Nach diesem Hin und Her seiner Überlegungen empfand Kay das Verlangen, mit Clementina-Julia zu reden. Bisher hatten sie nur mit wenigen Worten über den Inhalt des Briefes gesprochen.

Als Kay im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen, öffnete sich die Thür, und seine Frau trat herein.

Da er sich sehr früh aus dem Bette erhoben hatte, war ihm, wie es in solchen Fällen häufiger vorkam, das erste Frühstück in seinem Zimmer hergerichtet worden. Infolgedessen tauschten Mann und Frau erst jetzt einen guten Morgen aus.

Durch die geöffneten Fenster sandte die Frühsonne ihre sanften Strahlen in das Gemach, verschönte die Gegenstände, glitt blitzend und leuchtend über die Wände, Möbel und Bilder und durchzitterte mit ihrem Goldlicht eine dem Auge als schräg niedersteigende Säule erscheinende Staubwolke.

Auch Clementina-Julias Erscheinung ward durch diese Lichtfülle gehoben; sie sah an diesem Morgen überraschend schön aus.

Ein weißes Kaschmirkleid, das vorn mit blauseidenen Knöpfen besetzt war und in eine reiche Schleppe auslief, umhüllte ihre Gestalt.

In diesem anschmiegenden Gewande traten die Formen ihres Körpers in ganzer Schönheit hervor, und zugleich umgab sie jener eigene Zauber der Morgenfrische, der Frauen so verführerisch macht.

Sie legte den Arm um seinen Hals und heftete eine Rose mit neckischer Bemerkung an seine Brust.

»Du hast schlecht geschlafen, mein lieber Kay. Geht es jetzt besser?« fragte sie. Kay erwiderte ihre Zärtlichkeit, kam aber bald auf die Dinge, die ihn so ausschließlich beschäftigten.

»Komm, setze Dich, bitte!« begann er. »Eben las ich noch einmal Deines Vaters Brief, und wir wollen überlegen.«

»Jawohl! Und was meinst Du?« warf sie scheinbar gelassen hin und ließ sich gefügig in einen Sessel gleiten.

»Ich werde das Geld geben. Ich plane sogar, selbst nach Hamburg hinüberzufahren. Aber allein wird Cedes die Reise noch nicht unternehmen können. Das scheinen die drüben nicht bedacht zu haben.« Kay machte eine Pause. »Und was die Übersiedelung anbetrifft – wenn Deine Eltern sie wünschen und wollen, ich werde nicht abraten. Ich glaube, es wird vielerlei Annehmlichkeiten für Dich haben. Wie denkst Du darüber?«

»Ja – es spricht manches dafür.«

Da Clementina-Julia mit so kargen Worten antwortete, erhob Kay den Blick. Aber er fand nichts in ihren Mienen, was ihn hätte beunruhigen können.

»Ich werde gleich heute nach Hamburg schreiben. Vielleicht richtest Du auch einige Zeilen an Deinen Vater?«

Clementina-Julia nickte nur stumm bejahend.

Sie beschäftigte augenblicklich alles andere mehr als diese Erörterung. Nach einigen besorgten Bemerkungen über Mercedes' Krankheit, für welche Clementina-Julia indessen keine große Teilnahme an den Tag legte, sagte Kay, nach seinem Hut greifend:

»Dann wäre wohl jetzt nichts weiter zu bereden. Ich will noch aufs Feld und werde vielleicht etwas später zum zweiten Frühstück kommen.« Er nickte freundlich und wandte sich zur Thür.

»Ich möchte nur noch einige Worte über Carmelita sprechen,« begann Clementina-Julia. »Das neue Quartal steht vor der Thür. – Wenn etwas geschehen soll –«

Kay schüttelte den Kopf.

»Du meinst?«

»Ich meine, daß ich vor dem Herbst keinen Entschluß in dieser Sache fassen will –«

»Ganz gut! Aber so können die Dinge nicht weiter gehen!«

Kay sah mit ungeduldiger Bewegung empor.

»Nun? Ist schon wieder etwas vorgefallen? Sprich!«

Er legte den Hut fort und lehnte sich mit einer Miene gegen die Fensterbank wie jemand, der zum Hören knappe Zeit hat.

Und nun begann Clementina-Julia ihre Auseinandersetzungen. Sie sprach von Carmelita und Bomstorff. Sie erwähnte ihres Verbots und der Übertretung desselben und schloß mit der Mitteilung, daß Carmelita anfänglich alles kurz abgeleugnet habe. Endlich berührte sie auch, und zwar absichtlich jetzt erst, des Kindes unerhörte Ungezogenheiten, bei denen es so weit gegangen sei, daß es seiner eigenen Mutter nachgeahmt habe.

In Kays Mienen trat ein trauriger Ausdruck. Dann sagte er: »Daß Carmelita Deine verständigen Befehle nicht befolgt hat und in ihrem Übermut – ich möchte aber meinen, nur in diesem – die Achtung gegen Dich aus den Augen gesetzt hat, verdient selbstverständlich scharfe Rüge, und ich werde sie zur Rede stellen und bestrafen. Entschuldigt wird sie durch die Unpünktlichkeit Friedrichs und durch Bomstorffs Artigkeiten. Was aber ihr Leugnen anbetrifft. so ist daran nicht das Kind, sondern Du selbst schuld. Sie ist von Dir so eingeschüchtert, daß sie jegliche Unbefangenheit verloren hat. Mir gegenüber würde sie gewiß niemals etwas in Abrede gestellt haben.«

»Es fehlt nur noch, daß Du mich statt ihrer in eine Schule sendest!« erwiderte Clementina-Julia. wie so oft alle Selbstbeherrschung verlierend. Sie sah sich in ihren Voraussetzungen nicht nur getäuscht, sondern gar als Schuldige hingestellt, und ihr Zorn kannte keine Grenzen.

»O ja! Es wäre Dir schon von Nutzen!« gab Kay mit eisiger Stimme zurück, griff nach seinem Hut und wollte sich ohne Gruß entfernen.

Aber dieses kurze Abbrechen, diese Ruhe, diese Kälte, diese Behandlung von oben herab, als sei sie ein unmündiges Geschöpf, empörte die Frau solchergestalt, daß sie von dem Sessel, in den sie sich niedergelassen hatte, emporsprang, auf ihren Mann zuflog und ihn am Arm packte.

»Was ist?« rief Kay drohend und stieß rücksichtslos ihre Hand zurück.

Beide gereute in dem Augenblick, was geschehen war. Aber beide waren nicht mehr Herr ihrer selbst.

»Ich will mit Dir sprechen! Ich bin Deine Frau – ich lasse mich nicht wie eine Dienstmagd behandeln, die man nach seinem Gefallen abthut!« stieß Clementina-Julia laut. so laut hervor, daß es durch die Thüren und Fenster drang.

»Und ich verbiete Dir, in solchem Tone mit mir zu reden,« erwiderte Kay und zwang sich nur mit stählerner Willenskraft zur Ruhe. »Was Du gegen Carmelita vorbringst, sind fast alles Lappalien. Man wird ihr eine Wiederholung ernstlich verbieten, und damit basta! Ihr Leugnen – ich wiederhole es – es ist nur eine traurige Folge Deiner empörenden Lieblosigkeit, und ich kann das Kind deshalb nicht tadeln. Freilich – ihr Charakter muß schlecht werden, wenn sie sieht, daß nicht Weisheit und Milde über ihr walten, sondern daß zornige Launen die Handlungen derer bestimmen, die sie leiten sollen, und auf die sie mit ihrem kindlichen Herzen angewiesen ist. Also Schuld, Schuld ist auf Deiner Seite, und das Ende ist nicht abzusehen. Und ich sage Dir: diese letzten Tage haben uns mehr entfremdet als Jahre. Immer mehr schwindet meine Liebe! Du tötest sie mit grausamen Schlägen. O, Cedes, welch eine Fülle von Zärtlichkeit hattest Du für mein geliebtes Kind!« seufzte der Mann, halb in Schmerz und Trauer.

In diesem Augenblick, bei diesen Worten hätte die Frau den Mann erwürgen können; sie fühlte, er hatte recht, sie sah, daß sie immer mehr ihr Spiel verlor, daß sie zu rasch, zu unvermittelt gehandelt, und daß der Vorwand zu neuer Klage und die daraus hergeleitete neue Forderung einer Entfernung des Kindes ihre Lieblosigkeit und Selbstsucht nur noch mehr ans Licht gezogen hatten.

Die meisten Menschen treibt nichts mehr zum Zorn und zum Widerstand, als eine klare Darlegung ihrer Fehler. Sie denken, die Welt sei blind, und wenn sie plötzlich sehen, daß auch sie Augen hat, verlieren sie jede Selbstbeherrschung.

Und so wollte auch Clementina-Julia, die sich nur mühsam bei Kays Rede bemeistert hatte, gleich einem Sturmwind hervorbrechen, aber Kay machte sie durch eine stolz abwehrende Handbewegung verstummen, sah sie mit Blicken an, die ihr das Blut in die Schläfen trieben, und verließ das Gemach.

*           *
*

Einige Tage später, es war an einem Feiertage, der mitten in die Woche fiel, hatte sich Carmelita von ihrem Fräulein die Erlaubnis erwirkt, mit der kleinen Anna spielen zu dürfen.

Ihr Papa war bereits seit einigen Tagen in Hamburg, wurde aber gegen Abend zurückerwartet.

Die Freundin stand schon wartend in ihrem Sonntagskleidchen vor der Thür, als Carmelita mit ihrer zierlichen Gestalt wie eine Schwalbe über den Pachthof flog und in dem überglücklichen Gefühl, von jedem Zwang befreit zu sein und sich den Freuden der Freiheit hingeben zu dürfen, auf sie zueilte.

Ein größerer Gegensatz als zwischen diesen beiden Kindern war kaum zu denken. Die Tochter des Verwalters besaß die bei ihr durch Sommersprossen noch mehr hervortretende derbe Gesichtsfarbe einfacher Leute. Der offene Mund und das strohgelbe, blonde Haar, die mit den wasserblauen Augen, den fast weißen Augenbrauen und weit auseinander stehenden Wimpern im Einklang standen, gaben ihrem Gesicht einen Zug von beschränkter Geradheit, der nur zu sehr von Carmelitas feingeschnittenen Zügen und zarten Wangen abstach. Gleichsam zwischen zwei schlanken Linien lag die vornehme Schönheit dieses Kindes, eine Schönheit, die durch die Einfachheit ihrer Kleidung – sie trug ein enganschließendes, marineblaues Kleid mit einem einzigen weißen, breiten Besatzstreifen am Röckchen, und eng und glatt sitzende Strümpfe von derselben dunklen Farbe – noch gehoben wurde.

Anna aber hatte dicke, etwas plumpe Beine, und eine unschöne Zusammenstellung von allerlei Farben in ihrer Kleidung beleidigte das Auge. Blaßrote Strümpfe, überreich gestickte Höschen und ein buntes Sommerkleidchen ließen den Blick nicht zur Ruhe kommen und verrieten den ungeläuterten Geschmack ihrer Umgebung.

Zu Carmelita sah sie wie zu einer Erscheinung aus einer fremden Welt empor, und halb unbewußt und immer zum Nachteil ihrer selbst, verglich sie deren Wuchs, Kleidung und Sprache mit ihrer eigenen Person. Noch saß in ihrem Kinderherzen nicht die Unterscheidung, weshalb jene etwas vor ihr voraushabe, noch weniger der Wunsch, es ihr gleichzuthun, sondern nur das Gefühl, daß alle diese Vorzüge ihr eine Unterordnung auferlegten, und daß irgend eine Auflehnung gegen sie gerade so strafbar sei, wie die Übertretung der zehn Gebote, die man sie in der Schule lehrte.

»Komm, Anna!« rief Carmelita ungestüm. »Heute wollen wir zu den Pferden und in die Scheune! Gestern ist Heu eingefahren. Komm! Komm!«

Und Carmelita lief, ohne die Zustimmung ihrer Gefährtin abzuwarten, vorauf, und jene hinterdrein.

Zunächst guckten sie in den etwas dunklen Knechte-Pferdestall. Spinngewebe hingen an der Decke; der weiße Kalk an den Wänden war mehrfach geborsten oder abgebröckelt. Eine gelbe, mit Strohfasern durchmischte Masse sah neben den Fachwerkbalken darunter hervor. Zur Rechten stand eine in der Farbe verschlissene Futterkiste; darüber hing eine Stalljacke mit buntem Unterfutter, wie es die Frauen zu tragen pflegen. In der Häckselmaschine lagen goldschimmernde Reste von Hafer und Stroh.

Bei ihrem Eintritt stieß eine Stute mit hartem Hufschlag aufs Pflaster, und zwei Spatzen, die von draußen durch eine Maueröffnung geschlüpft waren, jagten, ängstlich zwitschernd, hin und her. Jetzt ließ sich einer der zudringlichen Gesellen auf die Krippe nieder, in der er hüpfend verschwand. Und dann war alles wieder stumm; nur das Geräusch der langsam fressenden und laut schnuppernden Tiere unterbrach die Stille. Aber diese und der warme, anheimelnde Duft des Stalles nahmen die Sinne der Kinder gefangen; sie guckten sich neugierig ringsum und schritten langsam vorwärts.

Ein Wallach, der sich niedergelassen hatte, wandte den Kopf mit den schönen, großen Augen, zugleich rasselte ein spitzknochiger Schimmel in unruhigem Hin und Her an der Krippenkette.

Nun fesselte das Treiben der Spatzen die Aufmerksamkeit der beiden Kinder. Unruhig und laut flog plötzlich eine ganze Schar, nach Futter suchend, um die Köpfe der Tiere; endlich setzten sich einige in die trockenen Rinnen und in die Streu und pickten den duftenden Mist.

Plötzlich wurden Schritte auf dem Futterboden vernehmbar. Zwei Beine mit plumpen Klotzen und groben, wollenen, über die Hosen gezogenen, grauen Strümpfen erschienen oben in der Öffnung über der rumpeligen, hölzernen Treppe.

Das gab das Signal zum Aufbruch, und die Kinder liefen davon.

Hinter dem großen Knechte-Pferdestall lag ein riesiger Misthaufen, träge von der Sonne beschienen, von stagnierendem, braungelbem Wasser umgeben, ungleich aufgeschichtet; etwas weiter ab ein Tümpel, auf dem Enten schwammen.

Auf einem sauber gefegten Weg ging's zum Herren-Stall, dessen geöffnetes Thürportal ein in Holz geschnitzter Pferdekopf zierte. Hier herrschten äußerste Sauberkeit und blitzende Helle. Sorgfältig geflochtene Strohreifen begrenzten die Streu in den Pferdeständen. Die Krippen waren mit glänzendem Metall beschlagen, und die Wände zeigten ein ruhiges Grau.

Der alte Kutscher Friedrich in seiner rot- und weißgestreiften Weste schlug eben auf den breiten Rücken eines der beiden Wagenpferde und schob das langsam weichende Tier mit einem »Üh« beiseite. Er schüttelte die Streu auf und fegte den Unrat mit dem Besen zu Haufen.

Am Ende des Stalles stand ein brauner Pony mit tief herabhängendem Kopf, rundlichem Hals, straff emporgerichteter Mähne und müden Augen. Zu diesem liefen die Kinder. Carmelita holte Zucker hervor, den sie zu sich gesteckt hatte. Das Tier schnupperte, nun aufgeweckt, mit seinem feuchten Atem begierig über die flache Hand des Kindes und Carmelita nickte mit dem Kopf und redete, als spräche sie zu einem Menschen.

Beim Eintreten der Mädchen hatte Friedrich die Pfeife aus dem Munde genommen und sie in einen seiner kurzen mit Lackleder besetzten Stulpenstiefel gesteckt. Er nickte mit einem breiten »Tag, Lita!« und blieb bei der Arbeit.

Jetzt zog ein Stallknecht ein träge seinem »Hüh! Hüh!« folgendes Pferd aus dem Stall zum Tierarzt in das nahe gelegene Dorf. Das scheuchte die Kinder auf. Sie warteten aber nicht, bis Tier und Knecht den Stall verlassen, sondern drängten sich an ihnen vorüber und liefen zu den Scheunen, welche den freien Platz umschlossen.

Unterwegs setzten sie durch ihren eiligen Lauf einige Hofhunde in Bewegung, und auch Kays Dogge und Jagdhündin liefen im gestreckten Galopp mit. Während dieses Jagens überkugelte sich ein gelber Teckel, auf den ein Kamerad durch Beißen in die Schenkel einen lustigen Angriff machte. Der Teckel lag mit treuherzigen, hilflosen Augen da und schnappte machtlos in die Luft. Als ihm aber der Angreifer die schiefausgebogenen Beine auf den Leib setzte und dabei die langen Ohren in die Nähe der Zähne des Besiegten gerieten, faßte dieser die weichen Lappen, und der Held riß sich quieksend und bellend los und entfloh eilig. Carmelita aber bückte sich hinab, packte den Teckel und drückte seine Schnauze an ihr süßes Gesichtchen. Anna stand mit zerstreut forschendem Blick daneben, während ihre Finger in dem Näschen beschäftigt waren.

Nun gings an die große Scheune zur Linken. Noch lagen vor den weitgeöffneten Thoren Spuren des abgeladenen Heues. Ein Leiterwagen stand quer vor auf einem der Sonne preisgegebenen Plätzchen, neben den Rädern pickten zwei Hühner, und ein alter, schwarzer, langhaariger Hund, der mit müdeblinzenden Augen den Kopf erhoben hatte, senkte die Schnauze wieder auf die vorgestreckten Tatzen herab. Die Spitzen seiner Haare glänzten silberartig, während die blanken Ränder eines neben einem Stück Zeitungspapier liegenden, messingenen Pfeifendeckels mit rauchgeschwärzter, körniger Innenseite wie Gold sprühten. Unmittelbar vor der Giebelwand war ein großer Haufen Stroh aufgeschichtet und brannte in der Hitze.

Die Kinder beschritten den kühlen Raum, in dem das Heu duftete, als löse sich ein aromatischer Hauch aus jedem Halm. Sie hielten Umschau, fanden die Leiter zum Boden und stiegen empor.

Als sie oben angekommen waren, stapften sie mit schwerfälligen Schritten über die Heuhaufen bis in die Mitte des Raumes. und hier kletterte Carmelita auf einen hohen Berg und ließ sich jauchzend herabgleiten. Und dasselbe that Anna und kratzte sich den Kopf, in dem sich die stechenden Halme verfangen hatten.

Und dann wateten sie weiter, versanken und arbeiteten sich wieder empor und gruben endlich eine tiefe Öffnung in einen hohen Hügel, worin sie sich ein Kämmerchen einrichteten.

Beim Plaudern erinnerte sich Carmelita, daß sie etwas Naschwerk in der Tasche habe; sie zog es hervor und gab der Freundin die Hälfte. Als Anna ihren Teil verzehrt hatte, wischte sie die von der Schokolade braun gewordenen Lippen mit der umgekehrten Hand und dann mit der Schürze ab. Und jetzt ging's abermals vorwärts. Noch ein zweiter Boden war zu erklimmen. Während Carmelita die Sicherheit der Leiter prüfte, versuchte Anna, ihr das Heu aus dem langen, schwarzen Haar zu zupfen.

»Nein, mußt nicht!« rief das Kind mit gutmütiger Ungeduld und wandte den Kopf, »Du thust mir weh! Laß! Komm! Ich will voran! Warte, bis ich oben bin.« Nun stieg sie behutsam empor, und am Ziele angelangt, setzte sie sich in die Hucke und hielt die Leiter mit wichtiger Miene fest.

Ihre lebhaften Augen glühten, und mit offenem Munde verfolgte sie die Bewegungen ihrer weniger geschickten Gefährtin.

Jetzt umfing die Kinder erst der ganze Zauber der Heimlichkeit und Stille. Hier oben hörte man nichts von der Welt draußen. Keinen Hahnenschrei, keinen menschlichen Ton, kein lautes Leben. Ein großer, fast unheimlicher Raum, in dem alles zu schlafen und, stumm abwartend, der Zeit zu harren schien, die weiteres offenbaren werde.

Zahlreiche Spinngewebe, gleich Hängematten und zarten Seilen, hingen an den Balken, aber auch fadenartige, steife und unbewegliche, von grauem, schmutzigem Staub umzogene Gebilde saßen zwischen den Dachlatten. Und zahllose Heuberge hochaufgestapelt zur Linken, während die rechte Seite unausgefüllt war. Viele gelbe Pulverhäufchen der Holzwürmer bedeckten den Fußboden, und dichter Staub hatte sich aufgeschichtet, der fast schärfer roch als drüben der Schnitt der Wiesen.

Durch eine in Kreuzform gebildete Maueröffnung des Giebels erhielt der Boden Licht, und durch eine Steinspalte drang sogar ein hellflimmernder Sonnenstrahl, in dem silberne Staubpünktchen auf- und abwogten.

Das reizte das Auge der Kinder. Sie liefen bis an den Giebel und prüften. was sonst noch ihre Neugierde befriedigen könne. Und dort gab es auch etwas. Es fand sich eine mit brauner Teerfarbe gestrichene Doppelluke, die durch zwei eiserne Haken zusammengehalten ward. Die eine Krampe saß unten und schien sich leicht zu lösen, die andere aber war so hoch, daß nur ein mittelgroßer Mann sie bequem erreichen konnte.

Dies beschäftigte Carmelita und Anna außerordentlich. Alsbald kamen sie auf den Gedanken, daß Carmelita sich auf Annas Rücken stellen könne. Zu diesem Zweck bückte sich die letztere, stemmte Kopf und Hände gegen die Wand und ließ es geschehen, daß Carmelita an ihr emporkletterte.

Mit großer Anstrengung gelang es ihr, den Haken frei zu machen, aber als er sich kreischend löste, verlor sie das Gleichgewicht, und beide Kinder stürzten zu Boden.

Sie erhoben sich jedoch rasch wieder, zugleich aber kam es über sie, daß sie etwas thaten, was sie nicht durften, und schon wollten sie von dem gefahrvollen Beginnen abstehen. Aber die Neugierde und der Reiz des Verbotenen zerstreuten ihre Bedenken, und Carmelita machte sich nun auch an den unteren Haken, indem sie sich auf die Erde niederließ und sitzend ihr Werk begann.

Nachdem auch der endlich nachgegeben hatte, schob sich Carmelita zurück, zog die Füße an, schnellte sie dann mit raschern, kräftigem Stoß gegen die Pforte und bewirkte durch diesen heftigen Anprall, daß sie zurückflog.

Dichter Staub wirbelte empor, und Luft, Licht und Sonne fluteten herein! –

Ah! Ah! Das war aber schön! – Die Kinder schauten hinab. Vor ihnen lag das Gut. Das Schloß, umgeben von Wald, die großen Rasen, der glänzende Streifen des Wassers; hinter diesem das Gehölz mit den hohen Bäumen und weiterab wie eine langgestreckte, bewachsene Insel in der ebenen Fläche mit ihren Äckern und Wiesen das Unterholz.

Auch das Dorf mit dem Kirchturm war sichtbar; die weiße Mauer des Pastorhauses und hinter dem Dorf das buntgefärbte Land mit den anmutig zerstreuten Ortschaften und grünen Gärten, den Landstraßen und Chausseen, die letzteren mit ihren zuckerweißen Marksteinen so hell abstechend gegen die grauen, gelben und schwarzen Felder, als seien sie mit Marmorstaub bedeckt.

Und an des Blickes Grenzen der sanft verschwimmende Horizont in wundervoller. seidengrauer Färbung, und darüber der kristallblaue Himmel, an dessen Saum hohe Wolkengebilde wie mächtige, die sonnenbeschienene Thalebene umschließende Gebirgszüge erschienen.

Zu ihren Füßen aber der saubere Hof mit den Scheunen und Ställen, und seitwärts das Verwalterhaus mit seinem roten Dach und seinen hellen Fenstern. Und des Aufsehers Häuschen, umrankt von Grün und Epheu, ein Zufluchtsort für Kühle und Schatten.

Auf dem Misthaufen pickten die Hühner mit ihrem »Uk, uk, uk u–u–uk« und den nickenden Köpfen. Hoch oben spreizte sich ein Hahn, hob den Kopf und schlug die Flügel auseinander, als sei das Sonnenlicht ein Wasserbad, dem er eben entstiegen.

Nun aber scheuchte des Kutschers Friedrich kleines Mädchen die Enten in den Tümpel. Schnell watschelnd schoß das aufgeschreckte Völkchen mit seinem »Quak, Quak« in das Wasser, im ängstlichen Flattern mit den Flügeln die Fläche streifend, oder mit eilfertigem Rudern keilförmig schwimmend, in die Mitte flüchtend. Nur eine einzige, schneeweiße tauchte, minder nachhaltig erschreckt, in die Tiefe und blieb mit dem spitz emporgerichteten Schwanze stehen, als ob sie der Akrobat unter ihresgleichen wäre.

Nachdem die Kinder genug geschaut hatten, der Reiz der Neuheit dahin war, entschied Carmelita, daß sie wieder hinabsteigen und in den Verwaltersgarten eilen wollten, in dem sich eine Schaukel befand. Aber nun kam noch vorher die Überlegung, ob nicht die Luke wieder geschlossen werden müßte.

Wenn Carmelita sich vornüber bückte, vermochte sie dieselbe dadurch zu fassen, indem sie sich knieend mit der einen Hand an der Ecke der Wand festhielt, und die andere von unten in Thätigkeit setzte. Sie wies Anna an, dasselbe zu thun. Carmelitas Werk ging langsam, aber sicher von statten. Sie war in all dergleichen geschickt, schon weil sie keine Furcht kannte.

Anna hatte sich dagegen in die Hucke gesetzt, suchte vergeblich, es Carmelita nachzumachen und schob sogar die Finger ungeschickt zwischen die Thürspalte.

Aber davon bemerkte Carmelita im Eifer ihrer Beschäftigung nichts, wohl aber hörte sie plötzlich neben sich einen kurzen, furchtbaren Angstschrei, und ehe sie noch zur Besinnung gelangen konnte, ehe sie empor zu springen vermochte, sah sie ihre kleine Freundin, die das Gleichgewicht verloren hatte, – in die Tiefe hinabstürzen – – –

Dem Kinde stand das Herz still. Es sprang empor. Es zitterte und flog am ganzen Körper. Und dann erfaßte es eine wahnsinnige Angst. Carmelita sah und hörte nichts mehr. Sie flog über den staubigen Boden, kletterte mit bebenden Gliedern die Leiter hinab, arbeitete sich, mühsam wie ein gehetztes Reh, über die Heuhaufen, gelangte an den Ausgang, da, wo die zweite Leiter stand, bestieg sie mit Angstschweiß an den Händen, klomm fliegend, keuchend weiter hinunter und eilte, in der Tenne angekommen, aus einer Hinterthür über den Hof. Sie hielt in ihrer Todesangst keine Umschau nach Anna. Anna war sicherlich tot! Sie dachte nur an ihr Vergehen, an die Strafe. Ihr wollte sie entfliehen. Sie sah den furchtbaren Blick in den Augen ihrer Mutter, sie hörte ihre harten unbarmherzigen Worte:

»Du hast Anna verführt! Verboten war Dir, die Böden zu besteigen. Du hast es doch gethan, Du mußt gezüchtigt werden!«

Auch ihr Papa würde diesmal gegen sie Partei nehmen! Und dann kam doch wieder der Gedanke an ihre Gespielin. Sie sah sie blutend, ächzend, mit zerschmettertem Haupte – –

Ihr grauste. Vorwärts! Vorwärts! Bald hatte sie die Landstraße erreicht, die zum nächsten Dorfe führte. Der Schweiß triefte ihr von der Stirn, ihr Atem ging hastig, ihre Augen glühten, ihr Gesicht war bleich und die Glieder flogen.

Was eigentlich geschehen sollte, sie wußte es nicht. Nur fort, fort! Und nie zurückkehren!

Als sie in der Ferne Menschen auftauchen sah, bog sie in das Unterholz, das die Straße begrenzte. Es verbarg sie den Blicken der Vorübergehenden. Wenn sie geradeaus lief, mußte sie auf anderem Wege die Chaussee wieder erreichen.

Im Unterholz war's kühl, und ein würziger Geruch aus dem Laube der Buchen und den Nadeln der Tannen schlug ihr entgegen. Die Sonne funkelte mit ihren goldigen Lichtern so sanft und ruhig durch die Bäume, als ob sich gar nichts Besonderes in der Welt ereignet hätte. Die Sonne und der Wald wußten nichts von einem ungehorsamen Kinde und nichts von der toten Anna.

War sie denn wirklich tot? Wahrscheinlich – und, wenn nicht tot, lag sie doch sicher mit zerschmetterten Gliedern im Bett, und sie – Carmelita – traf die Schuld. – Beim Forteilen strauchelte die Geängstigte über einen jungen Baumstamm; ein Hänfling flog auf und zwitscherte; Waldtauben gurrten in der Nähe.

Das alles erschreckte das Kind. Es lief weiter. Aber in der Hast ihrer Gedanken war Carmelita vom Wege abgekommen. Sie ward sich dessen bewußt, blieb stehen und schaute sich um. Ihre Schuhe waren staubig, an den Strümpfen hingen Halme, und beim Laufen durch das niedere Gebüsch waren Kletten an ihren Kleidern hängen geblieben. Mechanisch rissen ihre Hände daran. Nun raschelte es in den Zweigen zwischen den Blättern. Ein Tier, – ein weißes Kaninchen zeigte sich und nagte an den jungen Blättern saftiger Schößlinge. Und das Kaninchen kannte Carmelita. Wie kam es ins Unterholz? Sicherlich war's entflohen, wie sie selbst.

Nun beschäftigten sich für Augenblicke ihre Gedanken nur mit dem Tiere, das seine zerstreuten, roten Augen auf sie richtete und die langen, weißen Ohren bewegte.

Carmelita wollte das Kaninchen fangen. »Komm! Komm!« Bei diesen Versuchen fielen ihr die übrigen Kaninchen im Stall ein und nun wieder der Hof, das Verwalterhaus, – Anna – ihre Mutter – ihre Mutter – –

Sie empfand Hunger, Durst. Dort drüben standen Erdbeeren, einige noch grün mit roten Pünktchen; daneben aber saftige, kleine, den Kopf neigende, reifere Früchte zwischen den gezackten Blättern. Sie pflückte, aß und fing an zu weinen, bitterlich zu weinen.

Die Tränen fielen auf ihre Hände, auf die Erde. – Mitten im Sonnenschein des Waldes begann sie zu frieren; jetzt kam die körperliche und seelische Abspannung nach all der Erregung.

Aber sie war noch im Unterholz, allzu nahe dem Gute! Also vorwärts, rasch wieder vorwärts! Sie lief mit vorgestrecktem Körper den Weg zurück, ungeduldig spähend, ob sich nicht die Chaussee wieder zeige; oftmals im Zickzack, abermals fast eine Stunde. Aber als endlich die Landstraße in der Ferne auftauchte, da fiel ihr ein, daß sie dort Gutsangehörigen begegnen könne, und sie beschloß, lieber den Ausgang des Waldes zu gewinnen und über Wiesen und Felder nach dem Dorfe zu laufen. Sie fürchtete schon nicht mehr ihre Mutter allein, sondern alle Menschen in der Nähe als Mitwisser ihres schrecklichen Geheimnisses.

Die gerade Richtung festhaltend, fand sie auch wirklich den Waldsaum, den ein hoch bewachsener Wall und ein mäßig breiter Graben von einer großen, grünen Wiese trennte. Die Zweige des Nußgebüsches und der Erlenpflanzen bogen sich gleichsam verlangend herab zu den zahlreichen Vergißmeinnicht, die hier in dem feuchten Boden gediehen. Und Brombeergesträuche, rote Waldnelken, grüner Heinrich, Brennesseln und Storchschnabel brannten in der Sonne und vermischten ihre Düfte.

In der Mitte des Grabens lag ein Stein. Das Wasser glitt langsam funkelnd und silberschimmernd über seine ungleiche Fläche.

Vielleicht gelang das Überschreiten. Es mußte gewagt sein. Carmelita wand sich durch das Gestrüpp, ließ sich vorsichtig hinabgleiten und prüfte. Nein, es ging doch nicht. Sie sah Schilf an des Grabens Rand, aber auch Morast, dessen harte, von der Sonne geborstene Decke Unheimliches verriet. Und die Wiese war so schön, so still; Blumen und Gräser blühten und dufteten; der Bienen und Hummeln unruhiges und melodisches Gesumme erfüllte mit sanfter, einschläfernder Musik die heiße Luft.

Nun kam Carmelita ein guter Gedanke. Sie zog die Schuhe und Strümpfe aus, nahm sie in die Hand und watete ins Wasser. Aber im Nu versank ihr suchender Fuß in der moorigen Tiefe, und ein erdiger Geruch stieg aus dem aufgestörten, schlafenden Grunde empor. Sie wich zurück und schaute mit zerstreutem Sinn von ihrem Wall aus über das Land und in die Ferne. So einsam still war's. Und das Aroma der Wiesen und die moschusduftigen Spuren der auf ihnen grasenden Kühe drangen auf sie ein.

Und jetzt plötzlich vernahm das Kind hinter sich ein Geräusch. Plumpe, schwerfällig trabende Schritte näherten sich. Glockengeläute! Und dann Trampeln, und ein beharrliches Knacken und Brechen der Zweige, bis zuletzt Köpfe, zwei breitstirnige, braune Köpfe mit großen, dunklen Augen zwischen den zertretenen Gebüschen des Knickes erschienen.

Carmelita erschrak heftig. Die Tiere glotzten sie an, eins brüllte laut und hilferufend. Und geängstigt, verwirrt und ratlos, auch Menschen vom Gutshof in der Nähe vermutend, nahm das Kind eilig Schuhe und Strümpfe in die Hand, kletterte über den Wall zurück, achtete nicht der Brennesseln, die seine Beine verbrannten und stürzte wieder waldeinwärts. Und die Kühe hinter ihm her. So schien's ihr wenigstens. Carmelita hörte Trampeln und Glockengeläute. – Zuletzt erstarb das Geräusch.

Was nun? Abermals den Hauptweg suchen! Sie glaubte, die Richtung gefunden zu haben, und stürzte vorwärts. So gings von neuem wohl eine halbe Stunde. Aber ihre Füße schmerzten allzu sehr; ein Dorn hatte sich ihr in die Ferse gebohrt. Dieser Umstand, völlige Erschöpfung, Abspannung und Müdigkeit weckten, entgegen aller Angst und Furcht, die sie bisher beherrscht hatten, die Sehnsucht nach Ruhe, nach Schlaf. Sie fand nach kurzem Suchen ein einsames Plätzchen.

Wie schön, still und heimisch war's hier auf den trockenen, braunen Blättern. Beschattet von den Zweigen eines jungen Akazienbaumes, der einst hierher verschlagen war durch den Samen, den der Wind erfaßt und herabgestreut hatte, umgeben, fast eingeschlossen von hohem, dichtem und duftendem Gesträuch, atmete sie, sich niederlassend, von ihrer Erschöpfung befreit, auf.

Sie riß Blätter ab und wischte sich den schwarzen Staub von den Füßen; mit ihrem Speichel linderte sie den Schmerz an der Ferse, und als das geschehen und auch Strümpfe und Stiefel wieder angezogen waren, pflückte sie Klee und aß. Und dann legte sie sich auf den Rücken und suchte den blauen Himmel über sich. Und der Himmel lachte, und die Sonne blendete ihre Augen, und der Wald sandte seine einschläfernden Düfte, und das Kind schlummerte ein.

Carmelita schlief und träumte, ihr Papa hätte sie im Arm, zöge sie zärtlich an sich, und sie weinte vor Glück und Seligkeit. Und die kleine Anna spielte mit ihrer großen Puppe. Charlotte und Friedrich Theißen, der alte Kutscher erzählten, daß ihre Mama ihr nicht böse sei, und dasselbe erfuhr sie von Konrad, dem Diener, und sie flog an ihm empor und legte ihre Wangen an sein treues, ehrliches Angesicht.

Und als die Dämmerung kam, als die Natur mit leisem Gähnen über Wald, Wiesen und Felder flog, die Tiere sich zum Schlafe rüsteten, und über Dronninghof und die ganze Gegend ringsum schon zarte, blaue Schleier sich ausbreiteten, endlich auch der Nebel gleich weißem Weihrauchdampf aus den Wiesen quoll und das Nahen der stillen, allen Schmerz und alles Weh besänftigenden Nacht vorbereitete, schlief das Kind noch immer und träumte glückliche, selige Träume.


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