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Die kommenden Stunden des Tages verliefen in sonntäglich friedlicher Ruhe. Nur ein kleines Mädchen trat während des vormittags in den fast dunkelverhängten Laden, das rasch abgefertigt ward. In der Gaststube glänzte der mit weißem Sand bestreute Fußboden in unberührter Sauberkeit, da kein Zechender sich eingefunden. Hinter dem Schenktisch saß Anna-Marieken, statt wie sonst, zu wischen, einzuschenken und zu bedienen, still herabgebückt über einer Häkelarbeit, und durch den sauberen Hausflur, ja selbst über den reingefegten, menschenleeren Hof drang der reizvolle Duft der Sonntagssuppe.

Alles ruhte, die Natur und die Menschen. Frau Appen war nach der Rückkehr aus der Kirche mit ihren Blumen beschäftigt, Frau Lornsen saß an ihrem geöffneten Schreibsekretär, in dem sie ihre Papiere und Gelder zu verschließen pflegte, ordnete, zählte, überlegte und notierte. In der Bäckerei sah's aus, als ob aufgeräumt sei für alle Zeiten. Keine Wage hing schief und kein Backtrog enthielt Reste, und auch oben auf dem Berge schliefen die Mühlenflügel in der heißsonnigen Luft gleichsam einen ewigen Schlaf sanfter Ruhe.

Aber nicht die Herzen waren ruhig. In seinem Zimmer saß Wilhelm Lornsen, der sich während des Gottesdienstes in der Mühle, in den Ställen und Nebengebäuden zu schaffen gemacht, mit finsterem Antlitz, stellte Berechnungen an seinem Schreibtisch an, erhob sich, wanderte auf und ab, nahm wieder seinen Platz ein und vergaß, völlig seinem Sinnen und Nachdenken hingegeben, daß draußen der Sonnenschein lockte. Vor dem Kirchgang hatte er sich im Laden an die blasse Wiebke herangemacht und auf sie eingeredet.

»Ich wiederhole, ich sag' Ihnen mein ›Ja‹ oder ›Nein‹, Herr Lornsen, sobald ich meine Mutter gesprochen habe. Ich bitte, daß Sie mich heute nachmittag nochmals nach Föhrde lassen. Morgen im Laufe des Tages, spätestens übermorgen, Herr Lornsen – sicher. Ich bitte, geben Sie mir Zeit.«

Nach diesen fast demütig gesprochenen Worten hatte sie ihn mit jenem Ausdruck angeblickt, dem er allezeit unterlag, und er hatte in alles widerstandslos gewilligt.

Aber trotz dieser Unterredung, die nicht verändert, vielmehr nur die guten Eindrücke, die er von ihr gewonnen, verstärkt hatte, wogte es in Wilhelm Lornsen leidenschaftlich auf und ab.

Er hatte Carlos von Wulfsdorff, der selten oder nie die Kirche zu besuchen pflegte, den Weg dahin nehmen sehen, als er zufällig oben auf dem Mühlenrundgang herausgetreten war und Umschau gehalten hatte. Und da war jählings, wie ein Blitz, in seiner Seele Mißtrauen und Eifersucht erwacht.

Sie liebte am Ende den Heger Junker! War er doch gleich nach seiner Rückkehr im Laden gewesen, und sie hatte doch an jenem Tage verschwiegen, daß sie ihn gesehen habe. Also flüsterten die hetzenden Stimmen in seinem Innern. Wenn sie aber zum Schweigen gebracht waren, knüpfte er wieder an Hoffnungen an, die, durch stärkeres Selbstgefühl gefördert, auch zuletzt Kraft und Dauer behielten.

Zur Ehe gehöre gar keine schwärmerische Liebe, philosophierte Wilhelm Lornsen. Übereinstimmung und geordnete Verhältnisse seien für tüchtige, nüchterne Menschen die Fundamente, auf denen sich Glück und Zufriedenheit aufbaue.

Eine Neigung, wie sie Wiebke etwa zu dem jungen Wulfsdorff gefaßt hatte, hing zusammen mit den übertriebenen Erwartungen, die jeder in der Jugend einmal ans Leben knüpft. Mutter Vernunft sprach anders, und zwischen Carlos' Wünschen und der Möglichkeit, daß die auf Hege eine solche Verbindung zugeben würden, lag ein weiterer Abstand als zwischen zwei Weltpolen.

Als man zu Tisch ging, war schon über Wilhelm wieder die alte Ruhe gekommen, auch Frau Lornsen, die einen festen Entschluß gefaßt zu haben schien, begegnete ihrem Sohn, als ob nichts vorgefallen sei, und nur Frau Appen und Hans legten durch ihr stilles Wesen an den Tag, wie sehr ihr Inneres beschäftigt war. Als Wiebke, von Wilhelm absichtlich darauf hingeleitet, hinwarf, daß sie am Nachmittag sich nochmals zu ihrer kranken Mutter nach Föhrde zu begeben wünsche, kam Hans ein Entschluß. Er wollte drüben am andern Ufer aufpassen und eine Unterredung herbeiführen. Es kam ihm sehr gelegen, daß sie diese Absicht geäußert hatte.

Eine Verabredung mit einigen seiner Universitätskommilitonen vorschützend, begab er sich bald nach Tisch an den Strand, ließ sich mit der Fähre übersetzen und wanderte so lange am jenseitigen Ufer auf und ab, bis Wiebke in dem Fährkahn sichtbar ward. Alsdann begab er sich in den zu dem diesseitigen Fährhaus gehörenden Garten, beobachtete sie von dort hinter den Gebüschen und trat, als das Boot ans Land stieß, wieder hervor. Wenige Augenblicke später war er an ihrer Seite und begann auf sie einzusprechen.

»Da Sie mir so gütig schrieben, bitte ich, mich zu Ihnen gesellen zu dürfen, Fräulein Wiebke,« begann er, einen zur Rechten über die Wiese sich hinziehenden einsamen Weg zur Stadt einschlagend. »Ich bitte Sie herzlich, stehen Sie mir in einer Frage Antwort. Wenn Sie, wie Sie selbst sagten, meinen Onkel eigentlich nicht lieben, ist's Wulfsdorff, den Sie bevorzugen? Sie sind mir ein Rätsel, Sie sahen wiederholt meinen Onkel mit zärtlichen Blicken an, und daß Sie Carlos ebenfalls sehr freundlich entgegengekommen sind, hat er mir selbst gesagt.

»Sind Sie sich dieser Widersprüche bewußt, Fräulein Wiebke? Bisweilen denke ich, Sie seien nur hilflos, Sie hätten ein reines, stilles Gemüt, und dann – zürnen Sie mir nicht wegen meiner Offenheit – möchte ich glauben, ein Dämon säße in Ihnen, uns alle und sich selbst zu verderben!«

Einige Sekunden zögerte Wiebke mit der Antwort, dann aber stieß sie sanft und ungekränkt heraus:

»Was soll ich Ihnen beantworten, Herr Appen?«

»Was? Ich frage Sie: Wen lieben Sie eigentlich, wen bevorzugen Sie?«

Nun erhob sie das Haupt und sah gerade aus, als ob sie in der Ferne nach Antwort suche, die sie selbst nicht geben könne, und sagte mit einem schweren Seufzer:

»Ich weiß es selber nicht! Ich glaube keinen –«

»Wie, Sie wissen es nicht, Fräulein Wiebke?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ist's also nur Vernunft, die Sie veranlaßt, meinem Onkel Hoffnungen zu machen?«

Sie erwiderte abermals nichts, sie zog die Schultern. Es schien ein Ja zu sein.

»So lieben Sie also Herrn von Wulfsdorff mehr als meinen Onkel?«

»Nein!« drang's mit kurzem, festem Laut aus ihrem Munde.

»Aber vielleicht morgen, wenn Sie unter seinem Bann stehen würden? Dann, Fräulein Wiebke?«

»Ich bitte Sie – quälen Sie mich nicht,« hauchte das Mädchen, und er sah, wie sich die Brust unter der enggeschlossenen Jacke stürmisch spannte. »Ich begreife mich selbst nicht. Ich bin sicher nicht gut, ich schwanke hin und her und vermag's doch trotz Aufbietens aller Kräfte nicht zu ändern. Ich kann entweder einen einzigen Mann nicht lieben – die Vorsehung hat mir das nicht gegeben – oder es hat der rechte sich mir noch nicht genähert. Ich glaube, so ist es. Seit heute vormittag ist überhaupt etwas ganz anderes über mich gekommen durch die Predigt. Aber gleichviel! Sie habe ich nur um eines zu bitten. Was Sie in der Folge von mir Rätselhaftes sehen, glauben Sie, jegliches ist zurückzuführen auf mein tief zerrissenes Inneres. Ich habe so Schweres erlebt, daß ich keinen Weg mehr zu gehen weiß. Vielleicht finde ich ihn in der Ehe. Da sich kein Mensch aller seiner Hoffnungen zu entkleiden vermag, so werfe ich dort noch einen Anker. Ich werde deshalb auch Ihres Onkels Antrag annehmen. Nur meine Mutter möchte ich noch sprechen, sie hören wegen der großen Schwierigkeiten, die mir von seiten Ihrer Familie gemacht werden. Helfen Sie, ich bitte, Ihre Mutter versöhnen, der ich doch nie etwas zuleide getan. Ich werde Ihnen dafür und für alles, was Sie mir Gutes tun, von Herzen dankbar sein.

»Und nun lassen Sie mich. Da ich Ihnen mein Inneres aufgeschlossen habe, da ich wenigstens wahr gegen Sie gewesen bin, da Sie wissen, welche Kämpfe ich bestehe, werden Sie mich auch nachsichtig beurteilen.«

Eben, als sie ausgesprochen hatte, sangen über ihnen mit süßen Lauten die Vögel. Nicht mehr weit ab lag die Stadt mit ihren roten Dächern und Gärten, von der sanften Anhöhe herab, die sie eben erklommen, dem Auge ein entzückendes Bild sonntäglichen Friedens! Und drüben, jenseits des Ufers, das überaus lieblich hingestreckte Dorf Halke, und gen Süden die kleine Kirche, in der am Morgen sie beide gesessen und den Worten des Predigers gelauscht hatten:

Selig sind die Friedfertigen!

*

Nachdem sich Wiebke von Hans vor den ersten Häusern getrennt hatte, schritt sie die kleine Bergstraße in die Stadt hinab, bestieg hier eine Pferdebahn und fuhr nach dem Schloßviertel, wo ihre Mutter hinten auf dem Hofe zur Linken in einem, einem Schmied gehörenden kleinen Häuschen sich eingemietet hatte. Auch unten zur Rechten und oben barg das Gebäude Mieter, und sie störte nicht das in der Frühe schon beginnende und erst am Abend endende Geräusch des Hämmerns in der anliegenden Werkstätte.

Die Frau, die durch ein vorn angebrachtes Schild: »Feinwäscherei und Plättanstalt von L. Nissen« auf ihre Wohnung hinwies, hatte hier zwei kleine Gemächer und eine Küche zur Verfügung und stand, als ihre Tochter die Wohnung betrat, in der letzteren und plättete Kragen und Manschetten.

Die Zimmer machten durch die große Sauberkeit, die überall hervortrat, einen sehr angenehmen Eindruck. Besonders heute war alles blitzblank, und die munteren Blumen am Fenster und eine Rose, die auf dem Wohnstubentisch stand, verbreiteten jenen gewissen anheimelnden Duft, den man nur bei Menschen mit reinen Seelen, oder wie der Volksmund sagt, »bei ordentlichen Leuten« findet.

Wiebkes Mutter war eine schmale Frau mit feinen, blassen Zügen, aber der Mangel an Zähnen oben – nur zwei machten sich noch beim Öffnen des Mundes, und zwar recht unschön bemerkbar – ließen sie doch wie eine Mumie erscheinen, und überhaupt sah sie mit ihrer mageren Gestalt so zart und gebrechlich aus, daß man nicht begriff, daß sie überhaupt noch arbeiten könne. Nicht einer Waschfrau glich sie in ihrem grauen, langen Kleide, sondern mehr einer Rekonvaleszentin der besseren Stände in einem Krankenhause. Sie ließ sich auch, nachdem sie das Plätteisen über den letzten Rest eines Wäschestückes hatte gleiten lassen und es, vorläufig außer Dienst stellend, auf das Untersatzeisen gesetzt hatte, wie erschöpft vorn im Wohnzimmer neben Wiebke nieder. Dann sagte sie auf ihrer Tochter Frage nach ihrem Befinden, trostlos den Kopf schüttelnd:

»Ach, Wiebke, es ist char niks mehr! Ich bin seit die letzten Tage so swach, daß ich kaum noch stehen kann. Wenn's nicht bald besser wird, muß ich mir gans hinlegen –«

Und dann zärtlich besorgt:

»Aber wie cheht es dir heute, mein Kind. Du siehst man blaß aus! Hat es wieder 'was mit Frau Appen checheben? Ich wollte schon chestern abend fragen.«

»Es hat viel gegeben, Mutter,« entgegnete Wiebke. Und sich unterbrechend und erst jetzt die Jacke lösend und es sich bequem machend: »Sag 'mal, macht es dir viel Mühe, mir eine Tasse Kaffee zu kochen?«

»Ne, ne, chewiß nich, mein Kind. Wart man en Augenblick!«

All ihre Erschöpfung vergessend, lief sie eilfertig in die Küche, kehrte mit dem Nötigen, das sie auf ein bemaltes Teebrett gestellt, zurück und setzte Wasser zum Erhitzen auf ein Petroleumgeschirr. Es roch nicht gut; der sanfte Rosenduft verwehte, aber Wiebke, obgleich dadurch gestört, sagte nichts, hockte sich ihrer Mutter am Fenster gegenüber und begann, ihren Blicken ausweichend:

»Ich bin heute hergekommen, weil ich mit dir über etwas sehr Wichtiges sprechen muß, Mutter. Du wirst dich wundern –«

»Na – na? Kind –?«

In die Mienen der Frau trat ein halb erschrockener, halb gespannter Ausdruck.

Dann sagte Wiebke kurz: »Herr Wilhelm Lornsen will mich heiraten, Mutter. Er hat um mich angehalten!«

Die Frau öffnete nach dieser Erklärung die von vielen seinen Runzeln umschlossenen blassen Lippen und saß da mit weit geöffnetem Munde, als ob sie eine Erstarrung ergriffen habe. Die Augen empfingen etwas Unbewegliches, und in den vorgestreckten Händen spreizten sich die Finger wie bei jemand, der einen Angriff abwehren möchte.

»Wieb–ke,« stieß sie dann heraus. »Ist's wahr? Mein Himmel, nein! Was ist das für eine Nachricht. Erzähl, erzähl, Kind! Hast du schon ›ja‹ chesagt? Was meint Frau Appen? Und der Justizrat! Und Frau Lornsen, Frau Lornsen, was sagt sie?

»Na, da werden sie aber in Föhrde die Augen aufreißen. – Ja, ja, das ist etwas Chutes! Das kann einen wieder chesund machen. – Ach, meine Wiebke, nun kann alles chut werden!«

Ohne die Gegenrede ihrer Tochter abzuwarten, erhob sie sich, faßte mit ihren gerinselten Händen den schönen, blassen Kopf des Mädchens und küßte sie auf die dunklen Augen und auf den Mund.

Dann aber machte sie sich in hastiger Geschäftigkeit an den Kaffee, und während sie ihrer Tochter die Tasse hinüberschob und nun der reizvolle Duft des heißen Dampfes den kleinen Raum erfüllte, erzählte das Mädchen, wie alles gekommen war, hielt aber auch nicht mit den schweren Bedenken zurück, die sich – trotz des scheinbaren Glücks – ihr aufdrängten.

Sie liebe Wilhelm Lornsen nicht, es werde also eine Verstandesheirat werden, und was alles die Verwandten ihr antun würden – sie wisse es –, davor graue ihr schon im voraus.

Ein Zusammenleben mit den Frauen werde nie und niemals gehen. Sie seien zu verschiedene Naturen; Streit und Verstimmung würden an der Tagesordnung sein.

Für Augenblicke ließ die Frau den Kopf hängen, aber nur für Augenblicke. Die ihr innewohnende Lebensklugheit schuf klare Gedanken, während ein überlegener Ausdruck in ihre Züge trat, sagte sie:

»Er ist wohl sehr verliebt, Wiebke, wie?«

Das Mädchen zuckte die Achseln.

»Ich glaube wohl, Mutter!« bestätigte sie dann.

»Denn so nimm es wahr, Kind. Sag ihm, du wolltest ›ja‹ sagen, aber bloß, wenn du in Zukunft allein in die Bucht zu sagen hättest –«

»Du meinst, Mutter –?«

»Ich meine, du sollst ihm gleich vorstellen, daß das mit all den Weibern nicht cheht. Die Alte und Frau Appen müssen sich verändern, sie müssen aus den Haus, und dann soll er sich auch verpflichten, dir für alle Fälle vor die Hochzeit 'was Festes zu verschreiben. Du wirst das ihm schon richtig sagen.«

Diese Worte durch einen sehr entschiedenen Ausdruck unterstützend, nötigte sie ihrer Tochter nochmals den Kaffee auf und schloß, ihr auch den Zucker hinüberschiebend: »Das tu, Kind! Jetzt ist noch alles von ihm zu haben, nachher niks –«

»Ja, das wäre ein Gedanke,« murmelte Wiebke langsam.

Er packte sie solchergestalt, daß es ihr heiß durch die Seele rieselte. Aber vor dem Berechnenden, das in diesem Vorgehen lag, schreckte sie doch schon im nächsten Augenblick wieder so sehr zurück, daß sie, statt beizupflichten, mit den dunklen Augen vor sich hinstarrte und – ein Zeichen innerer, starker Erregung – die Lippen fest zusammenpreßte.

»Ich wollte, jemand anders könnte ihm das sagen, es ihm vorstellen, Mutter. Ich glaube nicht, daß ich es über die Lippen bringe,« stieß sie dann hervor. »Was soll er denken! Er ist überhaupt ein starrköpfiger Mann, und auch unberechenbar. Kommt ihm etwas in den Weg, was ihm nicht paßt, wirft er alles über den Haufen. Und das ist es auch. Es ist gar nicht so leicht mit ihm zu leben. Oft ist Streit. Gewiß, Frau Appen hat meist die Schuld. Sie ist eine kalte, unwirsche Person, ich möchte auch nicht in ihrer Lage sein. Er kommandiert, und sie muß gehorchen. Und deshalb Mutter: es sieht diese Heirat wie ein Glück aus, aber ob es eins ist –?«

Wiebke schloß und holte tief Atem. Jedoch die Alte sprach nun mit nur noch beredteren Worten auf ihre Tochter ein.

Hunderte in Föhrde würden sie beneiden. Wie viele schon nach Wilhelm Lornsen die Angeln ausgeworfen hätten! Wenige Menschen besäßen ein solches Ansehen wie er. Und er möchte vielleicht streng sein, aber er verstehe seine Sachen, und sie, die Alte, sollte meinen, er würde Wiebke auf Händen tragen, wenn sie es nur richtig anzufangen wisse. Sie habe doch die große Bildung. In den ersten Häusern hätte sie sich bewegt; daß sie im Laden stehe, darüber wunderten sich alle. Es sei gar kein Platz für sie. Gewiß, alle wüßten, es sei in der Not gewesen, und keiner könne das mehr anerkennen als sie selbst, ihre Mutter, aber erst neulich wieder, als der alte Kammerherr von Pork eine Hausdame gesucht hätte, wäre von ihr die Rede gewesen.

Wenn die Frauenzimmer aus dem Hause kommen würden, – die alte Frau Lornsen müsse auch das Feld räumen – dann würde sie sicher glücklich werden.

»Liebe? Ach, Kind!« schloß sie. »Chlaub man, die verfließt snell. Was zu essen haben, was hinter sich bringen, ein büschen Rolle spielen in der Welt, das ist auch was. Und wie ich mir freuen werde, wenn du Frau Lornsen wirst, das kann ich dir nicht sagen. Lästig werde ich euch nicht fallen! Da bist du sicher vor, mein Kind, wenn ich man mein elendes Dasein etwas verbessern tun kann –« nun drängten sich Tränen über die abgehärmten Backen – »dann ist alles chut.

»Ja, meine Wiebke, tu es man! Du schiebst mir einen sweren Stein vom Herzen. Ich kann nicht mehr, die Kräfte wollen nicht. Mit ein Büschen bin ich zufrieden. Aber von nichts kann der Mensch nicht leben –«

»Und wenn er ›nein‹ sagt?« fiel Wiebke ein.

»Ich glaube nicht, daß er seiner Mutter bloß befehlen kann! Frau Appen, ja, der vielleicht! Aber sicher ist es auch nicht. Und dann ist noch der Justizrat Timm Lornsen da. Das ist ein Böser. Und die Frau! Mich überläuft schon eine Gänsehaut, wenn sie mit ihrem Hochmut daherschreitet.«

»Vergiß nicht, Mutter, daß die Bucht und die Mühle noch der Alten gehören.«

»Ja, deshalb mußt du dir 'was festmachen lassen. Wart, Kind, ich weiß 'was: sag ihm, er soll mit mir sprechen. Ich will ihm schon alles beibringen.«

»Und wenn er dann stutzig wird und sich zurückzieht? Freilich, ich –«

»Was sollt' er wohl, Kind, verliebte Männer sind wie die Raubtiere. Sie chehen sogar in die Fangeisen, und nicht jeder kann sich das Bein abbeißen, um wieder herauszukommen.

»Ich seh' dir schon in deinen eignen Fuhrwerk und wie sie alle sich herandrängen und vor dir dienern tun!

»Erst neulich hörte ich, daß Wilhelm Lornsen mit die meisten Steuern bezahlt. Sie sollen reicher sein als die Wulfsdorffs auf Hege. Was hast du denn, wenn du ›nein‹ sagst? Die Stelle verlierst du sicher. Ein Mädchen will doch auch heiraten. Es hat sich ja sonst keiner gemeldet.«

Wiebke dachte bei den letzten Worten ihr Teil. Aber plötzlich kam's auch über sie; Vorstellungen erfaßten sie wieder. Sie saß auf der Bucht als reiche, angesehene Frau. Der Laden, die Gastwirtschaft, die Bäckerei waren verkauft, vielleicht auch die Mühle. Nur den Landbesitz hatte Wilhelm behalten und sich ein schönes Haus gebaut. Sie, Wiebke, würde drüben bei Wulfsdorffs verkehren, auch in der Stadt eine Rolle spielen. Wilhelm konnte alles, war er wollte; sie würde ihn hinleiten – langsam, mit der Zeit. Sie konnte warten.

So mochte es denn sein, und Wilhelm zu dem zu bringen, was ihre kluge Mutter geraten, mußte sie zu verwirklichen suchen.

»Was meinst du denn, wieviel ich fordern soll? Ich kann doch nicht sagen, daß er mir so und viel aussetzen möchte, Mutter –«

»Doch, Kind. Ach, wenn dein Vater blots lebte, der würde das schon zu Papier bringen. Ich meine so: Du sagst, er soll dir ein Kapital sicherstellen für den Todesfall! Wieviel, das überließest du ihm! Er würde ja selbst wollen, daß seine Frau es gut hätte.«

Wiebke antwortete nicht; sie sagte aber auch nicht nein.

Nachdem die alte Frau Nissen wahrgenommen, daß sie ihre Tochter überzeugt hatte, legte sich ein zufriedenes Lächeln um ihren Mund, auch liebkoste sie Wiebke und sagte dann plötzlich:

»Ist nicht der junge Doktor Appen jetzt in der Bucht?«

Wiebke bejahte stumm. Dann sagte sie kurz: »Schon vierzehn Tage.«

»Na, ja! Ich meinte auch, daß ich ihn gesehen hatte. Doch ein flotter Mensch! Der ist wohl ganz anders wie die anderen da! Hat er sich mit dir abchecheben, Wiebke?«

Über des Mädchens Antlitz glitt ein Ausdruck, der die Frau aufmerksam machte. Sie heftete ihre scharfen Augen auf ihre Tochter und suchte dadurch deren Zunge besser zu lösen.

»Ja, der!« stieß dann Wiebke heraus.

»Er soll ein prächtiger Mensch sein! Meinst du, daß er einverstanden ist, daß du seinen Onkel heiratest?«

Wiebke zog die Lippen.

»Er gäbe wohl alles darum, wenn ich seine Frau werden wollte!«

»Was, was? Auch der, Wiebke? – Hat er es dir chesagt, und ist es ihm bekannt, daß sein Onkel um dir angehalten hat?«

Aber Wiebke besann sich. Ihren Ton ändernd, sagte sie, ausweichend und nur einer leisen Eitelkeit wieder nachgebend:

»Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß er mir gut ist, er und der junge Wulfsdorff –«

Nun horchte die Alte erst recht auf. – »Wulfsdorff?« Das war ungefähr für die Frau, als ob ein Abgesandter erschienen sei, um Wiebke an den Hof des Königs zu holen.

»Der junge Carlos? Was du sagst. Erzähl, Wiebke.«

»Ach nein, laß, Mutter. Das sind ja alles Seifenblasen. – Der eine kann nicht, und der andere denkt nicht an Ernstes, und ich liebe sie auch beide nicht. Bleiben wir nur auf der Erde. – Es ist auch gut so. – Ich denke, die beiden jungen Leute werden mir immer gute Freunde sein. Das ist auch etwas und mehr –«

Die Alte sah bei diesen Worten rasch empor. Aber die ernsten Züge ihrer Tochter belehrten sie, daß sie Falsches gedacht, und nur das Gefühl stolzer Befriedigung blieb in ihr zurück. Auch blickte sie sie von neuem an und ergab sich einer Bewunderung ihrer Schönheit. Und in der Tat! Alles, was die Natur Reizvolles zusammenhäuft, das fand sich an Wiebke Nissen.

*

Als Wiebke am Spätabend die Bucht betrat, war der Laden bereits dunkel, aber in der Wirtsstube befand sich noch helles Licht, und das Geräusch wüster Stimmen und lärmenden Lachens drang an ihr Ohr. Auch öffnete sich in diesem Augenblick die Tür der Wirtsstube, und zwei betrunkene Zimmergesellen aus Föhrde mit breitkrempigen Schlapphüten, die unten im Dorf getanzt hatten und nun eben sich an die Fähre begeben wollten, traten schwankend und lallend heraus.

Wiebke wollte sich schnell zurückziehen, aber im Nu faßte sie der eine um den Leib und suchte, zudringliche Reden hervorstoßend, einen Kuß von ihr zu erhaschen.

Empört schrie sie auf, streifte den Unverschämten kräftig von sich ab und würde ihm auch entwichen sein, wenn nicht auch der andere ebenfalls auf sie eingedrungen und die laut um Hilfe Rufende umschlungen hätte.

Sie ließen sie auch nicht, bis plötzlich, wie aus der Erde gestampft, eine Gestalt erschien und eine schier zermalmende Hand sich in den Nacken der Burschen krallte. Nach diesem Griff wurden sie links und rechts wie ein paar leblose Gegenstände gegen die Wände des Korridors geschleudert, und zugleich wurde die halbgeöffnete Wirtsstubentür aufgestoßen. Alle drinnensitzenden Bauern lösten sich eilend aus dem rauch- und dunsterfüllten Raum und drängten sich, zunächst noch als unschlüssige Zuschauer, dem Korridor zu.

Aber schon hatten sich die Anfänge eines neuen Kampfes entwickelt. Zu den beiden gemaßregelten und wie besessen auf Wilhelm Lornsen eindringenden Raufbolden hatten sich blitzschnell zwei andere Trunkene mit schwarzen Schlapphüten, kurzen Jacken und am Hals tief ausgeschnittenen Wollhemden gesellt und suchten Wilhelm aus der von ihm eingenommenen, den Rücken schützenden Ecke herauszuzerren und niederzuwerfen.

»Holen Sie die Knechte! Laufen Sie in die Bäckerei!« schrie Wilhelm Anna-Marieken zu.

Nun rüsteten sich auch die Bauern, Partei zu nehmen, umstellten die schreienden und heulenden, eben zum gemeinsamen Angriff sich rüstenden Gesellen und forderten sie in kurz befehlendem Tone auf, sofort von Wilhelm abzulassen und das Haus zu räumen.

Aber das gab denn nun erst rechten Anlaß zur Erregung. Von Wilhelm sich sekundenlang abwendend, machten die vier geschlossen Front gegen die Bauern und hieben mit ihren Fäusten wie toll geworden auf ihre Widersacher ein.

Ein wahrhaft entsetzlicher Tumult entstand, Schreien, Brüllen und Wutausbrüche des Schmerzes ertönten, bis jählings Wilhelm Lornsen, mit Berserkerkraft sich verdrängend, zunächst einen von den Kerlen um den Leib faßte und auf den Boden warf. Und während sich über diesen die Knechte stürzten, packte er mit Riesengewalt den zweiten, stieß ihn wie ein Kind auf die Erde und übergab auch ihn seiner Umgebung. Zuletzt schwirrten seine Fäuste auf die Köpfe der beiden sich noch wehrenden, und ehe sie sich versahen, hatte er sie an die Haustür gedrängt und, von den Nachstürmenden unterstützt, den anderen nach, wie Bälle auf die Straße geworfen. Das Türschloß ward zur Sicherheit rasch umgedreht, und tief aufatmend, den Stirnschweiß trocknend und die Kleider ordnend, standen die Zurückgebliebenen da.

Als Frau Lornsen und Anna in höchster Unruhe sich an Wilhelm drängten, glitt nur ein leichtes Lächeln über sein Angesicht. Das Haupt zurückwerfend und sich machtvoll reckend, erschien er wie ein aus einem Kampf siegreich hervorgegangener Löwe. Die stählerne Kraft seiner Glieder, die furchtlos zielbewußte Energie seiner ganzen inneren Persönlichkeit gelangten zum Ausdruck.

Es sei nichts! Mit solcher Sorte werde er stets spielend fertig werden, äußerte er.

Als aber dann die Umstehenden sich zurückzogen, auch die Bauern sich wieder an die Schenktische schoben und Anna-Marieken, den Hahn am Bierfaß von neuem umdrehend, das schäumende Naß abzapfte, schaute sich Wilhelm mit lebhaften Blicken nach der um, um die sich der erbitterte Streit erhoben hatte. Er sah sie nicht. Als er aber den bereits über den Hof geschrittenen Frauen eben nachgehen wollte, öffnete Wiebke die Tür ihres Zimmers, schlüpfte heraus, ergriff seine Hand und ließ jenen lieben, hingebenden Ausdruck in ihrem Angesicht erscheinen, dem jedermann erlag.

»Haben Sie sich auch Schaden getan? Furchtbar habe ich mich um sie geängstigt und gesorgt!« stieß sie heraus. Und als er leichthin und lächelnd verneinte: »Gott sei Dank, daß alles so abgelaufen ist.«

Wilhelm Lornsen aber sah sie mit einem zärtlich werbenden Blick an, legte seinen Arm um ihre Schultern und sagte, sie sanft an sich ziehend:

»Ja, gut abgelaufen, aber nun muß ich doch auch meinen Lohn haben, Wiebke –«

Er wollte sie küssen. Sie jedoch entzog sich ihm furchtsam.

»Bitte, bitte, Herr Lornsen! Wenn Ihre Frau Mutter, wenn Frau Appen –«

»Ach, was scheren mich die! – Wiebke, meine Wiebke! Und wie ist's?« flüsterte er, ferner schmeichelnde Worte sprechend, drängte sich zu ihr und richtete mit bittender Macht seine Augen auf sie.

»Nun, Wiebke, teure Wiebke? Sprechen Sie! Was bringen Sie von Ihrer Mutter? Hält sie mich für wert, ihr Schwiegersohn zu werden?«

Schon wollte Wiebke ohne Gegenwort und Einschränkung sich ihm hingeben. In diesem Augenblick regte sich etwas Heißes für ihn in ihrem Innern. Sie hatte gesehen, wie er die Burschen bemeistert hatte, wie die kraftvolle Tat dieses Mannes ihr Befreiung verschafft hatte. Auch regte sich ihr vornehmes Empfinden, das sich sträubte, ihm erst noch klug erdachte Bedingungen zu stellen. Eine Stimme rief ihr zu, das werde sich finden, sie werde ihre Wünsche später auch noch und besser erreichen. Aber dann war's ihr, als ob sie auf dem Hofe die kalte Stimme der Frau Appen vernähme, und kühle Vernunft und Berechnung nahmen wieder von ihr Besitz.

So stieß sie denn, ihrem Gesicht einen ausdruckslosen Zug verleihend, ernst und bestimmt hervor:

»Ich muß Sie noch sprechen, Herr Lornsen! Ich kann Ihnen erst antworten, nachdem ich Ihnen offen alles gesagt habe, was sich mir nicht nur um meinetwillen sondern auch um Ihretwillen aufgedrängt hat. Und ich fürchte, Sie werden mir recht geben, und dann werfen Sie keinen Stein auf mich, daß ich nicht zu tun vermag, was Sie wünschen.«

»Na, na, was ist denn nun das wieder?« polterte Wilhelm schroff und zog finstere Mienen.

Fast flößte er ihr Furcht ein. Aber seine leidenschaftlichen Augen bewiesen, daß nur die Qual der Enttäuschung ihn beherrschte, daß angstvolle Sorge ihn ergriff, dieser köstliche Schatz, dieses schöne Gebilde könnte ihm doch entgehen!

Und ungestüm rief er:

»Gut, aber dann noch heute! Warten kann ich nicht mehr! Wo soll's sein? Ich schlage vor, hinten im Kontor, jetzt nach einer halben Stunde. Drüben sollen sie Feierabend machen. Meine Mutter und meine Schwester gehen ohnehin schlafen. Also einverstanden, hinten im Ladenkontor?«

Sie nickte nach kurzem Schwanken.

»Nun ja, ich will! Klopfen Sie an meine Tür, wenn ich klopfen soll!«

Dann entwich sie, und Wilhelm eilte in die Wirtsstube.

*

Die Bauern hatten sich fortbegeben. Die Fenster im Gastzimmer, durch die der Tabakrauch und der Dunst des Alkohols entwichen, waren von Anna-Marieken wieder geschlossen, hinter dem Büfett war aufgeräumt und endlich auch das Licht der Deckenlampe gelöscht worden.

Das Gesinde, aber auch Frau Lornsen und Anna hatten sich, nachdem Wilhelm erklärt, noch in die Mühle gehen zu müssen und auch dahin den Weg eingeschlagen, zur Ruhe begeben. Alles war still, und nun endlich wollte Wilhelm leise an Wiebkes Tür pochen, als doch noch ein Nachzügler ihn störte. Das Schloß der Haustür ward geräuschvoll umgedreht, und Hans Appen, von Föhrde zurückkommend, woselbst er bei seinem Onkel Timm zu Abend gespeist, trat ins Haus.

Nichts konnte Wilhelm ungelegener kommen. Ihn hatte er ganz vergessen. Doch ließ er sich nichts merken, gab sich in gewohnter Ruhe, erklärte, er habe gerade die Flurlampe löschen wollen und stehe im Begriff, sich, gleich den andern, schlafen zu legen. Auch ließ er ein Wort über Justizrats fallen und fragte nach ihnen. Hans gab Antwort. Aber als er noch Ausführlicheres hinzufügen wollte, sagte Wilhelm:

»Ja, ja, morgen beim Frühstück, mein Junge! Geh jetzt man zu Bett. Du bist gewiß müde, ich bin es erst recht. – Gute Nacht, gute Nacht.«

Nun stieg Hans die Treppe hinauf, und Wilhelm, seinen Schritten nachhorchend und sich vergewissernd, daß er in sein Zimmer getreten, schlich voll Ungeduld an Wiebkes Tür. Aber auch jetzt ward er von seiner fieberhaften Spannung nicht befreit.

Statt herauszutreten, öffnete sie selbige kaum spaltenweit und wisperte aus dem dunklen Raum heraus: »Ich fürchte mich, Herr Lornsen, es könnte doch jemand kommen! Bitte, lassen Sie's bis morgen. Ein anständiges Mädchen in der Nacht mit einem Manne im Gespräch! Bemerkt uns Ihre Frau Schwester, ist's völlig aus mit meinem guten Ruf. Ich bitte, schonen Sie mich. Nicht wahr« – ihre Hand erschien, ihre weiße, weiche Hand – »Sie zürnen mir nicht. Morgen nach Tisch in Ihrem Kontor. Dann werde ich Ihnen alles sagen können, klarer als jetzt – morgen, morgen sicher. Nun kann ich nicht. Ich habe vorhin meine Kräfte überschätzt.«

Der Mann hörte, was sie sprach, und das Blut tobte ihm stürmisch durch die Adern. Er konnte, wollte nicht mehr warten. Seine Sinne befanden sich durch den langen Aufschub in einem krankhaften Zustande. Den verschmachtenden Mund zu den durststillenden Trauben erhebend, schnellten sie stetig wieder empor. Wenn Wiebke nach einem Mittel gesucht, ihn zu einem willenlosen Werkzeug ihrer Pläne zu machen, sie hätte ein sichereres nicht wählen können.

»Nein, nein, kommen Sie jetzt, Wiebke. Ich sagte Ihnen schon, daß ich dieses Warten und diese Ungewißheit nicht mehr ertragen kann. Wenn Sie meinen, daß ich jemals etwas Gutes Ihnen getan habe und dafür etwas Dank verdiene, so vergelten Sie es mir durch Erfüllung meiner Bitte.

»Wer soll Sie sehen? Meine Schwester schläft. Sie gehen leise voraus ins Kontor, ich warte noch eine Weile, um mich zu versichern, daß uns niemand stört, und folge Ihnen dann.

»Nun, Wiebke! Ich bitte, ich bitte noch einmal –«

»Ich hörte Ihren Herrn Neffen eben. Ich weiß, er findet spät Schlaf. Sind Sie seiner sicher?« fiel Wiebke ein. –

»Mein Neffe, pah, der spricht doch nicht mit,« stieß Wilhelm heraus. »Der erst recht nicht. Aber auch die anderen! Bin ich ein Sklave derer Willen? Ich möchte sehen, wer es wagen will, sich gegen mich aufzulehnen, Ihnen etwas anzuhaben, wenn ich für Sie eintrete. Nun, Wiebke, nun? Wollen Sie?«

»Werden Sie mir denn nicht zürnen, wenn ich Ihnen alles sage, alles so, wie es mir auf dem Herzen liegt, Herr Lornsen!«

»Nein, nein. Ich gebe Ihnen hiermit mein Wort –«

»Und wollen sie auch versuchen, mir zu Willen zu sein, wenn wir uns, wenn wir uns –« Sie stockte verlegen.

»Ja, ja –« er wußte ihre Hand zu fassen und küßte sie leidenschaftlich. »Alles, alles soll sein, was und wie Sie wollen, aber nun sagen Sie ja – bitte, kommen Sie heraus. Im Kontor ist Licht, aber die Läden habe ich zugemacht, und die Tür hab' ich verhängt.«

»Nun denn, ja – es sei –« Sie sprach's, schlüpfte an ihm vorüber, horchte eine Sekunde an der Treppe, durchschritt leise den Laden und betrat das kleine Zimmer.

Aber nachdem sie kaum hinter der Tür verschwunden und dann auch eine Weile später Wilhelm ihr gefolgt war, öffnete sich auf der andern Seite des Korridors die zu den Zimmern der Frau Appen führende Tür, und sie selbst, ein Licht in der Hand, in leichter Bekleidung, trat heraus und nahm gegenüber durch den Gang den Weg in die blank und sauber aufgeräumte Küche. Hier hob sie den Kessel von dem noch glimmende Kohlen bergenden Feuerherd, goß heißes Wasser in einen Krug und trat dann wieder den Rückweg an. Sie litt oft nachts an fieberhaften Erkältungszuständen und suchte sie durch Kamillentee zu lindern. Als sie aber eben den zu ihren Räumen führenden schmalen Korridor betreten wollte, entstand in der Nähe des Ladens ein laut polterndes und so schreckhaft die stillen Räume des Hauses durchdringendes Geräusch, daß die Frau in größter Angst zusammenfuhr und ihr Krug und Licht in der Hand bebten.

Auch währte es eine Weile, bevor sie sich zu fassen vermochte. Dann aber stellte sie die Gegenstände in die Ecke und eilte, von Schrecken und Furcht erfaßt, daß Diebe in den Laden eingebrochen seien, über den Hof, öffnete die Tür zum Hinterhaus und betrat in jäher Hast Wilhelms Zimmer.

»Wilhelm! Wilhelm! Steh auf. Im Laden sind fremde Menschen!« rief sie in die Dunkelheit herein, und als ihr keine Antwort wurde, nochmals, und endlich stürzte sie in die Bäckerei, machte hier Lärm, ließ sich eilig in Wilhelms Zimmer leuchten, ward von noch größerer Unruhe ergriffen, als sie ihren Bruder nicht fand, und lief mit den drei Bäckergesellen wieder ins Haus.

»Still, still – erst horchen!« befahl sie den Burschen, die schon, mit Licht versehen, vorwärtsstürzen wollten.

Den Atem anhaltend, lauschten alle. Nichts! Jetzt wenigstens war alles still.

In diesem Augenblick kam der Frau erst der Gedanke, daß Wilhelm vielleicht schon von der Mühle zurück und im Laden sei. Daran knüpfte sich noch ein sie furchtbar aufregender anderer! Rasch nach Licht greifend, öffnete sie unter gleichzeitigem Klopfen Wiebkes Tür und leuchtete hinein. Auch deren Zimmer war leer!

Ein zischender Laut drang aus ihrem Munde.

Jetzt war ihr alles klar. Aber weil dem so war, überlegte sie, wie sie handeln solle.

Beweise dafür erbringen zu können, welch ein schamloses Geschöpf diese Wiebke Nissen sei, erfüllte sie mit einem Gefühle frohlockender Befriedigung.

Im Nu trieb sie die Burschen vorwärts und hieß sie den Laden und das Kontor untersuchen.

Jetzt erschien auch, durch den Lärm aufgestört, Frau Lornsen am Stock, hörte mit größter Unruhe, was Frau Appen ihr zuzuzischeln für gut befand, und hieß, nachdem Anna auf ihre Frage nach Wilhelm die Achseln gezuckt, auch noch einen Knecht, der wach geworden und jetzt herbeieilte, jenen zu folgen.

Aber schon kehrten die Burschen zurück. Im Laden sei nichts, und das Kontor sei abgeschlossen.

Es wäre ihnen aber vorgekommen, als ob in diesem Geräusch sich vernehmbar gemacht, doch seien sie auf ihr Klopfen und Fragen ohne Antwort geblieben.

»Um Gottes willen! Wilhelm hat da seine Kasse. Am Ende sind's Diebe! Die Raufbolde von vorher sind von draußen durchs Fenster gestiegen! Rasch hinaus! Und wo ist denn doch Wilhelm? Wir müssen nach der Mühle schicken,« stieß die Alte heraus.

Doch während sie das noch angstvoll sprach, ward bereits aller Aufregung ein Ende gemacht.

Wilhelm, eine Lampe in der Hand, erschien mit sehr verdrießlicher Miene, erklärte, daß er noch im Kontor gearbeitet habe, dabei eingeschlafen sei und durch das Pochen geweckt wäre. Sie sollten sich doch nicht aufregen und sich ins Bett begeben. Wer übrigens zu dem völlig unnötigen Lärm Veranlassung gegeben habe? Mit gesenkten Köpfen schlichen sich die Burschen und der Knecht fort, Anna aber sagte:

»Ich ging in die Küche – da steht noch der Topf – um mir heiß Wasser zu holen. Da hörte ich im Laden ein lautes Gepolter, wie wenn ein Stuhl umfällt. Ich lief in meiner Angst hinaus, um dich zu wecken, fand dich nicht und rief nach Karl und Georg in die Bäckerei. Ich glaubte auch Stöhnen in Wiebkes Zimmer zu hören. Ich riß die Tür auf, aber sie war nicht da. Sie ist auch nicht in ihrem Bett.«

Nun war's bei diesem wohlgezielten Pfeil an Wilhelm, sich zu verfärben! Doch ebenso rasch hatte er sich zu einem Entschluß aufgerafft.

Dem gespannten Blick seiner Mutter begegnend und das Haupt zurückwerfend, sagte er trotzig:

»Nun ja, da ihr es wißt; Wiebke war bei mir im Kontor. Wir haben uns noch ausgesprochen, wir haben uns eben verlobt –«

»Na, to sowat harr sik en ehrbare Diern ok en anner Tid utsöken kunt!« stieß die Alte, weniger gegen ihren Sohn, aber deutlich gegen Wiebke Partei nehmend, ohne die geringste Freude oder Überraschung heraus.

Und Anna Appen, den Kopf mit einer Miene bewegend, in der ihr ganzer Haß geschrieben stand, ergriff das Gefäß und schritt mit einem frostig höhnischen: »Na, denn viel Glück, Wilhelm,« ihrem Zimmer zu.

»O Willem, Willem! Wat deihst du!« flüsterte die Alte, jetzt nicht mehr zornig, sondern in Trauer. »Ik hev en Geföhl, as wenn en Gewidder över de Bucht steiht. Besinn di, besinn di, min Jung! Ik glöv, du büst gans up den falschen Weg.«

Wilhelm aber sagte fest:

»Ne, Mudder, ik weet, wat ik will, un da is niks mehr an to ännern. Abers morg'n wüll'n wi mehr spreken! Goh nu to Bed! Ik kam ok glik. Ik will man blots dat arme Ding en beten besänftigen. Se weet, dat alle Schuld up ehr Schuldern wälzt ward – de Schuld abers hev ik alleen.

»Gude Nachd, gude Nachd –«

Er nickte ihr zu, sie schob sich an ihrem Stock langsam über den Hof, und er trat wieder in das Kontor, in dem Wiebke wie ein Steinbild saß.

Wilhelm Lornsen aber sagte, sich zu ihr herabbeugend und die Zagende leidenschaftlich auf die todblassen Wangen küssend:

»Ich sagte ihnen, daß wir uns verlobt hätten! Es ging nicht anders! Und nicht wahr, Wiebke, geliebte Wiebke, Sie strafen mich nicht Lügen. Ich darf nun daran festhalten. Und hier meine Hand darauf! Mutter und Anna verlassen die Bucht, oder wir machen uns ein anderes Nest zurecht. Und Advokat Wuchel, nicht Timm, mein Bruder, soll auch das andere aufsetzen, was Sie wünschen. Sind Sie nun zufrieden?«

Das Mädchen schauderte zusammen. Sie sagte nicht nein und nicht ja, wehrte ihm aber auch nicht. Die Angst überwog im Augenblick jeden andern Gedanken und jedes andere Gefühl.

»Wiebke, mine söte Wiebke! Wat hev ik di leev!« flüsterte Wilhelm, bereits das »Sie« mit dem »du« vertauschend, und umschlang die sich hilflos Hingebende.

*

Im Vorzimmer des Kontors des Justizrats Timm Lornsen saß die alte Frau Lornsen, die Besitzerin der Bucht in Halk.

Sie wollte nicht gemeldet werden, hatte sie dem kleinen, buckeligen Schreiber erklärt. Sie hätte Zeit und werde warten, bis der Klient, der bei ihrem Sohne sei, herauskomme.

Man betrat zunächst ein großes Gemach, in dem die Schreiber und der Bureauchef saßen. Es war nicht sehr hell, und auch vollbesetzt mit Regalen, in denen mit bunten Zetteln versehene zahlreiche Akten sich befanden. Dann kam das einfenstrige Wartezimmer, das ein paar unbenutzte Pulte, einen Tisch und zahlreiche Stühle enthielt. An dem hellblauen Kachelofen war keine Kachel, die nicht geborsten war oder Sprünge zeigte; er stand wie dem Umfallen nahe in der Ecke. An der Wand hingen verschwärzte, alte Kupferstiche.

Es war ein schlecht gereinigtes, verstaubtes, düsteres Gemach, in dem die Seelen der Klienten ein inneres Frieren überfallen mußte.

Und dann tat sich die Doppeltür zu des Justiziars Privatgemach auf, ein kleines, dienerndes Männchen schob sich heraus, und der Justizrat, ein breiter Mann mit einer Glatze, scharfen, bartlosen Zügen erschien hinter ihm und durchforschte mit zusammengekniffenen Augen das Wartezimmer.

Als er aber seine Mutter erblickte, griff er überrascht mit der einen Hand an das spärliche Seitenhaar und streckte ihr die andere entgegen.

»Was Kuckuck, Frau Lornsen aus der Bucht!« rief er launig, bot ihr den Arm und führte sie in das innerste Heiligtum.

»Mein Gott, du sitzest da im Vorzimmer? Weshalb bist du nicht zu Klara gegangen!? Du hättest mich doch holen lassen können!« hob er an, während sie sich an seinem Schreibtisch niederließen.

»Ne, ne, min Jung! Dat is beter so,« entgegnete sie, reckte den Oberkörper und sah ihn, während ein leises Zucken über ihre resoluten Züge glitt, mit einem Anflug starker Entschiedenheit an.

»Ich komme nämlich heute in Geschäften!« fuhr sie fort und warf gleichzeitig einen flüchtigen Blick in den eleganten, mit Büchern, Akten und Schriften angefüllten Raum.

»Hoffentlich störe ich dich nicht. Wie? Was? Na, das ist gut. Höre also:

»Wilhelm möchte die Bucht kaufen. Er bietet hundertundzwanzigtausend Mark, er will achtzigtausend Mark anzahlen, vierzigtausend sollen eingetragen werden. Das ist das eine. Das andere: Er hat sich mit dem blonden Mädchen im Laden, mit Wiebke Nissen, verlobt und will in zwei Monaten spätestens heiraten.«

»Ich glaube, Mutter Lornsen, du sprichst irre!« setzte Timm an und erhob den breiten, bartlos glatten Kopf mit dem unheimlich kalten Ausdruck.

Er gehörte zu den impertinent herrschsüchtigen Menschen, denen sich die Menschen widerspruchslos oder die Selbständigeren nur mit größtem Unbehagen und steter innerer Auflehnung unterordnen. Erst wenn er sah, daß sein kurz angebundenes Wesen die Leute zum Widerstand reizte, statt sie seinen Wünschen gefügig zu machen, wußte er in sehr geschickter Weise einzulenken. Er gab sich in der Form anders und erreichte nun bei den angenehm Überraschten und durch seine veränderte Art Bezwungenen schließlich doch das, was er wollte.

Ein Spottwort lag ihm leicht auf der Zunge. Man saß da in Furcht, daß er entweder seiner stets abweichenden Meinung einen schroffen oder ironischen Ausdruck verleihen werde.

Überlegenheit des Geistes mit Kaltherzigkeit bildeten seine Grundeigenschaften.

»Nein, nein, Justizrat, es ist so,« nahm die alte Frau das Wort. »Und auch du wirst ihn nicht zu 'was anderem bekehren können. Sie hat ihn ganz in der Tasche; es ist nichts zu machen.«

»Na, das ist ja eine schöne Bescherung! Es ist doch die Tochter von der Wäscherin, nicht wahr? Hm! – Man sollte wirklich glauben, daß Gott einigen Menschen Vernunft und Verstand immer gerade dann wegreißt, wenn sie sie am nötigsten brauchen. – Was sagst du dazu, Mutter?«

Die Alte zuckte die Achseln.

»Ich gehe ja von ganz anderem aus, als du, Timm. Du willst nicht, weil sie nichts hat, und – und – na, wir verstehen uns schon. – Ich habe aber nur Bedenken, weil ich so wenig von ihr weiß.

Es gibt Menschen, die man bis zu ihrem Tode nicht kennen lernt. Zu denen mag sie gehören. Solange nichts mit Wilhelm war, hatte ich viel für sie über. Sie war still, pflichttreu und fleißig, und ein saubereres Mädchen kann man sich nicht denken. Aber neuerdings war sie oft unfreundlich und mürrisch, und es ist mir, als ob sie doch keinen verträglichen Charakter hat. Ich kann mich ja vielleicht irren. Ich hoffe es noch immer! Anna hatte freilich von vornherein eine unüberwindliche Abneigung gegen sie –«

»Dann wird's auch wohl zutreffen! Du zweifelst, und sie ist ihrer Sache gewiß! Das genügt!« stieß Timm mit unangenehmer Überlegenheit heraus. »Frauen treffen mit ihrem Instinkt immer das Rechte. Natürlich. Wenn ihr Herz mitspricht, wenn sie gar verliebt sind, haben sie zehn Binden vor den Augen. Doch gleichviel! Das Philosophieren macht's nicht anders. Wilhelm will, und da ist nichts zu machen. Da hast du recht, Mutter Lornsen. Aber wir haben den Schaden. Was wird meine Frau sagen?«

Timm bewegte unwirsch den Kopf.

»Daß doch immer das Unangenehme sich breit macht. Man möchte auch 'mal goldene Fische fangen. Und da fällt mir das andere ein. Er will die Bucht kaufen! Hundertundzwanzigtausend Mark! Da muß er doch ganz anders in die Tasche greifen!«

»Das weiß ich nicht, Justizrat, aber mit dir sprechen wollte ich jedenfalls 'mal –« entgegnete Frau Lornsen, ihre Meinung nicht verhehlend.

»Hm, hm! Will er denn auch noch die Wirtschaft und den Laden fortsetzen?«

»Natürlich!« bestätigte die Alte, noch mehr geärgert, in kaltem Ton. Da war wieder sein und seiner Frau Hochmut!

Sein Weib predigte seit Jahren, daß sie sich auf die Mühle beschränken sollten. Und wenn sie etwas wollte, so hielten auch Timms Vernunft und Klugheit nicht stand.

»Ich würde ganz anders zu der Sache stehen, wenn Wilhelm sich entschließen könnte, nun 'mal reinen Kram zu machen. Man verachtet noch nicht seinen Stand, wenn man sich den Verhältnissen anpaßt. Na, du kennst ja meine Ansichten über die Nebenzweige in der Bucht.

»Ja, da sind wir eben ganz verschiedener Ansicht, Timm. Du meinst, es paßte sich nicht, eine Mutter zu haben, die hinter dem Laden- und Schenktisch steht. Sie meint aber, daß ehrliches Gewerbe keinen Menschen schändet. Und um das, was die Welt spricht, wenn sie recht tut, kümmert sich deine Mutter keinen Pfifferling. Das ist gerade etwas, was mir bei Wiebke gefällt. Sie ist aus demselben Holze geschnitten. Sie war in angesehenen Häusern; sie ist eigentlich Erzieherin und stellte sich doch hin und verkaufte Reis und Holzpantoffel.«

»Ja, das ist auch merkwürdig genug,« stieß Timm spöttisch heraus. »Aber es wird wohl seinen guten Grund gehabt haben. Ich denke, sie hatte gleich Absichten auf Wilhelm. Was du ihr in deinem Sinne auslegst, war nichts anderes als schlaue Berechnung.«

Die Alte zuckte die Achseln.

Dann schnitt sie kurz ab und sagte:

»Ich denke, hundertundzwanzigtausend Mark mit achtzigtausend Mark Anzahlung, das könnte passen. Etwas anderes wäre es, wenn ich überhaupt nicht verkaufte. Was meinst du dazu, Timm? – Sieh 'mal – ich glaube,« – hier senkte sich der Alten Stimme und sie nahm einen vertraulichen Ton an – »wenn ich Wilhelm die Bucht verkaufe, so setzt er erst 'mal Anna vor die Tür. Das will ich nicht – und dann – dann ist auch Mutter Lornsen eine unbequeme Zugabe. Ich aber brauche Arbeit und hänge an dem Besitz. Ich mag nicht in der Stadt leben. Ich brauche frische Luft. Ich möchte in der Bucht bleiben. Das ist's, Timm –«

»Gut, gut, ja!« bestätigte der Justizrat. »Das ist auch meine Ansicht. Ich bin doch gar nicht von dem Verkauf eingenommen! Und nichts ist verloren. Die Bucht kann ja nur immer mehr an Wert gewinnen. Es wäre denn, daß einer käme, der 'was Ordentliches, ganz 'was anderes böte –«

Die Alte zog die Lippen; aber auch ein wehmütiger Zug umflorte ihr Auge, von ihr, von seiner Mutter sprach er gar nicht, nur für das Geld, das Geld hatte er Sinn! Es schnitt ihr ins Herz, obschon sie ihn kannte, obschon sie ihn immer so fand, wie heute.

Sie verschwieg deshalb auch, daß sich sonst noch ein Liebhaber für die Bucht gemeldet hatte, daß der viel mehr geben wollte. Da sie aber gar nicht gekommen war, um bloß zu reden, sondern mit einem Resultat zurückkehren wollte, sagte sie:

»Also, ich denke, wir sind uns einig, Timm. Ich werde Wilhelm sagen, vorläufig wollte ich nicht verkaufen. Es wird nun freilich einen bösen Kampf geben; er rechnet darauf, und ich möchte ihm auch zu Willen sein, ihm ganz besonders. Aber das ist mir mit dem Mädchen immer noch zu undurchsichtig. Wer weiß, ob ich nicht am Ende ihm 'was Gutes damit tue.«

Die alte Frau brach ab, blickte nachdenklich vor sich hin, als ob sie in die Zukunft sähe.

Der Justizrat aber zog befriedigt den Mund und sagte:

»Gewiß, gewiß! Es ist das einzig Richtige! Und will er denn? Er hat die Pacht, – wie lange läuft sie noch? – bis nächstes Jahr, nicht wahr?«

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Nein, die Pacht läuft nun zu Oktober ab – das ist es ja gerade. Er will nicht mehr Pächter, er will Besitzer sein, wenn er nun auch nicht mehr pachten will, was dann? Geld genug hat er –«

»Ha! Er wird schon wollen, Mutter. Aber ich meine, du kannst ganz andere Bedingungen stellen. Wir sehen es ja, wieviel er über hat!«

»Ach wat, ne!« stieß die Alte plötzlich äußerst unwirsch heraus.

Diesmal zog der Justizrat auch nur die Schultern, er sagte nichts, er kannte sie. Aber er kramte jetzt mit zerstreuten Mienen in seinen Papieren herum und legte dadurch an den Tag, daß er wieder sich seiner Arbeit zuzuwenden wünsche.

Frau Lornsen stand auch auf, zupfte an ihrem langen, verschlissenen, unmodernen Mantel mit der schloßartigen, blanken Halskette, griff auch nach ihrem Stock und nickte zum Abschied.

»Na, adjüs denn, Justizrat,« sagte sie halb freundlich. »Gröt din Fru –«

»Guck doch einen Augenblick bei Klara vor, Mutter! Du kannst ja hier gleich durchgehen,« bat Timm, mit den Händen auf die Stuhllehne sich stemmend und schwerfällig erhebend. Auch griff er nach ihrer Rechten.

Jetzt, wo es sich um seine hochmütige Frau handelte, kam ein Anflug von Wärme bei ihm zum Durchbruch.

Aber die Frau schüttelte den Kopf.

»Ne, ne, min Jung! Nimm mi dat nich övel! Ik bün doch nu 'mal de Öllere. Se mut nu ers 'mal to mi kamen. Du letst di ok nich in de Bucht sehn, wennglick du di dörch Hans anmeldt hest. Abers ik säh furts: Dat wüll'n wi aftöv'n. Wennt nich üm Willem wär', harr ik mi noch lang nich up de Been makt.«

In Timms Gesicht spiegelte sich bei den Worten seiner Mutter ein starker Verdruß, aber er bezwang sich, hub mit allerlei Ausflüchten an und suchte auch seine Frau zu entschuldigen. Sie hätte immer so viel zu tun.

»Ach wat, dumm Tüg!« fiel die Alte ein. »Ich will dir die Wahrheit sagen, Justizrat. Wenn ich nicht Mutter Lornsen hieße und meinen Laden hätte, sondern die Besitzerin von Hege, Frau von Wulfsdorff, wäre sie sicher jede Woche einmal drüben bei uns. Ich wundere mich nur, Timm, daß du deine Frau nicht lehrst, was sie deiner Mutter schuldig ist. Abers, min Jung, se hett di ganz in de Tasch.«

Und ihre Schwiegertochter nachahmend und gespreizt redend, schloß sie:

»Wir dürfen doch nicht vergessen, was wir unserer Stellung schuldig sind. – Justizrat Lornsen verkehrt in den besten Kreisen. Da hat er Rücksichten zu nehmen. Warum ist die alte Frau so eigensinnig und wirtschaftet da draußen zwischen Hühnern und Schweinen? Sie hat ja genug, sie könnte in der Stadt wie eine Prinzessin wohnen.«

»Ach, Mutter, wie du sprichst, was sind das nun wieder für Reden!« fiel Timm, sich stark auflehnend, ein, und böse Falten erschienen auf seiner Stirn.

Aber die Frau ließ sich nicht einschüchtern.

»Wart man, ich bin noch nicht fertig, Timm! Du sollst es einmal hören! Ihr alle habt kalte Seelen, denkt nur an euch, oder wollt hoch heraus bis – auf Annie und Wilhelm. Von wem ihr's habt, Gott mag es wissen, von uns, von eurem Vater und von mir habt ihr es nicht. Am allerschlimmsten ist der Senator in Hamburg. Bei dem sitzt drinnen ein Kiesel. Ach, und ich brauchte wohl ein bißchen Wärme und Liebe; ich brauchte 'was für mein Herz in meinen alten Tagen. Wenn ich Wilhelm und Hans nicht hätte –«

»Na ja, Mutter! Ich seh' schon, daß dir heute 'was über die Leber gelaufen ist. Brechen wir denn man lieber ab,« fiel ihr der Justizrat, dem diese Sentimentalität noch weniger gefiel als die schroffe Abkanzlung, in einem hochmütig geärgerten, äußerst pietätlosen Ton in die Rede. »Nur soviel noch! Daß unser Bruder Wilhelm womöglich alles haben möchte, und du ihm womöglich alles zuwenden möchtest, das wissen wir sämtlich – darauf kommen doch alle Reden hinaus!«

Es wäre gut gewesen, wenn der Justizrat nur nicht diese letzten Sätze gesprochen hätte.

Wieder trat zutage, in welch nagendem Ärger und in welcher gemeinen Besorgnis er stand, daß er zu kurz kommen, daß Wilhelm einen Vorteil davontragen könne. Und immer mußte er das letzte Wort behalten und war bestrebt, sie so recht gründlich zu verwunden.

Sie gab auch ihren tiefverletzten Empfindungen Ausdruck, aber freilich diesmal ganz in anderer Weise, als es sonst ihrer resoluten Natur entsprach.

Den langen Mantel fallen lassend, den sie emporgehoben hatte, um noch den letzten Knopf zu befestigen, fuhr die Hand nach dem Herzen, und sie sah ihn mit einem Blick an, der selbst das verhärtete Innere des Justizrats erschütterte. Es lag in diesem eine solche Trauer, aber auch eine solche Empörung, daß die Scham ihm für Sekunden brennend heiß um die Seele wallte.

Dann aber nahm sie den Weg zur Tür, und nur eine ablehnende Kopfbewegung war die Antwort auf seine jetzt sich feige hervordrängenden Entschuldigungsworte. –

Als Mutter Lornsen, nachdem sie sich mit der Fähre hatte übersetzen lassen, wieder die Bucht betrat und gerade die Haustür im hintern Wohnhaus öffnen wollte, schritt ihr Wilhelm über den Hof entgegen. Er kam von der Mühle und machte eine äußerst finstere Miene.

Die Frau hatten unterwegs sehr ernste Gedanken ergriffen. Ihr Gemüt war weich gestimmt, und zu der Sehnsucht nach Gleichgewicht gesellte sich eine starke Zärtlichkeitsempfindung für die, welche ihrem Herzen nahestanden. Sie nickte Wilhelm freundlich zu, schmiegte sich an ihn und zog ihn, besorgt fragend, in die Wohnstube.

Sie sehe, daß ihn etwas sehr beschäftige, er möge ihr alles sagen. Sie würde ihm zu helfen suchen. All ihr eigenes Leid hatte sie vergessen, nur die Sorge um ihn erfüllte sie.

Eine Weile ging Wilhelm, ohne eine Antwort zu geben, auf und ab, dann stieß er die kurze Pfeife in die Fensterecke, als ob er sie zermalmen wollte, ließ sich nieder, fuhr wiederholt mit der Linken über das kräftige, kraftvoll gebräunte Gesicht und seufzte tief auf.

»Hat's wieder etwas mit Anna gegeben? War etwas auf der Mühle –?« fragte die Alte gedämpft sprechend, gleichsam seinem Schmerze dadurch Rechnung tragend.

Und als er dann immer noch nichts erwiderte, strich sie über sein dichtes Haar und sagte weich:

»Segg mi doch, min lewe Jung, wat hest du?«

»Wiebke Nissen ist weg. Sie ist bei ihrer Mutter,« hauchte Wilhelm.

»Mein Gott, was ist denn das nun wieder?« stieß die Alte in höchster Betroffenheit heraus. »Erzähl, mein Junge, erzähl –«

Erst zuckte er die Achseln, dann sagte er:

»Sie kam bald, nachdem du weggegangen warst, herein zu mir nach dem Kontor und weinte. Sie müßte noch Bedenkzeit haben und sie müßte auch weg. Wir hatten uns – du weißt – geeinigt, daß sie noch ein paar Tage bleiben sollte, bis ich andere Hilfe hatte. Sie sagte, sie hätte es sich überlegt, daß es doch so nicht ginge. Es war nichts zu machen. Immer wieder kam sie damit, ich hätte ihr es neulich nacht über den Kopf genommen. Wenn ihr nicht dazwischen gekommen wäret, würde sie noch nicht ›ja‹ gesagt haben. Sie brauchte noch Zeit, sich zu prüfen. Sie müßte doch noch 'mal mit ihrer Mutter sprechen.

»Immer meint sie, es wird nicht gehen hier in der Bucht – alle beieinander. Und von Timm und Klara sprach sie. Da könnte nur Trauriges davon kommen. Sie paßte nicht herein, weil keiner sie leiden möchte. Es wäre ja auch der Schein gegen sie; und sie hätte viele Fehler. – Am besten, ich ließe sie ganz, und, und –«

»Na, min Jung?«

»Na ja, Mudder, dat schient niks to war'n. De Sak is ut.«

Und dann aufspringend, mit zornblitzenden Augen:

»Wenn ich bloß wüßte, wer ihr 'was in den Kopf gesetzt hat! Das ist alles nicht von ihr. Ich glaube, es ist der Wulfsdorff von drüben. Aber dann mag sich der Bursche hüten.«

»Um Himmels willen, das sind ja noch wieder ganz neue Sachen! Carlos Wulfsdorff? Was hat denn der mit der Sache zu tun?«

In diesem Augenblick steckte einer der Müllerknechte den Kopf in die Tür und fragte nach dem Herrn.

»Clas Mangelsen von Updrup is mit de Bokweeten da. He will de Herr sülven spreken!«

»Ik kam glik! He schall man en beten töven –«

Nun entfernte sich der Mann, und Wilhelm ließ wieder seiner Erregung freien Lauf.

»Ja, ja, der wird ihr etwas vorgeschwatzt haben, sie hatte doch schon 'was mit ihm. Wer wird aus ihr klug? Und sicher, Mutter! Wenn der sie nehmen wollte, sagte sie gleich ja –«

»Ne, ne, dat glöv ik nich, Willem. Du makst dir wat torech, wat niks is.«

»Und doch Mutter, ist es so. Die Männer verlieben sich ja alle in sie. Als ich gestern mit ihr sprach, sagte sie: Das wäre ihr Unglück. Wo sie noch hingekommen wäre, da hätten sie sich in sie verguckt. Sie hätte sich schon ihr Gesicht zerkratzen mögen. Sie weinte; es ist ein ganz sonderbares Mädchen, aber gewiß, sie ist ehrlich und brav – sie ist etwas wert –

»Doch nun laß man! Ich muß nach der Mühle. Anne-Marieken ist im Laden. Fiken aus der Küche wartet in der Wirtsstube auf. Anna ist in einer gräßlichen Laune! Sieh' auch 'mal nach ihr, Mutter.

»Noch eins, Mutter. Das steht fest bei mir! Anna muß weg. Ich kann nicht mehr mit ihr auskommen.«

Und dann griff Wilhelm nach seiner Pfeife, nickte und eilte aus dem Zimmer.

Die Alte aber sank in einen Stuhl nieder und starrte vor sich hin. Plötzlich stand alles in hellen Flammen; jegliches war in der Bucht in Verwirrung, und das Ende war nicht abzusehen.

 

* * *


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