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[Die Entscheidung]

Man schreibt das Jahr 1811. In Paris – was sage ich: in Paris? – von Danzig bis Kadiz feiert man mit Feuerwerken und Jubelfesten den Geburtstag des Kaisersohns, der, in den Windeln noch, den prunkvollen Titel eines Königs von Rom erhält. Die Lobhudler im Moniteur, die Prunkredner im Senat wissen nicht, mit welcher Schmeichelei sie bei dieser Gelegenheit aufwarten können. Sie haben schon früher alle erschöpft, und schließlich kennt auch das Französisch nur den Superlativ. Aber einer von ihnen erfindet doch noch etwas Neues: er vergleicht Napoleon mit Gottvater und nennt das Kind den Erlöser und Heiland der Welt, dessen Herrschaft für alle Ewigkeit begründet ist.

Die Lichtstadt überstrahlt sich selbst und strahlt ihren Glanz über ganz Europa – im Maß der Entfernung natürlich, so daß, je entlegener ein Land vom Mittelpunkt ist, desto mehr Lichtmangel dort besteht. Und da Preußen – das neue, um die Hälfte verkleinerte Preußen jenseits der Elbe – sehr weit von Paris entfernt liegt, so herrscht dort die trostloseste Finsternis. Der stolze Staat des zweiten Friedrich hängt überhaupt nur noch an einer Laune des Cäsaren. Napoleon weiß nicht, ob er ihn einem seiner Verwandten schenken, ob er den Marschall Davout zum König machen oder das Land als Tauschobjekt für Rußland aufheben soll. Ein Federstrich – und die Dynastie Hohenzollern hat aufgehört zu regieren.

Die Existenz des Königs ist so bedroht, daß er sich zwei Jahre nicht in seine Hauptstadt wagt, erst auf den »Wunsch« des französischen Kaisers ist er dorthin zurückgekehrt. Große Strecken des ihm gebliebenen Landes sind verödet, ganze Dörfer vom Erdboden verschwunden, nur aus dem Unkraut ragende Schornsteintrümmer verraten ihre ehemalige Existenz.

Und im übrigen Deutschland ist es kaum besser. Infolge der Kontinentalsperre stocken Handel und Wandel, die Fabriken stehen still, die Bankerotte wachsen lawinenartig, die Scharen der hungrigen Bettler sind an manchen Orten nur noch durch Flintenschüsse zu bändigen. Wer noch sein Dach überm Kopf hat, Kohlen für den Winter und sein tägliches Brot, dünkt sich reich und hält es für Genuß, wenn er geröstete Eicheln trinkt und Huflattich raucht. Dabei müssen diese »Reichen« – es ist ein Hohn! – Gesellschaften und Bälle geben, denn die französischen Herren wollen sich von ihren Strapazen erholen und sich für ihre Siege von schönen Frauen belohnen lassen. Wie auf dem Sklavenmarkt suchen sie sich die hübschesten und jüngsten aus. Mancher Mann weiß nicht, was er mehr fürchten soll: die rohen Flüche des betrunkenen Sergeanten oder das galante Lächeln seines Kapitäns.

Berlin ist von französischen Truppen besetzt. Auf den Straßen, in den Wirtschaften lauern Spione. Jedes freie Wort ist gefährlich.

In diesem einen Punkt herrscht allerdings in dem ganzen Machtbereich des Korsen eine seltsame Übereinstimmung, und die Deutschen sind nicht schlechter daran als die Spanier, die Italiener, die Holländer oder die Franzosen selbst.

Das heitere, spottlustige Paris ist zur Legende geworden. An öffentlichen Festen gibt es fast nur noch Paraden und militärische Aufzüge. In die Privatsalons hat mit Chateaubriand der Weltschmerz seinen Einzug gehalten. Über die Politik herrscht dort nur die eine Meinung, die von Talleyrand ausgegangen ist, daß die letzten Eroberungskriege nichts mehr mit Frankreichs Wohl zu tun haben, sondern lediglich den Privatinteressen Napoleons dienen. Aber niemand wagt, diese Ansicht laut zu äußern. Die Spione Fouchés sind noch zahlreicher als in Berlin die des milden St. Marsan.

Aber hat der große Totengräber des Geistes wirklich die künstlich geschaffene Nacht in Preußen mit so schwarzem Dunkel erfüllen, hat er die Gefängniskuppel, die Deutschland überwölbt, so fugenlos mauern können, daß kein Lichtstrahl hindurchfällt? Es scheinen ganze Sonnen hindurch! Aus zwei unscheinbaren deutschen Städten ergießt sich ein Licht, nicht weniger strahlend als das der Lichtstadt Paris. Zu derselben Zeit, wo der Kaiser seinem Minister ebenso kategorisch wie vergeblich befiehlt: »Her mit den Dramatikern und Poeten! Auf das Geld kommt es nicht an …«, haben in Weimar und Jena einige Dichter für Deutschland die Welt erobert. Und niemand huldigt ihnen begeisterter als das junge romantische Frankreich. Und wie sieht's in Preußens Hauptstadt aus? Hat dort wirklich die Furcht alle Geister entmannt? Gibt es nur Kalckreuths und Ancillons? Hält in der Hedwigskirche allen Spionen zum Trotz nicht Schleiermacher seine kühnen Predigten? Spricht in der Aula der Universität nicht Fichte zur deutschen Nation? Und gibt es in Preußen und in Berlin nicht noch andere, noch gefährlichere Männer, die sich nicht begnügen mit einer Befreiung des Geistes, sondern ihn, einmal befreit, auf ganz bestimmte Ziele hinlenken? Wirkte dort nicht der Freiherr vom Stein, dieser unblutige Revolutionär und Zerstörer ganzer Bastillen von Vorurteilen, dieser Wegbereiter und Schildhalter des neuen Reiches! Und wirkt dort nicht auch die »weltverbessernde Kohorte« der Militär-Reorganisations-Kommission, Scharnhorst und seine Schüler, die Gneisenau, Grolman, Boyen, Clausewitz! Sie schaffen ganz im geheimen das Volk in Waffen, bilden die Kadres, in die sich, wenn die Stunde schlägt, beinah von selbst die Hunderttausend ergießen. Sie lehren eine neue Taktik und studieren Napoleons Strategie, mit der Zähigkeit des Hasses und dem Willen, dermaleinst seine Überwinder zu werden. So unscheinbar und schweigsam sie sich geben, so kühn fliegen ihre Hoffnungen. Ob sie nun mit dem divinatorischen Gefühl des alten Blücher sagen: »Die Herrschaft des Mannes kann keinen Bestand haben«, oder aus zahllosen sorgfältig gesammelten Beobachtungen die Risse im Bau feststellen: gemeinsam ist ihnen allen eine trotzige Zuversicht und das Wissen, daß die dunkelste Stunde der Nacht gerade die vor der heraufdämmernden Morgenröte ist.

Der Weltbezwinger selber ahnt, als blitzhafte Erleuchtung seine Hochmutsdünste durchbricht, daß in dieser verlorenen Länderecke etwas den europäischen Kirchhofsfrieden stört, und es entschlüpft ihm die wahrhaft geniale Erkenntnis: »In Frankreich hat die Canaille die Revolution gemacht, aber in Preußen ist die Armee drauf und dran, es zu tun. Die preußischen Jakobiner stecken im Heer.« Aber bald umfängt ihn wieder sein blinder Eroberungsrausch; in dem großen Spiel, das er plant, ist Preußen nur eine unbeträchtliche Figur, und von Deutschland meint er: »Die Deutschen braucht man nicht zu fürchten, sie sind zufrieden, wenn sie ihre reifen Kohlköpfe im Keller haben.«

Über keinem Menschen hat sich die Nacht, die Preußen bedrückt, so dunkel und drohend zusammengeballt, wie über dem Haupt des Generals von Yorck. An seinem schwarzen Firmament glänzt nicht der kleinste Stern, seine Überzeugung von dem Untergang Preußens wird nicht durch den leisesten Hoffnungsschimmer erhellt. Denn vor seinem schwarzseherischen Auge steht nicht nur der Vernichtungswille des fremden Eroberers, sondern er sieht den Boden des Staates, seine materielle Existenz, sein menschliches Gefüge, seine Ehre und Tradition gerade von denen untergraben, die sich seine Retter nennen. Auch der strenge Royalist und Aristokrat sagt wie Napoleon: »Die Jakobiner stecken im Heer.« Die Männer um Scharnhorst sind ihm nur Nivelleurs, Sansculotten, Zerstörer der Disziplin, Phantasten. Als der schlimmste Feind aber gilt ihm der Minister vom Stein mit seinen Maßnahmen, die das in Jahrhunderten Gewachsene ausrotten wollen. Gegen alles, was in diesen Jahren Großes von den Reformern vollbracht wird, steht er in Opposition – und ist doch, ohne es zu wissen, genau wie sie ein Umstürzler und Baumeister des Neuen. Wie heißt es im Korintherbrief: »Es sind mancherlei Kräfte, aber es ist ein Gott, der da wirket alles in allem.«

Ja, dieser ungläubige Thomas, dieser umdüsterte Pessimist opfert sich für seine Aufgabe mit nicht geringerer Hingebung als die glaubensfrohen Enthusiasten von der andern Seite. Was erhebt ihn über sein Vernichtungsgefühl? Es ist nicht überliefert, ob er je eine Zeile von Kant gelesen hat, aber daß er dessen kategorischen Imperativ in sich aufgenommen, ist gewiß. Er ist ein Begeisterter der Pflicht. Er gleicht dem Seemann, der die Flagge noch hochhält, wenn auch das Schiff schon sinkt. Je näher das Unheil droht, desto fanatischer kämpft er dagegen an, nicht daß er glaubte, ihm wehren zu können – aber armselig die Begeisterung, deren Flamme nur so lange währt, wie sie von Hoffnungen gespeist wird.

Da hat er heute morgen, in einer seiner seltenen Mußestunden, einen Satz seines Lieblingsschriftstellers, des Fürsten von Ligne entdeckt, der ihm wie ein klareres Echo seiner eigenen Stimme klingt: » Qu'il faut faire trois fois plus que son devoir, pour le faire passablement.«

Dankbar lehnt er die straffe Gestalt zurück, blickt großäugig in die Ferne, als sähe er den Bildner dieses Wortes leibhaftig vor sich.

Gut dieser Satz! Dreimal mehr als seine Pflicht tun, um sie einigermaßen zu tun … Schön dieser Satz!

Die gereizte Spannung, die ihn sonst nur im Drang der Tätigkeit verläßt, hat sich gelöst, die Seele ruht sich aus. Auf einmal wird er sich des hellen Sommermorgens bewußt.

Draußen im Garten gewahrt er seine Frau. Auch sie hat wohl in einem ihrer Lieblingsschriftsteller gelesen. Jetzt ist das Buch ihr in den Schoß geglitten. Das kühle Licht, das durch die Zweige der Trauerweide fällt, vertieft noch die Schatten ihres zarten Gesichts. Beim Anblick dieser verhärmten Züge vernimmt ihr Mann stets das leise Raunen eines Vorwurfs. Längst verklungene heftige Worte hallen wider … Auch ihr Blick geht in die Ferne, aber das Ziel dieser Ferne sind drei junge Tannen in einem Winkel des Gartens, eine etwas größer als die andere, die sie in Abständen von ein und zwei Jahren gepflanzt hat. Sie hat niemandem den Grund ihres Tuns gesagt, aber ihr Mann kennt ihn, und auch die Kinder wissen darum. Die Jungen toben wohl manchmal wild über die Beete, reißen auch hier und da einen Schößling aus, aber den drei Tannen haben sie noch nie etwas getan, machen lieber einen Umweg, und nur der kleine Ludwig bleibt manchmal in ängstlicher Scheu und doch wie angelockt vor ihnen stehn.

Von nebenan her dringt die Stimme des Kandidaten. Bei seinem Unterricht ist er auf die Geschichte von Mucius Scävola gestoßen. Die beiden Knaben scheinen begeistert, ihr frommer Lehrer aber kann diesen Akt von Selbstverstümmelung nur mit bedenklichem Kopfwiegen zum Vortrag bringen. Gewiß ein Beweis von bemerkenswerter Standhaftigkeit und großem Mut, aber was für eine barbarische Roheit und welche Undankbarkeit gegen Gott spricht sich auch darin aus! Vom Standpunkt eines aufgeklärten Jahrhunderts kann man die Tat wirklich nicht loben. Damit sie aber nicht ganz umsonst geschehn ist, nimmt er sie zum Anlaß, sich über Bau und Zusammensetzung des kostbaren Gebildes einer Menschenhand zu verbreiten.

Ich verstehe ja nichts von Pädagogik, denkt Yorck, aber für Soldatenkinder ist das denn doch ein Unfug!

Gern möchte er dazwischenfahren. Doch um der Disziplin willen unterläßt er es. Als aber der Herr Kandidat sich empfohlen hat, ruft er die Jungen und fragt sie, ob sie zu einer ähnlichen Tat auch wohl die Courage hätten?

Der Große stimmt freudig zu und läßt, ohne eine Miene zu verziehn, das zusammengeknüllte Stück Papier auf seiner Hand verbrennen. Da streckt auch Ludwig das zarte Händchen hin. Er würde ja lieber sterben, als hinter seinem angebeteten Vorbild zurückstehn. Der Vater geht mit ihm gnädig um. Das Bällchen ist rasch verbrannt, und das zerdrückte Tränchen hat mehr die Angst als wirklicher Schmerz hervorgepreßt.

»Nun, Jungen, ist es nur recht und billig, wenn ich eurem Beispiel folge. Macht ihr mir auch eine Kugel zurecht.«

Da greifen vier eifrige Hände in den Papierkorb und holen hervor, was sie nur fassen können, so daß der Alte doch etwas bedenklich wird. Aber drückt sich in diesem Riesenball nicht das Maß von Glauben seiner Kinder an ihn aus? Vermindert er mit dem Brennstoff nicht sein eigenes Ansehn?

Nun heißt es, die Zähne zusammenbeißen. Der Himmel weiß, was sonst noch in dem Papier steckt. Es brennt wie siedendes Öl. Heinrich kann die Prozedur nicht länger ansehn. Aber der Kleine hält strahlend den Blick auf seinen Vater gerichtet. Und wenn die Flammen lichterloh emporschlügen – für ihn ist der Vater unverwundbar, ein gehörnter Siegfried.

»Was zischt denn da in deiner Hand?« fragt Heinrich stirnrunzelnd. »Siegellack«, erwidert der Vater ärgerlich lachend. »Nun macht, daß ihr in den Garten kommt.«

Am nächsten Tag hat sich eine faustgroße Blase gebildet. Da hilft kein Knurren und Verbieten, seine Frau läßt ihren Freund, den Generalarzt Dr. Völtzke kommen.

»Ei, ei«, schmunzelt der, »der Herr General haben sich mal wieder die Finger verbrannt. Aber diesmal nicht mit einer Beschwerde an Seine Majestät über die Jakobiner. Wir werden die Hand eine Woche lang in der Binde tragen müssen.«

Was Yorck nicht hindert, drei Tage später seine Inspektionsreise anzutreten.

In Münsterberg führt Obrist von Zieten ihm das erste schlesische Husarenregiment vor. Altbewährtem Brauch der Reiterkommandeure entsprechend, wenn ein Infanterist zum Inspizieren kommt, hält der Obrist einen frommen wohlbeleibten Kaltblüter für Yorck bereit. Der aber läßt sich ein drahtiges Flankeurpferd geben. Hinter dem schön geebneten Übungsfeld erstreckt sich ein umbuschtes, mannigfach durchschnittenes Terrain, für einen Kavalleristen nicht erfreulich, doch sollten die Hindernisse einen tüchtigen Reiter nicht schrecken. Um seinem Gast etwas zu bieten, läßt der Herr Obrist zur Attacke blasen. Yorck sprengt mit, am Rande des Reitfeldes aber raunt er seinem Adjutanten zu, sich fest in den Sattel zu setzen, gleichzeitig kommandiert er von neuem »Marsch, marsch!« und in wildem Brausen geht's in die Wildnis voller Löcher und Gestrüpp, durch Büsche, über Gräben – der Herr von Zieten weiß nicht, wie ihm geschieht, ihm saust die Tasche um die Ohren, die Frühstücksbrötchen kollern hinaus. Dem General ist wohl der Gaul durchgegangen, aber der eiserne Hund gibt ihm im Gegenteil die Sporen. Weiter geht's, da sieht man Mützen schwarmweise durch die Luft wirbeln, und mancher Husar ist schneller als sein Pferdchen und fliegt über seinen Hals in den Dreck.

Und das schimpft sich Infanterist! Der Teufel soll ihn holen, denkt der Obrist, als der Gestrenge endlich Halt kommandiert. Der aber ist bei dem nachfolgenden Essen brillanter Laune. Für ihn selbst war's auch eine Probe und ein Zeichen, daß die alten Knochen trotz Brüchen und Wunden noch allerhand leisten.

Auf dieser Inspektionsreise hat Yorck noch ein anderes, wichtigeres Erlebnis: die erste längere Begegnung und gründliche Aussprache mit Scharnhorst.

Yorck hat erfahren, daß Bülow, sein alter Feind, mit dem er sich schon in der Fähnrichszeit gerauft hat, die westpreußische Infanteriebrigade bekommen hat, ihm also grade unter die Nase gesetzt worden ist. Er ist außer sich und fährt nach Landeck, um Scharnhorst, den er als den Generaladjutanten des Königs für den Urheber dieses Streiches hält, gründlich die Wahrheit zu sagen.

Er ist bisher mit Scharnhorst nur flüchtig zusammengekommen, auf Tagungen der Militärwissenschaftlichen Gesellschaft, deren Vorsitzender Scharnhorst ist. Und so sieht er auch aus, denkt Yorck, mehr wie ein Federfuchser als wie ein Militär, am meisten gleicht er noch einem alten hannoverschen Bauern. Obwohl größer als Yorck, scheint er durch seine gebeugte Haltung eher kleiner und hat einen eigentümlichen Gang, er stapft, als wenn er mit dem ganzen Fuß aufträte. Fehlt grade noch, daß er den Degen als Spazierstock benutzt.

Aber er scheint sich über Yorcks Besuch aufrichtig zu freuen. Nachträglichkeit gehört offenbar nicht zu seinen Lastern, denn Yorck hatte oft genug Gelegenheit, sich über ihn und seine Maßnahmen beim König zu beschweren.

Da es ein schöner Sommernachmittag ist, macht Scharnhorst den Vorschlag, in einem nahgelegenen Wirtshaus Kaffee zu trinken.

Außer ihnen sitzen in dem kleinen Garten nur noch einige eifrig strickende Damen, deren Gesichter unter ihren Schuten fast verschwinden, und ein wohlbeleibter Herr, aus dessen Meerschaumpfeife bläuliche Rauchwolken sich verbreiten. Nach seinem zufriedenen Gesicht zu urteilen, ist es echter Virginier, den er raucht.

Den beiden Herren hat die Kellnerin Tee von zweifelhafter Herkunft und vertrockneten Kuchen gebracht. Während Yorck das elende Zeug verachtungsvoll möglichst schnell hinuntertrinkt und den Kuchen überhaupt nicht anrührt, hat Scharnhorst den seinen eingestippt und schlürft dazu den Tee – ob aus Zerstreutheit oder aus Achtung vor der Gottesgabe – mit langsamer Bedächtigkeit. Er hört damit auch nicht auf, als Yorck auf den Fall Bülow zu sprechen kommt.

»Als ich das hörte«, versichert der und wird bereits jetzt hochrot vor Zorn, »da habe ich meine alten Kuchenreuter sofort instand setzen lassen, denn, bei Gott und Ehre, Bülow und ich werden keine acht Tage zusammen sein, ohne uns bei den Haaren zu haben. Warum hat man ihn nicht mit Massenbach oder Kleist vertauscht? Warum mich grade nach Westpreußen versetzt? Ich wäre viel lieber nach Frankfurt oder Neiße gegangen. Warum muß grade ich das Stichblatt aller Unannehmlichkeiten sein? Aber mein Entschluß ist gefaßt. Sobald die Affäre erledigt ist, nehme ich meinen Abschied, und diejenigen, die Seine Majestät zu dieser Bestimmung gebracht haben, mögen sich die Folgen zuschreiben.«

Scharnhorst hat endlich seinen Tee ausgetrunken und kann nun seine volle Aufmerksamkeit Yorck widmen. Indem er wieder und wieder nickt, scheint er sich ganz mit ihm einig zu fühlen. Er wartet höflich, ob sein Gegenüber vielleicht noch etwas zu sagen habe, aber der hat die erste zornige Ladung verschossen und muß nun Atem schöpfen. So antwortet er denn: »Sie haben vollständig recht, verehrter Herr General. Ich stimme Ihnen durchaus bei – daß – ja, Bülow muß Order parieren. Nur möchte ich bemerken, daß ich an dieser Versetzung vollständig unbeteiligt bin. Ich habe weder direkt noch indirekt dabei mitgewirkt. Davon können Sie überzeugt sein.« Wieder nickt er, und Yorck fühlt sich schon etwas besänftigt. »Wenn ich aber aufgefordert worden wäre, einen Vorschlag zu machen«, fährt er fort, »so hätte ich wahrscheinlich auch zu dieser Versetzung geraten.«

»Donnerschock!« faucht Yorck, und nur die Anwesenheit des wohlbeleibten Rauchers hindert ihn, auf den Tisch zu schlagen, was er von Herzen bedauert.

»Ja, sehen Sie«, erklärt Scharnhorst, ohne im geringsten aus der Ruhe zu geraten, »wohin hätte man Bülow tun sollen? Mit Blücher ist er ebenfalls brouilliert.«

»Aber weshalb braucht man mich nach Preußen zu versetzen?«

»Ganz einfach deshalb, weil das der gefährdetste Posten ist, der die größte Verantwortung erfordert. Da konnten wir nicht irgendeinen General hinsetzen. Uns blieb gar keine andere Wahl. Und Sie werden mit Bülow schon fertig werden. Er ist ja ziemlich kränklich und wird wohl nicht mehr lange aktiv bleiben. Aber ein gescheiter Kerl ist er, allerdings auch nicht wenig von sich eingenommen. Aber ich bin überzeugt, Sie werden ihm schon Räson beibringen. Sonst wüßte ich niemand, der es könnte.«

»Ach, ihr in Berlin springt mit einem um, wie's euch gerade paßt«, knurrt Yorck.

»Meinen Sie?« fragt Scharnhorst überrascht. Er schüttelt nachdenklich den Kopf. »Ich glaube eigentlich das Gegenteil: man möchte Ihnen die Verhältnisse so angenehm wie möglich machen. Sie sollten sich wirklich öfter in Berlin sehn lassen. Warum besuchen Sie uns nicht mal in der ›Wissenschaftlichen‹?«

»Danke! Danke! Passe nicht für diese gelehrten Sachen. Kam mir bei der Umstandskrämerei vor wie ein Ochse. Hatte den Eindruck, ihr Herren Strategen könnt nicht drei Mann über die Gosse führen, ohne die Logarithmentafel zu Rate zu ziehn.«

Scharnhorst lacht auf seine stille Art und meint, Yorck habe ganz recht.

»Und dann wieder schmeißt ihr alle Tradition über Bord und untergrabt die Disziplin. Jeder grüne Leutnant soll an seinem Kommandeur zum Marquis Posa werden. Auflösung der starren Linie, französische Gefechtsordnung! Justement nach Frankreich müßt ihr laufen, um euch die Bauchkriecherei zu holen.«

»Ja, lächerlich ist das! Französische Gefechtsordnung – Blödsinn! Yorcksche Gefechtsordnung sollte man sagen. Denn von Ihren Jägern haben wir das Tiraillieren und Bauchkriechen doch übernommen.«

»Nanu?!«

Jetzt weiß Yorck wahrhaftig nicht, ob der andere scherzt. Aber die etwas verschleierten Augen blicken so sinnend und ernst aus dem gedankendurchpflügten Gesicht, daß ihm der Argwohn vergeht.

»Sie werden sich doch noch an Ihr Felddienstreglement vom Jahre 1800 für Ihr Jägerregiment erinnern. Da stand ja schon alles drin. Die zerstreute Feuerlinie, und daß die Schützen sich selbständig an den Feind heranpirschen müssen und Deckung nehmen. Ja«, nickt er, »das meiste Neue besteht nur darin, daß man das vergessene gute Alte wieder hervorholt. – Und was Sie da vom Untergraben der Disziplin sagten –«

»Na, ich meinte das nicht so schroff«, lenkt Yorck ein.

»Nein, nein, Sie haben ganz recht! Das ist natürlich ein schwieriges Problem. Aber – ich darf wohl ganz freimütig sein? – wir mußten wirklich ein bißchen auslüften. Es gab zu viel Überständige. Wir brauchen jüngere Kräfte.«

»Aber warum muß das gerade auf Kosten des Adels geschehn?«

»Geschieht denn das?« fragt Scharnhorst ganz erschrocken, als höre er eine bestürzende Neuigkeit. Nach einigem Überlegen schüttelt er dann aber doch den Kopf. »Ich glaube nicht. Wenigstens soweit meine Erfahrungen reichen, hat's der Bürgerliche immer noch recht schwer. Und das schadet ja auch weiter nichts. Anderseits habe ich so die Idee« – er rückt ein bißchen dichter heran –, »es wäre gut, wenn man das Heer und die Nation etwas näher miteinander verbände. Es kann ein Tag kommen, wo wir jeden Mann brauchen, und die besten sind uns gerade gut genug. Da wir nun auf den Prügelstock verzichtet haben, müssen wir ein anderes Mittel haben, um die Disziplin aufrecht zu halten. Und da bleibt uns denn nichts anderes übrig, als an das Ehrgefühl zu appellieren. Aber das sind ja alte Kamellen, die ich Ihnen da erzähle. Bei Ihren Jägern war das schon längst so. Die wurden doch mit Messieurs angeredet, wenn ich nicht irre. Und die Rückenfreiheit bestand bei ihnen auch schon. Es ist wirklich merkwürdig«, wundert er sich noch einmal, »je länger man nachdenkt, desto weniger Neues gibt es.«

Argwöhnisch sieht Yorck in das treuherzige Gesicht. Ihm fällt ein, was man sich für Geschichten von Scharnhorst erzählt, wie er dem König mißliebige Vorschläge dadurch schmackhaft macht, daß er sie für uralte, schon von einem seiner Ahnen geplante Maßnahmen erklärt. Macht er's jetzt vielleicht ebenso? Aber Yorck findet, daß der Vergleich nicht zutrifft. Denn was Scharnhorst da von seinen Jägern sagte, stimmt wirklich. Und der von Lob nicht Verwöhnte freut sich unwillkürlich über diese späte Anerkennung.

Dann geht das Gespräch auf die allgemeinen Verhältnisse über, und mit Erstaunen vernimmt Yorck, der genauer nur die Verhältnisse seines Korps kennt, wie gewaltig die Rüstungen der gesamten Armee sind. 42 000 Mann hat der Franzosenkaiser dem besiegten Preußen zugestanden, aber dank dem Krümpersystem wird man im Ernstfall leicht eine halbe Million aufstellen können. Und dieser Ernstfall liegt vielleicht näher, als man heute noch glaubt.

Ein rasches Aufleuchten, als wenn ein Windhauch über glimmende Kohlen striche, fährt aus den Augen, dann sinken sie in ihr verhangenes Halblicht wieder zurück. Steinharte Geduld, durchblitzt von den Goldadern kühnen Wagemuts, sei das Gefüge dieses Gesichts, denkt Yorck.

Scharnhorst hat seinen Ellenbogen auf den Degengriff gestützt und seine Stirn auf seine Hand, und während er von diesen Zukunftsdingen spricht, verfließt seine Stimme in den dämmernden Abend, wie die eines Schäfers, der seine Lieblingsträume spinnt.

Und hat er nicht mit unendlicher mühsamer Geduld wie ein alter Schäfer Masche für Masche, Krümper für Krümper, Mann für Mann dies gewaltige Instrument eines Kriegsheeres zusammengelistet, zusammengestückt? Immer merkwürdiger wird Yorck dieser Mann, geheimnisvoller und zugleich anheimelnder: er spürt die Klarheit und Weite eines systematischen Geistes, die geduldige Selbstüberwindung, die seiner eigenen eruptiven Natur so schwer ankommt und die von aller Selbstsucht und Eitelkeit freie Aufrichtigkeit, die das Herz des Einsamen immer offner erschließt.

Auf dem Heimweg und auf Scharnhorsts Stube unterhalten sie sich bis tief in die Nacht hinein, und wenn der zur Verbitterung neigende Yorck neuen Unmutsstoff aus seinem Herzen räumt, hört er immer wieder, daß er ganz recht habe, um gleich darauf zu erfahren, daß er es so ganz doch wohl nicht habe.

Frau von Yorck hat alle Ursache, sich über das Resultat dieser Inspektionsreise zu freuen, denn sie macht die Beobachtung, daß ihr Mann nach der Rückkehr viel ausgeglichener geworden ist. Jene Verbitterung und politische Hypochondrie, die an seinem Wesen fraßen, haben sich gemildert, er ist ruhiger und umgänglicher geworden, manchmal blitzt sogar sein guter alter Humor wieder auf. Auch widmet er sich wieder mehr seiner Familie.

Eines schönen Herbstnachmittags sitzt er mit den Seinen im Garten. Die beiden Jungen vergnügen sich mit Armbrustschießen. Frau von Yorck unterhält sich mit ihrem Nachbar, einem kenntnisreichen Kaufmann, der ihr Berater in Literatur und Gartendingen ist. Die Tochter Henriette hat den Besuch von einer jungen Baltin, Marlene von Rosen, einer Pensionsfreundin aus Dresden, die sich auf der Rückreise nach ihrer Heimat befindet.

Die beiden Mädchen benehmen sich, wie Frau von Yorck mit stillem Kummer feststellt, etwas albern. Der dickliche alte Junggeselle bietet ihnen mit seinem geschraubten und selbstgefälligen Wesen andauernden Grund zu verstohlenem Kichern. Als Henriette ihm jetzt die Obstschale reicht, wird es so unverhohlen, daß ihre Mutter tadelnd fragt, was es denn da eigentlich zu lachen gäbe?

»Oh«, meint Herr Crezelius, »es ist nur das Lächeln der Eva, die den Apfel reicht.«

»Nehmen Sie den da«, rät Marlene, die ihre Heiterkeit besser zu verstecken weiß. »Das ist ein echter Kalvill. Ich habe ihn aus Dresden mitgebracht.«

»Danke!« sagt Herr Crezelius und hält den Apfel genießerisch an seine Nase. »Ein guter Apfel – aber ein Kalvill? Ich habe nämlich selbst einen Kalvillenbaum im Garten, womit ich übrigens im weiten Umkreis der einzige bin. Ich weiß, wie Kalvillen aussehn und riechen.«

»Probieren Sie ihn nur, Herr Crezelius. Es ist bestimmt ein Kalvill.«

Henriette schält den Apfel, und Herr Crezelius kostet ihn, wobei er mangels der Zähne eine Weile mummelt. Er nimmt sich nicht Zeit, die Stücke ganz zu zerkleinern, sondern schiebt sie in eine Ecke und fällt sein Urteil mit vollem Munde, was der Autorität einigen Abbruch tut. Die Mädchen wenigstens prusten los, als er äußert: es sei ein recht schmackhafter, deutscher Apfel, aber im Leben kein französischer Kalvill. Darauf stürmen sie langbeinig, übermütig und verlegen zu den Jungen.

Frau von Yorck glaubt, ihr Benehmen entschuldigen zu müssen, aber Crezelius lächelt mildes Verzeihen. Er kann nun in Ruhe seinen Apfel zu Ende essen und ihn mit einem kleinen gelehrten Vortrag über die Herkunft der Kalvillen würzen, die eine Errungenschaft der Kreuzzüge seien.

Nachdem er sich verabschiedet hat, kehren die Mädchen zurück und brauchen nun ihrer Heiterkeit keinen Zwang mehr anzutun, während sie erzählen, daß sie vorhin einen kleinen Eroberungszug in des Nachbars Garten unternommen und Herrn Crezelius einen seiner eigenen Kalvillen vorgesetzt haben.

Frau von Yorck ist ehrlich entsetzt. Über Zäune in fremde Gärten klettern und dort stehlen! Wenn sie das nur als junges Mädchen gewagt hätte!

»Du hast eben eine Soldatentochter in die Welt gesetzt«, tröstet ihr Mann sie. »Die unternimmt manchmal einen Kriegszug. Laßt euch aber nur nicht erwischen, Demoiselles!«

So hat er's früher auch mit seinen Jägern gehalten. Die standen im Ruf, große Wilderer zu sein, und immer wieder liefen Beschwerden ein, ohne daß ihr Obrist etwas dagegen unternommen hätte. Aber wehe, wenn einer sich auf frischer Tat abfassen ließ! Der mußte für die andern mitbüßen.

Marlene gerät noch denselben Abend in die Gefahr, die freundliche Gesinnung, die sie sich beim Vater ihrer Freundin erobert hat, wieder zu verscherzen.

Es sind einige Gäste zu Tisch. Das Gespräch kommt auf die gesunkenen Güterpreise, und jemand nennt unvorsichtigerweise den Namen vom Stein. Worauf Yorck sofort zornig gegen den »Befreier« loswettert. Alles durcheinanderrühren und nivellieren, das nennt der Mann Befreiung. Er möchte den Adel in die Fabriken schicken und die Offiziersstellen mit Fabrikantensöhnen besetzen, die Güter zerstückeln, die Bauern in die Stadt locken. Kurz und gut, wenn dieser verbrannte Kopf sich nicht durch eigene Unvorsichtigkeit sein Grab gegraben hätte, dann hätte er noch ganz Preußen ruiniert.

Da flattert vom andern Ende des Tisches eine ängstlich kühne Stimme:

»Das ist nicht wahr! Der Freiherr vom Stein ist ein großer Patriot und wird noch mal der Retter Preußens heißen.«

Atemstockende Stille, die Gabeln und Messer erstarren beinah in der Luft. Die arme Marlene, die eben noch mit Falkenkühnheit sich emporschwang, starrt wie ein verschüchtertes Täubchen in die drohenden Geieraugen und macht sich mit Anstand auf ihr Ende gefaßt.

Da kommt Frau von Yorck ihr zu Hilfe:

»Die kleine Rosen ist nämlich eine Nichte vom Baron vom Stein.«

»So?« knarrt nach einer Weile eine rostige Stimme. »Dann sind Sie im Recht. Für seinen Onkel sollte man immer eine Lanze brechen.«

Ehe man sich vom Tisch erhebt, trinkt der General sogar seinem Gast freundlich zu und wünscht Marlene eine gute Heimreise.

Frau von Yorck ist glücklich über die aufgeräumte Stimmung ihres Gemahls, die nun schon seit Wochen anhält, wenn auch der Grund dazu ihr das Herz recht schwer macht.

Neuer Krieg droht zwischen Frankreich und Rußland. Und Preußen wird sich auf Rußlands Seite stellen. Es ist so gut wie beschlossene Sache. Um aber nicht von den französischen Armeen, die sich in Preußen festgenistet haben, erdrückt zu werden, ehe die Russen eingreifen können, plant man einen Krieg nach spanischer Art. Eine allgemeine Insurrektion soll stattfinden. Gestützt auf die noch im preußischen Besitz gebliebenen Festungen sollen die bewaffneten Haufen den Gegner beunruhigen und ablenken, ohne sich je in größere Gefechte einzulassen, bis das Feldheer zur Entscheidungsschlacht versammelt ist.

In dieser Zeit entwickelt Yorck eine fieberhafte Tätigkeit. Er arbeitet mit Scharnhorst Hand in Hand. Die beiden haben einander in vollem Vertrauen gefunden. Auf Scharnhorsts Veranlassung wird er auch Gouverneur in Ostpreußen, so daß er jetzt das Generalgouvernement der beiden Provinzen unter sich hat. Er steht auf dem verantwortungsvollsten Posten und hat für einen »gewissen Fall« nahezu unumschränkte königliche Gewalt.

Der Mann, dem nicht die Jahre, aber ein hartes Schicksal die Runen des Alters eingegraben haben, wird wieder jung. Noch einmal darf er das große Würfelspiel des Schicksals wagen. Wenn damals, 1806, das Spiel mißlang, so trug nicht ein verfehlter Wurf von seiner Hand daran mit Schuld. An untergeordneter Stelle stehend, wurde er in den allgemeinen Untergang mit hineingerissen. Aber er und seine Jäger haben sich bei Jena und in dem Gefecht von Altenzaun rühmlich bewährt.

Heute darf er sich als einen Eckpfeiler des Schicksals fühlen. Er hat erst nach schwerem Bedenken die neue Stellung angenommen. Aber nun er auf dem Posten steht, ist seine Kraft zugleich mit der Verantwortung gewachsen. Was ihn beschwingt und stählt, ist das Bewußtsein, daß es für ihn nur die Wahl gibt, zu siegen oder mit dem erliegenden Preußen zu fallen.

In diese eifervolle Hochstimmung fliegt wie ein giftiger Schwaden das Gerücht, daß Preußen mit Frankreich einen Allianzvertrag abgeschlossen habe. Die Leute wollen sogar seinen genauen Inhalt kennen. Der König habe sich verpflichtet, Napoleon für den russischen Feldzug ein Korps von 20 000 Mann zur Verfügung zu stellen.

Yorck hält es für unter seiner Würde, sich mit diesem Latrinengerücht zu beschäftigen. Aber schon der nächste Tag bringt die Bestätigung von des Staatskanzlers eigener Hand.

Nicht wie sonst fiebert Yorck mit einem heftigen Wutausbruch sich dieses Gift aus der Seele. Mit hochgezogener Braue, wie blind, liest er wieder und wieder den Brief. Man muß ihn zwei-, dreimal zu Tisch rufen, ehe er kommt. Seine Stimme ist ein müdes Flüstern, sein Gang ein Schleichen – er gleicht ganz dem Mann, der vor sechs Jahren, schwer verwundet am Stock humpelnd, aus dem verlorenen Kriege heimkam.

Einige Tage später zeigt er seiner Frau ein langes Schreiben.

»Ich habe meinen Abschied genommen. Du kannst dich freuen.«

Frau von Yorck hat nichts sehnlicher gewünscht, als daß ihr Mann sich aus der aufreibenden Mühsal des Dienstes zurückzöge und ganz seiner Familie lebte. Heute weiß sie, daß er seinen Abschied nicht lange überleben würde. Sein ungestillter Ehrgeiz, der Vorwurf, sich dem Vaterland entzogen zu haben, würden ihn wie eine schleichende Krankheit verzehren.

Sie liest sehr bedächtig und langsam den Brief, lobt ihn und meint nur, er solle sich die Angelegenheit noch einen Tag überlegen.

»Es gibt nichts zu überlegen! Ein Hundsfott, der bleibt. Scharnhorst und Blücher gehen auch.«

»Deren Fall liegt auch anders als der deine.«

»Wieso?«

Es ist gewagt, darauf zu antworten, aber sie hält's für ihre Pflicht.

»Weil du schon einmal den Abschied bekommen hast. Daß dich der König dann wieder aufnahm, war ein besonderer Vertrauensakt. Und ich meine, dies Vertrauen müßtest du in der jetzigen schweren Lage rechtfertigen.«

»Unsinn!«

»Außerdem hast du ja erfahren, wie das Brot der Fremde schmeckt.«

Das Brot der Fremde! denkt Yorck höhnisch. So ganz ein Wort aus dem Geist der kleinen Bürgerwelt, der seine Frau entstammt. Aber dann wird ihm grade durch den Anstoß dieses Wortes seine Vergangenheit lebendig.

Noch läßt er seinem inneren Toben freien Lauf, doch ehe er es merkt, ist es nicht mehr der Yorck von heute, sondern der um ein Menschenalter jüngere Leutnant, der in gerechtem Zorn schwelgt und sich versichert, er habe richtig gehandelt, wie auch die Folgen sein mögen.

Das ist noch zur Zeit des großen Königs. Höchst mißvergnügt sind seine Offiziere aus dem böhmischen Feldzug heimgekommen, der wie das Hornberger Schießen verlief. Besonders die jungen Herren sind von dem ereignislosen Warten reizbar und händelsüchtig wie stallkranke Pferde. Ihre unbefriedigte Ehre sucht ein Opfer. Da sie beim Feind keine Lorbeeren ernten konnten, suchen sie Schmach in den eigenen Reihen. Ihr ganzer Zorn richtet sich gegen einen unglücklichen Kapitän, von dem es heißt, er habe im Krieg geplündert.

Einem solchen Schuft und Dieb dürfe ein ehrliebender Leutnant nicht gehorsamen, schwören sie und toben so laut, daß Yorck sich wundert, warum ihrer zwei nicht den Kapitän gleich vor die Pistole fordern. Er hat sich ziemlich still verhalten, bei der nächsten Wachtparade aber verweigert er dem Kapitän die Ehrenbezeigungen. Er wird sofort abgeführt. Seine Kameraden drücken ihm die Hand und loben ihn wegen seiner Bravheit. Aber nachmachen tut's ihm keiner.

Das Jahr Festung geht über der ungewohnten Beschäftigung des Studierens und Bücherlesens bald vorüber. Dann aber kommt das böse Ende der Kassation, und es folgt, was seine Frau das bittere Brot der Fremde nannte.

Er aber stürzt sich ins Abenteuer des Lebens mit dem einzigen Vorsatz, es so abenteuerlich zu bestehn, wie er nur kann. Mag aus dem Vorfall mit dem Kapitän lernen, wer mag, er würde sich als Selbstverräter vorkommen, wenn er vorsichtiger werden wollte. Er kennt keine Klugheit, keine Selbstschonung, nur täglichen Einsatz des Lebens und das Spiel mit der Gefahr, weil er noch kein höheres Ziel kennt.

Vielleicht aber ist dies Abenteuerleben, dieser Tanz auf dem schwankenden Turmseil der Gefahr nötig, damit er einst seine Bestimmung erfüllen kann, sich selbst und sein Volk am schwindligsten Abgrundsrand vorüber zur Freiheit zu führen.

Anfangs läßt sich das Leben in der Fremde recht vergnüglich an. In Holland, wohin sich der Heimatflüchtige gewandt hat, gelingt es ihm, die Gunst des Statthalters zu erlangen, der ihm eine Kompagnie verspricht. Ehe das Versprechen sich einlösen läßt, hat Yorck Gelegenheit, die berühmte Seeschlacht an der Doggerbank gegen die Engländer mitzumachen, die den Ruhm der holländischen Marine glänzend wieder herstellt. Yorck wird vom Admiral ausersehn, die Freudennachricht nach Amsterdam zu bringen. Auf Befehl des Statthalters muß er sie im Theater auf offner Szene verkünden. Den dröhnenden Beifall nimmt er mit naiver Freude hin, obwohl er nur der Künder fremder Taten ist. Wenn dermaleinst, nach vielen Jahren, neuer Jubel ihn umbrausen wird, dann ist er ein skeptisch und hart gewordener Mann; und, gewöhnt an den bitteren Würztrank einsamer Kämpfe, schmeckt ihm der leichte Schaum der Volksgunst etwas schal.

Das Leben in Amsterdam geht dem aszetisch Erzogenen gar zu lieblich ein. Zuviel schöne Frauen, und die Spielsäle sind Nacht für Nacht geöffnet. Bald wachsen die Schulden ihm über den Kopf, er verkauft sein Patent und läßt sich von der ostindischen Kompagnie anwerben.

In deren Dienst verschlägt ihn das Schicksal zuerst nach Paris. Ein noch gefährlicheres Pflaster als Amsterdam, jenes Paris, das noch die Süßigkeit der Zeit vor 1789 kennt. Aber schon haben seine Neigungen sich vertieft, seine Irrungen sich verfeinert. Was er in diesem halben Jahr an bleibenden Eindrücken gewinnt, sind Theatereindrücke der Comédie française und des Odeons.

Dann geht's in die Ferne, in die Kapkolonie zuerst, und darauf nach Ceylon. Die Kompagnie, die er kommandiert, besteht, schonend ausgedrückt, aus Leuten, denen der Heimatboden zu heiß geworden ist.

Sie sind gewohnt, sich selbst mit dem Pistol oder dem Gewehrkolben Recht zu verschaffen. Denen Gehorsam und preußischen Drill beizubringen, ist für einen jungen Mann keine Kleinigkeit. Yorck bedient sie auf ihre Art, indem er ihnen täglich beweist, daß er vor dem Tod noch weniger Angst hat als sie. Nachdem sie einige Male vergeblich versucht haben, sich seiner zu entledigen, gewinnen die Kerle ihn sogar auf ihre Weise lieb.

Nach einiger Zeit wird er in die Kapkolonie zurückversetzt und erlebt hier mit einer Holländerin das große, schmerzlich-süße Liebesabenteuer seines Lebens. Sie haben einander Treue geschworen; sie trotzt den Beschwörungen ihrer Eltern, er denen seiner Freunde. Bis endlich doch ein einsichtiger Berater das Ohr der beiden romantischen Toren gewinnt. Das Mädchen hat einen andern Bewerber, der ihr das Leben bieten kann, auf das sie Anspruch machen darf. Um ihre Zukunft nicht zu ruinieren, tritt Yorck zurück. Aber ist es nicht vielleicht auch der Gedanke an seine eigene Zukunft, der ihn mit bestimmt? Erhebt nicht hier vielleicht schon das über ihm waltende Schicksal seine geheimnisvolle Stimme?

In der Art, wie er dann den Verzicht erlebt, spricht sich der ganze Yorck aus: er muß das Bittere in seiner bittersten Form erleiden. So heilt er die Wunde, indem er sie ausbrennt.

Als besondere Gunst hat er sich ausgebeten, in der Kirche Trauzeuge sein zu dürfen. Als die Braut vor dem Altar ihr Jawort spricht, bricht er ohnmächtig zusammen.

Bald darauf quittiert er den Dienst und kehrt nach Deutschland zurück. Da Friedrich der Große gestorben ist, wird er nach längerem Bemühn von seinem Nachfolger wieder in Gnaden aufgenommen.

Das sind die Lehr- und Wanderjahre des jungen Yorck. Er hat keine Lorbeeren heimgebracht, aber desto mehr Abenteuer bestanden und im Blut so manchen Lindwurms gebadet. In seinem zu Stahl geglühten Herzen ist nur noch Raum für Ehrgeiz und Pflicht.

Jetzt aber, nachdem er sich wieder einmal in die Wildnis seines früheren Lebens verloren hat, kommt ihm zum Bewußtsein, wie wahr und weise das dumme Wort seiner Frau vom bitteren Brot der Fremde ist. Die Erkenntnis drängt sich in sein Bewußtsein durch das gegensätzliche Gefühl. Nach dem Erinnern an die Fieberdünste der Spielsäle und tropischen Sümpfe, an die Gesellen, die man nicht viel anders als die Raubtiere des Dschungels betrachtete, umweht ihn hier der Ruch und Schmack einer reineren, süßeren Luft, und etwas wie Glücks- und Stolzgefühl, das sich durch keine Vernunft rechtfertigen läßt und aller Rechtfertigung enthoben ist, weil es aus dem Urquell des Lebens steigt. Heimat – bis jetzt hat er sie hingenommen und war wohl oft der Meinung, das Gute, das sie böte, würde vom Schlechten überboten. Nun weiß er, daß alle Bitterkeit die Süße ihrer Gaben nicht vergällen kann und daß er unzerreißbar mit ihren Geschicken und ihren Menschen verbunden ist. Mit den vielen und mit dem einen, der sein Herr ist. Bei Gott und Ehre, er hat nicht nur einmal dem kleinmütigen Zauderer und Unentschlossenen gegrollt – aber wer weiß, welche politische Not, welche Zweideutigkeit der Bundesgenossen ihn zu dieser unseligen Allianz gezwungen haben. Jetzt kann er seinen Herrn nicht verlassen. Einst hat der Vater dem Verfemten die Rettungshand gereicht, das wird er dem Sohn in Treue vergelten.

So kommt es, daß aus dem Rebellen von damals der Gehorsamste der Gehorsamen wird.

 

Im Frühsommer des Jahres 1812 geriet das Dörfchen Didlacken aus seiner feldgrünen Einsamkeit südlich von Insterburg unversehens in den Trubel der Weltgeschichte, und den wackeren Bauern wurde ein Schauspiel geboten, wie es die Menschheit seit den Tagen des Xerxes und des Dschingis Chan nicht mehr erlebt hatte, indem der gewaltige Heerwurm der großen Armee auf dem Wege nach Rußland sich durch ihre einzige Dorfstraße wälzte. Aber es ging den Didlackern wie so manchen Zuschauern welthistorischer Begebenheiten: das Eintrittsgeld, das sie hatten zahlen müssen, war zu teuer gewesen, als daß sie an dem Spektakel rechte Freude hätten haben können.

Waren es nicht diese buntscheckigen Soldaten, um derentwillen man ihnen Jahr um Jahr ihre Pferde – und wie stolz waren sie auf ihre Trakehner gewesen! –, ihr Korn, Vieh und ihr bißchen Brot herausgepreßt hatte?

Jetzt noch kam es vor, daß die Feldgendarme, die wie blutgierige Bremsen durch die Dörfer schwärmten, wenn sie ein letztes Rind oder ein verborgenes Fuhrwerk entdeckten, sich sofort daraufstürzten und es mitsamt dem unglücklichen Besitzer zwangen, den Marsch in die unbekannte Ferne mitzumachen.

Und die Armee machte es kaum besser als diese Plagegeister. Zwischen Napoleon und den Soldaten bestand, wie ein zeitgenössischer französischer Geschichtschreiber berichtet, die stillschweigende Übereinkunft, daß sie sich in seinen kriegerischen Ehrgeiz ergaben und er ihren Plünderungen durch die Finger sah.

Am besten erging es den Leuten noch, wenn sie freiwillig alles hergaben. Dann richteten die ungeladenen Gäste außer furchtbarem Schmutz wenigstens keinen Schaden an. Aber wehe, wenn einer sich wehrte oder gar sein Haus verschloß! Dann wurde mit dem »Kompagnie-Hausschlüssel« die Tür aufgebrochen und alles demoliert. Kein Wunder, daß es den Didlackern an der rechten Begeisterung für die neuen Alliierten fehlte.

Und was sollten sie überhaupt von diesen Bundesgenossen denken? Vor einem Jahr noch hatte es geheißen, es gäbe Krieg mit den Welschen, eine allgemeine Volkserhebung stehe nahe bevor. Voll Kampfbegier hatten die Bauern ihre verrosteten Gewehre frisch geputzt, ihre Säbel geschliffen und sich unter der Führung des Gutsherrn in den Waffen geübt. Jeden Sonntag war jung und alt in die Kirche gewandert, und ein heiliges Feuer hatte in allen Herzen gebrannt, wenn der greise Pastor so begeistert von den Freiheitskämpfen in Tirol und Spanien erzählte. Und dann – sie standen wie vom Donner gerührt, der eine brandrot, der andere käsebleich – hatte es plötzlich geheißen, ihr König ginge mit dem Kaiser Näppel einen Allianzvertrag ein.

Sie wollten es nicht glauben. Und als der Geistliche, dem selbst vor Schmerz und Scham beinah die Stimme zerbrach, ihnen erklärte: ihr armer König könne nicht anders; da Österreich ihn verriet und Rußland nur an seine Verteidigung dachte, was konnten die Preußen allein gegen die Übermacht ausrichten? – da hatte es manchen dieser stolzen Freibauern im stillen geschüttelt und gewürgt, und er hatte gedacht, es sei wahrhaftig kein Stolz mehr, sich Preuße zu nennen.

Und nun ergoß die Flut, die aus den Bergen und Ebenen Frankreichs, von den Gestaden des Guadalquivirs und denen des Adriatischen Meeres bis zu den Ufern des Rheins und der Weichsel zusammengeströmt war, sich durch das Land, und angesichts dieser ungeheuren Heerscharen sahen auch die Tapfersten ein, daß ihr König nicht anders gekonnt hatte und daß auch ihnen nichts anderes übrigblieb, als die Zähne zusammenzubeißen und der alten Bauernregel eingedenk sein, daß up disse Tid ne annere Tid kommt.

Aber die Bauern hatten die ersten Truppen einfach totschlagen wollen, und mancher Welsche oder Portugiese oder Rheinbündler, der gar so großschnauzig herumkommandierte, ahnte auch später nicht, wie nahe er daran gewesen war, daß eine zornwütige Faust ihm das Maul für immer stopfte.

*

Heute aber haben die Didlacker ausnahmsweise einen guten Tag, denn unter den Brandenburger Husaren, die bei ihnen einquartiert sind, gibt es manchen engeren Landsmann.

Freundlich werden die bestaubten Reiter, denen der Sand zwischen den Zähnen knirscht, willkommen geheißen, vom nahen Gut und von den Feldern kommen die Bauern zusammengelaufen, und jeder freut sich, wenn er einen Husaren oder auch zwei mitsamt ihren Pferden in seinem leeren Stall unterbringen kann.

Der Schwadronsführer, Herr von Tungeln, der beim Pastor einquartiert ist, stellt an diesen gleich nach der Begrüßung die Frage, ob Weiblichkeit im Hause sei.

Zuerst ist der alte Herr etwas betroffen, seine Miene klärt sich aber auf, als er den Sinn der Frage erfährt. Der Rittmeister will nämlich ein Bad nehmen, und das geschieht am besten auf dem Hof, wenn er nicht zu befürchten braucht, daß weibliches Zartgefühl dadurch verletzt wird.

In der Beziehung könne der Herr Rittmeister ganz ohne Sorgen sein, erwiderte der Pastor. Seine Töchter wie übrigens sämtliche Mariellen des Dorfes feien auf dem Gutshof in Sicherheit gebracht. Das geschehe immer so, seitdem der Herr Marschall Ney in Gumbinnen vier unschuldige Mädchen mit sich genommen und verunehrt habe. Und er, der Pastor selbst, sei Witwer.

»Um so besser! Also mal 'n bißchen fix, Heinrich!«

Heinrich läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. Ein Ding nach dem andern holt er aus dem Mantelsack, stellt das Elfenbeinbild aus den Nachttisch, legt die Bibel daneben und obendrauf die Kuchenreuter, wickelt Seife und Zahnbürste aus und breitet das Handtuch über einen Stuhl.

Dann fragt er mit etwas scheelem Blick, ob der Herr Rittmeister auch heute wieder ein frisches Hemd befehle?

»Glaubst du, Ferkel, ich zöge den alten verschwitzten Plünnen wieder an?«

Heinrich stößt sich weniger an dem Ferkel als an dem verschwitzten Plünnen. So darf man doch ein Hemd nicht nennen, das man erst einen Tag getragen hat.

»Los! Los! Los!« drängt der Rittmeister, der nach dem Marsch etwas nervös ist. »Schlaf nicht immer ein. Dich hat ja rein der Deibel zum Husaren gemacht.«

»Ich wollte ja auch bei de Artillerie«, knurrt Heinrich.

»Widersprich nicht immer!«

»Ich widerspreche ja gar nicht.«

»'raus mit dir, alte Haubitze!« donnert der Rittmeister, der zu Heinrichs Verdruß immer das letzte Wort behalten muß.

Während Herr von Tungeln sich die Uniform aufknöpft, blickt er aus dem Fenster, wo Grenadiere in aufgelöster Kolonne vorbeimarschieren. Staub bedeckt die blauen Uniformen, die weißen Bandeliere, die Dreimaster und die hinten in Leinwandbeuteln auf den Tornistern aufgebundenen Bärenmützen.

Staub, Übermüdung und Verdruß haben aus der glänzenden grande armée bereits hier eine graue Gespensterschar gemacht. Kein Trommeln und Pfeifen, kein Gesang, kein Scherzwort, kein Ruck und Zuck wie sonst ist in dem Ganzen. Fluchend und schimpfend, bedrückt von heimlichem Schicksalvorgefühl, schleppen sie sich über den Kirchplatz und ziehen gen Rußland, das sie jetzt schon wie die Hölle hassen.

Der Rittmeister blickt auf die Wolken, die dunkel bedrohlich über den Himmel wandern, bis sie sich im Grau der endlosen Ebene verlieren.

»Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn …« seit Tagen flattert dieser Gesangbuchvers ihm durch den Sinn.

Es gibt Kameraden, welche behaupten – und sie berufen sich dabei auf den General Scharnhorst –, die Russen brauchten sich nur immer weiter zurückzuziehn, so würden die Franzosen sich in dem weiten Land zu Tode laufen und schließlich wie die Wolken in Nichts zergehn. Das mag richtig sein. Aber er, Tungeln, ist mehr für's Dreinschlagen.

Voriges Jahr, potz Wetter! war er da aufgelebt. Und jetzt – jedesmal wenn er an die schandbare Schweinerei denkt, ist ihm zumut, als müßte ihm das Blut aus den Ohren spritzen. Ja, ja, ja, Seine Majestät hatte nicht anders gekonnt. Aber hätte er sich überhaupt so weit mit den Welschen einlassen dürfen? Hätte er nicht schon längst …?

Himmelkreuzdonnerwetter! stampft der Rittmeister wütend auf. Will er wohl aufhören mit dem Stänkern und Spintisieren! Dies vorlaute Reden und Räsonieren hat ihm schon sein guter Vater oft mit Maulschellen austreiben wollen. Aber wenn einer mal zum Denker geboren ist …

Grade zur rechten Zeit meldet Heinrich, daß das Bad bereit ist. In luftiger Behaglichkeit, das Handtüchlein, das Heinrich spendiert hat, wie eine Kellnerserviette unterm Arm, wandelt der Rittmeister über den Hof auf den mit Wasser gefüllten Zuber zu.

»Feines frisches Regenwasser«, preist Heinrich sein Naß. »Kein bißchen Modder drin. Nur ein paar Wasserflöhe. Aber die beißen nicht.«

»Brav, mein Junge«, lobt der Rittmeister. »Ah, das tut gut. Ach, ist das eine Wohltat!« seufzt er behaglich zwischen dem Planschen. »Hast du noch ein paar Eimer übrig, Heinrich? Dann kannst du sie mir nachher über den Kopf gießen. – Aber erst seif mir mal den Buckel ab. – Ja, pack nur feste zu. Ach, ist das herrlich! Wie neugeboren fühlt man sich. Himmel, da soll doch …!«

Mit einem Satz ist der Rittmeister aus der Wanne heraus und auf das Handtuch losgestürzt, hält es sich um die Lenden und knirscht:

»Da oben sitzt ja eine Frau!«

Wahrhaftig, jetzt bemerkt auch Heinrich sie, die aus einem Fenster des oberen Stockwerks auf die beiden hinunterstarrt und, offenbar aus Entsetzen über die nackte Männergestalt, kreisrunde Eulenaugen bekommen hat.

»Lauf zum Pastor und meld es ihm!«

Diesmal wetzt Heinrich daher, daß die Hacken fliegen, und der Rittmeister hört ihn die steile Treppe hinaufdonnern. Aber schon nach einigen Augenblicken kommt er grinsend zurück und winkt aus der Ferne beruhigend ab.

»Melde gehorsamst, Herr Rittmeister, dat's dem Herrn Pastor seine Olsche. All siebzig Jahr und stocktaub.«

»Stocktaub nützt mir nichts.«

»Sehn kann sie auch nicht mehr. Die zählt all lang nicht mehr mit.«

Worauf der Rittmeister beruhigt wieder in seinen Zuber steigt.

Während Herr von Tungeln sich ankleidet, betrachtet Heinrich nachdenklich das schöne Seifenwasser. Es lockt ihn sehr, auch mal ein Bad zu versuchen. Aber endlich beschließt er, es doch lieber beim alten zu lassen, und seift sich nur den Kopf und die Füße ab. Dann wäscht er in dem Wasser noch das Hemd seines Herrn.

Nach getaner Arbeit stellt er sich unter den Torbogen. Sein Gesicht glüht wie mit Bimsstein abgerieben, seine Augen tränen ein bißchen, aber seine Miene ist an Selbstzufriedenheit kaum zu übertreffen. Zuzusehn, wie andere sich abplagen, erhöht immer sein Selbstbewußtsein.

Eine letzte Munitionskolonne rumpelt noch vorbei. Dann kommen Planwagen. Auf einigen ist unter dem aufgemalten kaiserlichen Adler noch der Name des früheren Besitzers zu lesen. Großknecht in Egendorf – das sieht sich gut deutsch an, und so mag wohl auch die Sprache der braven Pferde sein, auf die der Fahrer seine welschen Flüche hinunterschickt.

Unter den Planwagen befinden sich auch elegantere Fuhrwerke, Glaskutschen und offene Landauer. Die feinen Damen darin haben entweder Gesichter wie gesottene Krebse oder sind ganz mit weißer Kreide beschmiert. Eine bemerkt Heinrich, welche raucht. Vor Ekel speit er aus. Etwas so Gemeines hat er in seinem Leben noch nicht gesehn. Und mit diesem Gesindel hat der König ein Bündnis geschlossen! Wenn unsereiner das täte, denkt Heinrich, würde es heißen, auf so eine verfluchte Dummheit kann auch nur ein Bauernlümmel kommen. Aber bei den feinen Leuten nennt man's Politik.

Er vertieft sich wieder in seinen Lieblingstraum von dem großen Tümpel in Rußland, und die Wünsche, die er hinsichtlich seiner welschen Freunde daranknüpft, treffen haargenau mit dem zusammen, was schon vor Jahren der Alte Fritz in die Worte gefaßt hatte:

»O könnten sie ins Schwarze Meer
Mit einem Sprunge sich versenken,
Köpflings, den Hintern hinterher,
Sich selber und ihr Angedenken!«

Die Wagenreihe hat schon ihr Ende erreicht, als mit zwei Reitern im Gefolge auf Heinrich ein welscher Offizier zusprengt, dessen rassige Vollblutstute und glänzende Ausrüstung: der kaum bestaubte, so gut wie neue, hellblaue Leibrock mit dem dicken Orden auf der Brust, die hohe Bärenmütze mit der weißen Girlande, das silberne Zaumzeug und die prachtvoll beschnürte Schabracke auf den Bauernjungen einen gewaltigen Eindruck machen.

Ob in diesem Hause der Rittmeister, Herr von Tungeln, einquartiert sei, fragt der Offizier.

»Tünschelln«, verbessert einer der Begleiter.

»Zu Befehl, jawohl.«

»Dann melden Sie ihm, daß ich ihn zu sprechen wünsche, im Auftrag meines Majors, monsieur de La Motte-Piquet.«

Heinrich stapft die Treppe hinauf und meldet, daß unten ein welscher Major sei, der dem Herrn Rittmeister etwas aufzutragen hätte.

Dieser ärgert sich, daß der Major, statt sich zu ihm hinaufzubemühn, ihn herunterkommen läßt, und ist noch weniger erfreut, als er an Stelle des würdigen Stabsoffiziers einen jungen Leutnant von den kaiserlichen Gardedragonern vor sich stehn sieht, der seinen Namen nennt, de Clavé, und gleichzeitig auf so nachlässige Art die Ehrenbezeigung macht, daß er als preußischer Offizier einen gehörigen Anpfiff bezogen hätte.

Er bedauere sehr, daß er dem Herrn Rittmeister eine kleine Unannehmlichkeit bereiten müsse, sagt der junge Herr, aber im Auftrag seines Majors müsse er ihn bitten, das Dorf zu räumen, da zwei Schwadronen Gardedragoner es belegen wollten.

Einen Augenblick ist Herr von Tungeln etwas erschrocken, ob ihm vielleicht ein Irrtum unterlaufen sei. Er zieht seinen Quartierschein aus der Brusttasche: der Name des Dorfes stimmt.

Der Leutnant gibt das lächelnd zu, bittet aber doch, den Wunsch seines Vorgesetzten zu erfüllen.

Der Rittmeister überlegt. Er weiß, wie gespannt die Stimmung der verschiedenen Regimenter und besonders der preußischen und französischen gegeneinander ist. Bei einer allzu engen Nachbarschaft können leicht Prügeleien entstehn. Trotzdem erklärt er sich, um unliebsame Auseinandersetzungen zu vermeiden, bereit, die Hälfte des Dorfes zu räumen.

Das genüge nicht, erklärt der Franzose, der Major wolle das ganze Dorf belegen.

»Ich bitte, keine Fassons zu machen«, fügt er hochfahrend hinzu. »Ihre Husaren können doch nach Insterburg reiten.«

»Damit sie auch da 'rausgeschmissen werden. Meine Kerle haben drei Nächte im Freien biwakiert, die letzte bei strömendem Regen. Sie brauchen unbedingt ein anständiges Quartier.«

»Ich bedauere infiniment, aber Sie wissen wohl, daß die Gardedragoner Vorrang genießen in der ganzen Armee.«

»In der französischen vielleicht.«

Jetzt beginnt der Leutnant sich zu ereifern und überschüttet den Rittmeister mit einem langen französischen Wortschwall. Aber wie der Fels nur um so glatter wird, je mehr Wasser auf ihn hinunterstürzt, so wird auch Herr von Tungeln immer ruhiger: er hat ja seinen Quartierschein.

» Vous avez compris?«

»Kein Wort!«

»Ihre Husaren sollen die Ställe evakuier'. Hinaus! Hinaus!«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?«

»Auf die Straße! Binden Sie Ihre Pferde an die Zäune an.«

Der Rittmeister wirft einen Blick auf den nächsten Zaun, auf dessen morschen Staketen allerhand Lumpen und Lappen trocknen.

»An die Zäune anbinden? Herr, sind Sie des Deibels?«

»Sie werden das Dorf evakuier'.«

»Das werde ich nicht!«

»Dann werden wir Sie zwingen.«

»Sie wollen mich zwingen?«

»Jawohl, mein Herr, mit Gewalt!«

»He, Trompeter!« schreit der Rittmeister.

Der Trompeter, der grade über den Kirchplatz geht, kommt auf seinen kurzen Beinen eiligst angelaufen.

»Blas Alarm! Lauf durch das ganze Dorf und blas Alarm!«

Der kleine Mann fährt sich nicht mal über den Mund, sondern setzt gleich die Trompete an.

Tätä tätä tätäätä schmettert lustig drei-, viermal das Signal, das jeden Husaren, wenn er nicht grade mausetot ist, auf die Beine springen läßt.

Sofort lugt auch schon einer aufgeregt aus dem Dunkel der Schmiede. In den Nachbargehöften werden die Torflügel aufgerissen, und andere Husaren, den Striegel in der einen, die Kartätsche in der andern Hand, kommen hervorgestürzt. Als der Rittmeister ihnen zuruft: »Kommt nur her, Jungs!« verschwinden sie, kehren aber in der nächsten Minute zurück: barfuß, in Hemdärmeln, Zaumzeug, Säbel und Karabiner umgehängt, den Sattel unterm Arm, den Gaul am Halfter. Am Brunnen beginnen sie zu satteln.

Tätä tätä tätäätä … klingt es jetzt schon ein bißchen ferner.

» Mais il est complètement fou, ce Prussien!« schimpft der Dragonerleutnant mit seinen Begleitern. »Mein Herr, warum wollen Sie verrückt sein? Sie werden haben die größten Desagrements.«

»O wie wohl ist mir am Abend«, summt der Rittmeister vor sich hin.

»Seien Sie doch raisonnable. Vielleicht kann man sich arrangieren.«

»Am Abend! Am Abend!« summt Herr von Tungeln und dreht dem Franzosen den Rücken. »He, Heinrich, der Hundertmark soll satteln.«

Tätä tätä tätäätä spritzt es gegen die verstaubten kleinen Fensterscheiben und macht das ganze Dorf rebellisch. Schon sind eine Menge Kinder zusammengelaufen, und jetzt kommen auch aus dem Siechenhaus neben der Kirche allerhand merkwürdige Gestalten zum Vorschein: humpelnde Männer in langen Spitalmänteln an Stöcken und Krücken, darunter ein Einbeiniger, den ein Blinder stützt, und alte Weiber. Eine Magere, die allen voran ist, gackert wie ein Huhn: »O Gott, o Gott, o Gott!«

Tätä tätä tätäätä … klingt es jetzt schon wieder näher. Und da kommen aus Nord und Süd ein gutes Dutzend flinker Reiter angesprengt: dem einen sitzt die Mütze etwas windschief auf dem Ohr, dem andern baumelt die Schuppenkette unter der Nase, ein dritter scheint unter hohem Seegang zu leiden, da die Gurte in der Eile nicht festgeschnürt sind, ein vierter hat den Säbel noch in der Hand. Aber sie sind da, auf schnaubenden Pferden, mit kampfmutigen Gesichtern.

» Je vous assure, mon capitaine, Sie werden vor ein Kriegsgericht kommen.«

»Am Abend! Am Abend!« klingt es zur Antwort.

Immer mehr Volk strömt auf dem Platz zusammen, in der Mehrzahl Weiber und Kinder, stieben aber auseinander, da die Steine klirren und Funken sprühen von den heransprengenden Herren Leutnants, denen ihre Burschen folgen.

Es ist kaum noch Platz für das Gedränge der schnaubenden und wiehernden Pferde. Husaren müssen die Neugierigen zurückdrängen. Kommandos werden gegeben, Züge formieren sich und werden wieder auseinandergerissen von neu ansprengenden Reitern.

Der französische Leutnant und seine Begleiter sind wieder aufgesessen, um davonzureiten. Der Leutnant macht noch einen letzten Versuch, den eigensinnigen Deutschen zur Vernunft zu bringen, indem er ihm versichert, er werde dafür sorgen, daß die Offiziere ihre Quartiere behalten könnten.

»Sie haben mir mit Gewalt gedroht. Ich werde Ihnen zeigen, was Sie damit bei mir ausrichten.«

Ohne ein Wort macht der Leutnant kehrt, reißt aber sein Pferd zurück, da es gegen eine dichte Menschenmenge anprallt. Schon will er seinen Säbel ziehn, um sich mit Gewalt einen Weg zu bahnen, als ganz aus nächster Nähe wieder die Trompete klingt. Tätä tätä tätäätä … Und beinah im selben Augenblick fängt aus der sogenannten Glöcknerei – die Kirche selbst besitzt keinen Turm – die Feuerglocke an zu gellen.

Als wäre das ein verabredetes Zeichen, marschiert hinter dem daneben gelegenen Schulgehöft ein Haufe von an die hundert jungen und alten Männern heran, die teils aus dem Dorf und teils aus dem Gut stammen: mit Sensen, Heugabeln, Säbeln und altertümlichen Gewehren bewaffnet. Ihnen zur Seite geht händeringend ihr Pastor und beschwört sie, sich nicht ins Unglück zu stürzen, der Augenblick zum Losschlagen sei noch nicht gekommen. Die Leute nicken stumm, marschieren aber eigensinnig weiter und versperren nach Süden hin wie eine mit Eisen gespickte Mauer die Straße.

Der Rittmeister hält vor seiner in drei Zügen aufgebauten Schwadron, läßt die beiden Flügelzüge einschwenken, so daß ein offnes Karree entsteht, und will schon »Stillgesessen!« kommandieren, als von dem nördlichen Ende des Dorfes lautes Geschrei erschallt. Zuerst ist es nur ein gellendes Kindergekreisch, das aber im Nu mannbar wird, und je stärker es anschwillt, desto erwachsener dröhnt.

Während die Brandung jetzt auf dem Marktplatz selbst emporschlägt, bricht zugleich der dichte Wall aus Krüppeln, Weibern und Kindern auseinander, und durch die entstandene Lücke donnert eine seltsame Kavalkade heran, als wenn der wilde Reiter mit seinen Scharen im Gewittersturm daherbrauste: halbnackte, braun gebrannte Burschen, von Tropfen umsprüht, von Schaumflocken umflattert, stieben sie daher mit lautem Heißa und Hurra, die eine Hand fest in der Mähne des ungesattelten Pferdes verwickelt, in der andern Hand die Mütze oder eine abgerissene Gerte schwenkend.

Das sind die Husaren, die ihre Pferde in die Schwemme geritten haben. Es gibt wieder ein kurzes Durcheinanderdrängen, aber die Pferde finden von selbst in den Reihen ihren wohlbekannten Platz.

Der Rittmeister kommandiert »Stillgesessen!« und nun hört auch das Gebimmel der Feuerglocke auf. Nach dem furchtbaren Lärm soeben herrscht eine beinah lautlose Stille, und die aufgeregte Mahnung des alten Nachtwächters, der, mit dem Stock die Kinder bedrohend, immer »Ruhe! Ruhe!« schreit, ist recht überflüssig.

»Kerls, die welschen Dragoner wollen uns unsere Quartiere nehmen.«

Von dem markigen Klang dieser Stimme vibrieren die Fensterscheiben, und zittern freudig die Herzen der Hörer. »Sie wollen in den warmen Ställen schlafen, und wir sollen unsere Gäule an die Zäune binden. Das lassen wir uns nicht gefallen! Ich befehle, daß heute abend jeder zu Hause bleibt. Tor und Türen werden zugemacht. Daß mir keiner auf der Straße herumsteht! Wenn ein Welscher euch aber dumm kommt, dann schmeißt ihr ihn 'raus! Und geht's nicht im Guten, dann haut ihr mit der Plempe drein! Verstanden?«

Aus hundert Mündern kommt ein einziges »Jawohl!«

»Sektionsweise abrücken in die Quartiere!«

Der Rittmeister wendet sich an den französischen Leutnant.

»Wollen Sie, bitte, Ihrem Herrn Major melden, was ich meinen Leuten gesagt habe. Guten Abend! – Wachtmeister, reiten Sie mit ein paar Leuten voran und sorgen dafür, daß der Herr Leutnant unbelästigt aus dem Dorf kommt.«

*

Herr von Tungeln sitzt am Fenster, raucht seine Meerschaumpfeife und wartet gespannt, was nun wohl kommen werde. Vielleicht wird man ihn verhaften. Dann werden seine Kerle ihn heraushauen. Und dann gibt's vielleicht einen ganz andern Krieg als den geplanten. Ja, dann kann er auch nicht helfen. Recht muß Recht bleiben!

Es beginnt zu dämmern. Schon blinzeln ein paar Sterne am Himmel, und von den Wiesen her weht der erste kühle Wohlgeruch, als die welschen Gardedragoner angeritten kommen. Stramme wohlgenährte Kerle! Und was haben sie für Pferde! Die haben freilich noch keine Nacht im Freien kampiert und Baumrinde gefressen, weil es an Heu mangelte.

In kurzem Trab durchreiten sie das Dorf, als wenn sie Eile hätten, wieder hinauszukommen. Die Leute sehen, wie Herr von Tungeln feststellt, nicht nach rechts und nicht nach links, sondern züchtig gradeaus wie die Pensionsfräulein.

Hinter den Zäunen und aus den Ritzen der Hoftore aber lugen die Husaren und lachen sich eins.

 

Der General von Yorck tritt aus seinem Quartier: auf dem gebeugten Körper der Kopf eines kranken, bösen, furchterregenden, bemitleidenswerten Raubvogels. Sein Blick trifft den Pferdeknecht, der seinen Fuchswallach am Zügel hält. Der Bursche steht unbeweglich, wie aus Holz geschnitzt, aber innerlich zittert er vor dem Anschnauzer. Die Anschnauzer des Isegrims sind nicht von der gewöhnlichen Sorte: mit Donner rin und mit Gepolter raus aus den Ohren. Von seinen Anschnauzern kommt man sich wie mit Pech begossen vor.

Aber der Blick der grauen Pupillen in den gelblich vergrämten Augäpfeln haftet auf fernen Gegenständen, die nichts mit dem Dasein eines Pferdeknechts zu tun haben.

Der General hebt den bespornten Stiefel und läßt ihn ächzend sinken. Noch einmal muß er ihn, die Lippen zusammenbeißend, heben, um den Steigbügel zu erreichen. Als aber der Pferdeknecht vorsichtig nachhelfen will, bekommt er das furchterregende Knurren zu hören.

Nach dem General sitzt sein Adjutant, der Major von Seydlitz, auf. Die beiden, gefolgt von zwei Ordonnanzen, reiten zum Quartier des Oberkommandierenden des zehnten Korps, des Marschall Macdonald, Herzogs von Tarent.

Yorck, sonst ein so sicherer Reiter, der jüngst noch die Husaren lehrte, wie man in schwierigem Gelände einen Schock macht, hockt auf seinem prachtvollen Fuchs wie ein brustkranker Schulmeister. Er krümmt sich unter dem Schraubstock seiner Schmerzen. Die alten Wunden zerren, der Rheumatismus reißt, der Bruch, den ihm in Lübeck die Fußtritte eines französischen Soldaten beigebracht haben, brennt – aber alles das sind nur Ausstrahlungen des innerlichen Grams, des ans Kreuz geschlagenen Stolzes. Er weiß, was Golgatha bedeutet und was es heißt: Herr, laß diesen Kelch an mir vorübergehn … Aber er weiß auch, daß niemals ein Kelch an ihm vorübergeht: Tod der geliebten Kinder, Krankheit der Frau, Zurücksetzung, Hohn der Feinde – es gibt keinen noch so bittern Wermut, den er nicht hätte schlucken müssen. Aber was jetzt bevorsteht, gehört mit zum Schlimmsten. Daß er dem Stellvertreter des Erzfeindes die Honneurs machen, daß er diesem Parvenü-Herzog schöntun muß! Er hat sich das nicht so überlegt, sonst hätte er dem König nicht das Opfer gebracht und lieber den Dienst quittiert. Aber wenigstens soll der Marschall ihn kennenlernen. Mag der König aus Besorgnis um seinen Thron Nachgiebigkeit wünschen, er wird royalistischer sein als sein Herr. Zum Stellvertreter des Kaisers kommt er als der Stellvertreter eines Königs, der ein souveräner Herrscher ist, ein freiwilliger Bundesgenosse, kein Vasall und katzbuckelnder Rheinbundsfürst.

Die grauen Augen funkeln, er beißt die Zähne zusammen, daß die Kaumuskeln schwellen. Nicht das kleinste Recht wird er sich entreißen lassen. Wenn –. Es gibt da ein böses Wenn. Wenn der General Grawert, sein Vorgesetzter, nicht schon zu allem ja gesagt hat. Mit halb gebundenen Händen geht er in den Kampf. Aber was tut's! Wenn's nur ein Kampf wird und keine Katzbuckelei.

Er gibt sich einen Ruck. Der Schmerz verzerrt sein Gesicht. Einige Augenblicke ist ihm zumute, als wollten alle Bänder und Gelenke reißen. Aber er läßt nicht nach. Ein Schenkeldruck. Der Gaul schlägt einen kurzen Galopp an. Entweder kracht die alte Kiste jetzt auseinander, oder die Knochen fügen sich. Sie tun's, und, eine erzgegossene Gestalt, sitzt Yorck im Sattel.

Dann stehen sie sich gegenüber, die einander zum Schicksal werden sollen, Draufgänger, Hitzköpfe beide, von einer Leidenschaftlichkeit, die nicht jugendlicher Überschwang, sondern eingeborene Kraft ist; Fünfziger, ein paar Jahre drüber der eine, einige drunter der andere, aber die sieben Jahre, die Yorck mehr hat, lassen ihn um vieles älter erscheinen; beide kräftige Gestalten, aus gleichem Holz, doch nicht aus gleichem Boden gewachsen und nicht unter gleicher Sonne: der eine voll entfaltet unter Napoleons Glücksstern, reicher Grundherr, Herzog und Marschall des Kaiserreichs, der andere ohne Ähre und Halm, auf den kärglichen Sold eines Königs angewiesen, der über die Hälfte seines Landes verloren hat, Unter-General in einer Armee, der noch der Makel von Jena und Auerstedt anhaftet.

Aber seltsam, wenn beide auch von gleicher Statur sind, so scheint Yorck doch seinen Vorgesetzten zu überragen, und wenn er einstweilen auch nur den stummen Zuhörer spielt, der Blick seiner grauen Augen, der ein kaum verhangenes Blitzen ist, gibt ihm eine beinah drohende Überlegenheit. Diese Haltung ist nur zum Teil Absicht: wem immer Yorck gegenübersteht, den scheint er zu überragen durch die sprungbereite Straffheit seiner Haltung; wen immer er anblickt, den scheint er anzublitzen mit dem Stahl seines im Feuer gehärteten Willens und seines stets wachen Mißtrauens.

Aber wenn Macdonald ihm gegenüber auch etwas behäbig Breites hat, so hat er auch die Liebenswürdigkeit und ungewollte Würde des großen Herrn und den natürlichen Zauber dessen, der ein gütiger und ehrlicher Mensch ist. Es schwingt ein Ton in seinen Worten mit, der Vertrauen schenkt und wünscht. Aber Yorck verlangt gar nicht danach. Er mag wie Hermann denken: »Was brauch ich Latier, die mir Gutes tun?«

Zuerst hat Macdonald das Gespräch auf ihre Familien gebracht. Sie stammen ja beide aus England. Die Macdonalds sind unter den Stuarts nach Frankreich eingewandert. Yorck weiß über seine Vorfahren wenig Bescheid. Und er äußert das wenige in so knappem Ton, daß der Marschall das Gespräch bald auf die schwebenden militärischen Fragen bringt. Es betrifft Bagatellen, über die zu streiten nicht lohnt.

Das ändert sich im Augenblick, wo es sich um die Einsetzung des französischen Feldgerichts handelt. Yorck widerspricht, nicht nur aus Prestigegründen, sondern weil seine Leute dann bedeutend schlechter stehn als unter den milderen preußischen Kriegsgesetzen.

Macdonald hört ihn aufmerksam an, sagt dann aber unvermittelt:

»Es tut mir leid, die Sache ist schon abgemacht. Exzellenz Grawert hat bereits seine Zustimmung gegeben. Ich glaubte, Sie von der Vernünftigkeit der neuen Einrichtung zu überzeugen, nun haben Sie mich durch Ihre Einwände beinah vom Gegenteil überzeugt. Was läßt sich tun? Wir wollen hoffen, daß von dem Gericht möglichst wenig Gebrauch gemacht wird. Wenn sich Härten ergeben, bitte ich um Meldung. Und nun noch eins, Exzellenz.« Er wirft die Worte beinah brüsk hin: »Sie sind zum Kommandeur der Festung Memel ernannt.«

Yorck erstarrt. Das Mißliche und Widerwärtige dieses Kommandos, das einen dauernden Streit mit französischen Offizieren bedeutet, ist ihm sofort klar.

»Es ist der Befehl des Kaisers, nicht mein Wunsch. Ich weiß, daß dieser Posten weder Ihrer Stellung noch Ihren Fähigkeiten entspricht.«

»Ich hoffe, auch dort meinem König dienen zu können«, erwidert Yorck trocken.

»Es wird meine Sorge sein, Sie bei der nächsten Gelegenheit wieder zur Truppe zurückzurufen, wo Sie wichtiger sind. Der Kaiser hat die Bestimmung auf den Rat des Herrn von Grawert getroffen. (Er ist persona grata bei Seiner Majestät. Ich weiß nicht, ob er ihn immer gut berät. Kennen Sie übrigens Rußland?«

»Ich war niemals dort.«

»Heute berichtet man mir, daß es in Rußland weder Wind- noch Wassermühlen gibt. Die Bauern mahlen ihr Korn auf kleinen Handmühlen, die sie natürlich beim Anmarsch unserer Truppen verstecken werden. Die Armee ist darauf nicht vorbereitet. Eine schöne Schweinerei. Ich erinnere mich, daß Karl XII. sich in der gleichen Bedrängnis befunden hat. Als seinen Leuten in Rußland die Mehlvorräte ausgingen, saß er eines Tages ab und rupfte Gras vom Feld, das er anfing zu kauen. Seine Generale dachten, er wäre verrückt geworden, womit sie ja auch recht hatten. Nach einer Weile spuckte er das Gras wieder aus und sagte: Man kriegt's nicht hinunter. Wenn ich es essen könnte, ihr hättet es mir schon fressen sollen. – Nette Aussichten! Hoffentlich steht uns kein zweites Pultawa bevor. Nun, ich rechne mit einer Dauer von zwei bis drei Monaten für die Kampagne. Nach der Einnahme von Moskau wird der Zar wohl Frieden schließen. Und dann genug vom Krieg! Genug! Genug! Es ist nur eine Stimme in der Welt: Wir haben den Krieg satt! Was gibt's?« fragte er den eintretenden Adjutanten.

»Dringend!«

»Es gibt nichts so Dringendes, was durch Liegenlassen nicht noch dringender würde.«

Dabei wirft der Marschall das Aktenstück auf den Tisch.

»Betrifft das preußische Korps, gnädiger Herr.«

»Das preußische Korps? – Verzeihen Sie einen Augenblick!« wendet Macdonald sich an Yorck.

Er durchfliegt das Schriftstück und reicht es dann seinem Gast. Es behandelt den gestrigen Vorfall zwischen dem Rittmeister von Tungeln und dem Dragonerleutnant de Clavé. Dessen Oberst hat die Beschwerde dem Divisionsgeneral Grandjean übermittelt, und dieser sie an Macdonald weitergeleitet. Nach der Darstellung des Leutnants hatte der Rittmeister ihn vor versammelter Schwadron mit Gewalt bedroht. Der Oberst beantragte, daß der Rittmeister vor ein Kriegsgericht gestellt werde.

Yorck, der von dem Vorfall ebenfalls Kenntnis bekommen hat, ohne ihm viel Bedeutung beizumessen, denn Streit wegen der Quartiere gab es alle Tage, sieht mit Bestürzung, wie schlimm die Angelegenheit für den Rittmeister ausgehn kann. Er denkt an das kriegsgerichtliche Verfahren, das einstmals gegen ihn selbst gespielt hat. Soll es dem Rittmeister ähnlich ergehn?

»Ich erlaube mir, zu bemerken, Herr Marschall, daß der Streitfall hier durchaus einseitig geschildert ist. Der Rittmeister von Tungeln hat seine Leute lediglich angewiesen, ihre Quartiere zu verteidigen. Das Wort Gewalt ist zuerst von dem Leutnant de Clavé gebraucht worden.«

»Ihnen ist der Fall bekannt? Dann bitte ich um Ihre Darstellung.«

Die Herren haben wieder Platz genommen. Als Yorck seine Mitteilung beendigt hat, fragt der Marschall:

»Sind Sie überzeugt, daß die Aussage des Herrn von Tungeln der Wahrheit entspricht?«

»Dafür kann ich mich verbürgen.«

Der Marschall denkt nach und beginnt zu schreiben.

In diesen wenigen Minuten hastet an Yorck das ganze Jahrzehnt seiner Abenteuer- und Wanderjahre noch einmal vorbei.

Welch ein Glühn! Welche Gefahren! Wieviel verschäumte Lebenskraft! Und das Resultat von alledem? Erinnerungen, gerade ausreichend für ein paar Minuten wie diese. Nein, denkt er. Nein! Wenn ich das alles nicht erlebt hätte, wäre ich nicht der geworden, der ich heute bin. Damals in der Kirche, als ich mir das Schwerste abtrotzte, hat's angefangen. Nein, früher schon! Auf der Festung. Das Urteil, das der König nicht mildern wollte, war zu hart, aber es hat auch mich hart gemacht! Schließlich muß ich doch dem großen König dankbar sein.

Und nun sitzt dieser welsche Salomo da und brütet, wie er seinem Landsmann recht geben kann, ohne dem Rittmeister allzu sehr unrecht zu tun. Aber, ehrlich gesagt, nach einem Drückeberger und Wendehals sieht der Marschall nicht aus. Sein rundes Gesicht mit den schwarzen Glutaugen und der dreist vorspringenden, schräg abgeschnittenen Nase zeigt eine freimütige, jugendliche Herzhaftigkeit.

Yorck nimmt des Herzogs Antwort entgegen und ist fest entschlossen, keine Miene zu verziehen, wie sie auch lauten mag.

»Der Marschall, Herzog von Tarant, hat feststellen lassen, daß der Rittmeister der preußischen Husaren, Herr von Tungeln, seine Pflicht, den französischen Truppen jedes Entgegenkommen zu beweisen, hinreichend erfüllt hat, indem er den beiden Schwadronen der kaiserlichen Dragoner die Hälfte seiner Quartiere angeboten hat. Dies Angebot wurde nicht akzeptiert. Die Drohung des preußischen Rittmeisters war lediglich die Antwort auf die Drohung des Leutnants der kaiserlichen Dragoner, Herrn de Clavé, sich mit Gewalt der Quartiere zu bemächtigen.

Veranlassung zu einem kriegsgerichtlichen Verfahren gegen den Rittmeister, Herrn von Tungeln, ist deshalb nicht gegeben. Dagegen sieht sich der Marschall genötigt, den Oberst, Herrn Laroche, zu ersuchen, seine Offiziere erneut daraus aufmerksam zu machen, daß sie sich unsern preußischen Waffengefährten gegenüber der größten Höflichkeit zu befleißigen haben.

Macdonald.«

Yorck verzieht nicht sein Gesicht – bis auf den letzten Satz. Da kann er seine Schadenfreude nicht mehr verbergen, und trotz seinem Sträuben muß er einem guten Gefühl für den Marschall Raum geben.

Der hat ihn heimlich beobachtet und ist mit seiner Wirkung zufrieden. Er hat sich genau über Yorck informiert und weiß, daß er die Seele des preußischen Korps ist. Der alte Grawert ist nur eine Null. Es liegt ihm viel daran, Yorck zu gewinnen. Und er ist ein großer Menschenfänger, den seine friedlichen Siege stolzer machen als die auf dem Schlachtfeld.

Er gibt das Schreiben seinem Adjutanten.

»Und nun kein Wort mehr vom Krieg!«

Sie gehn zu Tisch. Die Tafel ist für zwanzig Personen gedeckt. Sehr einfach. Das Tischtuch, aus des Marschalls eigenem Besitz, scheint mehr als eine Kampagne mitgemacht zu haben. Zwei Weinflaschen stehen darauf. Das Geschirr aus Fayence ist gewöhnliches cul noir. Großen Aufwand scheint der Herzog nicht zu treiben. Zum Beginn gibt's grünen Salat mit harten Eiern.

»Pissenlit«, nennt der Marschall das Zeug. »Äußerst gesund fürs Blut.«

Yorck denkt: wenn es so gut bekäme, wie es schlecht schmecke, müsse es allerdings außerordentlich gesund sein. Er hält's für Hundeblumensalat.

Der Marschall erzählt von seinem Gut in Lothringen, wo jetzt schon die Rosen blühn, und spricht begeistert von seinen Merinoschafen, die er in Frankreich eingeführt hat. Er ist der größte Schafzüchter des Landes. Abends sitzt er mit seiner Tochter und dem Herrn Pfarrer, und sie suchen Namen für die Stammbäume seiner Schafe, spielen L'hombre, und wenn's zehn schlägt, gehn sie in die Heia. Ein Leben wie im Paradies.

Gott sei Dank kommt nach dem Unkraut etwas Fleischernes auf den Tisch. Yorck hätte ein ordentliches Stück Rindfleisch lieber gehabt, aber Tauben sind auch nicht zu verachten. Junge Täubchen und frischer Spinat – ein seltener Genuß!

»Gut?« fragt der Marschall.

»Sehr gut!« erwidert Yorck.

»Nicht zu zäh?«

»Weich wie Butter.«

»Und das Gemüse?«

»Delikat.«

»Was essen Sie denn?«

»Tauben mit Spinat.«

»Meine liebe Exzellenz«, erwiderte der Marschall, »meine Tante pflegte zu sagen: ein guter Koch muß aus altem Stroh eine Bouillon machen können. Und mein Koch hat aus jungen Krähen und frischen Brennesseln Tauben und Spinat bereitet. Man muß die armen Bauern schonen. Sie haben ohnehin nichts mehr zu beißen und zu brechen.«

»Alle Achtung vor Ihrem Koch, Herr Marschall. Meinen gehorsamsten Respekt aber auch dem Herrn dieses Kochs!«

»Diese liebe, bestaubte Heilige ist aber echt: 1803er Romanée«, sagt der Marschall und weist auf eine Flasche, die eine Ordonnanz mit der üblichen zärtlichen Wichtigkeit kredenzt.

Der Marschall und sein Gast, sein Generalstabschef, Oberst Terrier, und Yorcks Adjutant bekommen jeder ein Glas. Die anderen Herren können sehen, wie sie sich in die beiden anderen Flaschen teilen.

Der Marschall lächelt Yorck zu, und ohne anzustoßen, indem er nur leicht das Glas erhebt, sagt er halblaut:

»Auf gute Kameradschaft!«

Wie angenehm, denkt sein Gast, daß er nicht » vive l'empereur!« ruft.

Yorck tut ihm Bescheid. Gott, ist das ein Wein! Ihm ist, als tränke er einen Schluck von Frankreichs Sonne, Frankreichs hübschen Frauen, Frankreichs Leichtsinn. Jetzt, wo sie längst vorbei sind, kann er's sich ja gestehn, diese Pariser Monate waren trotz allem eine herrliche Zeit.

Er fragt den Marschall, woher es kommt, daß er in diesen Jahren ununterbrochener Kriege das Idyll in Courcelles leben konnte? Und Macdonald erzählt ihm, wie er des alten Moreaus wegen, der in den Attentatsprozeß verwickelt war, beim Kaiser in Ungnade gefallen war. Freunde wollten sich für ihn verwenden und eine Versöhnung mit Napoleon herbeiführen. Aber er hat sich nur allzu wohl gefühlt fern von der Sonne des kaiserlichen Hofes. Er hat gedacht wie der Abbé Sieyès. Yorck kennt doch das Wort vom Abbé Sieyès?

Yorck kennt es nicht.

Nun der berühmte Sieyès, der Entdecker des dritten Standes, Botschafter in Berlin usw., war, als die Terroristen ans Ruder kamen, spurlos verschwunden. Nachdem dann hinreichend Blut geflossen, und die Köpfe fast aller seiner Bekannten ihren Besitzern abhanden gekommen waren, tauchte er plötzlich wieder auf. Und als man ihn fragte, was er die ganze Zeit über gemacht habe, antwortete er nur » J'ai vécu«.

»Aber dies Beispiel könnte ja die Meinung hervorrufen, als wenn der Herr Marschall dem Tod aus dem Wege gegangen wären«, wendet der Oberst Terrier ein. »Und doch braucht man nur an Wagram zu denken –«

»Ach, sprechen wir bloß nicht vom Krieg!« unterbricht Macdonald ihn.

»Nur diesen einen Zug!« bittet speichelleckerisch der Oberst.

»Bei Wagram sind dem Herrn Herzog zwei Pferde unterm Leib erschossen worden. Er selbst wurde schwer verwundet, und doch hielt er noch dem schwersten Kartätschenfeuer stand.«

Den Marschall scheint die Revolutionszeit mehr zu interessieren. Vielleicht um den Oberst, den er nicht recht ausstehn kann, ein bißchen zu ärgern, erzählt er Geschichten aus der Zeit der Schreckensherrschaft.

Der Vater Terriers war unter Robespierre Polizeibeamter und hatte seinem Meister fleißig guillotinieren helfen.

»Was für eine tolle Zeit!« sagt Macdonald schließlich. »Für uns Offiziere hieß es nur: Sieg oder Guillotine! Glauben Sie mir, mein lieber General, Napoleon bedeutet für unser Land ein schweres Joch. Aber Frankreich ertrüge lieber noch zwei Napoleons als eine Revolution. Man mag über den Kaiser denken, wie man will, aber er ist das Genie seiner Zeit und der Mann des Schicksals. Und doch sind grade seine aufrichtigsten Bewunderer jetzt manchmal in Sorgen um ihn, ob er sich nicht übernimmt und sein Glück herausfordert. Denn wie heißt's in ›Cäsars Tod‹?

Le sort peut se lasser de marcher sur mes pas
La plus haute sagesse en est souvent trompée.
II peut quitter César, ayant trahi Pompée,
Et …
«

Nun weiß er nicht weiter, und auch der Oberst Terrier kann ihm nicht helfen. Und ebensowenig die andern Herren an der Tafel. Sie kennen natürlich das Stück und die berühmten Verse, aber im Augenblick seien sie ihnen grade entfallen, behaupten sie.

Da regt sich in Yorck der Übermut. Es ist wahrhaftig nicht sein Amt, schöne Sprüche zu Ehren des Erzfeindes aufzusagen. Aber grade diese sind von einer so vergnüglichen Bosheit. Und es macht ihm Spaß, den feinen Welschen zu zeigen, daß die Preußen es an literarischer Bildung mit ihnen aufnehmen können. So zitiert er denn Voltaires Verse weiter:

» Et dans les factions comme dans les combats
Du triomphe à la chute il n'est souvent q'un pas.
«

Aus den Glutaugen des Marschalls strahlt unverhohlenes Staunen. Woher Yorck diese Verse kennt? Er muß von seiner Pariser Zeit erzählen. Und vom Theater.

Es ist grade dreißig Jahre her, daß er in Paris war. Macdonald war damals siebzehn. Aber einige der Größen von damals hat er auch noch gesehen. Die schöne Raucourt, die am beseeltesten sprach, wenn sie schwieg, und die Contat, die Angebetete aller jungen Leute, die vergaßen, ihre Rechnungen zu bezahlen, nur um ihr Blumen schicken zu können. Und die rührende Desjardins … Wo sind sie alle geblieben? Auch unter ihnen hat die Guillotine fürchterlich aufgeräumt. Ach, die Jugend von heute, die hat ja keine Ahnung, was Grazie, Lachen und Liebe heißt!

Der Marschall muß mit Yorck noch einmal anstoßen auf die schönen Frauen ihrer Jugend. Zu diesem Zweck läßt er eine zweite bestaubte Heilige kommen.

Ja, sie mögen ihre diplomatischen Hintergedanken haben, die beiden Herren, das aber hindert nicht, daß sie sich aufrichtig gern haben und große Freude aneinander.

Schließlich landen sie natürlich doch beim Krieg und begegnen einander in ihrem gemeinsamen Haß gegen die Strategen, auf die der Herzog eine besondere Wut hat. Hat doch so ein Geck ihm allen Ernstes gesagt: wenn er ein Feldherr wäre, wäre er nicht Marschall geworden.

Yorck hat die gelehrten Herren ebenfalls gefressen und meint boshaft: sie erinnerten ihn an die Romanschreiber, die ihre Leser auch im Stich ließen beim Beginn einer Schlacht … der Ehe.

Der Marschall lacht ausgiebig über den Witz und gerät immer mehr in Fahrt.

Er erzählt einen boshaften Spaß nach dem andern über seine Herren Kollegen. Von Massenas Eigensinn und wie Davout beinah mal die ganze Armee in die Donau manövrierte, und wie umgekehrt Bernadotte bei Auerstedt Davout im Stich ließ und mit der Geschicklichkeit eines großen Strategen immer so um das Schlachtfeld herummarschierte, daß er weder einen Franzosen noch einen Preußen zu sehn bekam. Als endlich ein Adjutant Davouts, dem vor der Übermacht schon der Atem ausging, ihn erwischte, brüllte Bernadotte ihn an: »Sagen Sie dem Marschall, er soll nur keine Angst haben. Ich werde schon zur Stelle sein.« Er war auch zur Stelle, nur war diese Stelle nie das Schlachtfeld. Für diesen Streich wollte Napoleon ihn fortjagen, zu seinem Glück aber besaß er eine schöne Frau.

Während den beiden Herren über solchen Geschichten die Stunden verfliegen, hat der Oberst Terrier eine ernste Unterhaltung mit dem Leutnant de Clavé, der am Morgen das Beschwerdeschreiben überbracht hat. Er teilt ihm Macdonalds Bescheid mit. Ärgerlich! Aber nichts zu machen. Wäre der General Yorck nicht grade dagewesen, hätte das Urteil anders gelautet. Der verwöhnte Dragonerleutnant verbeißt kaum seinen Ärger.

Um ihn zu trösten, macht Terrier ihm den Vorschlag, sich als Verbindungsoffizier zu den Preußen versetzen zu lassen. Da er fließend deutsch spricht, ist er für diesen wichtigen Posten wie geschaffen. Und vielleicht kann er bei dieser Gelegenheit Yorck ein Bein stellen und sich revanchieren. Was er von Yorck für einen Eindruck hat? Er, Terrier, traut ihm nicht über den Weg. »Hüte dich vor den Leuten mit starkem Hinterkopf. Die sind Intriganten«, hatte schon sein Vater immer gesagt. Und der verstand sich auf Köpfe.

Aufs Köpfen noch besser, denkt Clavé boshaft. Er überlegt. Er ist eitel und ruhmsüchtig und möchte auf dem Schlachtfeld glänzen. Aber wer weiß, in dieser Stellung lassen sich vielleicht noch schneller Lorbeeren ernten. Darum nimmt er an.

Es ist später Nachmittag, als Yorck endlich aufbricht. Der Marschall begleitet ihn hinunter.

Als Yorcks hochbeiniger Fuchs vorgeführt wird, kann er gar nicht genug Lobesworte für das schöne Tier finden, so daß Yorck in einer edelmütigen Aufwallung ihm den Vorschlag macht, es ihm gegen eins aus des Marschalls Stall zu überlassen. Aber davon will der Herzog nichts wissen. Er sei augenblicklich mit Pferden sehr mäßig versorgt, Yorck würde einen schlechten Tausch machen. Aber schließlich gehen sie doch in den Stall, und kurz entschlossen sucht Yorck sich einen Braunen aus. Der Herzog versichert wieder, er müsse ein elender Roßkamm sein, wenn er diesen Handel zuließe. Dabei funkelt ihm die Lust nach dem Fuchs aus den Augen.

Als die beiden Tiere im hellen Tageslicht nebeneinanderstehn und die Herren im Halbkreis um sie herum, kann der Major von Seydlitz, der auch ganz wacker vom Blut der verstaubten Heiligen geleckt hat, ein etwas unverschämtes Grinsen nicht unterdrücken.

Der Marschall fragt ihn gutgelaunt, was für einen Witz er auf der Zunge hätte?

»Keinen Witz, Herr Marschall, sondern Verse. Zwar nicht französische, sondern griechische, aus dem Homer.«

Und während dem Braunen Sattel und Zaumzeug seines Vorgängers aufgelegt werden, erzählt er mit zwei Worten die Begegnung zwischen Glaukos und Diomedes, wie die beiden mitten im Kampfgetümmel entdeckten, daß ihre Familien von altersher miteinander befreundet sind, wie sie die Schwerter in die Scheide steckten und zur Weihe der neu gestifteten Freundschaft ihre Rüstungen gegeneinander austauschten.

»Und da« – so schließt Seydlitz seine Geschichte – »meint Homer, daß den Glaukos Zeus wohl ein bißchen benebelt haben müsse, weil er seine goldene Rüstung im Wert von hundert Rindern hergab gegen eine von Erz, die kaum zehn Rinder gekostet hatte.«

Einen Augenblick sehen alle gespannt aus den Marschall. Als der herzlich über die Geschichte lacht, stimmen auch sie ein.

 

Ende Juni erreicht die Avantgarde des preußischen Korps die Grenze von Feindesland. Da werden die Säbel geschliffen und die Gewehre geladen. Bei dieser Gelegenheit hält Yorck eine kurze Ansprache, um den Soldaten nächst Tapferkeit und Gehorsam auch Schonung der Einwohner eines Landes zu empfehlen, das bis jetzt mit Preußen in nachbarlicher Freundschaft gelebt hat. Dann bringt er auf den König ein Lebehoch aus, ohne den hohen Alliierten Napoleon zu erwähnen, was Clavé nicht vergißt, sich zu notieren.

Während Yorck das Kommando über die Festung Memel übernimmt und der Marschall selbst mit der Division Grandjean gegen Friedrichstadt und Jakobstadt abschwenkt, rücken die Preußen unter dem General Grawert weiter in Kurland ein, ohne indes etwas von einer russischen Armee gewahr zu werden. Die einzigen »Feinde«, auf die sie stoßen, sind Räuberbanden aus dem benachbarten Samogitien und Horden aufrührerischer Bauern, von denen das Land gesäubert wird.

Die baltischen Edelleute leben ruhig auf ihren Gütern. Die ganze männliche Jugend ist eingezogen. Das Leben hält seinen Atem an. Auch zu den Damen auf »Katherinenhof« sind die Gerüchte von Räuberbanden und brandschatzenden Bauern gedrungen und bieten ihnen prachtvolle Gesprächsstoffe, aber nicht die geringste Veranlassung, an irgendwelche Vorsichtsmaßregeln zu denken.

Da der Baron von Rosen im Krieg ist, führt seine unverheiratete Schwester, die Baronesse Ludmilla, das Regiment. Sie sitzt an diesem Nachmittag mit ihren beiden Nichten auf der Veranda hinter dem Herrenhaus. Alle drei sind damit beschäftigt, junge Erbsen auszumachen.

Wenn die Unterhaltung schweigt, ist das leise Knacken der aufspringenden Schoten und das Rieseln der grünen Kügelchen in die Steinschüsseln das einzige Geräusch, das die Stille unterbricht.

Tante Milla hat in einem faltigen Gesicht, das ganz ohne Kinn in einen ebenso faltigen Hals verläuft, zwei unwahrscheinlich blaue Augen. Wegen ihrer schrumpligen Haut wird sie in der Familie der Bratapfel genannt, was aber nicht hindert, daß sie große Verehrung genießt und von ihren Nichten zärtlich geliebt wird.

Wera zu ihrer Linken hilft ihr am eifrigsten. Sie ist die Tochter des Oberst von Tuschkewitsch aus Riga, der sich ebenfalls im Krieg befindet. Sie ist ein dunkelhaariges, nicht hübsches, nicht häßliches Mädchen. Wenn sie munter wird, kann sie viel graziösen Scharm entwickeln. Aber es findet sich selten jemand, der sie aufmuntert. Sie scheint vom Schicksal zum braven Musterkind bestimmt.

Marlene dagegen, die junge Baronesse von Rosen, ist die geborene Prinzessin, zum mindesten, was ihre feine Haut angeht. Um die Erbsen kümmert sie sich wenig. Dagegen führt sie einen erbitterten Krieg gegen die Mücken, die sie besonders gierig umsummen. Wenn sie eine erschlagen hat, hält sie ihr eine kurze, aber gepfefferte Leichenpredigt. Dann blickt sie wieder zornig gradeaus. Dieser hochmütig gekränkte Ausdruck in dem hübschen Jungmädchengesicht hat etwas sehr Komisches, aber wenn man näher zusieht, auch etwas Rührendes.

Tante Milla meint, Marlenchen sei verliebt. Wenn sie recht hat, ist es jedenfalls eine etwas eigenartige Liebe.

»Aas!« murmelt Marlene. »Jetzt krümmst du dich. Was hast du auch auf meiner Backe zu suchen! – Tantchen, erzähle doch mal die Geschichte von deinem Einbrecher.«

Von räuberischen Bauernbanden bis zu Einbrechern ist kein weiter Weg. Tante Milla ist auch gleich bereit.

»Das war nun so«, beginnt sie. »Wir hatten an dem Abend Krebse gegessen, und ich hatte wohl des Guten ein bißchen zuviel getan. Jedenfalls trank ich vorsichtshalber einen Minzenschnaps und dachte, danach wirst du gut schlafen. Das tat ich denn auch.«

Unruhig zuckt Marlene zusammen. Was könnte man jetzt alles anfangen! Reiten, auf die Jagd gehn. Statt dessen vertrödelt man hier die Zeit, wird alt und grau, und kein Herr läßt sich sehn. Wie brennt sie darauf, den Herren mal gründlich die Wahrheit zu sagen … Und ehe sie sich versieht, steht sie am Schwanenteich und stampft mit dem Atlasschuh in die nasse Erde und läßt ihren Zorn an einem schönen, stolzen Offizier von der Petersburger Garde aus. »Was fällt Ihnen ein, mich zu küssen? Sie sind wohl betrunken? Oder bilden Sie sich etwa ein, Sie könnten, weil Sie in den Krieg ziehn, sich alles erlauben?« Der stolze Offizier wird zusehends kleiner.

In Wirklichkeit spielte sich die Geschichte so ab.

Es war im Mai, noch hatte der Krieg nicht begonnen, da gaben die Rosens zu Ehren des ausrückenden Gutsherrn ein Abschiedsfest. Hoch ging es her, wenn auch nicht so lustig wie sonst. Besonders Marlene fühlte sich von verpflichtender Feierlichkeit beengt, wegen des ernsten Anlasses des Festes und weil sie zum erstenmal ein Schleppkleid trug. Aber trotz allem Ernst: Tanz und kindliche Spiele und Holunderwein gab es doch. Und als der Mond aufging, strömte das junge Volk in den Park. Marlene am Arm des Vetters Pahlen, ihres vergötterten Helden. Schweigend gingen sie durch verschlungene Wege, bis er plötzlich ins hohe Gras abschwenkte und die Willenlose an den dunklen Teich führte.

»Marlene, was ist das Leben für ein Unsinn, daß man das Schönste erst findet in dem Augenblick, wo man es verlieren muß! Wer hätte geglaubt, daß du Grasaffe solch ein Wunder Gottes würdest. Wenn ich nicht – – Sag mir, Marlene – – Ach, sag mir nichts. Küß mich!« Anfangs ist sie so erschrocken, daß sie die Lippen fest zusammenpreßt. Aber im rechten Augenblick gibt er sie frei, und nun hört sie an ihrem Ohr die warme, zärtliche Flüsterstimme, zu der die Nachtigallen die betörendste Begleitung schluchzen. Sie beginnt die Liebkosung seiner Lippen ganz leise zu erwidern. Da vernimmt sie Stimmen. Heimlich schleichen sie ins Haus zurück.

Die nächsten Tage vergingen wie im Traum. Kaum konnte sie ihr Geheimnis für sich behalten, es fieberte so in ihr, daß selbst ihre arglose Tante etwas zu ahnen begann. Immer ungeduldiger wartete sie auf einen Brief. Endlich fuhr sie nach Riga und besuchte ihre Tante. Ihr Sohn befand sich noch in Petersburg, es ging ihm gut, er machte viele Gesellschaften mit. Da stürzt ihr Herz wie eine im Flug getroffene Taube aus seinen Höhen und zuckt in Schmerz und Scham. Aber weil sie den schönen Offizier mehr bewundert als wirklich geliebt hat, ist vor allem ihre Eigenliebe verletzt. Sie verzehrt sich in brennendem Zorn. Doch aller Zorn hindert nicht, daß sie im Geist noch oftmals die alte Stelle aufsucht und die spitzen Flammen seiner Küsse fühlt, die sie bis in ihre Fußsohlen durchdringen. Und dann brennt sie in Zorn und Scham über sich selbst.

Unterdes ist Tante Milla trotz der wohltätigen Wirkung des Minzenschnapses aus ihrem Schlaf erwacht und sieht vor ihrer Kommode einen Einbrecher knien, der alles durcheinanderwühlt. Weil er nichts Rechtes findet, dreht er sich schließlich um und wirft ihr einen Blick zu, der das Schlimmste befürchten läßt. Da streckt Tantchen in ihrer Herzensangst aus der verkrampften Hand ihren Zeigefinger und weist auf den Nachttisch, wo unter dem Taschentuch ihre Geldbörse liegt. Der Einbrecher wiegt sie in der Hand und läßt sie in der Tasche verschwinden. Dann mustert er die Unglückliche wieder mit funkelnden Blicken, und sie denkt … was überhaupt nicht auszudenken ist. Aber er ist nicht so und scheint sogar etwas wie eine dankbare Regung zu spüren, denn mit einer Art Verbeugung drückt er unversehens seinen struppigen Bart auf Tantens Mund.

»O Gott!« entsetzt Wera sich.

»Sag mal ehrlich, Tante, hast du ihm nur aus Angst die Börse gezeigt oder weil du dachtest, da hat sich der arme Mann solche Mühe gegeben und soll nun –. – Ja, was bedeutet denn das?« Marlenes Stimme wird zum Flüstern. »Bleibt ganz ruhig sitzen. Durch die Blumen können sie euch nicht sehn. Es sollte mich nicht wundern, wenn das der ›Bonaparte‹ mit seiner Bande –. Um Gottes willen, rührt euch nicht!«

Durch den engen Gang, der zwischen dem Spritzenhaus und dem Kuhstall vom Hof in den Gemüsegarten führt, kommen im Gänsemarsch eine Anzahl Bauern angeschlichen. Außer einem, der ein Gewehr umgehängt hat, tragen sie Picken und Sensen auf der Schulter. Einige haben rote Köpfe und böse, betrunkene Augen, aber die meisten machen einen unsicheren Eindruck, und die Letten mit ihren runden, flachen Gesichtern glotzen geradezu verdutzt auf das Herrenhaus. Ein junger Bursche beginnt aus Leibeskräften die Gesindeglocke zu läuten, worauf die Tür vom Kuhstall sich öffnet, und die Magd, Trining, mit einem vollen Eimer hervorkommt.

Einer der Bauern stürzt sich gleich auf sie, um ihr den Eimer zu entreißen, Trining aber, die Arme wie Preßwürste und Hände wie Pumpenschwengel hat, nimmt ihn beim Kragen und befördert ihn auf den Misthaufen.

Während der Bursche weiter die Glocke schwingt und schreit, daß sich alle sofort versammeln sollen, oder es flöge der rote Hahn aufs Dach, holt einer der Letten einen Holzbecher aus seinem Hemd hervor und tut sich an der Milch gütlich.

Da Marlene in dem Bäuerlein mit dem Gewehr ihren ehemaligen Knecht erkannt hat, beschließt sie hinunterzugehn. Sie ist ein bißchen aufgeregt, aber Angst hat sie eigentlich nicht. Sie ist von Jugend auf zu sehr an die Unterwürfigkeit der Bauern gewöhnt.

Aber kaum ist sie unten angekommen, als ein halbes Dutzend Bauern sie umringen und mit ihren betrunkenen Stimmen auf sie einschreien. Marlene hält sich die Ohren zu.

»Hundert Rubel! Tausend Rubel! Neue Schuhe! Kleider! Die Jagdgewehre! Alles Geld, was im Hause ist! Und was ihr auf der Bank habt! Hunderttausend Rubel! Und Wodka!«

So schreien die Bauern auf lettisch und russisch durcheinander, bis Trining den Kreis zerteilt und mit derben Püffen die Umstehenden auseinanderjagt. Wie können sie sich unterstehen, mit ihrem schmierigen Atem dem goldenen Mütterchen so nahe zu kommen! Glauben sie denn, daß die hohe Herrin von ihrem ordinären Grunzen auch nur ein Wort versteht? Die ist so vornehm, daß sie nur Deutsch versteht.

Da heißt es, daß »Bonaparte« heran soll. Während es still wird, tritt das zerlumpte Bäuerlein mit dem umgehängten Gewehr in den Kreis, nimmt seine Mütze ab und lächelt etwas verlegen zu Marlene hinauf.

»Du bist der ›Bonaparte‹?« fragt sie enttäuscht.

»Die andern nennen mich so.«

»Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt. Ich dachte, als Hauptmann trüge er wenigstens eine Hahnenfeder an der Mütze.«

»Ich habe ein Gewehr. Darum haben sie mich zum Hauptmann gewählt. Baroneßchen wissen ja, daß ich schießen kann.«

»Im Gegenteil! Früher hast du geschworen, du hättest nie ein Gewehr in der Hand gehabt. Alter Wilddieb! Und nun bist du also Räuberhauptmann geworden?«

»Kein Räuberhauptmann, sondern der Anführer der aufständigen Bauernschaft Kurlands, Livlands und Estlands. Sie wissen doch, daß in der ganzen Welt Revolution herrscht. Endlich gibt es jetzt Gerechtigkeit.«

»Ach du meine Güte! Da seid ihr aber zu spät aufgestanden. Die Revolution ist längst vorbei. Ich fürchte, morgen werden die Preußen kommen und euch alle aufhängen.«

»Nicht die Preußen kommen, sondern die Franzosen. Und die sind für uns. Bei ihnen heißt's: Krieg den Palästen und Frieden den Hütten!«

»Du wirst Augen machen! Aber was wollt ihr bei uns?«

»Es hilft nichts, Baroneßchen. Ein bißchen werden Sie schon herausrücken müssen. So vielleicht hundert Rubelchen.«

»Schafskopf!« erwidert sie nur.

»Ja« sagt Akim achselzuckend, »wo was zu holen ist, da gibt's auch gleich eine Menge Gesinde mit Schießprügeln, und man zieht mit blutigen Köpfen ab. Da muß man sich eben anderswo umsehn. Ein paar Rubelchen werden Baroneßchen schon haben. Im Schreibtisch vom Herrn Baron liegt immer eine ganze Rolle.«

Da liegen zufällig nur ein paar Kopeken, denkt Marlene vergnügt. Sie macht Akim den Vorschlag, seinen Leuten zu essen und ein paar alte Kleider zu geben. Dann müssen sie aber auch versprechen, sich manierlich zu verhalten.

Doch Akim glaubt, auf ein paar Rubel bestehn zu müssen, Ohne die würden sie nicht abziehn.

»Nun, wir werden sehn. Sprich erst mal mit deinen Leuten. Im Zimmer werden wir dann weiter verhandeln.«

Einige Mutige haben versucht, in den Kuhstall einzudringen, dessen Tür aber von Trining mit der Mistgabel bewacht wird. So ziehn sie vor, sich mit den andern über die Milch herzumachen. Schon ist der Eimer beinah leergetrunken.

Trining läßt sich halb mit Verachtung, halb mit Wohlgefallen die bewundernden Blicke der Bauern gefallen. Was ist das für ein armseliges Pack, denkt sie. Da ist nicht einer drunter, den ich nicht über die Schulter auf den Misthaufen würfe. Da aber einige fortfahren, mit ihr schönzutun, erweicht sich ihr Herz, und es entspinnt sich eine zuerst etwas spitzige, aber dann ganz freundliche Unterhaltung.

Unterdes bittet Marlene ihre Tante, alte Kleidungsstücke hervorzusuchen. Dann geht sie mit Akim in ihres Bruders Zimmer und zeigt ihm nicht ohne Genugtuung den Inhalt der Kassette im Schreibtisch. 30 Kopeken – die kann er haben.

Akim ist ehrlich bestürzt. Damit wird er seine Leute nicht vom Hof bekommen. Marlene überlegt. Sie hat noch ein paar Silberrubel in ihrer Sparbüchse, Andenken aus der Kinderzeit. Sie geht in ihr Zimmer und kommt mit fünf Rubeln zurück. Damit muß er zufrieden sein.

Akim bedankt sich, sichtlich erleichtert. Er ist sehr zufrieden, er weiß ja, daß der gnädige Herr nicht zu den Reichen gehört.

Während Marlene sich noch erzählen läßt, warum die Bauern so durchs Land streunen, erhebt sich plötzlich draußen großes Geschrei. Als die beiden ans Fenster stürzen, sehen sie grade noch, wie die letzten Nachzügler in dem schmalen Gang, der zum Garten führt, verschwinden.

»Die Franzosen!« sagt Akim.

»Nein, das sind Preußen. Mach nur schnell, daß du fortkommst.«

Schon hat er sein Gewehr umgehängt und poltert die Treppe hinunter.

Als aber Marlene ein paar Minuten später auf den Hof kommt, sieht sie, daß einer der Soldaten den Unglücklichen am Kragen gepackt hat und seine Taschen durchsucht.

Die ganze Truppenmacht, vor der die aufständischen Bauern ausgerissen sind, besteht aus zwei Offizieren und ihren beiden Burschen. Der eine Offizier, ein preußischer Jäger, stellt sich Marlene als Leutnant von Heydebrandt und seinen Kameraden als Leutnant de Clavé vor. Sie hatten die Absicht, dem Herrn Baron ihre Aufwartung zu machen, und bedauern sehr, daß er, wie die Magd ihnen mitgeteilt, im Felde ist. Immerhin scheinen sie zur rechten Zeit gekommen zu sein, um den Hof von einem unerwünschten Besuch zu säubern. Der Kerl da gehört doch wohl zu der Bande?

Marlene kann es nicht leugnen.

»Und die fünf Rubel hat er hier geräubert?«

»Ich habe sie ihm gegeben.«

»Darf ich Sie bitten, sie wiederzunehmen, Baronesse?«

Marlene nimmt das Geld zurück und bittet die Herren, einen Augenblick einzutreten. Ihre Tante wird sich sehr freuen, sie in Abwesenheit ihres Vaters zu begrüßen.

Die Herren verbeugen sich höflich. Im Begriff, Marlene ins Haus zu folgen, sagt der Jägerleutnant über seine Schulter weg zu dem Soldaten, der den Gefangenen am Arm hält:

»Den Kerl stellst du am besten gleich an die Wand.«

Marlene fährt zusammen.

»Heißt das, daß er erschossen werden soll?«

»Mit Plünderern machen wir kurzen Prozeß.«

»Er hat nicht geplündert. Im Gegenteil!«

»Und woher hat er die fünf Rubel?«

»Die habe ich ihm geschenkt.«

»Doch wohl nicht freiwillig.«

Ganz blaß vor Schreck ist Marlene die drei Stufen hinuntergeeilt und stellt sich vor ihren Schützling.

»Das lasse ich nicht zu. Er ist noch der Anständigste von allen. Ich bitte Sie, Herr Leutnant, lassen Sie ihn frei.«

»Ich bedauere sehr, aber ich habe strengen Befehl –«

»Was Befehl!« mischt Clavé sich ein. »Der Wunsch einer schönen Dame ist hier Befehl. Geben Sie dem Kerl einen Tritt und lassen Sie ihn laufen.«

»Leider unmöglich. Aber wenn Baronesse sich für ihn einsetzen, werde ich ihn mit ins Lager nehmen.«

»Um ihn da erschießen zu lassen?«

»Jedenfalls nicht ohne vorheriges Verhör. Es geht alles mit rechten Dingen zu bei den Preußen.«

»Mein Gott! Welche Pedanterie!« spottet Clavé.

Marlene wirft Akim, der in der Hand des strammen Jägers noch magerer und kümmerlicher aussieht, aber tapfer die Zähne zusammenbeißt, einen ermutigenden Blick zu und bittet die Herren, ihr ins Haus zu folgen.

Tante Milla ist zwar ein großes Kind, aber wenn's darauf ankommt, hat sie die Allüren einer großen Dame. Übrigens ist sie der Überzeugung, daß jeder sich nur freuen kann, an ihrem Teetisch zu sitzen.

Dank ihrer Unbefangenheit kommt die Unterhaltung rasch in Gang. Marlene bekämpft nach Kräften ihre Verstimmung. Anfangs beschäftigt sie sich nur mit dem Leutnant Clavé, der sie mit Komplimenten überschüttet, sie durch seine Arroganz aber gleichzeitig ärgert. Er tut weiß Gott so, als wundere er sich, daß wir nicht Talglichter essen und Tran trinken, denkt sie. Wenn Leutnant von Heydebrandt eine Frage an sie richtet, sprüht ihr Blick gleich von sprödem Hochmut. Sie gibt sich alle Mühe, ihn roh und abscheulich zu finden, doch will es ihr nicht ganz gelingen. Die rauhe Strenge des Kriegers liegt nur wie eine oberflächliche Prägung auf seinen noch jünglinghaft unschuldigen Zügen.

Wera beschränkt sich daraus, Tee einzuschenken und Tante Millas Aniskuchen zu präsentieren. Da diese beim zweiten Herumreichen keinen rechten Absatz finden, erklärt Marlene, die Gäste hätten offenbar wie die baltischen Herren die Gewohnheit einer etwas solideren Vesper. Sie geht, das Nötige zu besorgen.

Aber vorher sieht sie sich auf dem Hof nach dem armen Akim um. Seine Wächter haben es sich auf einer Bank bequem gemacht und rauchen ihre Tabakspfeifen. Der Gefangene steht in Armensünderhaltung vor ihnen. Damit er nicht weglaufen kann, haben sie ihm einen Strick ums Bein gebunden.

»Euer Leutnant läßt euch sagen«, wendet Marlene sich an die beiden, die aufgesprungen sind und Honneurs machen, »ihr sollt in die Gesindestube kommen, damit Trining euch ein bißchen was vorsetzen kann. Euren Gefangenen braucht ihr nicht mitzunehmen. Den sperrt ihr am besten im Spritzenhaus ein.«

Sie bemüht sich, das rostige Schloß aufzuschließen, und einer der Jäger ist ihr dienstbeflissen dabei behilflich. Dann schubsen sie den Gefangenen, der mit hängendem Kopf und schlotternden Knien, als hieße es, den letzten Gang anzutreten, durch die Tür stolpert, in den halb dunklen Raum und fesseln ihn an den Wagen, auf dem sich ein ungeheures Wasserfaß befindet.

»Das ist recht. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Habt ihr ihn auch tüchtig festgebunden?« fragt sie und geht, um sich selbst zu überzeugen, hinein. »Da hast du ein Messer. Wo die Dachluke ist, weißt du ja«, flüstert sie auf russisch Akim zu. »Der kann euch nicht entwischen. Nun schließt noch gut zu. Den Schlüssel könnt ihr mir geben.«

In der Gesindestube empfiehlt sie die beiden der Fürsorge Trinings, die sie recht wohlwollend betrachtet. Dann macht sie feine Brötchen für ihre Gäste zurecht und stellt ein kleines Sortiment von Schnäpsen zusammen.

Nun sie ihren Gefangenen in Sicherheit weiß, kostet es sie keine Mühe mehr, auch gegen Heydebrandt liebenswürdig zu sein. Sie fühlt ein kleines Prickeln ängstlicher Neugier, wie die Sache wohl ablaufen wird.

Während sie sich bald mit ihm, bald mit Clavé unterhält, ertappt sie sich auf dem Gedanken, ob einer der beiden wohl wagen würde, sie zu küssen. Beim Leutnant de Clavé ist sie sofort davon überzeugt und fühlt es auch schon in ihrer Hand zucken. Seinem Kameraden ist sie eher geneigt, ein Tugendzeugnis auszustellen, obwohl –. Jetzt trifft sie sein weicher Blick, und sie denkt verwirrt: er wird's nicht versuchen, wenn aber doch – –?

Unter dem Vorwand, ihm die Ahnenbilder zu zeigen, gelingt es ihr, Heydebrandt in den »Saal« zu bugsieren. Kaum ist er mit ihr allein, als er sie mit bedrängter Stimme fragt:

»Hoffentlich sind Sie mir nicht böse. Aber ich konnte wirklich nicht anders. Es ist nun einmal strenger Befehl, Plünderer zu füsilieren.«

»Ich bin Ihnen gar nicht böse«, erwidert sie mit freundlicher Stimme. »Hoffentlich sind Sie's auch mir nicht.«

»Warum?«

»Weil ich Ihren Gefangenen habe entwischen lassen.«

Er fährt auf, als wollte er gleich zur Tür hinaus.

»Halt!« ruft sie leise. »Er ist ja schon über alle Berge.«

Mit ein paar Worten erzählt sie ihm den Hergang, und während sein Gesicht sich immer mehr verfinstert, fügt sie keck hinzu:

»Von Rechts wegen müßten Sie mir dankbar sein, denn es kann doch kein angenehmes Gefühl sein, ein armes, verführtes Bäuerlein erschießen zu lassen.«

»Hoffentlich haben Sie Ihre Tat nicht zu bereuen.«

Ihre Augen gießen sanftes Öl auf seine gekrauste Stirn.

»Nun sind Sie doch böse!«

Er schüttelt nur den Kopf. Täuschen ihn seine ausgehungerten Augen, denen seit Wochen nur Bauerndirnen mit braunen Mistbeinen begegnet sind, oder ist dieses Mädchen wirklich so schön? Er glaubt niemals etwas Entzückenderes gesehen zu haben als diese feingeschnittenen Züge mit der zarten Haut und den klaren Augen unter den sanft geschwungenen Brauen. Und ihr Mund, dieser weiche, unschuldige, kindliche und doch so kluge, stolze, und im Schweigen so beredte Mund – am liebsten würde er immer hier stehenbleiben und sein wechselndes Spiel beobachten, wie man den süßen Gesang eines Vogels belauscht.

Aber er reißt sich zusammen. Zum Teufel, er ist Offizier. Es ist Krieg. Er hat Pflichten.

So drängt er auf einmal zum Aufbruch. Sie wollen doch noch den Kirchturm besteigen, um einen Überblick über das Gelände zu gewinnen.

Aber sein Kamerad hat's nicht so eilig und macht schließlich den Vorschlag, die jungen Damen möchten sie zur Kirche begleiten. Tante Milla gibt die Erlaubnis.

Zuerst statten sie dem Pastorenhaus einen Besuch ab. Der alte Herr bedauert sehr, sie wegen seiner Gebrechlichkeit nicht führen zu können, aber er legt ihnen einen Besuch des Friedhofs warm ans Herz, auf dem so mancher berühmte Kriegsheld begraben liegt. Aus Höflichkeit machen sie einen kurzen Rundgang und bleiben ehrfürchtig gelangweilt vor diesem und jenem Grabstein stehn. Ihre Jugend ist allzu erfüllt von den Abenteuern, die ihrer warten, als daß sie für die vergangener Geschlechter viel übrig hätten.

Marlene und Heydebrandt betreten den Turm zuerst. Er will auf der Treppe vorangehn, aber sie meint übermütig, sie würde ihn bald überholen.

»Oho! Das käme noch drauf an.«

»Wollen wir wetten?«

»Top! Gib einer von euch uns das Zeichen.«

Clavé zählt bis drei. Schon ist Heydebrandt, gleich zwei Stufen auf einmal nehmend, vorangestürmt, während Marlene ihm auf der Innenseite der Wendeltreppe folgt.

»Die sind uns davongelaufen«, lacht Clavé und stemmt die Hände in die Hüften. »Ich glaube, wir tun ihnen gar keinen Gefallen, wenn wir ihnen allzu schnell folgen.«

Während seine bis dahin hochmütige Miene einen teilnahmsvollen Ausdruck annimmt, sagt er plötzlich, als wenn er einer längst gewonnenen Überzeugung Ausdruck gäbe:

»Sie müssen doch französisches Blut in den Adern haben, mein Fräulein.«

»Nicht daß ich wüßte«, erwidert Wera. »Es heißt, daß in unserer Familie Zigeunerblut spukt.« Ärgerlich, dies wenig ehrenvolle Geheimnis ausgeplaudert zu haben, fährt sie hastig fort: »Das heißt, in der Familie meiner Mutter kommt ein Fräulein d'Etraille vor, eine Hugenottin.«

»Der müssen Sie ähnlich sehn. Nie habe ich sonst Ihren Typ getroffen in diesem Land, wo es nur schwarzes Brot und blonde Frauen gibt. Sie können sich doch unmöglich hier wohl fühlen. Leiden Sie nicht an Heimweh?«

Ist das Heimweh, dies Gefühl der Einsamkeit und Zurücksetzung? fragt Wera sich.

»Wie glücklich bin ich, Ihnen hier zu begegnen«, fährt Clavé mit einer Stimme voll flüssigem Wohllaut fort. »Es ist, als wenn das schöne Frankreich mir aus der Ferne einen Gruß schickte. Ich fühlte mich in ein ödes Barbarenland verschlagen, und vor mir steht der Genius meiner Heimat.«

»Wollen Sie, bitte, vorangehn«, sagt Wera mit beklommener Stimme. Ihr Herz hämmert. Ihr Kopf ist in Aufruhr.

Warum hat er das gesagt? Ist er betrunken? Will er sie hänseln? Hat ihm die Eifersucht auf Marlene diese Komplimente eingegeben? flüstert die zweifelsüchtige Stimme ihr zu. Aber kann nicht ein Wörtchen Wahrheit in den Worten sein? Ist sie vielleicht nur hier die häßliche lahme Ente?

Als das Dunkel der Wände sie umfängt, glaubt sie einen Augenblick die Berührung seiner Hand in ihrem Nacken zu spüren. Etwas fleht in ihr, das zarte Geschenk seiner Worte nicht durch eine brutale Liebkosung zu zerstören, und doch erschauert sie im Vorgefühl seines Kusses. Aber die Täuschung vergeht. Langsam steigt sie weiter, ohne daß ihr schwerer Herzgang sich beruhigt.

Fritz von Heydebrandt glaubt schon einen unerreichbaren Vorsprung gewonnen zu haben, als er in der Dunkelheit ausrutscht. Er streckt die Hand aus, um das Innengeländer zu erreichen, aber dazu ist die Treppe zu breit. Unter sich hört er flinkes, leichtfüßiges Trappeln. Es ist ein lästiges Klimmen auf den löcherigen Stufen, ein ungewisses Hasten und Tasten in der Dunkelheit, das noch beklemmender wird durch das Gefühl, sich jeden Augenblick den Kopf einzurennen. Als es nach einer letzten Wendung hell wird, sieht er im Glockengestühl die lachende Marlene vor sich.

»Ich habe doch die schnelleren Beine.«

»Und das bessere Herz.«

»Sagen wir, das kühlere.«

»Nein!« widerspricht er. »Niemals ist das kühlere Herz auch das bessere. Und Sie haben ein edles feuriges Herz.«

Sie lacht ein bißchen. Mit welcher stürmischen Überzeugung er das sagt! Sie hält ihn jetzt gar nicht mehr für roh, fühlt sich im Gegenteil ihm schon ganz vertraut.

Voller Entzücken betrachtet er das Bild, das sich ihm durch das Turmfenster bietet. So weit das Auge reicht, breiten Wälder sich aus in mannigfachem Grün: dunkle Kiefernforste, bräunlich grüne Laubdächer mächtiger Eichen und Ahorne und helle Birken, durch deren dünne Blätterwimpel die weißen Äste schimmern. Über alle breitet sich das Abendsonnenlicht, als wollte das scheidende Gestirn sein goldenes Strahlengefieder in den warmen Schoß dieser Wälder versenken.

»Wie schön ist das! So friedlich und doch voll feurigem Glanz. Und« – sein gebräuntes Gesicht errötet jetzt auch wie von der Sonne beschienen – »der Seele dieser Landschaft gleicht Ihr Herz.«

»Glauben Sie? Dann ist es aber sehr wechselnd. Sie müßten unsere Wälder nur in Sturmnächten sehn oder an Nebeltagen oder im Winterfrost. Übrigens ist dahinten das Meer.«

»Wo?«

»Da und auch dort. Auch das gehört zur Seele unserer Landschaft.«

»Auch zum Herzen der Frauen?«

Sie sieht ihn an, und ihm fällt auf, wie die Farbe ihrer Augen wechselt. Eben waren sie noch von hellem Grau, nun zeigen sie ein weiches Dunkel. Ehe sie antwortet, schallt von der Treppe ein etwas überlautes Hallo.

»Olala«, sagt Leutnant de Clavé, kaum daß er einen Blick durch die Fensteröffnung getan hat. »Das ist aber kein Anblick, der ein Soldatenherz erfreuen kann. Lauter Wald! Wo kann man denn da eine größere Truppenmacht aufmarschieren lassen? Und die Artillerie hat überhaupt kein Schußfeld.«

»Sie tun so, als wären Sie nur gekommen, um möglichst viele Russen umzubringen«, spottet Marlene.

»Das sind wir auch. Wir wollen sie besiegen, um den russischen Damen Gelegenheit zu geben, uns zu besiegen.«

»Damit werden Sie den russischen Frauen aber keine Freude machen, denn die trauern doch um ihre Männer.«

»Sie werden nicht immer trauern.«

»Ehe sie sich trösten, sind Sie längst weitergezogen.«

»Wir werden bis zum Winter bleiben, um Riga zu belagern.«

»Und hoffentlich wehrt es sich recht tapfer, damit wir desto länger bleiben können«, fügt Heydebrandt hinzu.

»Ach, trau einer den Soldaten!«

So scherzen sie noch eine Weile, und beide Herren bemühen sich nur um Marlene. Wera fühlt sich ausgeschaltet. Was soll sie denken? Eben hat Leutnant de Clavé ihr beinah eine Liebeserklärung gemacht, jetzt scheint er sie überhaupt nicht mehr zu bemerken. Der Rausch ihrer geschmeichelten Eitelkeit vergällt sich in Haß. Doch richtet sich dieser weniger gegen Clavé als gegen Marlene.

Die beiden erklären sich mit dem Resultat ihres Erkundungsrittes sehr zufrieden und versprechen, bald wieder zu kommen. Die Damen sind doch gewissermaßen ihre besonderen Schützlinge geworden. Als sie aufbrechen, stellt es sich heraus, daß der Gefangene verschwunden ist. Clavé wundert sich, daß sein Kamerad so wenig Aufhebens davon macht. Er benutzt das Hinundhergerede, um sich eilig von Wera zu verabschieden, indem er ihre Hand gegen sein Herz drückt und haucht: »Ich liebe Sie.«

Während sie durch den mondbeschienenen Wald in ihr Biwak zurückreiten, stellt er Vergleiche an zwischen den baltischen Schnäpsen und den baltischen Frauen. Die Schnäpse können sich an Feinheit des Aromas mit den französischen nicht messen. Aber ein Mädchen wie Marlene –. Noch ist sie ungeweckt und scheint spröde wie Eis. Aber es ist erstaunlich, wie rasch diese zarten Blondinen hinschmelzen. Er hat in Deutschland eine ähnliche Liebste gehabt. Schade, schade, daß ihrer nicht zwei sind. Denn die andere –. »Olala, was gibt's?« Heydebrandts Pferd hat plötzlich einen mächtigen Satz gemacht.

»Ich glaube, wir tun gut daran, uns zu sputen«, sagt sein Reiter und schlägt einen Galopp an.

Die beiden kommen schon am nächsten Tag wieder und am übernächsten auch. Sie finden immer neue Vorwände. Tante Milla scherzt schon über die friedfertigen Preußen.

»Ja«, meint Heydebrandt, »was können wir machen, wenn die Russen nicht wollen?«

Wieder einmal macht er die Erfahrung, daß das Leben sich ganz anders anläßt, als er vermutet hat. Er hat von Kugelpfeifen, Patrouillenritten und Attacken geträumt, und nun verlebt er friedliche Stunden am Teetisch, treibt kindliche Spiele oder geht im Park spazieren.

Manchmal bringen die beiden auch Kameraden mit. Von den Nachbargütern kommen Freundinnen der Kusinen zu Besuch. Dann wird mit verteilten Rollen vorgelesen. Literatur ist ja die Leidenschaft dieser Generation. Und mancher junge Offizier erlebt jetzt das Wunder, daß er am Rande des öden Barbarenlandes das wahre Herz Deutschlands entdeckt. Wie sich an dem schmalen Sandstreifen zwischen Flut und Festland die zahlreichsten Muscheln ansammeln, so hat das kleine Gottesländchen alles, was der weite Schoß Deutschlands an Dichtung und Wissenschaft gebar, an sich gesogen und aus sich fortgebildet. Und diese hochgewachsenen und etwas hochmütig dreinschauenden Baltinnen – von welch edlem Schwung, von welch reicher Bildung sind sie und dabei von welch frischer Natürlichkeit!

Für alle andern lassen diese Freuden sich so heiter und sorglos an. Aber Heydebrandt denkt oft, im ärgsten Schlachtgetümmel könne es nicht wilder zugehen als in seinem Herzen. Oh, Marlene hatte sehr recht getan, als sie den Vergleich mit der goldenen Wipfelruhe des abendlichen Waldes ablehnte, Aber das Meer – das ist ihr Element! Wie das Meer ist die Farbe ihrer Augen, wie das Meer ihr Temperament.

Jetzt ist sie so still und heiter, hört so hingegeben zu, der Himmel spiegelt sich in ihrem Blick, sein Herz sänftigt sein unruhiges Flattern, er wagt, seine Gefühle zu enthüllen, glaubt der Erhörung nahe zu sein – und plötzlich springt ein kalter Wind auf, sie sagt etwas tief Verletzendes, er schweigt, kann einfach kein Wort herausbringen und hat das Vergnügen, bockig und langweilig genannt zu werden, bis er losbricht, und dann ist der schönste Streit im Gange. Er nennt sie kalt und herzlos, eine Kokette. Sie spottet, ob sie gleich Feuer und Flamme sein soll, ein glühender Ätna, weil ein Leutnant ihr den Hof macht? Der zieht dann weiter und tut morgen mit einer andern schön, und sie kann mit ihrem flammenden Herzen der Tante als Nachtlampe dienen.

O Gott, wie kann sie ihn nur mit andern vergleichen! Sie muß doch spüren, wie ernst es ihm ist, wie ihn die Liebe –

Ach tralala, meinte sie, er ist hergekommen, um die Russen totzuschießen, aber nicht, um Allotria zu treiben.

Allotria! Das ist zuviel. Er springt auf, aber sie hält ihn am Ärmel fest und schmollt:

»Sie verstehn aber auch gar keinen Spaß.«

Er beruhigt sich. Doch vorher muß er einen Schilfkolben ausreißen und den in kleine Stücke zerbrechen. An der Anzahl der Stücke kann Marlene die Größe seines Zornes ermessen.

Die Szene spielt sich in der Buchenlaube ab, die sie gar nicht besonders schätzt, wegen der Nähe des Schwanenteiches. Aber die Herren scheinen diesen Ort als Schauplatz ihrer Liebeswerbungen besonders zu bevorzugen.

»Wir wollen von was Vernünftigem sprechen«, schlägt sie vor.

»Was nennen Sie vernünftig?«

»Alles mögliche – tausend Dinge – nur nicht grade das, wovon Sie neulich – Sie wissen schon.«

Ihre Stimme schleppt sich mühsam hin, man merkt, wie peinlich es ihr ist, diesen Vorfall zu erwähnen. Er schwört, daß er nicht ahnt, worauf sie anspielt, obwohl er es nur allzu deutlich weiß.

»Um so besser!« sagt sie erleichtert.

»Meinen Sie – den – Kuß?«

»Pfui!«

»Ist denn ein Kuß etwas so Furchtbares?«

»Widerlich!«

Und sie fährt dabei wahrhaftig zusammen, als wenn eine Schlange sie gestochen hätte.

Ein Rätsel! Ein Rätsel! Man darf den Arm um sie schlingen, man darf sich an sie schmiegen und sie Marlene nennen, aber ein Kuß – da überschlägt sie sich. Und doch wäre grade ein Kuß die beste, einzige Medizin für sein verwundetes, verdurstetes, fieberndes Herz.

Er seufzt.

»Ich könnte ja auf alles verzichten – wenn ich nur wüßte –, er ergreift ihre Hand und zwingt sie, ihn anzusehn. »Marlene, nicht wahr, Sie lieben keinen andern?«

Die schwache Röte, die ihre Wangen überfliegt, wird zur rasenden Feuersbrunst in seiner Brust.

»Ich weiß nicht«, haucht sie. »Aber doch nicht so, wie Sie denken«, fügt sie bestürzt hinzu, denn er will schon wieder auf und davon. Er wagt nicht weiter zu fragen. Wenn sie den Namen nennte – den einen – bewußten –. Er knirscht auf beängstigende Weise mit den Zähnen, und wenn er so weiter macht, ist es um ihren Sonnenschirm geschehn. Sie holt ihm einen Schilfstengel, den er zerpflückt, während er murmelt: »Könnte ich doch so auch …!« Einer näheren Erklärung bedarf es nicht.

Ja, zwischen ihm und de Clavé besteht, in gesteigertem Maß, das gleiche Verhältnis wie zwischen den Preußen und Welschen überhaupt: sie nennen sich Kameraden und Bundesgenossen und möchten lieber heute als morgen miteinander raufen.

Wie kann Marlene an diesem faden Gecken nur Gefallen finden? Oh, sie findet ihn gar nicht fade, ein bißchen eingebildet wohl, aber sehr interessant und fabelhaft weltgewandt und stets von chevaleresker Höflichkeit. Nie würde er sich herausnehmen, etwas zu äußern oder zu tun, was er nicht in Gegenwart ihrer Tante wiederholen könnte.

Wirklich nicht? Heydebrandt ist dessen gar nicht so sicher. Er verzehrt sich vor Eifersucht, wenn er die beiden heimlich beobachtet. Und es ist noch schlimmer, wenn er sie zusammen weiß und sie nicht beobachten kann.

Ein Glück, daß die Russen diesem Zustand ein Ende machen, indem sie sich endlich den Preußen stellen. Bei Eckau kommt es zu einem heftigen Gefecht, in dem die Truppen des Generals Grawert einen schönen Sieg davontragen.

Im Nu hat die etwas flaue Stimmung bei den Preußen stürmischer Kampffreudigkeit Platz gemacht. Am liebsten möchten sie ohne Aufenthalt den Feind weiter verfolgen und Riga im Handstreich nehmen.

Aber der alte Grawert ist ein vorsichtiger Herr, seine Losung heißt: immer langsam voran wie die Raupe, die erst das Hinterteil nachzieht, ehe sie den Kopf von neuem vorstreckt.

Nach einigen Tagen herrscht schon wieder Ruhe, und auf Katherinenhof beginnt das alte Spiel.

Dort gibt es noch jemand anders, der an Eifersucht leidet, und wohl mit mehr Recht. Das Benehmen Clavés Wera gegenüber ist eine dauernde Kränkung. Er umwirbt sie, wenn er mit ihr allein ist, um sie in Marlenes Gegenwart zu übersehn. Als er wieder den Feurigen spielen will, erklärt sie ihm rund heraus, er möge seine Komplimente gefälligst für die aufsparen, für die sie eigentlich bestimmt seien.

Da lacht er sie aus.

»Mademoiselle, Sie beweisen nur, daß Sie die Pariser Sitten nicht kennen. Sonst wüßten Sie, was ein Paravent ist. Ich meine, ein zweibeiniger Paravent. Ich mache Ihrer Kusine nur den Hof, um den Verdacht von Ihnen abzulenken. Ihre Kusine überhäufe ich mit Komplimenten, Sie möchte ich mit Zärtlichkeiten überschütten. Ich denke Tag und Nacht an Ihre schwarzen Augen. Ich muß Sie allein sehn. Ich muß Sie in den Armen halten und Ihren reizenden Mund küssen. Kommen Sie heute nacht in den Park. Ich werde pünktlich um Mitternacht am Schwanenteich sein.«

»Sie sind wohl wahnsinnig!«

»Vollständig. Und Sie haben mich dazu gemacht.«

Was beim erstenmal einfach wie Wahnsinn klingt, wird bei der Wiederholung eine unerträgliche Beleidigung und beim drittenmal eine ernsthafte Verführung. Es vergehn kaum zwei Wochen, da gibt Wera nach.

 

Eines Morgens befindet sich der Rittmeister von Tungeln auf einem Erkundungsritt. Die Straße führt durch dichten Sumpfwald. Es herrscht der schönste Sonnenschein. Kühle würzige Luft umspielt die strenge Ausdünstung der Pferde. Die Birken stehen so licht und grün zwischen den dunklen Fichten. Schmetterlinge gaukeln. Buchfinken schmettern ihr Lied und erquicken sich an einem Käfer. Rotkehlchen zirpen süß und haschen im Flug eine Fliege. Jegliche Kreatur freut sich ihres Lebens, wenn sie nicht gerade gefressen wird.

Die Husaren schielen lüstern nach dem Wald, in dessen dunklem Dickicht sie Elche und Schwarzwild wittern. Sie sind alle passionierte Jäger und spitzen sich auf das abendliche Biwak.

Da meldet eine vorausgeschickte Patrouille, daß ein Trupp Kosaken in Anmarsch ist. Sofort erhebt sich der Rittmeister in seinen Steigbügeln und hält die Rechte hoch, um sie dann auf den Mund zu legen. Den heransprengenden Leutnants gibt er flüsternd den Befehl, sie sollen den ersten Zug ausschwärmen und sich im Wald verbergen lassen. Mit angelegten Karabinern, aber ohne einen Schuß zu tun, sollen sie den Feind erwarten und erst mit dem Feuer beginnen, wenn das Signal gegeben wird. Der andere Zug soll, einige hundert Schritt rückwärts versteckt, den flüchtenden Feind mit einer Salve empfangen, so daß man die Eingeschlossenen zu Gefangenen machen kann.

Die Pferde setzen über die mit brakigem Wasser gefüllten Gräben und verschwinden hinter den langen undurchsichtigen Schleppen der Fichten. Nach einiger Zeit hören die Aufgeregten in ihrem grünen Dunkel Gesang: die helle, langgezogene Stimme des Vorsängers schwebt sehnsüchtig auf und nieder und wird sanft aufgefangen vom dunkel klagenden Chor.

Man denkt an die Liebste, die Eltern zu Hause … das Herz kann einem weich werden dabei.

Höchste Zeit, daß die Schar sichtbar wird. Da schwenken die langen Lanzen wie ein windbewegter Schilfwald heran, unruhige Pferdeleiber drängen, Wiehern wird laut. Die Tiere scheinen die Gefahr eher zu wittern als die Menschen.

Jetzt gellt die Trompete. Die Salve kracht. Ein furchtbares Durcheinander entsteht. Pferde bäumen sich. Reiter stürzen. Aber anstatt daß die Kosaken nach vorne flüchten, reißen sie ihre Gäule herum. Schon stieben die letzten in einer Staubwolke davon. Doch genügt die kurze Verwirrung immerhin, daß die Husaren, die nicht mehr zu halten sind, aus ihrem Versteck hervorbrechen. Allen voran der Rittmeister. Bald befindet er sich im dichtesten Getümmel. Die Affäre ist nicht ganz so gegangen, wie er sie sich gedacht hat. Aber das schadet nichts. Nur immer ruhig Blut und die Pfeife fest zwischen den Zähnen! Die Hauptsache ist, daß der Tabak nicht ausgeht. Er verlegt sich auf keinen Bestimmten. Wen Gott ihm unter die Klinge bringt, dem gibt er es, nicht zu fest und nicht zu sanft, aber immer möglichst mit dem Mittelpunkt des Schwunges.

Grade hat er durch eine polnische Quart einem Kosaken den Arm zerfetzt, als ein andrer die Dreistigkeit hat, ihm den Kolpak zu durchhauen. Wütend wendet er sich diesem Angreifer zu, der jedoch Reißaus nimmt. Zwischen Flüchtenden und Verfolgern beginnt ein wildes Jagen.

Als der Rittmeister sich umsieht, bemerkt er, daß seine Leute ihm in lang auseinander gezogenem Schwarm folgen. Aber er kann sein Pferd nicht mehr zügeln. Nun jagt er eine dunkle Rüsterallee hinunter, ein quer gestellter Heuwagen steht mit seiner vorgestreckten Deichsel im Wege. Das Pferd setzt darüber hin. Die Kosaken haben sich auf den Feldern verstreut, einige sind hinter den Büschen eines Gutshofs, andere hinter Schuppen verschwunden. Während der Rittmeister langsamer reitet, hört er aus dem Herrenhaus laute Stimmen und gewahrt am offnen Fenster des oberen Stocks einen russischen Offizier. Er springt vom Pferd, ruft dem nächsten seiner Leute zu, die Haustür zu bewachen und läuft die Treppe hinauf. Ein Diener, den er anschreit, wo sein Herr sei, weist ihn auf eine Tür.

Da sie geschlossen ist, tritt er sie ein, will mit erhobener Pistole vordringen, als ihm ein Schuß entgegenkracht. Eine Frau wirft sich mit schützenden Händen vor den Offizier. Der Rittmeister läßt die Pistole fallen. Als der Mann seinen Säbel zieht, reißt er ebenfalls seinen Säbel aus der Scheide, fühlt aber schon nach dem ersten Hieb, wie sein Arm lahmt. Ein roter Blitz verzuckt im grellen Aufschrei der Frauenstimme, ein dunkler Blutstrom nimmt dem Rittmeister jede Sicht. Er wankt und fällt. Als er am Boden liegt, sagt der russische Offizier:

»Der hat sein Teil. Leb wohl, Maschinka, und sei nicht mehr böse!«

Dann springt er aus dem offnen Fenster. Da die Husaren auf den Schuß ins Haus gelaufen sind, kann er sich aufs erste beste Pferd schwingen und sprengt davon.

Die Gräfin Steenbock kniet neben dem Verwundeten und reißt Fetzen von ihrem Musselinkleid, um sie in die Wunden zu stopfen. Als die Husaren dann mit zwei Mägden kommen, schickt sie die eine nach der alten Liebing, die im Ruf steht, von der Heilkunst mehr zu verstehen als die Ärzte in Mitau.

Die Husaren meinen, man solle den Bewußtlosen auf das im Zimmer stehende Bett legen. Aber nun fangen die Wunden erst recht zu bluten an. Das quillt und quillt mit unheimlicher Kraft, die Gräfin kann noch so viele Tücher darauf pressen, nach einigen Minuten färben sich ihre Hände doch wieder rot.

Endlich kommt die alte Liebing angehumpelt. Sie mag ihr Leben lang ein kleines Weiblein gewesen sein, aber jetzt wirkt die von der Gicht Gekrümmte wie eine Zwergin. Während sie der Gräfin mit zorniger Stimme vorklagt, daß die Soldaten ihre Bienenstöcke geplündert hätten, wirft sie auf den Verwundeten nur einen gelegentlichen Blick. Endlich reißt sie die Tücher mit verächtlicher Miene ab, murmelt in dem gleichen zornigen Ton unverständliches Zeug und beginnt kräftig in die Wunden zu spucken. Darauf wird das Bluten weniger und läßt schließlich ganz nach. Dann holt sie aus ihrem Bastbeutel allerhand Kräuter und Spinnweben, knetet sie mit Spucke zu einem Brei und stopft ihn in die Wunden.

Nun ist sie ziemlich erschöpft und bittet zur Stillung ihres Durstes um etwas Kwaß. Auch dem Rittmeister flößt sie davon ein.

Nachdem die Alte fortgegangen ist, um neue Kräuter zu holen, kommt der Chirurgus herein, ein vollblütiger Herr, der sich die vom scharfen Ritt tropfnasse Stirn mit seinem schmutzigen Taschentuch abwischt und vor Atemlosigkeit kaum etwas herausbringen kann.

Die Gräfin hält es für das beste, von der Tätigkeit der Dorfhexe nichts zu verraten, sie bittet nur, die Wunden nicht weiter zu berühren, da das Bluten soeben aufgehört habe.

»Ich muß nur mit Permission Eurer Erlaucht den Herrn Rittmeister lege artis untersuchen.«

Dann zieht er einige furchterregende spitzige Instrumente aus seiner Ledertasche und wischt sie sorgfältig in seinem Schnupftuch ab. Auch er murmelt halblaute Worte vor sich hin, die aber mehr der Ausdruck seiner Verwunderung sind. Wie man ihm erzählt hat, ist der Rittmeister hier in diesem Zimmer verwundet worden, anderseits aber ist er kopfüber vom Pferde gestürzt, anders läßt sich der Schmutz in der Wunde nicht erklären.

Der Chirurgus beginnt jetzt mit dem spitzen Instrument in der Wunde herumzustochern, wogegen der Bewußtlose mit dumpfem Stöhnen revoltiert.

»Eine Minute!« beruhigt der Arzt ihn und vielleicht noch mehr die Gräfin, deren entsetztes Gesicht er gesehn hat. »Gleich werden wir der Sache auf den Grund kommen.«

Die Gräfin steht mit verkrampften Händen am Fenster. Sie kann das Stöhnen nicht mehr mit anhören. Es klingt, als wenn ein Mensch gefoltert wird.

»Hören Sie doch auf!« sagt sie zornig.

»Gleich! Aber erst muß die Kugel extrahiert werden.«

»Die Kugel ist ja schon heraus. Da liegt sie ja.«

»Sie ist schon heraus? Ja, sapperlot, da hab' ich mich ja ganz umsonst bemüht.«

Nachdem der Chirurgus die Wunden genäht und bepflastert und den Arm geschient hat, empfiehlt er sich. Die Frage der Gräfin nach dem Zustand des Patienten beantwortet er dahin, daß es noch verfrüht sei, eine Prognose zu stellen. Ein Glück wenigstens, daß die Kugel heraus ist! Offenbar ist sie durch die Erschütterung des Sturzes herausgefallen und hat sich in der Uniform verfangen.

Nach dem Chirurgus kommt, gänzlich verstört, Heinrich herein, aber der Gräfin gegenüber reißt er sich zusammen, macht seine Honneurs und meldet:

»Husar Wollermann. Der Diener vom Herrn Rittmeister.«

»Der arme Herr Rittmeister! Seien Sie nur recht leise.«

»Zu Befehl, Frau Gräfin«, erwidert Heinrich mit einer Stimme, die durch zwei Zimmer schallt. »Das ist ja schrecklich!« sagt er mit einem Blick auf das bleiche Stück Gesicht, das der Verband frei läßt.« Wie das nun bloß wieder passiert ist! Der Herr Rittmeister nimmt sich aber auch nicht ein bißchen in acht.«

Dann beginnt er als ordentlicher Bursche das Gepäck auszupacken. Gleich zuerst die Kuchenreuter.

»Was wollen Sie denn damit?«

»Die hat der Herr Rittmeister immer auf seinem Nachttisch liegen.«

»Schießt er denn auch damit?«

»Schießen?« Heinrich denkt nach. »Nur im Notfall.«

Unter die Kuchenreuter kommt die Bibel zu liegen.

»Liest er denn manchmal in der Bibel?«

Heinrich denkt wieder nach. Das sind alles so kitzliche Fragen.

»Wir schlafen immer gleich ein, wenn wir uns ins Bett legen«, sagt er ausweichend. »Und überhaupt vom Lesen halten wir nicht viel.«

Neben Bibel und Pistole steht das kleine Bild auf Elfenbein.

»Ist das die Frau vom Herrn Rittmeister?«

»Das ist seine Mutter. Eine Frau haben wir nicht. Wir machen uns nichts aus den Weibern. Meine Braut ist meine Schwadron, sagt der Herr Rittmeister.«

Heinrich ist gegangen, um sich von der Mamsell ein Nachtquartier geben zu lassen, auch die Alte, die zurückgekommen war, ist schellend davongehumpelt, da die Gräfin ihr nicht erlaubt hat, die vom Chirurgus angelegten Verbände abzureißen.

Die Gräfin sitzt allein am Bett. Draußen leuchtet rein und klar der Abendhimmel, als wäre alles Licht der Erde in seine Tiefen geströmt. Aber im Zimmer beginnt es schon zu schummern. Eine Uhr schlägt. Die Wartende sieht auf ihr zerrissenes und durchblutetes Kleid. Sie müßte sich umkleiden. Die Mama wird schon ungeduldig am Abendtisch sitzen.

Aber sie wendet nicht den Blick von dem Gesicht, das jetzt in der Dämmerung kaum von dem Verband zu unterscheiden ist. Während ihre Hand ganz sanft die unverbundene Schläfe streichelt, liegt in ihren Augen und auf ihrem blassen Gesicht ein sehnsüchtiger Ausdruck von solcher Stärke und Tiefe, daß er ihren Zügen die Leuchtkraft des überklaren Abendhimmels gibt.

Nicht sterben! denkt sie. Er soll nicht sterben, dieser fremde Offizier, der sich für sie geopfert hat. Ihre Hilferufe – denkt sie – haben ihn heraufgeholt, und nun muß er seine ritterliche Tat so furchtbar büßen.

Rittmeister von Tungeln – wie ist dieser unbekannte Name ihr auf einmal so bedeutungsvoll geworden! Wenn er stirbt, ist sie daran schuld. Denn um ihr Leben zu schonen, hat er die Pistole beiseite geworfen. Sie nimmt sich vor, heute nacht und morgen und übermorgen, bis zum Tag seiner Genesung, nur das eine zu denken: dieser Herr von Tungeln soll nicht sterben! Wenn Gott das zuließe, daß ihr Liederjan von Mann frisch und gesund davonkäme und dieser brave Mann stürbe – aber das kann Gott nicht zulassen.

Dann fällt ihr ein, daß sie die feuchten Tücher wechseln muß. Der Chirurgus hat kühles Wasser verordnet, die alte Liebing ihre Kräuter. Die Gräfin nimmt beides. Während sie die Tücher abtropfen läßt, klopft es, und Stänzchen, die lettische Jungfer, kommt knixend herein:

»Hohe gnädige große Frau, Dimantink liebstes, die Exzellenzmama lassen sagen, daß sie schon eine halbe Stunde wartet.«

»Sag der Exzellenz, daß ich in fünf Minuten komme. Dann hilf mir beim Umziehn. Aber erst hol' den Diener – nein, lieber die alte Liebing.«

Bei dem Diener fällt ihr ein, daß er gesagt hat, sein Herr mache sich nichts aus Weibern. Das soll wohl bedeuten, daß der Rittmeister sich nicht auf leichtsinnige Abenteuer einläßt.

Und dann wäre er ja grade das Gegenteil von ihrem Mann. Dem ist es gleich, ob Deutsche, Lettin oder Russin, ob Herrschaft oder Gesinde – es gibt keinen Weiberrock, dem er nicht nachliefe. Wäre er doch in Petersburg bei seiner Prinzessin geblieben! Er bildet sich ein, daß sie eifersüchtig sein und sich freuen müsse, als er ihr verkündet, es sei aus mit der Liebschaft. Aber er irrt sich! Er soll lieben und glücklich oder unglücklich machen, wen er will. Ihr flößt sein Anblick nur Grauen ein, wie ein heimtückischer Hund, den man streichelt und der einen immer wieder beißt.

Unterdes hat die Exzellenzmama ihre Zeitung bis zur letzten Annonce abgegrast. Die Exzellenz pflegt nach dem Tee den »Rigaschen Zuschauer« zu lesen. Da aber der sein Erscheinen eingestellt hat und die Baronin unmöglich von ihrer Gewohnheit lassen kann, so hat der Diener Paul den Vorschlag gemacht, einen alten Jahrgang vom Boden zu holen. Die Exzellenz hat die Zeit zurückgedreht und das Jahr 1802 gewählt. Das ist wenigstens ein erträglicher Jahrgang. Sie erbaut sich also täglich wieder neu an dem ersten Auftreten und den Reden des göttergleichen Alexanders.

Aber die Gegenwart hat böse in ihre Begeisterung hineingespukt mit dem unverhofften Besuch ihres Schwiegersohns, dem Eindringen des preußischen Rittmeisters, der Schießerei … Und jetzt läßt ihre Tochter sie auch noch auf das Abendessen warten. Der Magen der Exzellenz ist eine sehr empfindliche Uhr. Er geht vielleicht manchmal vor, aber niemals nach. Die Jungfer, die sie hinaufgeschickt hat, meldet, die Gräfin säße noch bei dem verwundeten Rittmeister.

Woher Maschinka wohl die plebejische Vorliebe für kranke Kreaturen hat? Bald hat sie es mit Pferden, bald mit Kühen, bald mit einem aus dem Nest gefallenen Vogel zu tun. Eine gräßliche Angewohnheit!

Endlich kommt Marie, entschuldigt sich etwas hastig, und die beiden Damen begeben sich ins Eßzimmer, wohin auch gleich darauf der Kandidat, Herr Petry, stürzt. Man mag sich noch so sehr verspäten, Herr Petry läßt immer auf sich warten, und meist entschuldigt er sich damit, daß er sich »verlesen« habe.

Sonst ist er ein netter und brauchbarer Mann, musikalisch, ein guter Kartenspieler, der geduldigste Zuhörer, ein Virtuose in der Kunst, sein Gähnen zu verbergen, und ein wandelndes Konversationslexikon. Seine freie Zeit verbringt er mit einer Übersetzung von Kants »Kritik der reinen Vernunft« ins Russische. An langen Winterabenden darf er den Damen daraus vorlesen. Sie sind sehr angetan davon, nur unterbricht die Exzellenzmama ihn regelmäßig nach einer halben Stunde: » Assez, mein lieber Petry. Das muß sich erst mal wieder bei mir setzen. So viel Philosophie vertrage ich nicht auf einmal.«

Während die drei um den runden Eßtisch Platz nehmen, schiebt der Diener Paul den Damen den Stuhl unter. Er trägt Eskarpins und die beiden Lettenmädchen blütenweiße Häubchen. Die Tochter macht sich nichts aus Feierlichkeiten, aber die Exzellenzmama hat die Gewohnheit, » de prendre le diner«, auch wenn sie nur Knappkäse und rote Grütze ißt.

Die Ereignisse des Nachmittags haben sie ganz aus der Ordnung gebracht, und eigentlich ist sie voller Zorn auf alle Beteiligten. Aber der Anblick der duftenden Piroggen besänftigt ihr Gemüt, und ihrer langjährigen Erziehung am Hof folgend, die Dinge immer nach der liebenswürdigen Seite hin zu drehn, äußert sie zuerst ihre Freude über den unvermuteten Besuch ihres Schwiegersohnes.

»Das muß man Alex lassen, im Punkt der Galanterie könnte sich jeder Herr ein Beispiel an ihm nehmen.«

Marie antwortet nicht. Sie schiebt, wie sie als Kind zu tun pflegte, wenn ihr etwas nicht schmeckte, die Piroggenstücke auf dem Teller herum, ohne recht zu essen.

»Schließlich war sein Ritt doch ein recht gefährliches Stück, wie sich ja auch gezeigt hat. Das ist doch ein Beweis, daß er noch an dir hängt.«

»Er brauchte Geld«, erwiderte Marie trocken.

Die Mama findet diese Antwort durchaus mauvais ton.

Es ist ein Glück, daß Herr Petry immer so gut bei Appetit ist. So verschwinden die Piroggen bald, und die kalte Platte kommt auf den Tisch.

Im allgemeinen sitzt die Exzellenzmama nie lange bei Tisch, aber heute scheint sie gar kein Ende finden zu können. Schließlich sagt ihre Tochter:

»Entschuldigen Sie, Mama, wenn ich schon aufstehe, aber ich bin da oben nötig.«

»Du wirst doch diesen fremden Offizier nicht die Nacht über im Bett deines Mannes lassen?«

»Soll ich ihn in mein Bett legen?«

Die Exzellenz wirft einen Blick auf Herrn Petry, der sein Lächeln grade noch rechtzeitig verschwinden läßt.

»Ich denke, es gibt doch Fremdenzimmer genug.«

»Die sind von der Einquartierung total verdreckt.«

»Das wird ihn kaum stören. Die Preußen sind nicht so verwöhnt.«

»Es handelt sich um einen Schwerverwundeten. Und schließlich bin ich an seiner Verwundung nicht ohne Schuld.«

»Jetzt möchte ich nur wissen, wieso du schuld haben sollst. Was braucht dieser Mensch wie ein Wahnsinniger ins Haus zu stürzen, nur weil er einen fremden Offizier darin gesehn hat? Alexander war ganz im Recht, wenn er sich verteidigt hat.«

»Alexander hat zuerst geschossen. Der fremde Offizier aber hat die Pistole beiseitegeworfen, weil ich Alexander deckte.«

»Jedenfalls finde ich sein Eindringen gänzlich ungehörig.«

»Er kam, weil er mich um Hilfe rufen hörte.«

»Paul sagte mir, er hätte ihn angeschrien, wo der russische Offizier steckte? Das wird wohl auch der wahre Grund gewesen sein. Galanterie ist ein Artikel, den man bei den Preußen schwerlich findet.«

Der Chirurgus und die alte Liebing tun, was in ihren Kräften steht, und es spricht gewiß für die gesunde Natur Tungelns, daß er ihren gemeinsamen Anstrengungen widersteht und allmählich genest.

Eines Nachts öffnet er noch halb träumend die Augen und sieht vor sich im Licht der schwankenden Kerze eine helle Erscheinung, die mit der Kraft ihrer Fittiche zu schweben scheint. Er selbst fühlt eine wunderbar leichte und frische Kühle ihn umstreichen, als wenn auch er sich bewege.

Schon hinüber zu sein und aus dem Sündenpfuhl unter den Flügeln dieses Engels in lichte Höhen zu schweben, ist ein wunderschöner, aber leider auch ziemlich unwahrscheinlicher Gedanke. So leicht geht das gewiß nicht ab. Da gibt's erst allerhand Verhöre zu bestehn. Außerdem hat der Engel keine Flügel und trägt auch nicht das Haar lang herunterhängend, sondern unter einem Nachthäubchen zusammengewickelt.

»Wo bin ich?« fragt er, bekommt aber keine Antwort und hört auch seine Stimme nicht.

Wo kann er nur sein? In einem Lazarett? Und ist das eine Barmherzige Schwester?

Unruhig durchsucht er die Dunkelheit und bemerkt dabei, daß sein linkes Auge dem rechten nicht folgt, sondern starr und unbeweglich bleibt. Gleichzeitig aber gewahrt er die eine Hand der Frau, an deren Fingern sich mit Juwelen geschmückte Ringe befinden.

Auf einen Misthaufen scheine ich jedenfalls nicht gefallen zu sein, stellt er mit Befriedigung fest.

Glücklich und gelöst vertieft er sich ganz in das Gesicht, das ihm die nicht mehr so unruhig zuckende Kerze jetzt deutlicher zeigt. Es hat die schönen frischen Farben der Blondinen, dazu sind die rechte Wange und das Ohr noch vom Schlafen gerötet, während die andere Seite von zarter Blässe ist. Der volle, weiche Mund und die milden Augen erinnern ihn an seine Mutter. Und er empfindet auch ganz das feierliche und etwas beklommene Glücksgefühl, das er als Junge gehabt hat, wenn seine Mutter sich in ihrem Nachtgewand an sein Bett setzte.

»Es schmerzt etwas, aber gleich ist es wieder gut«, sagt die warme Stimme.

Es schmerzt gar nicht.

Er nimmt alle Kraft zusammen und fragt, so laut er kann, erstaunt aber selbst, wie schwach sein Flüstern klingt: »Wo bin ich?«

»Pscht!« macht die Stimme. »Sie müssen schlafen. Es ist ja noch Nacht.«

Pscht … es klingt ihm wie ein seit Kindertagen nicht mehr gehörter Laut. Gehorsam macht er die Augen zu und schläft wieder ein.

Dann liegt er eines Morgens ganz wach. Kühe brüllen, ein Pferd wiehert, Gänse und Enten schnattern. Alle diese Stimmen dringen, gewürzt mit warmem Sonnenschein, an sein Bett.

Seine Gedanken beschäftigen sich sehnsüchtig mit der lichten Frau, aber jetzt sind sie von irdischen Gefühlen begleitet. Er hat Hunger und Durst und stellt sich die Kommende vor, wie sie ein großes Teebrett mit reichlichem Frühstücksgeschirr auf den Händen trägt.

Auch hört er hinter sich schon behutsame Schritte, er wetzt sozusagen seine Zähne und übt sich im Schlucken, erlebt dann aber eine gräßliche Enttäuschung, da die alte Liebing vor ihm steht.

Wenn er fluchen könnte, würde er es tun. Aber wenigstens macht er das freie Auge zu und verschließt eigensinnig seinen Mund.

So sieht ihn einige Zeit später die Gräfin und muß lächeln über ihr stachliges Wickelkind. Einem Menschen das Leben zu retten, ist doch noch etwas anderes, als ein krankes Kälbchen durchzubringen. Sie fragt ihn ganz leise, ob er schon wach sei? Zuerst blinzelt er mißtrauisch mit dem Auge, lächelt aber, sobald er die Gräfin erkennt. Sie hält ihm den Schnabel einer Kanne zwischen die Lippen, und er beginnt zu saugen und zu schlucken. Als die Kanne leer ist und er still zufrieden daliegt, fragt er:

»Sind Sie die Oberin vom Lazarett?«

»Sie sind in keinem Lazarett. Sie sind auf meinem Gut. Wissen Sie nicht, wie Sie dahinkamen? Zufällig ritten Sie bei der Verfolgung von fliehenden Kosaken auf den Gutshof. Da hörten Sie meine Hilferufe. Sie liefen sofort die Treppe hinauf, und weil das Zimmer verschlossen war, brachen Sie die Tür auf. Da schoß –«

Zum Zeichen, daß er sich erinnert, drückt er ihre Hand.

»Da war ein russischer Offizier, den habe ich niedergeschossen.«

»Nein, er schoß auf Sie. Hier in die Schulter hat er Sie getroffen. Sie warfen Ihre Pistole weg, weil ich mich vor ihn stellte. Sie zogen den Säbel –«

»Und habe den Russen niedergeschlagen.«

»Nein, er blieb unverwundet. Er ist entkommen.«

»Der Schuft!«

Der Rittmeister runzelt betrübt die Stirn. Die Gräfin errötet, als sie nach einigem Zögern sagt:

»Der russische Offizier war mein Mann.«

Dann erhebt sie sich gleich.

Nach einer Weile kommt Heinrich herein, mit Besen und Eimer. Eigentlich gehört die Reinigung des Zimmers zu den Obliegenheiten der Mädchen, aber Heinrich will sich diese Sorge nicht nehmen lassen, weil der Herr Rittmeister nicht gern soviel Weiblichkeit um sich steht. Tungeln hat nicht geglaubt, daß der Anblick des alten schafsdämlichen Gesichts ihn so freuen würde.

Heinrich muß berichten, daß sie aus dem Gut Ohlenhos sind, das dem Grafen Steenbock gehört. Aber der ist nicht da, und das Regiment führt die Mutter der jungen Gräfin, die Exzellenzmama. Der Herr Graf ist bei den Russen, jetzt in Riga, war aber bis vor kurzem in Petersburg, wo er, mit Verlaub zu sagen, eine Liebschaft mit einer Prinzessin hatte. »Dummes Gewäsch!« brummt der Rittmeister.

Sonst sind sie hier aber sehr schön untergebracht. Die Frau Gräfin hat erlaubt, daß Heinrich das Essen hier fassen darf, damit er dem Herrn Rittmeister immer zur Hand ist. Er hat eine Stube ganz in der Nähe. Die Exzellenzmama hat der Mamsell befohlen, sie soll aufpassen, daß die Mariellen nachts ihre Türen zuschließen, damit Heinrich sich nicht einschleicht. Da hat er aber gesagt, er wollte lieber um einen Schlüssel für seine Stube bitten, damit die Mariellen ihn nicht im Schlafe stören. Er denkt über die Weiberleute genau wie der Herr Rittmeister.

Dieser erkundigt sich nach seiner Schwadron, und auch darüber kann Heinrich Auskunft geben. Größere Unternehmungen hat's nicht mehr gegeben. Die Leute kampieren noch immer im Freien, aber nächstens sollen sie Erdhütten bekommen. Nur mit der Verpflegung ist es ganz schlecht bestellt. Die Franzosen geben nichts heraus. Hafer, Heu und Branntwein: am Allernötigsten fehlt's. Der Herr Wachtmeister kann dem Herrn Rittmeister Genaueres melden.

Eines Tages werden die Verbände gelöst, und Tungeln kann die Welt wieder aus zwei Augen betrachten. Er bemerkt nicht, wie gespannt ihn die anderen bei dieser Prozedur beobachten, da er keine Ahnung hat, daß sein linkes Auge in Gefahr war. Aber es ist glücklicherweise unversehrt geblieben, und aus seiner langen Dunkelhaft entlassen, wandert es harmlos nach rechts und links, als wäre nie etwas geschehn.

Etwas später kommt auch der Barbier, und Messer und Schere machen aus dem stachelhaarigen Wickelkind ein ganz annehmbares Menschengesicht.

Auch die Stirnwunde ist verheilt. Nur eine tiefe Narbe ist geblieben, und die möchte die Gräfin gar nicht missen. Sie findet, daß sie sein Gesicht gradezu verschönt.

Um die Ereignisse dieses Tages zu krönen, bekommt er schließlich noch den Besuch der Exzellenzmama. Auf dem zierlichen Stühlchen, das Heinrich für sie heranholt, vermutlich, weil es vergoldet ist, wirkt ihre Figur noch pompöser.

Sie fragt ihren Gast gleich, ob er mit den oldenburgischen von Tungeln verwandt sei. Er ist es, stammt aber aus der ostpreußischen Linie.

Dort ist er auch ansässig. Die Exzellenz hat die Frage gestellt, weil sie mit einem Herrn von Tungeln befreundet war, der in Petersburg am Hof der verwitweten Zarin Kammerherr war. Das Wort Petersburg gibt ihr Gelegenheit, dem Rittmeister mitzuteilen, daß sie in doppelter Weise Exzellenz ist: als ehemalige Palastdame der verwitweten Zarin hat sie ein persönliches Anrecht auf diesen Titel und führt ihn außerdem als Witwe ihres verstorbenen Gatten, eines Generals.

Dann erkundigt sie sich nach seinem Auge. Ihre Tochter hat behauptet, er würde es wohl verlieren.

»Wirklich?« fragt der Rittmeister erschrocken.

»Nun, es ist ja noch da, wenn auch die Sehkraft wohl ziemlich geschwächt ist.«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Ganz gesund? Dann ist ja alles gut. Dann werden wir wohl nicht mehr lange das Vergnügen haben, Sie bei uns zu sehn. Die preußischen Herren sind ja von einer so fabelhaften Ungeduld. Das heißt, mit Ausnahme Ihres braven Friedrich Wilhelm. Aber von dem erzähle ich Ihnen das nächste Mal.«

Die Tatsache, daß ihr Gast nicht nur irgend so ein Rittmeister, sondern in Ostpreußen begütert und ein Verwandter ihres Petersburger Freundes ist, hat ihn offenbar in ihren Augen gehoben, und sie würdigt ihn ihres täglichen Besuchs.

Der Rittmeister fühlt sich in diesen Tagen gradezu in seine Pagenzeit zurückversetzt, so eifrig wird er mit Hofklatsch traktiert. Was ihn dabei aber etwas verdrießt, ist die Tatsache, daß, wenn die Exzellenz bei der Erwähnung ihrer russischen Herrschaften gradezu vor Ehrfurcht zerschmilzt und den Zaren mehr als einmal den göttlichen Alexander nennt, sie von den Potentaten der andern europäischen Höfe mit desto ungenierterer Vertraulichkeit spricht. Besonders verletzt ihn ihr mangelnder Respekt gegenüber seinem König, den sie nicht anders als den guten Friedrich Wilhelm nennt. Und was hat sie nicht alles an ihm auszusetzen! Als sie sich zu der Äußerung versteigt: »Luischen hat ihn am Gängelband geführt«, kann ihr Zuhörer seine Entrüstung nicht mehr verbergen:

»Meinen Eure Exzellenz vielleicht unsere hochselige Königin Luise? Dann erlaube ich mir die ganz gehorsame Bemerkung: Sie nennen Ihren Zaren den Götterliebling. Ob mit Recht, das wird sich ja noch herausstellen. Wir Preußen aber sehen in der Königin Luise den guten Engel unseres Landes. Und jeder einzige weiß, daß sie das auch war.«

Die Baronin hat ihre Lorgnette ergriffen und betrachtet mit verwunderter Aufmerksamkeit den hochroten Kopf des Aufgerichteten, als wenn er ein Feuerwerkskörper sei, der gleich in die Luft gehn wird.

Sie hat ihm seine Heftigkeit nicht im geringsten übel genommen und besucht ihn nach wie vor.

Diesem Typus der alten Hofschranze, den sie repräsentiert, bringt Tungeln im Grunde wenig Hochachtung entgegen, aber in der Unterhaltung mit ihr plätschert er wie in einem gewohnten Wasser. Aber wo ist seine Sicherheit und muntere Selbstironie, wenn er sich mit der Gräfin Marie unterhält? Sein Liebesvokabularium ist nicht groß, er nennt bei sich die Gräfin schlechthin einen Engel, wie tausend andere Männer auch, nur mit dem Unterschied, daß sich für ihn dieser Name mit dem lebendigsten und lautersten Inhalt erfüllt.

Wie schrecklich nun, daß dieses reine Wesen ihm zugleich zur Ursache so schwerer Anfechtungen wird!

Gewohnt, sich mit seinen inneren Nöten an seinen obersten Vorgesetzten und himmlischen Vater zu wenden, macht er ihm ernstlich Vorstellungen, ob es wohl recht und billig sei, daß er grade in seiner augenblicklichen Lage, wo er ans Bett gefesselt ist und sich so wenig rühren kann, wie ein Zinnsoldat in seiner Schachtel, von solchen Versuchungen befallen wird. Aus seinen zahlreichen Sünden macht er gar kein Hehl: saufen, jeuen, fluchen, prügeln – alles gibt er zu. Aber der Sünde gegen das sechste Gebot hat er sich nie schuldig gemacht. Die Ehe hat ihm immer als ein unantastbares Heiligtum gegolten. Und grade dagegen vergeht er sich in seinen Träumen.

Diese Kämpfe sind schuld, daß er sich in Mariens Gegenwart sooft einsilbig zeigt und eine etwas strenge und brummige Miene annimmt. Sein Wesen schüchtert sie ein, ohne sie indes darüber irrezumachen, daß ihre Liebe erwidert wird. Das steht in guten Augenblicken wie mit einer zwar unbehilflichen, aber weithin lesbaren Kinderhandschrift auf seinem Gesicht geschrieben.

Sie ihrerseits liebt ihn, wie eine Frau den Mann liebt, der ihr in der schwärzesten Stunde ihrer Selbstverlorenheit als Retter und Ritter genaht ist. Sie liebt ihn wegen seines Ernstes, seiner Strenge, seiner Biederkeit, weil er in allem das Gegenteil ihres Mannes ist und weil sie fühlt, er sei ein Hort und Halt, der eher zerbrechen würde, als sie fallen zu lassen.

Er brauchte nur die Arme auszustrecken, so würde sie an seine Brust sinken. Aber er macht nicht die geringsten Anstalten dazu.

Eines Morgens hat der Chirurgus dem Patienten auf sein Drängen erlaubt, sich ein Stündchen im Sonnenschein auf die Terrasse zu begeben.

Während er hier sitzt, kommt, mit einem Henkelkorb im Arm, die Exzellenzmama auf ihn zugesegelt.

»Sieh da, sieh da, unser lieber Rittmeister! Brav, daß Sie sich aufgemacht haben. Wie geht's? Ich komme grade aus dem Obstgarten. Ich dachte: willst doch mal nach den Erdbeeren sehn, müssen doch ein paar Körbe voll reif sein. Ja Kuchen, das ist die ganze Ernte. Kaum der Boden voll. In diesem Hause gibt's eben zu viel hungrige Mäuler. Aber probieren Sie doch nur! Sehn Sie mal, die ist ganz prächtig.«

»Danke gehorsamst, ich gehöre nicht zu denen, die arme Witwen berauben.«

»Sie Schäker! Ihnen gönne ich sie gern. Also das lobe ich mir, daß Sie sich aufgerafft haben. Wann soll's denn losgehn?«

Der Rittmeister läßt die an den Mund geführte Erdbeere sinken und sieht verdutzt die Sprecherin an, die munter fortfährt:

»Man soll mit seinem lieben Ich nur nicht zu ängstlich umgehn. Gesundheit ist Willenssache. Glauben Sie mir, wenn ich heute den Doktor kommen ließe, er würde mich sofort zur Ader lassen und mir alles verbieten, was mir gut schmeckt. In dem einen Punkt muß ich dem Ungeheuer Bonaparte ja recht geben: er pflegt Dekorationen nur an der Front zu verteilen. Kranke und Blessierte existieren nicht für ihn. Haben Sie die Neuigkeit schon meiner Tochter mitgeteilt? – Ja, ja, ich komme schon. Ach, diese Menschen! Warum muß es nur so viele Menschen geben? Die meisten finde ich, offen gestanden, gänzlich überflüssig.«

Herausgeschmissen! denkt Tungeln. So lange hat er die Gastfreundschaft mißbraucht.

»Wollermann!« schreit er, kaum daß er in seinem Zimmer angekommen ist. »Wollermann!«

Wenn sein Herr »Wollermann!« schreit, dann ist der Teufel los. Heinrich kommt deshalb angestürzt.

»Den Mantelsack gepackt! Die Pferde gesattelt! Was hältst du noch Maulaffen feil? Wir reiten ab.«

»Wir reiten ab? Diese Woche noch?«

»Schafskopf! Heute! In einer Viertelstunde! Sofort!«

»Damit wird der Herr Chirurgus aber gar nicht einverstanden sein.«

»Der Chirurgus soll mich –. O Madame, Sie hätten gar nicht so plump aufzutragen brauchen!« tobt der Rittmeister. »Ich hätte auch so verstanden. Es gibt doch keine taktloseren Bestien als diese Hofschranzen, die glauben, sie hätten die Feinheit mit Löffeln gefressen. – Was stehst du noch herum, Kerl?«

»Melde gehorsamst, daß wir heute überhaupt nicht fort können. Die Unterhosen vom Herrn Rittmeister hängen noch auf der Leine.«

»Laß sie hängen! Mach, daß du 'raus kommst! In einer Viertelstunde muß alles fix und fertig sein. Man setzt uns an die Luft! 'raus, sag' ich dir.«

'raus! denkt Heinrich. Kaum ist man irgendwo warm geworden, schon heißt's 'raus! Dem Beispiel seines Herrn folgend, hat er seiner Verachtung der Weiberleute eine Ausnahme zugestanden. Stänzchen wird sie genannt. Der Gedanke, jetzt Hals über Kopf sein weiches Nest mit einem Strohsack im Hüttenlager vertauschen zu müssen, bringt ihm die Hinfälligkeit des menschlichen Daseins zum Bewußtsein. Traurig begibt er sich auf den Wäschehof, wo die Unterhosen des Herrn Rittmeisters sich wie wohlgefüllte Säcke bauschen, während auf der Nachbarleine die entsprechenden Kleidungsstücke der Gräfin sich etwas flatterhaft gebärden.

Als er Stänzchen bemerkt, tut er einen tiefen Seufzer:

»Schlimm! Ganz schlimm!«

»Nix schlimm«, erwidert Stänzchen. »Du schlimm, aber ich schlau.«

Er schüttelt den Kopf.

»Aus ist's. Wir hauen ab. 'rausgeschmissen.«

»Wer ist 'rausgeschmissen?«

»Ich und der Alte.«

»Von wem?«

Heinrich zuckt die Achseln und seufzt.

»Nun sprich doch und mach nicht so'n schafsdämliches Gesicht.«

»Constanze«, erwidert er, »ich habe dir schon mal gesagt: wenn der Herr Rittmeister sagt, ich mache ein schafsdämliches Gesicht, dann ist das sein gutes Recht. Aber für dich schickt sich das nicht.«

»Nun red nicht so viel, sag schon, was los ist.«

Er beginnt in seiner umständlichen Weise zu berichten, hat aber kaum die Begegnung des Rittmeisters mit der Exzellenzmama erwähnt, als Stänzchen sagt:

»Die alte Watschelgans ist schuld. Weil sie selbst keinen Kerl mehr bekommt, soll auch keine andere einen haben. Jetzt paß mal auf! Du gehst ins blaue Zimmer und erzählst alles dem goldnen Mütterchen.«

»Ich trau' mich nicht.«

»O Gott, er traut sich nicht. Auf einmal! Warum bist du denn gegen mich immer so frech?«

»Geh du lieber, Stänzchen. Du verstehst das besser.«

»Da magst du recht haben. – Sag mal, was guckst du denn immer so die Hosen an, als wenn du noch nie Weiberhosen gesehen hättest?«

»Deswegen nicht. Ich dachte bloß: wenn ich die nun verwechselte, und der Herr Rittmeister zöge die Hosen von der Frau Gräfin an und die Frau Gräfin zöge dem Herrn Rittmeister seine Hosen an.«

»O Gott, bist du'n verrückter Kerl!« lacht Stänzchen. »Da hast du einen Süßen. – Warte hier nur.«

Nach einer Weile kommt sie wieder und erklärt, es sei alles in Ordnung.

»Die Hosen vom Herrn Rittmeister laß nur hängen. Die werden noch dreimal trocken.«

*

Die Gräfin gibt sich gar nicht die Mühe, ihre Bestürzung zu verbergen. Sie hat kaum die Tür seines Zimmers zugemacht, als Tungeln weiß, daß er ihr unrecht getan hat mit dem Gedanken, sie hätte um die Absicht ihrer Mutter gewußt.

»Ich höre, daß Sie fortwollen. Ist das wahr?«

Der Rittmeister schiebt einige Wäschestücke von dem nächsten Stuhl und bittet seinen Gast, Platz zu nehmen.

»Ich wollte allerdings die gnädigste Gräfin bitten, mich verabschieden zu dürfen, da ich zur Schwadron zurück muß.«

»Ist denn irgend etwas geschehn?« Und da er nicht antwortet: »Gestern sagten Sie noch, daß alles nach Wunsch ginge.«

»Gestern. Aber schließlich leben wir im Krieg.«

»Wenn die Russen etwas planten, würden wir's doch zuerst erfahren. – Ich verstehe das nicht. – Ich habe mir so viel Mühe gegeben –«

»Das werde ich in tiefster Dankbarkeit auch immer anerkennen.«

»Wenn Sie sich wirklich dankbar zeigen wollen, dann setzen Sie durch diese unüberlegte Abreise nicht alles aufs Spiel. – Bleiben Sie doch noch – noch eine Woche!«

Wie diese Worte weiterklingen und sich den Möbeln und Vorhängen und allen Winkeln des Zimmers einschmiegen und aus ihnen zurückkommen mit zärtlicher Liebkosung und der stummen Bitte, ihren Wunsch zu erfüllen. Nie wird er es wieder so gut haben! Nie wird eine Frau wieder so lieb und gütig zu ihm sein! Aber sind wir aus der Welt, um es gut zu haben? Unsere Pflicht sollen wir tun!

»Bleiben Sie noch acht Tage. In acht Tagen kann man sich schön weitererholen. – Wird Ihnen der Abschied denn gar nicht schwer?«

»Doch, aber grade darum muß ich weg.«

»Was ist das für eine Logik?«

»Tja –« sagt der Rittmeister nach einigem Besinnen. »Ich hatte mal 'nen Hühnerhund, der ein Geschwür bekam. Das arme Vieh mußte große Schmerzen ausstehn. Deshalb ließ ich ihn in meinem Zimmer schlafen und hab' ihn manchmal gestreichelt. Dann wurde er allmählich wieder gesund und sprang schon ganz munter herum. Aber wenn er mich sah, fing er jedesmal jämmerlich an zu humpeln, nur um wieder gestreichelt zu werden. Tjaja!«

»Warum erzählen Sie diese Geschichte? Soll sie vielleicht ein Vergleich sein? Bilden Sie sich etwa ein, es bestände zwischen diesem zärtlichen und liebebedürftigen Hund – es wird wohl eine Hündin gewesen sein – und Ihnen die geringste Ähnlichkeit? Die Frau müßte erst noch geboren werden, die es wagte, Sie zu streicheln.«

Der Rittmeister blickt aus ihre Hände, die sich auf der Mahagoniplatte des Tisches spiegeln wie in einem dunklen Wasser, und bei dem Gedanken, daß diese schlanken, kühlen Finger ihn liebkosen könnten, wird es ihm zum Ersticken eng in seiner Uniform.

»Also Sie bleiben!«

Die scherzende Bestimmtheit ihres Tons verbirgt nur oberflächlich ihr angstvolles Flehn.

Er schüttelt kaum merklich den Kopf.

Daß sie den wahren Grund nicht ahnt! Nebenan auf ihrem Nachttisch hat sie doch auch die Bibel liegen und weiß, was da geschrieben steht.

Da bei diesem Gedanken seine Stirnfalten sich noch vertiefen und sein Gesicht einen immer grimmigeren Ausdruck annimmt, sagt die Gräfin schließlich mit einem matten Fallenlassen ihrer Hand:

»Nun – dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.«

Trotz dieser resignierten Worte füllen ihre Augen sich mit Tränen, die sie zurückzudrängen versucht, dadurch aber erst recht zum Tropfen bringt.

Er bemerkt es und denkt: nun bin ich – nun sind wir beide verloren. Wie könnte ich sie jetzt wohl verlassen?

»Also noch eine Woche.«

Ihre Augen strahlen sofort, gleichzeitig jedoch sagt sie:

»Aber nur, wenn es Ihnen kein Zwang ist.«

»Muß ich Ihnen das noch sagen?«

An diesem Abend nimmt Tungeln seine Bibel vor, um sich zu vergewissern, ob es mit dem strengen Verbot des Ehebruchs wirklich seine Richtigkeit habe. Es muß wohl einige Zeit her sein, daß er in der Heiligen Schrift gelesen hat, denn anfangs will sie sich gar nicht öffnen lassen, aber dann macht das Schloß einen kleinen Knall, und die Seiten quellen breit auseinander. Aus seiner Christenlehre erinnert er sich, daß Moses die zehn Gebote erlassen hat. Also sucht er in den Büchern Mose nach und findet nach einigem Suchen auch: »Du sollst nicht ehebrechen.« Ein in seiner knappen Klarheit mustergültiger Befehl! Dagegen hilft kein Ach und Weh. Und dennoch ergreift ihn bitterer Schmerz. Und als er noch an das schmähliche Bündnis mit dem Erzfeind denkt und an die trostlosen Zustände in der Heimat, versinkt er in abgründige, finstere Traurigkeit. Aber grade hier geht ihm ein lichtes Sternlein auf: kann Gott ihm nicht gnädig sein und den Alex Steenbock noch einmal vor seine Klinge liefern? Und wenn er, Tungeln, ihn dann im ehrlichen Reiterkampf in den Sand gestreckt hat, begeht er keinen Ehebruch mehr und kann mit gutem Gewissen um die Liebste werben.

So friedlich und harmonisch die nächsten Tage verlaufen, so voll von inneren Kämpfen sind sie. Er hat, wie es im Hiob heißt, mit seinen Augen einen Bund geschlossen, um die geliebte Frau nicht anzusehn. Aber grade dann steht sie nur um so leibhaftiger vor ihm: in der lieblichen vorgeneigten Haltung, wie er sie in der Nacht seines Erwachens erblickt hat. Sein erstes köstliches Genesungsgefühl und der Beginn seiner Liebe, die Entdeckung, daß es ein bisher nicht geahntes Glück auf der Welt gibt … haben sich zu einer unlöslichen Einheit verschmolzen. So sieht er sie und wird sie immer so sehn. Damit er aber nicht doch einmal der Versuchung erliegt, verschanzt er sich weiter hinter strenger, respektvoller Zurückhaltung.

Die wechselnden Stimmungen des Tages finden einen schönen, stillen Beschluß, wenn die vier nach dem Abendessen sich ins Musikzimmer setzen. Von ihrer Mutter auf der Harfe und von Herrn Petry auf der Flöte begleitet, singt ihm die Gräfin ein halbes Stündchen vor mit ihrem schönen Mezzosopran: die zierlichen Schäferlieder aus der Rokokozeit. Aber noch lieber hat Tungeln die schwermütigen alten Volksweisen, in denen Scheiden, Verzicht und Tod gleichsam die Lebenspfeiler bilden, während Liebe und Glück sie nur wie ein Schmuck umranken. Und nach manchen weiten Wanderungen und verlockenden Träumen kehren seine Gedanken immer wieder zu der alten Überzeugung zurück, daß das Schönste, was das Leben ihm bieten könne, doch ein ehrlicher Reitertod sei.

Da es den Anschein hat, daß die Kampagne bis in den Winter hinein dauern wird, hat die Gräfin angefangen, ihrem Gast als Abschiedsgeschenk ein Paar warme Handschuhe zu stricken.

Wenn dann Tungeln vor seiner Flasche Rotwein sitzt, der Kandidat durch die Nase gähnt und die Exzellenzmama sich in ihre Patience vertieft, kommt es wohl vor, daß Marie ihres Nachbarn Hand nimmt, um sie mit dem Wollgebilde, an dem sie arbeitet, zu vergleichen. Manchmal vergißt sie dann die Hand in ihrer und bekommt etwas glänzende Augen, indem sie von schönen, stillen, zärtlichen Abenden zu zweien träumt.

Dann beginnen auch Tungelns Augen zu funkeln, und er hört Säbel klirren und Rosse keuchen … jetzt holt Steenbock zu einer furchtbaren Quart aus, die seinem Gegner unfehlbar die Schläfenader durchschneiden muß, aber indem er rechtzeitig pariert, spaltet er –

»Warum machen Sie denn so ein böses Gesicht?« fragt ihn die Gräfin.

»Ich …?« fährt er erschrocken auf. »Nicht, daß ich wüßte.«

 

In Memel gerät Yorck sofort in einen erbitterten Streit mit dem General Campredon. Der hat von Napoleon den Befehl erhalten, die Festungswerke in größter Eile und Vollständigkeit ausbessern zu lassen. Damit ist Yorck einverstanden. Aber Preußen soll die Kosten tragen. Dagegen verwahrt er sich. Von solchen Dingen steht in dem Allianzvertrag kein Wort. Doch Campredon hat offenbar die Order bekommen, die Preußen zum Weißbluten zu bringen. Es geht zwischen den beiden auf Hauen und Stechen, in der verbindlichsten Form natürlich und mit den liebenswürdigsten Worten. Beim Beginn jeder Unterhaltung erkundigen sie sich nach ihrer Gesundheit. Endlich aber schießt Yorck los: eine so scharfe Ladung von Gift und Galle, daß dem Franzosen ganz schwindlig wird und er nur ein paar lahme Flüche zuwege bringt. Eine gedeihliche Zusammenarbeit ist seitdem nicht mehr recht möglich.

Die Lösung des Konflikts kommt aus Mitau. Dort ist der Kommandierende General von Grawert erkrankt. Dieser Franzosenschwärmer, der einer überlebten Epoche angehört, erweist seinem Vaterland den besten Dienst seines Lebens, indem er den Dienst quittiert.

In einem schmeichelhaften Schreiben überträgt Macdonald das frei gewordene Kommando an Yorck. Dessen zerfurchtes Gesicht überfliegt seit langer Zeit wieder ein hellerer Schein, ein Aufblitzen befriedigten Ehrgeizes und, aus tieferen Seelengründen, ein Aufleuchten neuer Hoffnung. Also scheint das Schicksal sein Vaterland doch noch nicht aus den Tafeln der Geschichte auslöschen zu wollen. Vielleicht steht ihm noch ein glorreicher Aufstieg bevor. Vielleicht …

Er ist nicht der Mann, sich Zukunftshoffnungen hinzugeben. Zukunftssorgen – jawohl, die kennt er. In der Beziehung gleicht er dem dritten Oranier, von dem man gesagt hat: er zitterte nie in einer Gefahr, weil er vorher gezittert hatte.

Und Grund zur Besorgnis gibt es genug, als er Mitte August im Hauptquartier von Peterhof eintrifft.

Die Russen haben erhebliche Verstärkungen bekommen. Vor allem flitzen dreißig englische Kanonenboote auf der Aa und der Düna herum, winzige Schaluppen, aber mit Zwölf- und Vierundzwanzigpfündern armiert. Wo sie auftauchen, schallt es patsch, patsch durch den Wald, und wen die Ohrfeige trifft, dem fliegt der Kopf weg. Die Soldaten haben eine mörderliche Wut auf die Dinger, aber sie sind nicht zu kriegen.

Auch zu Lande werden die Russen immer dreister. Sie scheinen zu ahnen, daß der große Belagerungspark im Anmarsch ist, und wollen dem zuvorkommen. Die Seele aller ihrer Unternehmungen soll der Oberstleutnant von Tiedemann in Riga sein. Er gehört zu denen, die beim Eingehn des Allianzvertrages den Abschied nahmen und in fremde Dienste gingen. Als Kapitän hat er in Yorcks Jägerregiment gestanden.

Diesmal machen die Russen einen Großangriff mit ihrer gesamten Besatzung. Die Hauptkräfte werfen sie auf Dahlenkirchen, in der Hoffnung, von dort aus die ganze Front aufrollen zu können.

Dahlenkirchens exponierte Stellung hält mit kaum fünfzehnhundert Mann Infanterie und zwei Schwadronen Husaren Herr von Horn, einer der tapfersten Haudegen des ganzen Korps.

Grade hat er seine Ernennung zum Obristen bekommen und feiert das Ereignis mit einer solennen Bowle. Unter den Gästen befindet sich auch der Rittmeister von Tungeln. Dessen Wunden sind inzwischen vollständig verheilt, bis aus die eine, von der jedoch niemand was weiß. Er hat schon wieder an mancher schönen Unternehmung teilgenommen. Da geht es patsch, patsch, und von der Rigaschen Straße knallen auch schon Gewehrschüsse. Alles springt auf. Der Rittmeister galoppiert zu seiner Schwadron. »Nun aber wirklich, lieber Gott!« … betet er und denkt dabei an Steenbock.

Es ist zwei Uhr morgens, noch sind die hellen Nächte, aber Nebel macht das Terrain unsichtig. So gelingt es ein paar hundert russischen Scharfschützen, sich an die Infanterie des rechten Flügels heranzupirschen.

Sobald die den Feind gewahr wird, wirft sie ihn zurück, und die Husaren hauen auf die feindliche Kavallerie ein, die zur Aufnahme der Tirailleurs vorgegangen ist. Schon scheint das Ganze beendigt und nichts als eine der üblichen Demonstrationen, als sich die Füsiliere in der Flanke von einer dichten Tirailleurlinie angegriffen sehen. Vor dieser Übermacht müssen sie sich zurückziehn.

Nun gibt der Obrist auch an den linken Flügel den Befehl, sich abzuziehn. Aber die braven Pommern sind so in den Kampf verbissen, daß sie, sehr zur Unzeit, Schritt vor Schritt das Terrain behaupten. Die Husaren, die ihnen zu Hilfe geschickt werden, können aus dem sumpfigen Boden nichts ausrichten und müssen sich begnügen, mit der feindlichen Kavallerie zu plänkeln, die seitwärts die Infanterie bedroht.

Der Obrist schickt Befehl aus Befehl zum Rückzug, aber nur einem kleinen Teil der Leute gelingt es, das unter konzentrischem Feuer liegende Defilee zu passieren. Nach blutigem Gemetzel werden die meisten getötet oder fallen verwundet in des Feindes Hand.

Der Rittmeister von Tungeln ist heil davongekommen. Seine Schwadron hat sogar das Glück gehabt, etliche Gefangene zu machen. Aber der, den er suchte, ist nicht bei der Affäre gewesen.

Auch der Feind hat schwere Verluste gehabt, und er würde gern alle Gefangenen, die er an diesem Morgen gemacht hat, hingeben, wenn er damit das Leben des einen bezahlen könnte, der schwer verwundet in einer Hütte liegt: des Obristleutnants von Tiedemann.

Tungeln hört zufällig von seiner Verwundung. Die beiden sind Freunde seit Jugendtagen, haben zusammen mancher Bouteille den Hals gebrochen und manchem Hasen eins auf den Balg gebrannt. Voll Trauer erinnert er sich jetzt des letzten Abends bei Lutter & Wegner, als er den Freund beschworen hat, von dem verhängnisvollen Schritt abzustehn. Aber vergeblich. Dem andern hat der Haß gegen Napoleon keine Ruhe gegeben.

Treu dem Befehl – das ist das ganze Soldatentum. Auch an dieses Wort muß Tungeln jetzt wieder denken. Yorck hat's zu ihm gesagt. Kurz nach seiner Wiederherstellung ist er dem Isegrim begegnet, und als er seinen Namen nennt, hat der ihn gefragt:

»Seid Ihr der Rittmeister, der in Didlacken den Strauß mit den welschen Dragonern hatte?«

»Jawohl, Exzellenz.«

»Brav gemacht!«

»Ich habe ja nur meinen Befehl ausgeführt.«

»Jawohl!« nickt Yorck. »Aber darin liegt alles. Treu dem Befehl – das ist das ganze Soldatentum.«

Gegen dies Gebot hat sein Freund verstoßen, indem er ohne des Königs Erlaubnis sein Vaterland verließ. Und wie furchtbar hat sich das gerächt! Er hat geglaubt, seinem Vaterland zu dienen, und hat gegen seine eignen Landsleute kämpfen müssen.

Der Holzschuppen, in dem man die Verwundeten untergebracht hat, bekommt sein Licht nur durch die offne Tür. Auf dem Lehmboden hat man eine Lage Stroh ausgebreitet, und darauf liegen, beinah in Tuchfühlung, Preußen und Russen, Leute mit schweren Lungen- und Bauchschüssen, mit zerschmetterten Schenkeln und Füßen. Es herrscht ein schrecklicher Gestank nach faulem Eiter und Kot, und in der sonnendurchglühten Mittagsluft hört man zwischen dem Röcheln und Stöhnen das blutdürstige Summen der grünen Fliegen.

Wäre nicht die russische Offiziersuniform, so würde Tungeln seinen Freund kaum herausfinden können. Weniger Blässe und Verfallenheit haben dessen Gesicht so furchtbar entstellt, als der Ausdruck irrsinnigen Entsetzens, der aus den Augen flackert und die schmalen Lippen verkrampft zu haben scheint.

Tungeln muß vorsichtig in die schmale Lücke treten und sich zu dem Freund hinunterbeugen, wenn er ihm die Hand reichen will. Er spricht ihm ein paar tröstliche Worte zu, die er selbst nicht glaubt, und fragt, ob er ihm nicht irgendwie helfen könne. Tiedemann verlangt nur nach Wasser.

Tungeln sucht den Chirurgus auf, und als er den vor dem Krug nebenan trifft, damit beschäftigt, sich in einem Eimer die blutigen Arme abzuspülen, und als er sieht, daß in dem Gastzimmer, wo auf sauberen Strohschütten, gut gebettet, andere Verwundete liegen, noch Platz ist, macht er seinem Unwillen über die Zustände in dem Schuppen Luft.

Der Arzt erwidert seelenruhig, ohne seine Zigarre aus dem Mund zu nehmen, daß man da gar nicht Platz zu machen braucht, dafür sorgt schon ein anderer. Gestern lagen ihrer noch ein Dutzend vor der Tür, heute konnten schon alle drinnen untergebracht werden, und morgen werden sich die Überlebenden bereits etwas einsam vorkommen. Was aber den Obristleutnant von Tiedemann betrifft, so besteht die einzige Möglichkeit, ihn am Leben zu erhalten, darin, daß man ihn völlig in Ruhe läßt. Bei seinem Bauchschuß ist die schlechteste Lage besser als die kleinste Bewegung. Wenn er die nächsten vierundzwanzig Stunden übersteht, kann er möglicherweise durchkommen. Aber der Chirurgus befürchtet einen baldigen Exitus. Und ungefragt berichtet er über die eigentümlichen Begleitumstände seiner Verwundung.

Das Gefecht sei schon vorüber gewesen, als der Obristleutnant einem blessierten Wachtmeister von den Jägern Pardon geboten habe. Da habe dieser bei seinem Anblick sich wütend aufgerichtet und den Tiedemann in den Leib geschossen. Und wie die Leute erzählen, sei der verwundete Wachtmeister des Obristleutnants ehemaliger Unteroffizier gewesen.

Als sollten des Arztes Worte auf schauerliche Weise bestätigt werden, begegnet der Rittmeister bei seiner Rückkehr zwei Soldaten, die eine Bahre mit einer frischen Leiche aus dem Schuppen tragen.

Dadurch ist in der dichten Reihe schon eine Lücke entstanden, und der Rittmeister kann sich auf einem Holzklotz neben seinem Freund niederlassen.

Da er ihm nichts zu trinken geben darf, benetzt er wenigstens seine Lippen mit einem feuchten Tuch. Er muß sich tief bücken, wenn er die Flüsterstimme verstehn will. Der Obristleutnant spricht wiederholt den Namen Yorck aus, und endlich begreift Tungeln, daß er den Wunsch hat, seinen ehemaligen Regimentschef noch einmal zu sehn. Erschrocken schüttelt Tungeln den Kopf. Was für ein Gedanke, dem Isegrim eine solche Zumutung zu stellen! Der andere aber wiederholt mit eigensinniger Qual seine Bitte. Wenn der General ihm pardoniert, dann soll mit ihm geschehn, was will.

»Tu mir doch den Gefallen!« flüstert er, und in des Rittmeisters heiß geschwollener Hand windet sich die des Freundes so eisig und knöchern, als käme sie schon aus dem Grabe.

Während der Verwundete mit schräg geneigtem Kopf und geschlossenen Augen zurückgesunken ist, liegt in seiner Haltung der Ausdruck völliger Verzweiflung. Aber noch einmal flüstern die Lippen mit ihrem letzten Atem:

»Tu mir doch den Gefallen!«

Da sagt Tungeln:

»Ich verspreche dir's. Wenn ich irgend kann, bringe ich ihn her.«

Freilich, als er draußen ist und frische Luft atmet und grüne Bäume sieht, denkt er: wie sollte ich nun wohl den Isegrim aufgabeln, da ich doch keine Flügel habe.

Als er sich dann aber bei einem Soldaten erkundigt, bestürzt es ihn gradezu, daß dieser ohne das geringste Zögern ihn um die Ecke begleitet und auf eine Gruppe von Offizieren weist. Wahrhaftig, da sieht er den General von Kleist, die Obristen von Horn und Hünerbein, den Major von Rudolphi und mehrere ihm unbekannte Herren.

Und mitten unter ihnen steht Yorck.

Mit dem Ausdruck grimmiger Todesverachtung geht Tungeln auf die kleine Schar los, neben der in einiger Entfernung die Reitknechte mit den Pferden stehn. Yorck bemerkt ihn nicht gleich, aber sobald er ihn erkannt hat, winkt er ihm, näher zu kommen.

»Sieh da, Tungeln! Was führt Euch her?«

»Ich habe eine ganz gehorsame Bitte an Eure Exzellenz«, beginnt Tungeln, und seine Stimme klingt nichts weniger als ängstlich, sondern so markig wie nur je. »Hundert Schritt liegt von hier schwer verwundet der Obristleutnant von Tiedemann.«

»Ich weiß. Der Mann ist in diesem Gefecht das Opfer seiner Leidenschaft und seiner politischen Gesinnung geworden.«

»Er ist auf den Tod verwundet und hat nur den einen Wunsch, daß Euer Exzellenz ihm noch einmal die Hand reichen und ihm pardonieren.«

Yorcks Hand ballt sich in Unwillen. Die eben noch gelöste Haltung strafft sich, die Augen in dem verharschten Gesicht sprühen Abwehr aus. Dennoch zögert er. Ein Sterbender … mag er denken. Aber dann sagt er mit seiner etwas heiseren, kalt abwägenden Stimme:

»Was könnte ich ihm sagen? In meinen Augen ist der Mann ein Deserteur. Und nicht genug mit seinem eigenen schändlichen Verhalten, hat er auch noch unsere Truppen wiederholt zur Desertion aufgefordert.«

»Euer Exzellenz bitte ich gehorsamst zu bedenken, daß er geglaubt hat, durch diesen Schritt seinem Vaterland zu dienen.«

»Ein schöner Dienst! Er trägt die Hauptschuld an dem Verlust so vieler Braven.«

»Ihn trieb das Verhängnis immer weiter in Schuld. Er ahnte ja nicht, daß die Politik Seiner Majestät –«

»Nein, sie haben alle keine Ahnung, diese Herren Besserwisser und Politikaster. Aber das hindert sie nicht, Politik auf eigne Faust zu treiben. Jetzt hat er seinen Lohn. – Es tut mir leid, lieber Tungeln. – Ich höre, Eure Schwadron hat sich sehr wacker benommen.«

Die Herren haben sich dem Krug genähert, als aus dem Schuppen zwei Soldaten wieder eine Bahre hinaustragen. In der Meinung offenbar, daß der General den Toten noch einmal zu sehen wünscht, bleiben sie stehen, und der eine zieht den Mantel, der die Leiche bedeckt, herunter. Die Augen des Toten sind halb geöffnet und blicken mit einer letzten Qual zu Yorck hinaus, dem Mund entsickert ein bißchen blutiger Schaum.

Die Herren sind betroffen stehengeblieben, einer will den Mantel wieder über das Gesicht breiten, als Yorck sagt:

»Er war ein braver Mann und hatte eine schöne Laufbahn vor sich. Wenn er sich damit begnügt hätte, die Befehle Seiner Majestät auszuführen, dann läge er wahrscheinlich nicht hier. Möge es allen so ergehn, die handeln wie er! Ein Soldat, der selbständig Politik treibt, hat aufgehört, ein ehrlicher Soldat zu sein. – Meine Herren!« fährt er mit erhöhter Stimme fort: »Wir gehn wahrscheinlich sehr schweren Tagen entgegen, und es ist leicht möglich, daß ein gehorsames Offizierkorps dann der letzte Rocher de Bronze für unsere Monarchie ist. Darum ermahne ich Sie nochmals: nichts ohne des Königs Befehl, aber seinem Befehl treu bis zum letzten Atemzug! – – Rittmeister von Tungeln, sorgen Sie dafür, daß die Leiche den Russen ausgeliefert wird. Der Obristleutnant von Tiedemann hat in Riga einen Bruder wohnen, der für die Bestattung sorgen wird.«

Der Rittmeister führt den Befehl aus. Ihm ist das Herz so schwer. In diesen Tagen hat er manchen guten Freund und lieben Kameraden verloren, doch um keinen tut es ihm so leid wie um den, der bei den Feinden gekämpft hat.

Aber so hart Yorcks Urteil auch ist, er muß ihm recht geben, und er schwört sich, daß er die Worte nie vergessen wird. Und nie vergessen wird er die graue Gestalt, die, so kalt und starr an der Außenseite, doch von innerem Feuer durchbebt scheint.

Mit einem Eichstamm, der den Blitzstrahl in seinem Mark gefangenhält, muß er ihn vergleichen. Wie muß es in ihm geglüht und getobt haben, bis aus dem leidenschaftlichen Jüngling der Zuchtmeister der preußischen Armee, der Gehorsamste der Gehorsamen wurde! Der Mann, der als die Losung seines Lebens die Worte spricht:

»Nichts ohne des Königs Befehl, aber treu dem Befehl bis zum letzten Atemzug!«

Wenn je an Tungeln die Versuchung herantritt, wird er sich dieser Worte erinnern, die ihn getroffen und sich ihm eingebrannt haben mit dem Feuer des Blitzes.

 

In Schloß Ruhental hält der General von Yorck mit seinen Herren Kriegsrat ab. Die Situation ist nach den Ausführungen des Generalstabschefs, Oberst Röder, recht bedenklich. Wie aus Gefangenenaussagen hervorgeht, sind die Russen durch mehrere finnische Regimenter verstärkt worden und ihre Kräfte annähernd doppelt so groß wie die preußischen. Außerdem hat sich das preußische Korps noch nicht versammelt.

Es ist die Frage, ob Yorck unter diesen Umständen den französischen Artilleriepark bei Ruhental verteidigen oder seinem Schicksal überlassen soll, um im Rückzug Anschluß an das Korps Macdonalds zu gewinnen.

Alle Herren sind, mit einer einzigen Ausnahme, für den sofortigen Rückzug. In der Tat sprechen die gewichtigsten Gründe dafür. Der Park liegt auf freiem Feld, in einem für die Verteidigung denkbar ungünstigen Gelände. Daß er nicht schon längst in Sicherheit gebracht worden, ist die Schuld des französischen Artilleriegenerals. Außerdem hat man für die schweren Mörser und Haubitzen in absehbarer Zeit keine Verwendung, da der Plan einer Eroberung Rigas aufgegeben ist. Kann man es unter diesen Umständen verlangen oder auch nur rechtfertigen, das Leben vieler braver Soldaten aufs Spiel zu setzen?

Diesen Erwägungen stellt der Rittmeister von Brandenburg ein einziges Argument entgegen: die Waffenehre. Noch ist die Erinnerung an die unrühmliche Übergabe der preußischen Festungen im Gedächtnis der Feinde lebendig. Es gilt, diese Schmach auszulöschen und den alten fritzischen Ruhm wiederherzustellen. »Groß sein«, schließt er mit einem Zitat seines Lieblingsdichters, »heißt, nicht ohne großen Gegenstand sich regen, doch einen Strohhalm groß verteidigen, wenn Ehre auf dem Spiel.«

Yorck fühlt, wie es ihm bei dieser kecken Rede warm wird, aber seiner Art entsprechend, äußert er, der Vergleich von Mörsern und Haubitzen mit Strohhalmen verriete nicht grade viel Sachkenntnis. Im übrigen könne er dem Herrn Rittmeister nur recht geben.

Sofort schickt er an den französischen Artilleriegeneral den Befehl, die nötigen Verteidigungsmaßnahmen zu treffen.

In aller Eile werden die hundertdreißig Geschütze zu einer Art Wagenburg zusammengestellt. Die Ecken des Karrees bilden Fünfundzwanzigpfünder, zwischen ihnen stehen auf der einen Seite Mörser und schwere Kanonen, auf drei andern Seiten Zwölfpfünder. Das Ganze sieht einem Riesenstachelschwein ähnlich, und von welcher Seite man es auch betrachtet, überall starrt einem der Tod entgegen.

Yorck scheint die Anordnung weniger zu gefallen. Er fragt, wo sich denn die Munition befinde, damit die drohenden Mäuler auch zubeißen können? Der General weist auf mehrere in der Nähe befindliche Scheunen, in denen fünftausend Zentner Pulver gelagert seien.

»Und davor soll ich meine Truppen aufstellen? Das heißt denn doch, um ein Pulverfaß zu verteidigen, sich obendrauf setzen.«

Da Patrouillenbeobachtungen vermuten lassen, daß sich die feindlichen Kräfte geteilt haben, beschließt er, ihnen möglichst schnell an die Rippen zu gehn. Vielleicht kann man die beiden Korps nacheinander schlagen.

Die nächsten Tage bringen eine Musterkarte von erfolgreichen Gefechten, die unter dem Namen der Schlacht bei Bauske ihren Platz in der Kriegsgeschichte gefunden haben.

Am zweiten Tag nach dem Abzug von Ruhental kommt es in der Gegend von Schlockhof zu einem heftigen Kampf. Der Feind hat hier viele Scharfschützen in Sträucher und Gräben geworfen, hinter denen zwei finnische Jägerregimenter mit mehreren Batterien stehn. Ostpreußische Musketiere treiben die Tirailleurs von Stellung zu Stellung. Sie haben bereits die Nähe einiger schützender Häuser erreicht, als die finnischen Jäger mit gefälltem Bajonett gegen sie vorgehen.

Es scheint um sie geschehn, da fallen die Husaren den Russen in die Flanke. Unter dem Eindruck der heranbrausenden Reitermassen entsteht Unordnung in den Reihen der Jäger. Die meisten werfen ihre Gewehre weg und laufen, was sie können, werden von den dreinhauenden Husaren überholt, drehen nochmals um und stürzen in die Reihen der Ostpreußen. Das alles geht so schnell, und es entsteht ein solches Handgemenge, daß weder der russischen Artillerie Gelegenheit sich bietet, zu feuern, noch den weiter zurückliegenden Regimentern Zeit bleibt, in den Kampf einzugreifen.

Ihres Erfolges sich freuend, reiten die Husaren mit ihrer stattlichen Gefangenenschar ab, als sie selbst von hinter dem Gebüsch hervorbrechenden Kosaken überfallen werden. Es ist ein Glück, daß das von Brombeerranken überwucherte Gestrüpp dem Feind nur ein langsames Vordringen gestattet. Während die Gefangenen mit Geschrei und Säbelhieben zur Eile angetrieben werden, wendet sich ein Teil der Husaren gegen den Feind.

Als aber immer mehr Reiter aus dem Walddunkel hervorbrechen, sehen die Husaren zu ihrem grenzenlosen Kummer und Zorn den Augenblick kommen, wo sie ihre Beute fahren lassen und auf eigne Rettung bedacht sein müssen. Da macht es auf einmal tack, tack, tack … und über das in der Sonne glänzende Stoppelfeld schwärmt eine preußische Scharfschützenkette. Im nächsten Augenblick ist sie hinter einer Hecke verschwunden und beginnt gegen die Flanke der Kosaken ein aus nächster Nähe wohlgezieltes Feuer.

Einige Tollkühne versuchen die Schützen zu vertreiben, brechen aber im Feuer zusammen. Andere suchen ihr Heil im Walddunkel. Aber das dichte Gestrüpp weigert sich, sie durchzulassen. Da sieht man manchen Gaul vor Schmerzen steigen und in die Knie brechen, daß der Reiter über seinen Kopf in die Dornen fliegt. Da bäumen sich zwei gegeneinander wie im wilden Liebesspiel und stürzen tot hin. Andere jagen, eine lange Blutbahn auf dem Feld hinterlassend, reiterlos davon.

Als endlich die letzten Kosaken geflüchtet sind und die Gefangenen von neuem gesammelt werden, hat ihre Zahl sich auf beinah tausend vermehrt.

Daß die Husaren so wacker aushielten, ist nicht zuletzt das Verdienst des Rittmeisters von Tungeln. Der hat unter den Kosaken den Grafen Steenbock erblickt und ist wie eine wilde Hornisse auf ihn zugeflogen.

Seitdem die Kämpfe begonnen, hat er den Grafen wohl schon ein dutzendmal zu erkennen geglaubt. Seine Ungeduld, ihn zu töten, seine Angst, die Geliebte doch noch in Sünde zu verstricken, sind so groß, daß er Steenbock ungefähr in jedem feindlichen Reiteroffizier vermutet, was einigen bereits recht schlecht bekommen ist.

Diesmal aber hat er ihn im Getümmel wirklich gesehn. Als dann die Kosaken ihre Gäule herumreißen, steht er in den Steigbügeln auf, und »Hurra, Kerls, mir nach!« geht es durch eine Lücke des Brombeergestrüpps in den Wald. Eine wilde Jagd beginnt. Der Wald hat rasch ein Ende, es geht über Wiesen und Stoppelfelder, über Hecken und Gräben, durch steinige Bäche, Steilhänge hinauf, Steilhänge hinunter.

Jetzt kommt's drauf an, wer den längeren Atem hat: die blanken Ostpreußen oder die struppigen, unbeschlagenen Klepper. Zwei kleine Trüpplein, fliegen sie dahin; aus der Entfernung könnte man denken, sie jagten einander im Spiel. Die Russen schlagen manchmal einen Haken, aber dann wird's klar, daß sie einem bestimmten Ziel zustreben. Und am Horizont erhebt sich auch schon das sumpfige, mit schütteren Birken bestandene Hochmoor. Da hat ihre Not ein Ende. Die dünne Grasnarbe trägt grade die kleinen Kosakenpferde, aber nicht die schweren Ostpreußen.

Im letzten Augenblick gelingt es dem Rittmeister, seinen Gegner zu überholen. Der muß sich wohl oder übel seiner Klinge stellen, und er tut es mit anerkennenswerter Bravour. Die Säbel klirren aufeinander, wenn einer dieser Hiebe sitzt, durchschlägt er den stärksten Knochen.

Plötzlich gibt der Gras sich eine Blöße, Tungeln hat schon den Arm zum mörderischen Streich erhoben, da – was hält ihn auf, was überfällt, was blendet ihn? Mit einer schreckenerregenden, aber noch viel mehr erschrockenen Stimme brüllt er seinem Gegner zu, sich zu ergeben. Und dem fällt der Säbel aus der gelähmten Hand.

Nach der Wehrlosmachung ihres Führers lassen die übrigen sich ohne Widerstand gefangennehmen. Mit hängenden Köpfen und hängenden Zügeln reitet die kleine Schar durch die Dämmerung, und nicht für einen Sack voll Gold hätten Verfolger und Verfolgte das Rennen wieder aufgenommen.

In einem verlassenen Gesinde kehrt man ein. Der Rittmeister befiehlt, die Gefangenen im Stall unterzubringen. Er selbst geht in die Stube, setzt sich auf den ersten besten Stuhl und kommt sich wie ein Blödsinniger vor.

Er begreift einfach nicht, wie das alles hat kommen können. Er weiß nur, daß er plötzlich Mariens erschrocknes Gesicht gesehn hat, und da – ja, jetzt spielen seine Muskeln und Sehnen wieder in alter Geschmeidigkeit, aber in dem Augenblick waren sie wie von einem Krampf erstarrt.

Und nun hat er also sein Glück verspielt. Denn für den Grafen ist der Krieg zu Ende. Wahrscheinlich wird er gegen sein Ehrenwort seine Freiheit bekommen und auf sein Gut zurückkehren.

Als nach einiger Zeit ein Soldat eine brennende Kerze hereinträgt, fällt ihm ein, daß er schimpfshalber seinen Gefangenen einladen muß, an seinem Abendbrot teilzunehmen. Er schickt also den Soldaten hinunter.

Der Graf hat inzwischen Toilette gemacht, und sein strahlendes Gesicht steht in einem auffallenden Gegensatz zu der düsteren Miene des Rittmeisters. Nachdem er salutiert hat, bittet er, abschnallen zu dürfen.

»Wunderbar!« sagt er, seine weißen, nach Eau de Cologne duftenden Hände reibend. »Ein gutes Abendessen – das übertrifft alle meine Erwartungen. Soll ich wirklich diesen ehrwürdigen Lehnstuhl zieren? Scharmant! Ich habe einen furiosen Durst. Wir sind aber auch eine Steeplechase geritten, die sich sehn lassen kann.«

»Der Tee wird gleich kommen«, knurrt der Rittmeister.

»Prächtig! Sie glauben übrigens gar nicht, Herr von Tungeln, wie ich mich freue, daß Sie so wohlauf sind.«

Dabei blinzelt er vergnügt mit seinen schwarzen Augen und zeigt seine weißen Zähne.

»Daß ich mit dem Leben davongekommen bin, verdanke ich nur der Gräfin«, erwidert Tungeln bissig.

»Das kann ich mir denken. Als Krankenschwester ist Marja großartig. In ihrer Gegenwart macht das Kranksein direkt Pläsier. Wie geht's ihr übrigens? Und was macht die Exzellenzmama? Die würde es uns ja todübel nehmen, wenn wir nicht zuerst von ihr sprächen.«

Die Unterhaltung, an der sich der Rittmeister nur mit einsilbigen Bemerkungen beteiligt, wird dadurch unterbrochen, daß ein Husar eine Kanne Tee und zwei Schüsseln Bratkartoffeln, das übliche Abendessen, aufträgt. Zu Ehren des Gastes befiehlt Tungeln, auch noch den Speck, der eigentlich für morgen bestimmt ist, aufzuschneiden. Aber von diesem Augenblick an beginnt die gute Laune Steenbocks sich zusehends zu verflüchtigen. Während er an dem Tee nippt und düster in die Tasse blickt, in den Bratkartoffeln herumstochert und den Speck zögernd in die Gegend seiner Nase bringt, beginnt er mit kummervollem Gesicht von den Entbehrungen der großen Armee in Rußland zu erzählen und überhaupt die Leiden des Krieges zu beklagen.

»Aber so langen Sie doch zu!« nötigt der Rittmeister ihn. »Haben Sie keinen Appetit? Probieren Sie doch mal den Speck! Er stammt aus meiner Heimat.«

»Wo liegt Ihre Heimat? Wohl sehr weit weg?«

»Warum? Nun ja, der Speck ist ein bißchen ranzig. Aber das schmeckt man doch kaum.«

»Rrranssik!« wiederholt Steenbock. »Das Wort habe ich noch nie gehört. Aber es ist ausgezeichnet. Rrranssik! Ihre Sprache hat überhaupt so ausgezeichnete Wörter, des mots savoureux. Zum Beispiel: scheußlich! (Er spricht es scheißlich aus.) Man riecht die Scheußlichkeit gradezu.«

»Ja, lieber Graf, ich bedauere unendlich, aber ein Souper aus dem ›König von Portugal‹ kann ich Ihnen nicht vorsetzen.«

Da legt Steenbock mit seinem gewinnendsten Lächeln seine weiße, duftende Hand auf des Rittmeisters Arm:

»Mein lieber Kamerad, wollen Sie mir versprechen, nicht böse zu sein? Es ist ja gegen die Gewohnheit, mais à la guerre comme à la guerre! Darf ich Sie einladen, heute abend mein Gast zu sein? Ich brauche nur Ihren Diener zu meinem herunterzuschicken, damit er den Proviant heraufbringt.«

Da es unmöglich ist, sich gegen seine liebenswürdige Zudringlichkeit zu wehren, willigt der Rittmeister ein und ist nicht wenig erstaunt, was für Herrlichkeiten aus der Satteltasche zum Vorschein kommen. Der Graf hält entschieden weniger von Pulver und Blei als von der lebensverlängernden Munition.

»Wie wär's mit etwas Lachs oder Kaviar als Sakuska?«

»Danke. Gern. – Ich dachte, in Riga herrschte Hungersnot.«

»Anfangs ein bißchen. Aber dann kam das Nervenfieber und hat mit den überflüssigen Fressern aufgeräumt. Jetzt werden wir alle satt. Ich habe übrigens nie Mangel gelitten. Ich lasse mich vom Gut verpflegen.«

»Aber der Verkehr zwischen hüben und drüben ist doch streng verboten.«

»Mein lieber Kamerad«, lacht Steenbock, »wenn bei uns alle Verbote gehalten würden wie in Preußen, wäre Rußland die Hölle, aber es ist der Himmel. – Was meinen Sie dazu? Wird's ausreichen?« Dabei weist er auf ein halb Dutzend dickbäuchiger Flaschen, die der Diener einer zweiten Satteltasche entnommen hat.

»Wenn da Branntwein drin ist, so reicht er aus, um eine ganze Schwadron betrunken zu machen. – Nein, nein, unmöglich, dies ganze Trinkglas voll!«

»Wodka ist klar wie Wasser, ist gesund wie Wasser und man muß ihn trinken wie Wasser«, versichert der Graf. »Sdorowje! Auf Ihre Gesundheit!«

Zum Beweis für das eben Gesagte leert er sein Glas.

Der Rittmeister zögert einen Augenblick, folgt aber dann dem Beispiel. Der Wodka rinnt in der Tat wie kühles Wasser durch seine ausgedörrte Kehle.

»Das ist nur der gewöhnliche Haustrunk«, sagt der Graf. »Meine besseren Nalifkas müßten Sie mal kosten. Ich allein destilliere vierzig verschiedene Sorten. Und meinen Weinkeller!«

»Mit dem hat mich die Gräfin schon ein bißchen bekannt gemacht.«

»Nur mit den Kleinen, nicht mit den Großen, den Feinen: Liebfrauenmilch, Johannisberg, les grands crus de Bordeaux … Ich habe sie vermauern lassen. Selbst Maschinka kennt nicht den Platz. Ach, wann werde ich diese lieben Freunde wiedersehen!«

Das sentimentale Wölkchen hat sich im nächsten Augenblick am Himmel seiner Laune schon wieder verflüchtigt. Von neuem kommt der Graf auf die Entbehrungen der großen Armee zu sprechen, jetzt aber offenbar von dem unbewußten Trieb geleitet, sich durch die Ausmalung der schrecklichen Leiden den Geschmack an den eigenen Leckerbissen zu würzen.

Seit drei Monaten, seit Witepsk, bekamen die Soldaten wie die Offiziere schon nichts anderes mehr als Pferdefleisch.

Er schüttelt sich, während er kräftig in die Brust eines zarten Rebhuhns beißt.

»Wie kann ein gebildeter Mensch nur so tief sinken, das Fleisch von krepierten Schindmähren zu fressen! Und nun stellen Sie sich vor, mein lieber Kamerad, das einzige, was diese Elenden aufrechtgehalten hat, war der Gedanke an Moskau. In Moskau würden sie schlemmen. In Moskau würden ihnen Tische gedeckt sein mit Leckerbissen wie diese hier. Endlich sehen sie sie vor sich, die Stadt mit den goldenen Kuppeln und Türmen. Napoleon wartet auf seinem Schimmel, um die Fürsten und Bojaren zu empfangen, die ihm die Schlüssel überreichen sollen. Ja, merde! Die Stunden vergehn. Kein Mensch! Endlich kommt ein Haufen zerlumpter Banditen, Zigeuner, Sträflinge an, die ein Offizier zusammengetrieben hat. Das sind die Fürsten und Bojaren.«

»War das wirklich so?«

»Wie ich es Ihnen erzähle. Wir sind durch unsere Spione von allem unterrichtet. – Und nun sind die Soldaten in der Stadt. Keine Menschenseele auf den Straßen. Am hellen Nachmittag alles totenstill wie um Mitternacht. Die Häuser verschlossen. Statt der leckeren Schaufenster schwarze Eisenbeschläge. Auf den Märkten stinkt der verfaulte Unrat. Endlich brechen die Gardisten einen Palast auf. In den Zimmern herrliche Möbel, aber nicht eine Krume Brot. Sie dringen bis unters Dach. Als sie herunterkommen, ist das Treppenhaus schon schwarz von Qualm, und sie müssen durch ein Meer von Flammen. Der Kaiser selbst wäre im Kreml beinah verbrannt.«

»Das alles sind Märchen!« unterbricht ihn der Rittmeister. »Ich glaube Ihnen kein Wort davon.«

»In acht Tagen werden Sie's glauben, weil dann die ganze Welt es weiß.«

»Die Franzosen wären ja wahnsinnig, wenn sie ihre Winterquartiere zerstörten.«

»Die Franzosen? Allons, mon eher ami! Nicht die Franzosen. Aber der Gouverneur Rostopschin. Er hat Moskau dem heiligen Mütterchen Rußland geopfert, und alle Russen segnen ihn dafür. Ist die Stadt mit den goldenen Türmen und Kuppeln nicht ein würdiger Scheiterhaufen für den neuen Dschingis Chan? Möge der Hund drin schmoren, wie er einst in der Hölle schmoren wird. Darauf lassen Sie uns trinken!«

»Darauf trinke ich nicht«, versetzt der Rittmeister barsch.

»Warum nicht?«

»Weil der Kaiser der Alliierte Seiner Majestät ist.«

»Ich wußte nicht, daß Sie so ein Franzosenfreund sind.«

»Ich sch…« will der Rittmeister sagen, verbessert sich aber: »Ich kämpfe auf seiten der Franzosen. Deshalb möchte ich Sie bitten, Ihre Gefühle für sich zu behalten.«

»Ich wollte Sie nicht kränken. Also dann trinken wir auf die Gesundheit Ihres eisernen Yorck.«

Sie stoßen an, und seinem General zu Ehren leert der Rittmeister wieder, er weiß nicht mehr, das wievielte Glas. Dann sagt er: »Nun tinke ich aber nicht mehr.«

Es ist auch hohe Zeit, denn wenn Herr von Tungeln das R nicht mehr aussprechen kann, ist es bald um ihn geschehn.

Die niedrigen Kerzen zeigen schon lange schwarze Nasen. Die Diener stecken neue in die Flaschen und werfen frisches Holz in den Herd. Draußen steht ein blasser zerfranster Mond zwischen dunklen Wolken, und der Wind rauscht kalt und schwer von Regen. Das prasselnde Feuer in dem offnen Herd, der tanzende Flammenschein bekleiden den elenden Raum mit einem anheimelnden Schimmer.

»Sehr schön«, sagt der Graf, »mein Großvaterstuhl. Aber ich glaube, Großväterchen hat vergessen, auf seiner Flucht die Flöhe mitzunehmen. Was können wir tun? Wir müssen trinken, bis die Flöhe besoffen sind.«

»Ich tinke nicht mehr.«

»Wie Sie wollen. Eine kleine Rast, und Ihr Durst wird wieder da sein. Für diesen Fall müssen Sie ein volles Glas haben.«

»Nein, danke! Ich habe genug getunken. Auf mein Woat!«

Das ist gut gemeint, aber es wäre besser ungesagt geblieben.

Die Herren haben sich ihre Pfeifen angesteckt, und der Graf malt sich weiter die Leiden der Franzosen aus. Auf dem Rückzug würden sie nicht mehr krepierte Pferde, sondern ihre eigenen Kameraden verzehren.

»Ich bitte, doch davon aufzuhören«, sagt der Rittmeister mißmutig.

»Sie haben recht. Warum immer vom Krieg sprechen? Warum muß etwas so Dummes sein wie Krieg? Hat man je gehört, daß Tiere Krieg führen? Tiere fressen sich wohl gegenseitig auf, aber nur die Menschen töten, um zu töten. Wie schön ist das Leben, wenn man einen guten Freund hat! Und vor einer Stunde wollten wir uns noch töten.«

Mit einer großen Bewegung lehnt er sich an des Rittmeisters Seite und umschlingt seine Schultern.

»Vor einer Stunde waren Sie noch so böse auf mich, und jetzt haben wir uns so lieb. Gott wollte eben, daß wir Freunde werden.«

»Kennen Sie Gottes Willen so genau?«

»Ganz genau! Wer hat denn Ihren Arm gelenkt? Ihre Säbelklinge kitzelte schon in meinem Gehirn, da hielten Sie inne. Warum? Weil Gott Ihnen sagte, das ist ein guter Mensch der Aljoscha Steenbock, den mußt du schonen. Und nun wollen wir auf Gottes Gesundheit anstoßen.«

»Ich tinke nicht mehr.«

»Auch nicht auf Gott?«

»Auf niemanden.«

»Dann wollen wir auf Marjas Wohl anstoßen.«

Da kann der Rittmeister nicht anders, er läßt sich das Glas wieder füllen und leert es in großen Zügen. Dann stößt er es kräftig auf den Tisch, um es zu zerbrechen. Aber das Glas, das einen dicken Boden hat, bleibt ganz.

Der Graf, der auch ziemlich betrunken ist, schwadroniert immer lauter.

Er versichert, daß er nach dem Krieg auf sein Gut zurückkehren und Maschinka Kinder machen wird. Aber erst will er sich noch ein bißchen in Riga amüsieren. In Riga geht es lustiger zu als je. Und was gibt es dort für schöne Frauen! Noch vorige Woche hat er einer reizenden Tänzerin en petit comité ein Souper gegeben.

Nach der Sakuska sind sie schon alle betrunken gewesen. Als dann ein gebratenes Ferkel auf den Tisch kam, hatte ein Freund gesagt: jetzt hätten sie zwei Ferkelchen, ein niedliches braunes mit Papiermanschetten an den Füßchen und ein weißes mit Atlasschühchen … Klatsch, hatte er eine Maulschelle besehn. Aber dann hatten sie sich alle wieder vertragen und aus den Atlasschühchen Champagner getrunken.

Dumpf und wie aus weiter Ferne hört der Rittmeister dies Geschwätz an. Aber nach und nach entbrennt in ihm immer heißer ein heiliger Zorn und das Bedürfnis, zu Ehren der Gräfin etwas zu äußern, ihre Schönheit und ihre Tugenden zu preisen. Er hat das undeutliche Gefühl, daß er damit nicht recht zustande kommen wird, aber das Bedürfnis wird immer unwiderstehlicher.

»Steenbock!« bringt er mühsam hervor. »Sie sind ein Schwein und Ihre Gemahlin ist ein Engel.«

»Trinken wir auf ihre Gesundheit!« erwidert der Graf gutmütig.

»Nein! Nichts mehr tinken! Sie müssen stolz sein auf Ihre Gemahlin.«

»Und erst auf meine Schwiegermama!«

»Die steht auf einem andern Bett.« Er will sich verbessern, wiederholt aber nur: »Die liegt auf einem andern Bett.«

»Ja, sie hat in den verschiedensten Betten gelegen. Auf Ihre Gesundheit!«

Aber der Rittmeister gibt ihm keinen Bescheid, sondern brütet mit glühendem Kopf vor sich hin und schreit dann plötzlich mit aufgeblähten Backen:

»Buätt!«

»Sdorowje!« erwidert der Graf und stößt mit ihm an. Nach einem tiefen Seufzer und in dem Gefühl, daß an dem Unglück nun doch nichts mehr zu ändern sei, leert Tungeln wieder sein Glas. Der Graf wird immer vertraulicher und beginnt seinen Freund zu duzen. Gleichzeitig lädt er ihn ein, ihn zu besuchen. Wenn sie ausgeschlafen haben, wollen sie die Pferde satteln lassen und gen Riga reiten. Der Rittmeister sagt zuerst ja, als aber der Graf über seine Zustimmung gar so begeistert wird, fragt er, wie er den Vorschlag verstehn solle?

»Das ist doch ganz einfach, mein Herzchen. Ich sage den Vorposten Bescheid, und du kommst mit deinen Leuten hinüber. In Riga trittst du in die deutsche Legion ein, und alle Frauen werden dich liebhaben.«

»Das ist ja Fahnenfucht!« keucht der Rittmeister, dem jetzt ein Licht ausgeht. »Sie sind ja ein Fundshott!« schreit er. »Sie müssen mir Fatisaktion geben. Wo sind die Säbel? Hallo, die Säbel!«

Glühend vor Zorn, daß seiner Soldatenehre ein so schurkisches Ansinnen gestellt ist, tobt er in dem Raum herum, den der geisterhafte Mond mehr als die heruntergebrannten Kerzen beleuchtet, und schreit die beiden erschrockenen Diener an, wo die Säbel wären?

Diese, die im Vergleich mit ihren Herren noch einigermaßen nüchtern sind, versichern, daß sie die Säbel nicht finden können. Der Rittmeister aber, den jetzt die Ahnung begeistert, daß Gott ihm noch einmal eine Chance geben will, stolpert in den Nebenraum und beginnt seine Pistolen aus der Satteltasche loszumachen.

Kaum hat er die eine in der Hand, als er, um auch ganz sicher zu sein, daß sie geladen ist, losdrückt, wobei die Kugel nah am Bein des Kosaken, der ihm behilflich ist, in den Boden fährt. Daraufhin verziehn die beiden Soldaten, in der Meinung, daß die Schießerei gleich im Zimmer beginnen werde, sich schleunigst in ihre Kammer.

Der Rittmeister aber ist trotz aller Betrunkenheit darauf bedacht, das Zeremoniell eines ehrlichen Zweikampfes aufrechtzuerhalten. Er drückt dem Grafen die zweite Pistole in die Hand und fordert ihn auf, ihm in den Wald zu folgen. Beide verschwinden, sich gegenseitig festhaltend, auf Zickzackwegen in die Dunkelheit.

Die Diener lauern ängstlich in ihrer Kammer auf die Schüsse, die sogleich fallen werden. Aber nachdem eine Weile in gänzlicher Stille vergangen ist, kehrt der Graf, zwar äußerst blaß, aber doch einigermaßen ernüchtert, allein zurück und sagt: sie sollten seinen Freund, der noch im Walde sei, holen. Darauf legt er sich auf das für den Rittmeister aufgeschüttete Stroh und wickelt sich in dessen Mantel ein. Den Rittmeister finden die beiden Soldaten fest eingeschlafen an einen Baum gelehnt, mit der Pistole in der Hand. Da sein Lager besetzt ist, muß er sich mit dem harten Boden begnügen.

Als der Tag graut, wacht der Graf auf, zieht des Rittmeisters Mantel an, setzt dessen Mütze auf und macht sich leise aus dem Staube. Im Walde ruft ihn ein preußischer Vorposten an und will die Parole wissen, worauf er nur: »Halt's Maul, du Schwein!« antwortet. Ungehindert erreicht er nach einiger Zeit die russische Linie.

 

Als der Rittmeister den »Saal« betritt, kommt er sich selbst aus dem hohen Spiegel entgegen. Aber so wenig ist er an seinen Anblick gewöhnt, daß er eine Sekunde lang gegenüber diesem eleganten Offizier in einer Regung von Eifersucht die Stirn runzelt. Seitdem er im Waldlager haust, hat er von sich eine so ganz andere Vorstellung.

Stänzchen, die ihn empfangen hat, ist fortgestürzt und kommt jetzt mit einem Lederlappen zurück, um ein paar nasse Spritzer von seinen Stiefeln zu wischen. Während sie neben ihm kniet, sagt sie mit einem koketten Blick zu ihm hinauf:

»Die Frau Gräfin wird sich aber sehr freuen.«

Hoffentlich! denkt Tungeln kleinlaut.

»Ich will den Herrn Rittmeister gleich melden.«

Draußen hat ihm der Himmel alle Scheußlichkeiten der Saison aufgetischt: Regen, Körnerschnee und eisigen Wind. Aber in dieser weißen Halle nistet noch ein Schein vom letzten Sommertag. Die Blumen auf den niedrigen breiten Fensterbrettern strömen süße Düfte aus. Das Kaminfeuer knistert so behaglich. Und wie blank die großen Messingschlösser und Klinken an den weißen Türen funkeln! Und wie schmuck und stolz die alten Herrschaften von den Wänden schauen: die Adelsmarschälle in ihren prachtvollen Uniformen, die Obristen aus der Schwedenzeit, die hübschen Rokokodamen und ihre statiösen Mütter, die ihre pompösen Busen gewissermaßen wie auf einem Präsentierteller tragen.

Alles stimmt ihn hier festlich und froh. Und doch ist er in einer sehr ernsten Angelegenheit gekommen. Muß er doch der Gräfin das Geständnis machen, daß er nicht den Mut gefunden hat, das Hindernis ihres Glücks aus dem Wege zu räumen.

Stänzchen ist zurückgekehrt, knickst und meldet: die Frau Gräfin werde gleich kommen, sie lasse den Herrn Rittmeister bitten, sich einige Augenblicke zu gedulden. Und fügt mit leiser Vertraulichkeit hinzu: »Das goldene Mütterchen zieht sich nur ein anderes Kleid an.« Gleichzeitig legt sie ein Heft auf den Mitteltisch, an dem er sitzt. Dann geht sie ins Zimmer nebenan, um dort den Samowar herzurichten. Der Rittmeister öffnet das Heft. Es ist das Journal des Luxus und der Mode.

Er liest, daß Fräsen nicht mehr getragen werden. Weiter liest er, daß die Damen, die aus der Provinz nach Paris kommen, erst einige Zeit dort leben müssen, ehe sie das lernen, was zum wahren Ton und zur eigentlichen Eleganz gehört. Sie prunken mit überladenen Toiletten, dahingegen die Pariserin eine liebenswürdige Simplizität annimmt: je mehr sie sich entkleidet, desto geschmackvoller glaubt sie gekleidet zu sein.

Hundert verführerische Vorstellungen überfallen ihn und bringen ihn ganz von dem Zweck seines Besuchs ab. Daß Marie in Zorn geraten wird, fürchtet er jetzt nicht mehr. Aber traurig wird sie sein. Und das ist beinah noch schlimmer. Wie soll er ihr diese niederschmetternde Nachricht nur beibringen?

Finster runzelt er die Stirn, als er sich von der lieblichsten Stimme gerufen hört. Er springt auf, und als oben von der Treppe die Gräfin ihre Hand ihm entgegenstreckt, ist ihm, als umpreßte diese Hand bis zum Zerspringen sein Herz. Er eilt ihr entgegen, wenig fehlt, daß er sie in seine Arme schließt.

So viel blühende Gartenfreude der Saal auch beherbergte, jetzt erst ist die schönste Blume gekommen … und ein neues Kleid trägt sie auch, von zartem Lavendelblau.

Arm in Arm sind sie die Treppe hinuntergegangen, unten mustert Marie ihn noch einmal und strahlt dabei so glücklich, daß er denkt, sie könne überhaupt nicht unglücklich aussehen, daß aber zugleich der Gedanke, ihr Glück dennoch zerstören zu müssen, ihn um so heftiger schmerzt.

»Oh!« sagt sie und weist auf den Orden an seiner Brust. »Ich habe schon davon gehört, daß Sie dekoriert sind. Meinen herzlichen Glückwunsch.«

»Ich wollte nur, ich hätte ihn besser verdient.«

»Das wollte ich gar nicht. Denn das würde nur noch mehr vergossenes Blut bedeuten. Aber setzen wir uns doch!«

»Gnädigste Gräfin!« beginnt er und nimmt plötzlich dienstliche Haltung an. »Ich muß ihnen leider die Mitteilung machen –«

Er stockt, sein Gesicht zeigt den Ausdruck furchterregenden Ernstes.

»Was ist?« fragt sie erschrocken. »Betrifft es meinen Mann?«

Er nickt.

»Ist er gefallen?«

Er schüttelt den Kopf.

»Gott sei Dank! – Ich fürchtete schon –«

Sie ergreift aufatmend seine Hand, die auf einmal schlaff und ganz kalt in ihrer liegt. Er hat alles andere, nur diese Antwort nicht erwartet. Nun sind seine Hoffnungen doch zusammengebrochen, aus eine viel grausamere Weise noch, als er gefürchtet hat.

Er beißt die Lippen zusammen und kann doch das Beben seiner Oberlippen nicht verbergen und weder die furchtbare Enttäuschung in seinem Gesicht, noch die Bitterkeit seines Tons:

»Ich hatte geglaubt, Gräfin, daß Sie in Ihrem Herzen für mich ein gutes Gefühl –«

Da zuckt sie zusammen, und ihre Hand umpreßt jetzt wirklich fast zum Zerspringen seine Hand.

»Mein Herz ist ganz von Liebe zu dir erfüllt. Wenn du es sehen könntest, würdest du wie in einem Spiegel nur dich darin sehen«, erwidert sie.

Was geschieht nun? Ist es nicht wie damals bei seinem Wiedererwachen zum Leben, als er geglaubt hat, schon hinüber zu sein? Er fühlt sich von ihr umschlungen und ihre Lippen aus seinem Mund, aber ihr Kuß ist ihm nur eine Bestätigung, nicht eine Steigerung seines beseligenden Gefühls.

»Ich habe nur dich lieb, aber darum grade wäre es mir furchtbar gewesen, wenn du ihn getötet hättest. Hast du ihn verwundet?«

Er schüttelt den Kopf.

»Du hast ihn wieder geschont?«

Er nickt nur.

»Du Lieber, Liebster! Das steht dir ähnlich!«

Und küßt ihn zärtlich und heißhungrig auf seine Augen, seine Lippen, seine Stirn, läßt keinen Fleck seines Gesichts ungeküßt, indes er in aller Seligkeit sich wundert, daß sie so glücklich ist, wo sie doch alle Ursache zum Gegenteil hat.

Aber ehe er danach fragen kann, muß er eine andere Frage beantworten, die offenbar wichtiger ist. Wann hat seine Liebe zu ihr begonnen? Er denkt nach, und beide beginnen nun einen Wettstreit, bis er schließlich behauptet, sein Herz hätte schon mit dem ersten neuen Lebensgefühl ihr gehört. Sie aber trumpft ihn ab durch die Versicherung, schon in dem Augenblick, wo er die Pistole beiseitegeworfen und mit geschwungenem Säbel sich auf ihren Mann gestürzt, habe sie gewußt, ihr Retter und edelmütigster Ritter sei gekommen.

Da muß er sich als besiegt erklären und ihrer Liebe das Erstgeburtsrecht zugestehn.

Nun aber wollen sie endlich ihren Tee trinken. Doch auf dem Wege dahin fragt sie ihn noch, was für eine schlimme Nachricht er denn gemeint habe, und er gesteht ihr, er habe geglaubt, sie werde sehr traurig sein, weil er ihren Mann geschont habe.

»O Gott, nein! Er hat mich betrogen und mein bißchen Selbstgefühl schmählich zertreten, aber vielleicht war ich auch nicht die richtige Frau für ihn. Meinetwegen soll er glücklich sein. Ich habe jetzt nicht den geringsten Groll mehr gegen ihn.«

»Aber du bist doch noch seine Frau.«

»Was macht das aus?«

»Ja«, sagt er und bleibt stehn – »glaubst du denn nicht an das, was in der Bibel steht …?«

»Ich glaube daran. Aber ich weiß auch, daß Gott mit seinem Verbot nur die gemeint hat, die in eine wirkliche Ehe einbrechen, in einen lebendigen Bund von Mann und Frau. Aber davon kann doch bei Alexander und mir nicht die Rede sein. Seit anderthalb Jahren ist er schon von mir fort und unterhält diese Liaison. Das ist doch nie und nimmer das, was Gott unter einer Ehe versteht.«

Sie hat seine Schulter umschlungen und sieht ihn an mit dem erstaunt forschenden Blick der Liebe, der diesen neuen Zug in sich aufnehmen will.

»Hat dich das sechste Gebot wirklich so gequält?«

»Ja. – Siehst du«, fügt er hinzu, als müsse er sich entschuldigen, »ich bin ein Mensch, der den Dingen auf den Grund gehen muß. Und wenn ich da angekommen bin, dann bleibe ich da auch. Andere sind mit einem Satz wieder an der Oberfläche und lassen fünf grade sein. Ich kann's nicht. Und« – er tut einen tiefen Seufzer – »wenn ich für mich auch aus die ewige Seligkeit verzichten könnte, dich könnte ich nicht mit ins Elend ziehen.«

»Wo du bist, da ist auch für mich die ewige Seligkeit. Aber wir begehen keine Sünde. Gott ist ein Gott des Lebens und nicht des toten Buchstabens. – Georg, warst du deshalb die ganze Zeit so streng und zurückhaltend gegen mich?«

»Deshalb.«

Da zieht sie sein Gesicht hinunter und küßt den strengen Mund und lehnt sich wieder fest an ihn, aber nun nicht mehr allein in dem Gefühl des Schutzsuchens, sondern ebensosehr in dem mütterlichen Gefühl des Beschützens. Sie betrachtet ihn von neuem und heftet den Blick bald auf diese, bald auf jene Stelle seines Gesichts, wie man sich in die schwer entzifferbaren Seiten eines Buches vertieft.

»Weißt du, an wen du mich erinnerst? Herr Petry schwärmt doch immer von seinem Philosophieprosessor Kant, der lehrte, daß der Mensch gut handeln müsse, unbeschadet, was auch daraus entstehn möge. Ich habe bis jetzt immer geglaubt, dieser Professor müßte sich seine Menschen mit der Laterne suchen. Und nun steht wirklich einer vor mir. Aber solche Menschen gibt's auch nur in Preußen.«

Dann trinken sie Tee, und hinterher hat Marie eine kurze, aber, wie es scheint, ziemlich entschiedene Aussprache mit ihrer Mutter, infolgedessen die Exzellenzmama sich äußerst steif und gekränkt zeigt. Aber schon beim Abendessen taut sie auf.

Während der Rittmeister mit Heinrich durch die Nacht heimreitet, schneit es in großen Flocken. Auf seine Frage, ob Heinrich auch gut versorgt worden sei, antwortet der:

»Ich kann nicht klagen. Es war alles sehr schön und reichlich.« Die beiden besprechen noch dies und jenes, daß der Braune morgen zum Hufschmied muß, daß Heinrich unbedingt Hafer besorgen muß. Aber in der Tiefe denkt der Rittmeister nur an das, was Marie über ihr Zusammenleben mit dem Grafen gesagt hat, das gar keine wirkliche Ehe sei.

Es klang sehr schön, aber stimmt es auch? Ein Regiment, auch wenn es geschlagen und zerstückelt ist, bleibt immer noch ein Regiment. Ich verlange Gehorsam von meinen Leuten, also muß auch ich Gehorsam leisten, denn aus Gehorsam und Treue gründet sich die Welt.

Still und stetig wie der Schnee sinkt die traurige Gewißheit auf ihn nieder, daß Marie nicht recht hat.

Nach einiger Zeit bemerkt er, daß sein Mantelsack fehlt, und er fragt Heinrich danach.

»Der Mantelsack? Den habe ich dagelassen«, erwidert dieser schläfrig. »Ich dachte, der Herr Rittmeister kämen doch die nächsten Tage wieder.«

»Schockschwerenot!« braust Tungeln auf. »Du hast nichts zu denken.« Und fügt grimmig hinzu: »Es ist schon schlimm genug, wenn einer denkt.«

 

Nach den Gefechten bei Bauske hat Yorck für einige Tage im Schloß von Eckau Quartier genommen, dem Eigentum des Grafen Peter von Pahlen.

Der hat bei der Annäherung der Preußen alles stehn und liegen lassen und seinen Ruhesitz fluchtartig verlassen. Noch befindet sich in einem Schrank seines Arbeitszimmers seine gesamte Korrespondenz mit dem Kaiser Paul, den er später hat ermorden lassen.

Dies Arbeitszimmer ist der Raum eines Grandseigneurs, der Reichtum und Geschmack mit dem Bedürfnis verbindet, sich seinen glänzenden Aufstieg vor Augen zu halten. Vielleicht hat dieser Wunsch den Bewohner etwas zu weit getrieben und das Zimmer mit kostbaren Möbeln überladen. Aber auch das Unruhige des Raumes ist wohl charakteristisch für den Gemütszustand eines Mannes, unter dessen prunkvoller Höflingsuniform der ewige Zweifel um eine Tat, die zugleich Befreiung von einem geisteskranken Tyrannen und Mord an einem Freund bedeutet, nicht zur Ruhe kommen mochte.

Die unterschiedlichen Gäste, die nach dem Grafen gekommen sind, Preußen, Franzosen, Russen, haben nach Kriegsbrauch, aber immerhin noch recht gesittet hier gehaust. Gestohlen ist nichts, und wenn man von einem kleinen Riß in dem großen Porträt der Kaiserin Katharina und einigen Schrammen in den Möbeln und Brandlöchern in den Teppichen absieht, sind auch keine Beschädigungen vorgekommen. Nur an der Marmorbüste Napoleons hat ein streitlustiger Herr seine Fechterkünste versucht und ihr einige Narben beigebracht, wodurch das Gesicht einen etwas skurrilen Ausdruck bekommen hat.

Yorck benutzt die Büste als Garderobeständer. Er denkt sich weiter nichts dabei. Sie steht ihm grade so zur Hand, daß er ihr seine Mütze aufstülpt und an ihrem Sockel die Handschuhe ablegt.

Grade ist er von einem kurzen Morgenritt heimgekommen und steht am Fenster, von dem man einen schönen Blick auf die Eckau hat, die zwischen dünn beschneiten Wiesen und halb entlaubten Uferbüschen wie ein senkrecht in das Erdinnere hinabreichender Spiegel aufschimmert, um sich dann als geschmeidiger dunkler Stahlgürtel um einen grünen Bergrücken zu legen. Unruhiges Sonnenfunkeln wechselt ab mit grauen Schneewolken.

Yorck denkt an seine Truppen, die noch immer im Freien kampieren. Es ist höchste Zeit, daß man sie unter Dach und Fach bringt. Er läßt den Oberst Röder kommen, und beim Studium der Karten überlegen beide Herren, wie man am vorteilhaftesten die übermäßig ausgedehnten Stellungen zurückverlegt.

»Wenn der Marschall uns nur nicht einen Strich durch die Rechnung macht!« sagt der Oberst mitten aus der Arbeit.

»Warum sollte er?«

» La gloire! Ein Welscher kann nicht verstehn, daß man sich nach einem Sieg zurückzieht.«

Yorck ist eigentlich anderer Ansicht, aber er möchte eine Debatte mit dem etwas rechthaberischen Oberst vermeiden.

»Überhaupt wundert's mich, daß er gar nichts von sich hören läßt. Er wird doch nicht neidisch sein?«

»Neid ist zwar eine militärische Berufskrankheit und bei den höheren Stellen endemisch, aber er hat so viele Siege erfochten, daß er auch einem andern wohl etwas gönnt«, erwidert Yorck und blickt dann verwundert auf.

Nach heftigem Pochen hat ein junger Adjutant die Tür aufgerissen und meldet atemlos, daß soeben der Herr Marschall mit Gefolge angeritten komme.

Yorck hat grade noch Zeit, umzuschnallen und seine Mütze aufzusetzen, um den Marschall, der mit großem Gefolge aus Stalgen eingetroffen ist, am Eingang zu empfangen.

Ein merkwürdiger Zug bewegt sich die prächtige Marmortreppe hinauf: zwischen die wallenden Federbüsche und die goldstrotzenden Waffenröcke der französischen Offiziere mischen sich die fadenscheinigen, glanzlosen, oft geflickten preußischen Uniformen.

Im Gegensatz zu seinem gewohnten ungezwungenen Auftreten trägt der Marschall heute eine gewisse stolze Feierlichkeit zur Schau. Er legt den Kopf etwas in den Nacken, wodurch die offenen Nasenlöcher noch stärker als sonst zur Geltung kommen.

Yorck hat ihm die Tür seines Arbeitszimmers geöffnet, in dessen Mitte der Herzog stehnbleibt, während sein Gefolge sich im Halbkreis um ihn gruppiert. Yorck steht ihm gegenüber, und unwillkürlich sind die Herren seines Stabes hinter ihn getreten.

»Herr General von Yorck« – der Marschall spricht diesmal französisch – »die letzten Tage des vergangenen Monats brachten Ihnen außergewöhnliche Aufregungen und Strapazen, uns aber boten sie ein anregendes und erhebendes Schauspiel. An der Hand der Rapporte und Gefechtsberichte konnten wir verfolgen, mit welcher bewunderungswürdigen Meisterschaft Sie dem überlegenen Feind das Gesetz der Aktion aufgezwungen und seine Kräfte, ehe er sie noch versammeln konnte, einzeln geschlagen haben. Ich habe Ihnen für diese glänzenden Erfolge bisher noch nicht meine Anerkennung ausgesprochen, weil ich der Ansicht war, meinem Souverän den Vortritt lassen zu müssen, und die Überzeugung hatte, daß er mit seinen Glückwünschen nicht zurückhalten würde. Gestern nun ist ein Bulletin eingetroffen, worin Ihre brillanten Gefechte eine vorläufige rühmende Erwähnung finden, und heute morgen schickt mir der Kaiser einen Kurier mit dem Auftrag, Ihnen seine Allerhöchste Anerkennung auszusprechen. Um Ihre Verdienste auch durch ein sichtbares Zeichen zu belohnen, verleiht Seine Majestät Ihnen« – während der Marschall einen Augenblick innehält, nimmt er aus der Hand des neben ihm stehenden Oberst Terrier ein geöffnetes Saffianetui entgegen – »das Offizierskreuz der Ehrenlegion, das ich hiermit die Ehre habe, Ihnen zu überreichen. – Das kleine Papier da« – fügt er nachlässig hinzu – »enthält nur die Bescheinigung, daß mit der Dekoration eine jährliche Rente von zwanzigtausend Francs verbunden ist.«

Während die französischen Herren die Miene hochmütiger Gelassenheit bewahren, geht über die Gesichter der preußischen Offiziere ein angenehmes Schmunzeln. Sie freuen sich ganz unverhohlen für ihren General, und vielleicht noch mehr über die Zwanzigtausend als über den Orden.

Nur Yorcks sonst so bewegliches Gesicht verändert sich kaum. Es zeigt den Ausdruck höflichen Beifalls, aber mehr auch nicht.

»Euer Durchlaucht«, erwidert er. »Darf ich Ihnen meinen gehorsamsten Dank aussprechen im Namen meiner Offiziere und meiner braven Soldaten. Ihrer Bravour und unermüdlichen Ausdauer ist es hauptsächlich zuzuschreiben, wenn den Russen der nahezu schon als sicher betrachtete Erfolg entrissen wurde. Wir Preußen, als Schüler des großen Friedrich, wissen es zu schätzen, wenn der erste Soldat der Welt unsere bescheidenen Erfolge in dieser Weise ehrt. Ich bitte Sie, Seiner Majestät Ihrem Kaiser den Ausdruck meines untertänigsten Dankes und Respekts zu Füßen legen zu wollen.«

Yorck schweigt und Macdonald ebenfalls. Vielleicht erwartet dieser noch etwas, da aber nichts erfolgt, sagt er:

»Ich danke Ihnen, Herr General, für Ihre liebenswürdigen Worte und benutze gleichzeitig diesen Anlaß, Ihnen und Ihren Herren die erfreuliche Mitteilung zu machen, daß der Kaiser nach seinem Rückzug aus Moskau einen neuen glänzenden Sieg über die Truppen des Generals Bennigsen erfochten hat. Es lebe der Kaiser!«

Dann wirft der Marschall seinem Generalstabschef einen Blick zu, und die Herren des Gefolges ziehen sich ohne feierlichen Abschied ins Nebenzimmer zurück.

Sobald die beiden allein sind, ergreift Macdonald noch einmal Yorcks Hand:

»Ich habe mich wirklich aufrichtig über die hohe Anerkennung des Kaisers gefreut. Wie ungeduldig ich war, sie Ihnen zu überbringen, können Sie daraus ersehn, daß ich sofort nach Ankunft des Kuriers hergeritten bin. Aber nun müssen Sie das Kreuz auch anlegen.«

»Darf ich damit warten, Herr Marschall, bis mir mein König die Erlaubnis dazu gegeben hat?«

»Unsinn!« erwidert Macdonald in scherzendem Unwillen. »Napoleon ist Ihr oberster Kriegsherr, er hat über Sie Strafgewalt, also auch wohl das Recht, Sie zu beloben.«

Meiner Treu, denkt er, während er ihm den Orden anheftet, wenn man so abgerissen herumläuft, könnte man sich über zwanzigtausend Francs Rente wohl ein bißchen mehr freuen.

»Im Vertrauen gesagt, lieber Herr von Yorck, Napoleon hat die Absicht, Sie bei nächster Gelegenheit zum Marschall des Kaiserreichs zu machen. Mich würde ja nichts mehr freuen, als wenn wir in enger Waffenbrüderschaft noch manchen schönen Sieg erfechten könnten. – Sie scheinen diese Freude nicht ganz zu teilen?«

»Verzeihung, die Nachricht kommt so unverhofft – ich bin noch ganz fassungslos –«, erwidert Yorck und denkt bei sich: Woher dies Übermaß von Ehren? Wankt sein Bau bereits? Sucht er vielleicht nach neuen Stützen?

»Es gibt doch kein höheres Glück, als dem Genius zu dienen«, sagt der Marschall.

»Gewiß! Wer wollte das bezweifeln? Nur, ein bescheidener Preuße wie ich – dem genügt es, seinem König zu dienen.«

»So dachten Sie nicht immer. Es gab eine Zeit, da war Ihnen gleichgültig, wer Ihr Herr war, wenn er Ihnen nur Gelegenheit gab, Ruhm zu erwerben.«

»Die Zeit ist längst vorbei, und sie war die unglücklichste meines Lebens. Nie bin ich mir so entwurzelt und verloren vorgekommen wie damals, als ich kein Vaterland mehr hatte. Jetzt weiß ich doch, wohin ich auf Gedeih und Verderben gehöre.«

»Aber grade als Preuße sollten Sie sich freuen, dem Kaiser zu dienen. Und nebenbei gesagt, es wäre eine kluge Politik, Ihren Souverän in seiner Anhänglichkeit an Napoleon zu bestärken.«

»Ich bin kein Politiker.«

»Bravo! Für uns Soldaten ist der grade Weg der beste.«

»So ist es. Ich tue einfach meine Pflicht.«

»Um so schöner, wenn Pflicht und Neigung zusammengehn. Man kann gegen Napoleon viel einwenden, aber er ist der Mann des Schicksals.«

»Nur fragt es sich: was ist sein Schicksal?«

»Sein Wille ist das Schicksal!« erwidert Macdonald auffahrend. »Momentan mag er ein wenig in Verlegenheit sein. Der Brand von Moskau kam uns verdammt ungelegen. Aber was hat das zu bedeuten? Ein bißchen Mißgeschick stimmt ihn vielleicht friedlicher. – Nun, ich hoffe jedenfalls, wir werden noch manchen Kampf zusammen bestehn. Wie?«

Yorck verbeugt sich höflich und bittet, nach sekundenkurzem Schweigen, den Marschall, bei ihm einen Teller Suppe zu essen. Aber der lehnt ab. Irgend etwas hat ihn verstimmt. Als Yorck ihm die Klagen wegen der unmöglichen Verpflegungsverhältnisse vortragen will, verweist er ihn ungeduldig an die zuständigen Instanzen. Beinah brüsk, nach Art der großen Herren, verabschiedet er sich.

Yorck begleitet ihn hinunter und sieht bei dieser Gelegenheit seinen Fuchswallach wieder. Das kluge Tier schnobert erfreut aus seinen feuchten Nüstern und möchte ihn am Rockärmel zupfen. Aber Yorck muß des Marschalls höfliche Abschiedsworte anhören und beantworten.

Dann sprengt die Kavalkade davon.

Als er dann sein Arbeitszimmer betritt, kehrt das Erlebte wie im Echo wieder: des Kaisers überschwengliche Gnadenbeweise, des Marschalls werbende Gunst. Alles das aber erhält eine merkwürdig unheimliche Beleuchtung durch die Tatsache, daß Moskau brennt.

Also war es nicht bloß ein Gerücht. Der Marschall berichtet von einem glänzenden Sieg Napoleons. Bei den Preußen aber erzählt man's anders. Ja, heute morgen wollten einige Herren sogar wissen, daß die Russen infolge einer neuen Schlacht die Rückzugsstraße über Kaluga gesperrt hätten, so daß Napoleon die alte Vormarschstraße über Smolensk durch die völlig ausgesogene und verwüstete Gegend würde benutzen müssen. Dann gnade Gott der großen Armee! Dann wird sich vielleicht doch noch bewahrheiten, was so viele schon vor dem Feldzug behauptet haben, daß Raum und Zeit zustande bringen, was Menschenmacht nicht vermocht hat …

Ein Mann in meiner Situation – denkt Yorck – mit einer kleinen, aber erprobten Macht, ein Draufgänger ohne großes Bedenken, der könnte jetzt viel machen, der könnte vielleicht sogar den Herrn des Schicksals von seinem Thron stürzen und sich selbst draufsetzen. Schade beinah, daß man Preuße ist und Yorck heißt.

Während er der Napoleonsbüste seine Mütze aufstülpt, sinnt er weiter, daß eines Tages – er wird ihn ja kaum noch erleben – es mit dem Herrscher der Welt vorbei sein wird. Wie wird man ihn dann nennen? Wird man ihn den großen Männern, den zweifelhaften Helden, den Gottesgeißeln zurechnen? Wie's auch sei, jedenfalls soll man nicht sagen, daß auch er, Yorck, ihm erlegen sei.

Damit macht er das Kreuz der Ehrenlegion von seiner Uniform los und hängt es an die Büste.

Kaum sitzt er wieder an seinem Arbeitstisch, als die Ordonnanz einen französischen Offizier meldet. Der junge Herr, ein Adjutant Macdonalds, entschuldigt sich mit vielen Höflichkeitsphrasen, der Marschall habe seine Handschuhe hier liegenlassen.

Beide Herren suchen.

»Nein, nein«, sagt Yorck, »das sind meine. Da in der Ecke liegen die des Marschalls.«

Er will sie ihm geben, aber der Leutnant steht blutrot vor der Büste, seine Hand am Degen zittert. Sein Blick ist eine drohende, unverschämte Herausforderung. Aber Yorcks Augen, die so versengend sein können, können auch von eisgrauer Kälte sein, von einer Kraft der Ferne, die den andern gewissermaßen auslöscht und zunichte macht. Der junge Herr schluckt seine Wut hinunter, nimmt die Handschuhe, salutiert und geht.

Dumm! denkt Yorck. Man sollte solche Spielereien lassen. Das Korps hat schließlich den Schaden davon. Was wird der Marschall jetzt tun?

Aber einige Augenblicke später ist er wieder in seine Arbeit vertieft. Es beginnt zu dämmern, er kann nicht mehr recht sehn, aber um die Kerze anzustecken, dünkt es ihn noch zu früh. Im Kamin ist das Feuer beinah erloschen. Er wirft ein paar Holzscheite hinein. Da wird ihm ein Offizier gemeldet, der im Auftrag des Obrist von Horn ihm einen Brief übergeben soll. Yorck läßt ihn eintreten.

Der Brief sei heute morgen an den Herrn Obrist gelangt von dem Herrn General von Essen, dem Gouverneur Rigas.

»Schön«, sagt Yorck, der sich schon denken kann, was er enthält. »Legen Sie ihn nur auf meinen Platz.«

»Ich soll ihn Euer Exzellenz persönlich übergeben.«

Lächelnd über diese pedantische Gewissenhaftigkeit nimmt Yorck ihm den Brief aus der Hand.

»Es wird sich wieder um den Gefangenenaustausch handeln.«

»Ich glaube nicht, Euer Exzellenz. Der Brief soll von der größten Wichtigkeit sein.«

»Na schön!« erwidert Yorck. – »Guten Abend.«

Dann beginnt er beim Flackerschein des Holzfeuers zu lesen. Diese Russen sind immer so entsetzlich weitschweifig. Diesmal aber scheint der General von Essen ohne lange Umwege auf den Kern der Dinge loszugehn. Schon nach den ersten Sätzen nimmt Yorcks Gesicht den Ausdruck des Aufhorchens an. Dann aber fährt er unwillig zurück. Seine Züge versteinern gradezu, als weigerte sich sein Hirn, gewisse Sätze in sich aufzunehmen.

Unglaublich! denkt er, was diese Asiaten einem preußischen General zumuten.

Die Hand, die den Brief hält, streckt sich über das Kamingitter. Sie ist schon im Begriff, ihn in die Glut zu werfen, als er zögert. Darf ein Mann in seiner Stellung edelmütigen Aufwallungen Raum geben? Auch das wäre nur romantische Spielerei. Der Brief muß durch einen sicheren Kurier an den König gehn.

Murat geschlagen. Die Kavallerie vernichtet. Die grande armée von den überlegenen Streitkräften Kutusows umzingelt. Wenn nur die Hälfte von alledem wahr ist … Und der General von Essen stellt ihm das Ansinnen, Macdonald und sein Gefolge verhaften zu lassen und an die Russen auszuliefern … Ohne den Blick vom Feuer zu wenden, hat er den zerknitterten Brief geglättet und zusammengefaltet. Als er dann aufsieht, ist es ganz dunkel geworden – aber was für Wege sind seine Gedanken auch gewandelt … schwindlige, wahnsinnige, böse Wege.

Es muß wohl an dem Raum liegen, hinter dessen Wänden von seinem ursprünglichen Bewohner noch die Erinnerung an Verrat und Mord spukt.

 

In dem großen Wald südlich der Annaburger Forstei gibt es an diesem Spätherbstabend viele hundert Wachtfeuer, die um die Soldaten gelagert sind. Aus einigen wirbeln noch hohe Feuersäulen zum Schrecken der Krähen, die in den Kiefern und Birkenkronen nisten. Große Scharen treiben sich mit aufgeregtem Krächzen, gejagt von Furcht und gehalten von Anhänglichkeit an ihre Nester, in schwarzen Kreisen umher und mögen ihrerseits den Mond in Aufruhr versetzt haben, der wie ein verstörtes Gesicht hinter den Wolkenflören dahinzujagen scheint. Andere Feuer haben schon die Abgeklärtheit einer milden gesammelten Glut erreicht, einen Zustand, den der Soldat am liebsten hat.

An den Feuern schmoren allerhand kulinarische Genüsse. Da das Lebensmittelfassen, seitdem französische Intendanten die Lieferung übernommen haben, immer ergebnisloser geworden und das Plündern streng verboten ist, müssen gelegentliche Jagden den unzureichenden Vorrat ergänzen. Der Wilddieberei gegenüber drückt Isegrim ein Auge zu, nur darf der Schütze sich nicht auf frischer Tat erwischen lassen.

Manchmal ist einer so glücklich, einen Elch zu erlegen, meist aber wird nur kleineres Getier zur Strecke gebracht. Ein Rehbock gilt schon als sehr ansehnliche Beute. Diesem Braten sehen außer den beiden Köchen, die ihre Bajonette als Bratspieße benutzen, noch ein halbes Dutzend andere mit ernsten Mienen zu. Jeder ist überzeugt, den Kernschuß getan zu haben. Aber anstatt sich zu zanken, haben sie beschlossen, die Beute unter sich zu teilen.

Ein weniger glücklicher Jäger schmort auf seiner Feuersglut stillvergnügt einen Igel zwischen heißen Steinen. Noch andere begnügen sich damit, in der glühenden Asche Kartoffeln zu braten oder sich aus Mehl und Schmalz einen »Feldwebel« zu bereiten, den sie in Ermanglung von Salz mit Schießpulver würzen.

Einige Soldaten haben einen nahen Waldtümpel benutzt, um ihre Hemden zu waschen. Einen hat sein Reinlichkeitsbedürfnis dazu verführt, sich selbst abzuseifen. Jetzt springt er zitternd am Feuer herum und schimpft über die Kälte.

»Warum behältst du deine Dreckschwarte auch nicht an, bis wir Hosen bekommen, du Brummochse!« spottet sein Kamerad.

»Wieso habt ihr keine Hosen?« fragt ein Jäger seinen Nachbarn. »Du hast doch ganz feine Buchsen an.«

»Die habe ich mir auch selbst verdient«, antwortet der Gefragte, ein kleiner fixer Füsilier mit einem Ausdruck kecken Selbstbewußtseins in den schwarzen Augen.

»Wieso verdient?«

»Das will ich dir erzählen. Ich ging da neulich mit meinem Kamerad« – er betont Kammerat – »'ne Patrouille, da kamen wir zufällig in ein Haus –«

»Bei 'ner Patrouille?« fragt der Jäger.

»Da kamen wir zufällig in ein Haus«, fährt der Füsilier fort, nach einem scharfen Blick auf den Unterbrecher, »und fanden da 'nen Ballen Leinwand. Ich sehe meinen Kammerat an, mein Kammerat sieht mich an, und wir jehn unsere Patrouille weiter. Aber als wir auf dem Rückweg sind, da müssen wir doch akkurat unserm Alten in die Arme laufen. Und was tut das Rindvieh? Schleppt uns direktemang vor den Isejrimm, der jrade die Vorposten inspiziert.«

»Au Schiet, Mann, und du lebst noch?« fragt einer der Zuhörer.

»Da ist dir aber das Herz in die Hose gefallen«, meint der Jäger.

»Es is mir nich in die Hose jefallen«, erwidert der Erzähler scharf.

»Der Isejrimm sah uns nur an, aber so, als wenn du Viehsalz zu fressen kriegst. Direkt Löcher frißt einem der Blick. Dann sagt er: ›Euch paßt wohl das Leben nicht mehr? Denn daß ihr als Plünderer füsiliert werdet, das wißt ihr doch?‹ Ich sah ihn nur wieder an, wie Adam vor dem Sündenfall, und schlage meinen Mantel auseinander, aber so, daß er die ganze Bescherung vor sich hat. ›Kerl‹, sagt er, ›du hast ja keine Hosen an!‹ Nein, Exzellenz, sage ich, ich nich und mein Kammerat nich und das janze sechste Rejiment nich. – ›Was habt ihr denn mit euren Hosen gemacht?‹ – Die Leinenhosen, mit denen wir ausjerückt sind, die sind alle jeworden. Da haben wir Putzlappen draus jemacht. Und neue haben wir nich jekricht. – ›Keine Hosen an? Die Leute kampieren bei der Kälte im Freien und haben keine Hosen an? Da liegt doch wohl so was wie Notwehr vor‹, sagt er zu unserm Alten. ›Na, mein Junge‹, sagt er zu mir, ›denn behalte nur deine Leinwand und laß dir ein Paar neue Hosen machen, um deine Blöße zu bedecken. Da hast du'n Recht drauf, als preußischer Soldat und als Christenmensch.‹«

»Feine Hosen!« lobt der Jäger.

»Und mit doppeltem Boden«, sagt der Füsilier. »Da kannst du ruhig mal in den Dreck fallen und kriegst noch lange keinen nassen Arsch.«

In der Nähe des Feuers steht ein Soldat, der, nur mit einem Hemd bekleidet, dafür aber an den Beinen, der Brust und im Gesicht mit einem Gestrüpp von schwarzen Haaren bewachsen, einigermaßen einem Gorilla ähnlich sieht. Er hat seinen Leibriemen an einem Baum befestigt, und während er sein Rasiermesser schleift, singt er mit schallender Stimme:

»Fürs Vaterland zu sterben
Wünscht mancher sich.
Zehntausend Taler erben
Das wünsch ich mich.
Das Vaterland ist undankbar –«

»Muß einen dies verdammte Lied denn überall verfolgen!« schilt unmutig ein junger Leutnant an einem andern Wachtfeuer, um das mehrere Offiziere sich gelagert haben. »Daß sich nicht mal einer von den Kerls hinsetzt und was Anständiges dichtet!«

»Dazu gehört Begeisterung. Und wo gäb's in dieser Kampagne etwas, wofür man sich begeistern könnte?« erwidert Fritz von Heydebrandt ihm.

»Hol mich der Teufel, da haben Sie recht. – Na, ich wüßte ja einen Krieg, für den man sich begeistern könnte.«

»Scht!« warnt den Unvorsichtigen ein älterer Kamerad und weist auf einen französischen Dragoneroffizier.

»Monsieur de Clavé schnarcht. Übrigens ist er im Herzen gut preußisch gesinnt, hat er mir verraten.«

»Wirklich?«

»Man könnte natürlich auch in dieser Kampagne einen Gegenstand der Begeisterung finden«, sagt mit einem Ausdruck spöttischer Überheblichkeit ein anderer junger Leutnant zu seinem Nachbar. »Denn was bedeutet sie anderes als den Kampf Europas gegen Asien, den Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei! Und die Frucht dieses Kampfes ist die Universalmonarchie, das geeinigte Europa.«

»Darf ich fragen, Kamerad, was in diesem europäischen Mischmasch Preußen macht?«

»Verzeihen Sie, durchaus kein Mischmasch. Es handelt sich ja nur um die politische Einigung. Ich bin überzeugt, daß im kulturellen Wettstreit die Völker Germaniens ihren alten Ehrenplatz behaupten werden.«

»Sie muten den Deutschen den Platz in Schillers Gedicht zu. Einen Freiplatz im Himmel. Aber ich denke, die Deutschen können einen Platz auf der Erde ebensogut beanspruchen wie jede andere Nation.«

»Ach, Kinder, streitet euch nicht«, sagt ein dicker Hauptmann. »Was wollt ihr denn gegen den Riesen? Ebensogut könntet ihr die Pyramiden wegfurzen.«

»Was, wir könnten nicht? Wir könnten sehr gut! Nur müßten wir die Freiheit mehr lieben als unser Leben. Verzeihung!« sagt Heydebrandt, der vor Erregung etwas stottert.

»Das meine ich auch«, stimmt sein Kamerad ihm zu. »Und deshalb soll das Bündnis mit diesem Tyrannen und Universaldespoten der Teufel holen.«

»Herr!« fährt in diesem Augenblick der Rittmeister von Tungeln, der im Vorbeigehn die letzten Worte gehört hat, den Sprecher an. »Wie können Sie sich solche Ausdrücke erlauben gegenüber dem Verbündeten Seiner Majestät!«

»Aber –«

»Es gibt kein Aber. Gegenüber dem Willen Seiner Majestät hat jede Kritik zu schweigen.«

»Dann denkt man sich sein Teil.«

»Selbst das sollte man heute als Offizier unterlassen. Denn mit dem stillen Murren beginnt's. Dann kommt das offne Drohen. Und schon folgt die Tat auf dem Fuß. – Wenn Sie erlebt hätten, was ich erlebt habe –«

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Kamerad, und uns erzählen?«

Während Tungeln von seinem Erlebnis mit Yorck angesichts der Leiche Tiedemanns berichtet, steht einige hundert Schritt entfernt der Sänger von vorhin, breitbeinig, von der Feuersglut beschienen, vor einem kleinen, in die Borke eingeklemmten Spiegelscherben und schabt mit grimmigem Gesichterschneiden seine Backe. Als er die gröbsten Stoppeln entfernt hat, seift er sich von neuem ein und singt zugleich mit gefühlvoller Stimme:

»Wilhelm, komm an meine Seite,
Nimm den letzten Abschiedskuß,
Tönen hör ich das Geläute,
Welches mich zu Grabe ruft.«

»Treu dem Befehl! Die Worte werde ich noch in meiner Todesstunde hören«, schließt der Rittmeister seine Erzählung. »Und diese Treue beginnt schon hier.« Damit schlägt er sich auf die Stirn. »Wünsche den Herren eine angenehme Nacht.«

»Ich kann mir nicht helfen, der Tiedemann war doch ein feiner Kerl«, knurrt der gerüffelte Leutnant.

»Frankreich hat uns überwunden,
Dies, mein König, kränket mich.
Dies verkürzt mir meine Stunden,
Reißet mich jetzt schnell von dir –«

Den Offizieren schneiden sich die Unmutsfalten tiefer in die Stirn. Es hat grade noch dieses Liedes bedurft, um ihnen den kränkenden Widersinn ihrer Lage ins Bewußtsein zu pressen. Der ihnen dies verhaßte Bündnis aufgezwungen hat, ist ja nicht nur der Todfeind des Vaterlandes, sondern auch der Henkersknecht ihrer geliebten Königin. Denn diese Überzeugung hat jeder im Volk, daß vor allem die rohe Behandlung Napoleons und die Aufregung der Flucht den Tod der zarten Frau verschuldet haben.

Es ist nur ein Bänkelsängerlied, und doch liegt etwas eigentümlich Ergreifendes in dieser schleppenden Melodie, die nicht von nah und soeben gekommen, sondern wie ein Strom von unbekannten Quellen her zu unbekannten fernen Zielen hin zu rauschen und den Schmerz aller Dörfer und Städte und einsam gelegenen Hütten, denen sie auf ihrem Wege begegnet ist, mit sich zu tragen scheint.

Als der Sänger schweigt, ziehen die Offiziere ihre Mäntel über die Ohren.

Heydebrandt aber beobachtet Clavé. Was hat er den Arglosen aufgebunden? Er sei im Herzen gut preußisch gesinnt! Welchen Zweck verfolgt er mit dieser unverschämten Lüge? Horcht er vielleicht die Kameraden aus?

Heydebrandt ist geneigt, ihm auch das zuzutrauen. Denn er argwöhnt noch ganz andere Dinge. Schon einige Male hat er beobachtet, daß Clavé in der Nacht sich plötzlich davonstiehlt. Wo treibt er sich herum?

Dieser hebt nach einer Weile blinzelnd seinen Kopf. Als er überzeugt ist, daß alle schlafen, zieht er seine Beine an sich, steht leise auf und verschwindet im Wald.

Heydebrandt lauscht mit gespanntem Atem. Er glaubt, bei den Pferden gedämpfte Stimmen zu vernehmen, und geht der Richtung nach. Hinter einem Baum versteckt, sieht er, wie Clavé sein Pferd besteigt und davonreitet.

Katherinenhof liegt nur eine halbe Stunde entfernt. Aber jetzt, um zehn Uhr nachts, sind doch schon alle schlafengegangen. Wenn aber die eine noch wacht?

Es dauert eine Weile, bis er die Stelle findet, wo sein Pferd angebunden ist. Er befiehlt dem Diener zu satteln. Der fragt, ob er den Herrn Leutnant begleiten soll?

»Nicht nötig. In einer Stunde bin ich wieder da.«

Während er einen kurzen Galopp anschlägt, lauscht er, ob er nicht das Klappern von Hufen hört. Aber das mächtige Rauschen der Baumkronen verschlingt alle Geräusche. Nur die Äste reiben sich knirschend aneinander.

Er überquert eine lehmige, von tiefen Radspuren durchschnittene Straße, dann geht's steil eine Senke hinab. Auf der andern Seite des schmalen Tals führt ein Hohlweg bergan, den rechts ein dünner Waldsaum begleitet. Ehe der Wald zu Ende ist, macht Heydebrandt im Schutz der letzten Bäume halt. Vor ihm dehnt sich ein weites Feld, über das die Straße nach Katherinenhof führt.

Er späht und späht, ohne etwas entdecken zu können. Sein Herz schleppt sich mühsam, gespannt zwischen Hoffnung und Furcht. Auf einmal bäumt es sich steil auf und ist dann reglos still. Als ein Streifen Mondlicht das ferne Ende der Straße beglänzt, gewahrt er die Umrisse eines Reiters.

Seine Hand fährt nach dem Pistolengriff. In einer Stunde zurück? Auf einmal weiß er: weder er noch Clavé werden in einer Stunde oder sonst wann zurückkommen.

Schon will er dem Pferd die Sporen geben, da streicht die Hand dem erschrockenen Tier langsam und schwer über den Hals.

Er denkt an seinen Schwur. Immer wieder hat er ihn erneuert, nie hat er ihn gehalten. Kaltes Blut! Kaltes Blut! In allen Lebenslagen kaltes Blut! … Die aufgewühlten Leidenschaften schäumen gegen das Gehäuse seines Willens. Als er nach einer Weile über seine Stirn streicht, ist die Hand tropfnaß. In seinen Augen brennt der Schweiß. Aber er vermag klar zu denken.

Welches Recht hat er auf Marlene? Hat sie je zugegeben, daß sie seine Liebe erwidert? Als er sie fragte, ob sie einen andern liebt, hat sie geschwiegen. Und dies Schweigen war Antwort genug. Er hat kein Recht. Aber er will Gewißheit. Wenn er sie mit Clavé trifft, ist alles aus … Käme es doch morgen wieder zur Schlacht! Ich werde mich wie ein Selbstmörder auf den Feind stürzen. Vielleicht wird sie mich wenigstens beweinen.

Er reitet weiter. Die Gefahr, vor dem Ziel von Clavé entdeckt zu werden, scheint ihm größer als die, zu spät zu kommen.

Darum zügelt er sein Pferd. Vor dem Park bindet er es an einen Baum. Aber die Tore sind geschlossen, sowohl die große Einfahrt wie das kleine Nebentor. Auf seinen eignen Rat ist das geschehen. Aber wie ist Clavé hineingekommen? Hat er einen zweiten Schlüssel? Und wo ist sein Pferd?

Durch den Park führt eine Rüsterallee zum Herrenhaus. Nach angestrengtem Spähen löst sich ihm aus der Dunkelheit das etwas hellere Massiv.

Aber jetzt zerteilen sich die zerklüfteten Wolken, und aus ihrer schuppigen Hülle schält sich wie die Scheibe einer glanztriefenden Frucht der Mond. Im selben Augenblick gewahrt Heydebrandt, wie eins der Fenster blinkt und sich hin und her bewegt. Seine Augen durchstoßen das Dunkel, reißen die fahle Fassade näher an sich. Hat sich nicht ein weißes Nachtgewand bewegt? Dann verschwindet alles, das graue Haus, die schwarzen Fensterlöcher, das schielende Blinken, bis nach einiger Zeit das undeutliche Massiv wieder zum Vorschein kommt.

Das blinkende Fenster lag dort, wo sich die Schlafzimmer der Mädchen befinden. Er muß wissen, was da vor sich geht.

Wenn man ein paar Risse nicht scheut, kann man sich doch durch die Weißdornhecke, die den Park umgibt, hindurchzwängen. Aber die harten Äste sind zu dicht ineinander verwachsen, bilden ein unzerreißbares Gestrüpp. Suchend geht er entlang, um irgendwo am Boden eine Lücke zu finden.

Die feuchte Erde klebt an seinen Stiefeln. Er kommt auf eine Wiese. Sieht den Kirchturm, der in das Wolkengeschiebe sticht. Der Turmhahn dreht sich wie verrückt, der Mond darüber grinst breitmäulig.

Plötzlich bleibt Heydebrandt stehn und hätte sich beinah durch einen Schrei verraten.

An dieser Stelle ist die Weißdornhecke mit Buche untermischt, die Äste sind hochgezogen und bilden zusammen mit allerlei Schlinggewächsen eine Laube. Er kennt sie nur zu gut. Er hat auch die Stimme sofort erkannt. Sein Ohr ist vor diesem flüssigen Wohllaut zurückgeprallt, seine Zunge spürt Giftgeschmack. Aber bei dem Gedanken, daß Marlene dieser Stimme lauscht, bricht ungeheurer Schmerz über ihn herein. Kaum kann er sich aufrecht halten. Aber dann straffen seine Glieder sich, und er steht sprungbereit in Haß und wildem Vernichtungsdrang.

Die Stimme fließt und fließt, sie windet sich wie ein exotisch schwüles Gewässer durch die kalte Herbstnacht. Verstehn kann er kein Wort. Wenn er doch nur einen Ton der weiblichen Stimme erlauschen könnte!

Er preßt sein Ohr dichter gegen die Hecke und spürt nicht, wie die Dornen seine Haut zerreißen.

Schon vernimmt er etwas wie einen Seufzer. Da überfällt ein Windstoß ihn, heult und faucht und reißt das bißchen Menschenstimme in seinem feuchten Brausen mit. Dann wird es wieder still. Kein Wind, kein Stimmengeflüster. Nur die Wolken jagen unterm blankgeschliffenen Mond in zerrissenen Fetzen und Flören.

Einen Augenblick verliert er sich in diesen Aufruhr. Durch sein verstörtes Hirn jagen wirre Vorstellungen: brennende Häuser, Artilleriegetöse, Angstschreie, mordende Männer …

Auf einmal vernimmt er wieder die Männerstimme. Jetzt ist sie kein schwüles verschwommenes Flüstern mehr. Erregt, hart, wie aus Metall geschnitten, klingt jedes Wort:

»Wenn du mir den Gefallen nicht tust, was soll ich dann von dir denken? Du sprichst von Spionage. Unsinn! Das ist nichts anderes als erlaubte Abwehr. Terrier ist der Überzeugung, daß der General mit den Russen konspiriert. Aber er hat keine Beweise. Und der Brief soll ihm dazu dienen. Du bist der einzige Mensch, der den Brief überbringen kann, weil du den neuen Gouverneur kennst.«

Stille. Heydebrandt atmet nicht mehr. Sein Herzschlag schweigt unter dem Druck seines Willens. Seine Hände liegen wie hohle Muscheln an seinem Ohr. Aber das gepreßte Flüstern der Frauenstimme vermag er nicht zu verstehn.

»Liebling, versteh doch, wieviel für mich davon abhängt. Wenn ich Yorck zu Fall gebracht habe, bin ich der große Mann. Dann ist mir die Gnade des Kaisers sicher. Hast du mich denn gar nicht lieb?« Seufzer. Küsse.

Als Heydebrandt sich erhebt, umweht ihn eine andere Luft. Und ebenso ist die Landschaft verändert, der dunkle Wiesengrund, die Bäume, der Kirchturm, das Wolkentreiben unterm Mond, das alles hat etwas Gespenstisches, als wäre es ein Schattenspiel aus einem toten Stern.

Als er Flüstern hört, preßt er von neuem sein Ohr an die Hecke, aber es ist nur noch ein undeutliches Gemurmel, ein einträchtiges Flüstern zweier Münder, deren Atem sich beinahe vermischt. Nur einmal hört er noch die Worte:

»Du hast ja Zeit. Soviel ich weiß, kommt der neue Gouverneur erst in zwei Wochen nach Riga.«

Heydebrandt friert. Ist bis ins innerste Herz durchkältet von Angst und Grauen. Mit Marlene sind ihm die Menschen überhaupt, ist ihm die Welt gestorben.

Was ihn jetzt aufrecht hält, ist Verantwortungsgefühl. Er muß dies Verbrechen verhüten. Er muß vor Marlene hintreten und die Verführte vom Abgrund zurückhalten. Er muß Clavé entlarven.

Noch einmal preßt er sein Ohr gegen die Hecke. Aber der brausende Wind und das Rascheln der welken Blätter machen jedes Hören unmöglich. Auch als es endlich still geworden ist, vernimmt er kein Wort mehr.

Da macht er sich wieder auf den Weg, um ein Loch zum Durchschlüpfen zu finden. Schließlich gelangt er auf eine mit Obstbäumen bestandene Wiese. Einer der Bäume steht nahe genug an der Hecke, daß er sich auf seinem Geäst hinüberschwingen kann.

Während er sich der Laube nähert, ergreift ihn ein Vorgefühl der Enttäuschung. Sein Feuerzeug beleuchtet eine leere Bank. Aber im Gras sieht er eine kurze Leiter liegen, an der ein Strick befestigt ist.

Er läßt sich nieder und denkt: ihre Stimme habe ich nicht gehört. Also ist es auch nicht sicher, daß sie es gewesen ist. Es könnte ja auch Wera sein. Allerdings ist sie die Bravheit selbst, und Clavé hat sich nie um sie gekümmert. Vielleicht war es eine von den Pastorentöchtern. Der Jüngsten könnte man's schon zutrauen. Nur wäre es sonderbar, wenn Clavé sich grade hier mit ihr träfe. Im Pastorengarten hätte er es doch bequemer. Oder eine Magd? … Ach, Mann, belüg dich nicht! Mach dir keine feigen Ausflüchte vor! Es kann niemand anders als Marlene gewesen sein.

Während er mit aufgestütztem Kopf vor sich hinstiert, kommen über den schwarzen Wasserspiegel zwei stille weiße Geistervögel geschwommen. Die haben alles gesehn und gehört. Aber sie sind stumm.

Nach einer Weile geht er noch ans Herrenhaus. Nicht als ob er erwartete, dort etwas zu entdecken. Aber er will nichts unversucht lassen.

Als er ins Biwak zurückkehrt, sind die Wachtfeuer beinah erloschen. Nur noch die Krähen schreien um ihre zerstörten Nester.

 

»Die Damen zu Hause?«

»Jawohl, Euer Gnaden«, antwortet Akim, der wieder Knecht auf Katherinenhof ist. Während er Heydebrandt, der den linken Arm in der Schlinge trägt, aus dem Sattel hilft, lächelt er ihn freundlich wie einen guten Bekannten an.

»Kennen wir uns?«

»Ich bin der ›Bonaparte‹.«

Heydebrandt schüttelt den Kopf. Er kann sich nicht erinnern.

»Für Euer Gnaden war's ja auch nicht so wichtig. Ich sollte mal erschossen werden, weil ich ein bißchen gebrandschatzt hatte.«

»Und dann ließ die Baronesse dich entwischen.«

Mit Betrug fing unsere Bekanntschaft an. Das hätte mich mißtrauisch machen sollen, denkt Heydebrandt. Und nun muß er noch einmal hier ein Verhör anstellen und vielleicht Gericht abhalten. Es liegt ein Fluch über diesem Hause.

Aber die alten Möbel, die zerschlissenen und verblichenen Stühle, der zerschrammte Tisch, der Samowar, die Bilder – sie wissen nichts von solchem Fluch. Sie blicken so treuherzig und beständig drein wie die Menschen, mit denen sie alt geworden sind.

Und auf dem Gang hört er auch schon Tante Millas Stimme.

»Aber nein, die Überraschung! Schnell Werachen, ruf Marlenchen. Sie soll gleich 'runterkommen. Der Herr von Heydebrandt ist da.«

Ihr vor Freude beinah geglättetes Gesicht schrumpft in unzählige Kummer- und Schreckensfalten zusammen, als sie seinen verbundenen Arm bemerkt. Gleich rückt sie ihm einen Lehnstuhl zurecht, und kaum daß er Platz genommen hat, muß er erzählen.

Was läßt sich da viel erzählen? Die Russen haben einen Vorstoß gemacht über die Aa, sollten zurückgetrieben werden, und beim Durchwaten des Flusses hat ihn eben eine Kugel erwischt.

Und jetzt kommt er aus dem Lazarett?

Das denn doch nicht. Er wird wegen einer solchen Lumperei doch nicht die Front verlassen.

Wera kommt, begrüßt ihn in ihrer stillen zurückhaltenden Art und richtet den Samowar her. Sie wird aufgefordert, ihr Urteil über das Aussehn des Gastes abzugeben, und findet ihn ein bißchen elend.

»Ein bißchen? Unglaublich! Erschreckend! Wie Braunbier und Spucke, mit Verlaub. Wenn Sie nicht ins Lazarett wollen, sollten Sie zu uns kommen und sich gesundpflegen lassen.«

Heydebrandt lächelt. Eine verlockende Einladung! Aber sein schlechtes Aussehn ist nur äußerlich, sagt er mit seiner tonlosen Stimme.

»Wo steckt denn nur Marlenchen?« fragt die Tante.

Ja, wo steckt sie nur? Als Wera sie rief, wollte sie gleich kommen. Dann fällt ihr ein, daß sie ein anderes Kleid anziehn muß. Dann passen die Schuhe nicht zum Kleid. Dann muß sie die Haare kämmen. Dann sich die Hände waschen. Dann sich parfümieren.

So ungeduldig hat sie die langen Tage seiner Abwesenheit gezählt, und jetzt, wo er da ist, kann sie nicht fertig werden. Sie wird doch nicht aufgeregt sein?

Strahlend tritt sie in die Tür, aber ihr Lächeln welkt vor dem hohlwangigen Gesicht, das sie aus der Dämmerung so fremd und ernst ansieht. Zögernd nimmt seine Hand die ihre und umschließt sie schlaff wie ein welker Handschuh.

Ihr sind die Tränen nahe, aber wie immer in solchen Augenblicken ist sie verlegen und ungeschickt. Während sie nach seiner Binde schielt, bringt sie es doch nicht fertig, sich nach seiner Verwundung zu erkundigen, bis Tante Milla davon anfängt. Da fragt sie, wann er den Schuß bekommen habe?

»Grade den Tag darauf, nachdem ich hier war«, antwortet er mit seiner blutleeren Stimme.

»Aber nein!« verbessert Tantchen ihn. »Sie haben doch erzählt, daß Sie am Mittwoch verwundet sind, und am Sonntag waren Sie zuletzt bei uns.«

Ja, ja, es stimmt. Er hat sich da um ein paar Tage geirrt.

»Du mußt dir nur mal von Herrn von Heydebrandt erzählen lassen, wie er durch die Aa geschwommen ist, den Karabiner in der Hand, und als er mitten in den Wellen war –«

Jetzt nimmt Tantchen sich der Geschichte an, und sie entwickelt sich bei ihr wie ein Kind an der Mutterbrust. Wenn ihre Schilderung allzu kühn wird, wendet sie sich an ihren Helden und erhält seine Bestätigung. Aber man merkt, daß er überhaupt nicht zuhört und mit seinen Gedanken ganz woanders ist. Sein ganzes Wesen gleicht seinen Augen, die in ihren tiefen Höhlen verbrennen.

Nachdem Tante Milla ihre Erzählung beendet hat, entsteht Schweigen, worauf sie eine neue beginnt. Sie schwatzt überhaupt ein bißchen viel, aber vielleicht gar nicht so sehr aus tantenhafter Redseligkeit. Kaum ist der Tee getrunken, als sie Wera und sich entschuldigt und ihren Gast bittet, mit Marlene allein vorliebzunehmen.

»Zu schlimm mit diesem verliebten Volk«, sagt sie draußen zu ihrer Nichte. »Die müssen sich immer quälen und mißverstehn. Seien wir froh, daß die Herren der Schöpfung uns in Frieden gelassen haben.«

Auf Heydebrandts Vorschlag gehen die beiden in den Park. Unterwegs sagt Marlene mit ihrer etwas zögernden Stimme:

»Ich habe mich so erschrocken, als ich Sie sah. Ich hatte ja keine Ahnung, daß Sie verwundet sind.«

»Es ist auch weiter nicht schlimm.«

»Ich glaube, es ist viel, viel schlimmer, als Sie zugeben.«

Ein kleines Lachen stolpert aus seinem Mund.

Er schlägt die Richtung zum Schwanenteich ein, und sie folgt ihm, ein bißchen gezwungen, ein bißchen schleppend. Sie ahnt, daß er auf irgendeine Entscheidung hindrängt, und es wäre so viel schöner, ganz still lieb zueinander zu sein, ohne Worte, ohne Auseinandersetzungen, ohne Fragen und Versprechungen.

Unterwegs rupft sie einen Grashalm aus und vertritt sich dabei den Fuß.

»Schaf!« murmelt sie und schiebt ihren Arm unter seinen. Darauf lächelt sie ihn an, worauf er ein wenig den Mund verzieht.

Der dichte Schilfkranz um den Teich ist zerbrochen. Braune Blätter faulen im schwarzen Wasser. Es riecht nach totem Sommer, nach Nebeltagen und Regenabenden. Das Schwanenpaar kommt angerudert, mit stolz gebauschten Flügeln und leisem Fauchen.

Natürlich setzt er sich in die Laube, und Marlene nimmt mit einem unterdrückten Seufzer an seiner Seite Platz. Nächstens wird sie den einen Bankpfosten heimlich durchsägen, so verhaßt ist ihr der Platz. Es gibt da nur wieder Streit. Sie versucht das dickere Ende des hohlen Grashalms über das dünnere zu schieben. Ihr Bemühn wirkt etwas gezwungen.

Da sieht sie hinter dem Teich, wo die beinah entlaubten Bäume und Sträucher einen lockeren Vorhang bilden, ein feuchtes Glühn. Wie liebt sie die sanfte Musik dieser novemberlichen Sonnenuntergänge, die nicht mehr Fanfaren blasen, nicht mehr blenden und in ihrer leisen Melancholie doch so trostreich sind. Diesem milden Licht müßten seine Liebesworte gleichen, kaum Worte, nur leise Liebkosungen der Luft, die das Herz umschmeicheln.

Sie lächelt ein wenig, während sie sich ihrer ersten Begegnung erinnert, als sie vom Kirchturm auf den abendlichen Wald blickten. Gingen ihrer beider Wünsche nicht schon immer in die gleiche Richtung? Vielleicht werden sie ihr Ziel auch noch einmal erreichen. Vielleicht wird er noch einmal so werden, wie sie ihn sich in diesem Augenblick wünscht.

Ich möchte lieb zu dir sein, denkt sie, leg deinen Arm um mich und deine Wange an meine, daß meine Lippen deinen Mund nicht fühlen, nur mein Herz deinen Kuß.

Er aber denkt: wenn sie sich schuldig fühlt, muß sie begreifen, warum ich sie hierhergebracht habe. Jeden Augenblick wartet er darauf, daß sie zusammenbricht und ihm freiwillig alles gesteht. In einer Regung von Mitleid nimmt er ihre Hand. Dabei betrachtet er ihr Auge, ihre Wangen, ihre Lippen. Aber es sind nicht diese Reize, denen er erliegt; was ihn überwältigt, ist der Strom von Lauterkeit und Milde, der sich aus ihr in seine Seele ergießt.

Den verführerischen Einflüsterungen seiner Liebe gegenüber hat er sich immer wieder versichert, daß seine Beobachtung sonnenklar gewesen und gar kein Zweifel möglich sei. Und nun ist der Zweifel beinah schon zur Wahrscheinlichkeit geworden, und das Belauschte wird mehr und mehr zum zweideutigen Spuk.

Als sich das Schweigen aber immer länger hinzieht und es unmerklich dunkler wird, beschleicht ihn die Angst, er könne nicht den Mut zu dieser Auseinandersetzung finden. Aus Furcht vor seiner Angst reißt er plötzlich die Schleusen hoch, indem er fragt:

»Ahnen Sie nicht, warum ich Sie gebeten habe, mir hierher zu folgen?«

»Nein«, erwidert sie ruhig, lockert gleichzeitig aber unwillkürlich ihre Hand.

»Als Sie mich vorhin fragten, wann ich verwundet worden sei, sagte ich, einen Tag nachdem wir uns zuletzt gesehn hatten. Das war ein Irrtum, denn ich habe Sie zwar gesehn, aber Sie nicht mich. Ich habe Sie gesehn – da saßen Sie mit dem Leutnant Clavé auf dieser Bank. – – Aber um bei der Wahrheit zu bleiben, gesehn habe ich Sie nicht, es war ja Nacht – aber ich habe einen Teil Ihres Gesprächs belauscht.«

Während er vor sich hinsieht, fährt er fort zu sprechen, scheinbar mühsam und gehemmt. Doch ist das eine Täuschung, in Wahrheit spricht es aus ihm mit besinnungsloser Gewalt, in formelgewordenen Sätzen. Was er gehört und was die grübelnde Einbildungskraft dieser letzten Tage dazu erfunden hat, wiederholt er, ohne etwas von der Wirkung seiner Worte zu merken, so sehr hat er das Gefühl ihrer Gegenwart verloren.

Als er endlich schweigt, ist er zu Tode erschöpft, aber auch schon halb befreit. Wenn jetzt eine milde Hand ihm leise wie einem aufgeregten Träumer über die Stirn striche, wenn eine gütige Stimme zu ihm sagte: Das alles ist ja Wahnsinn … es müßte gar nicht so schwer sein, seinen Verdacht zu zerstreuen.

Aber Marlene ist ein junger Mensch. Einen Augenblick hat sie wohl geglaubt, er spräche im Fieber. Als er aber mit so zäher Grausamkeit immer wieder ihre wunde Stelle trifft, Clavés Werben um sie und ihr kokettes Spiel mit ihm, als er dann mit so selbstverständlicher Bestimmtheit die brutalen Anschuldigungen erhebt, da bäumt sie sich auf wie ein gepeitschtes edles Pferd. Noch hat sie einen Rest von Besinnung bewahrt, sieht die furchtbare Zerstörung auf seinem Gesicht, die mehr als irgend etwas sonst für seinen Glauben spricht, muß immer wieder den roten Fleck auf seinem Verband ansehn, das rosa Pünktchen, das jetzt schon eine feuchte Blutbahn ist … Mitleid und Verstehenwollen möchten ihr Toben einhalten und werden immer wieder überrannt.

Wieder dehnt sich das Schweigen, die furchtbare spannungsvolle Stille. Die beiden Schwäne, die eine Zeitlang am Uferrand gewartet haben, rudern davon, verschwinden schon beinah in der Dunkelheit.

»Sagen Sie doch ein Wort, Marlene!« flüstert er. »Geben Sie mir irgendeine Erklärung.«

»Ich habe nichts zu erklären. Aber vielleicht erklären Sie mir – o Gott! daß Sie sich nicht schämen! – Vor acht Tagen noch – und jetzt – Ich soll die Geliebte – – Entweder sind Sie ein Schuft oder verrückt.«

»Marlene, da, hinter der Hecke, habe ich gestanden und Clavés Stimme so genau gehört wie Sie jetzt die meine. Mit wem kann er gesprochen haben?«

»Was geht das mich an!«

»Es kommen doch nur Sie oder Wera in Betracht.«

»O Gott, die arme Wera!« lacht sie höhnisch.

»Ich will's ja nicht glauben. Ich wünschte ja, es wäre so, wie Sie sagen, und ich wäre verrückt. Aber – – helfen Sie mir doch! Geben Sie mir den kleinsten Fingerzeig!«

Kein Wort.

»Als ich Sie damals fragte, ob Sie einen andern liebten, da schwiegen Sie. Dachten Sie damals an Clavé? – Warum antworten Sie nicht?«

»Weil ich nicht will. Weil ich es unwürdig finde, auf diese Ausgeburten Ihrer Eifersucht zu antworten.«

»Das ist keine Eifersucht. Das hat auch mit meiner Liebe nichts zu tun. – Wenn Sie mir keine Aufklärung geben wollen, dann muß ich den Vorfall anzeigen. Dann werden womöglich die Feldgendarme in Ihr Haus kommen.«

»O bitte! Bitte sehr! Sie sollen nur kommen als von Ihnen empfohlene Gäste. Wahrscheinlich werden sie mich dann verhaften, und ich komme noch vors Gericht. Nun weiß ich doch, was Sie für ein Mensch sind. – O Gott, daß ich auch nur ein Fünkchen –«

Sie ist aufgesprungen und geht im Sturmschritt durch den Park. Während er ihr folgt, reißt sie einen Zweig von einem Strauch, zerbricht ihn und wirft die beiden Enden auf die Erde.

Auf dem Hof kommt Akim ihnen mit dem Pferd entgegengelaufen, als er aber ihre Gesichter sieht, macht er sich in großem Bogen davon.

Wie sie dastehen, liegt in dieser wie hingewehten und hilflosen Haltung etwas von zwei Kindern, die sich gezankt haben und jetzt nicht zu und nicht los voneinander können. Endlich sagt Marlene:

»Sie werden wohl verstehn, daß ich Sie nicht auffordere, noch mal hereinzukommen.«

Er rückt ein bißchen seine Armbinde zurecht, aus der es rot auf den Boden tropft. Sein Aussehn ist wirklich zum Gotterbarmen, es ist schwer, nicht Mitleid mit ihm zu haben, und es hat etwas tief Erschreckendes, wie wenn aus schwarzem Brandschutt der süße Laut eines Vogels tönte, als jetzt seine hageren Züge das alte, weiche, jungenhafte Lächeln umspielt.

»Wir werden uns wohl kaum wiedersehn, Marlene. Nur noch dies eine. Ich werde keine Anzeige machen. Es ist feige, aber ich kann's nicht. Denn wenn's auch aller Vernunft Hohn spricht, ich bin trotzdem von Ihrer Unschuld überzeugt. – Aber Sie haben mein Schicksal in Ihrer Hand. Machen Sie mich nicht zum Verräter an meinem Vaterland.«

Dann reitet er davon. Unterwegs aber denkt er in einem fort: den Knecht wollte ich wegen fünf Rubel erschießen lassen. Und Marlene? … Wenn Clavés Plan gelingt, dann gibt es keinen Tod, durch den ich dies Verbrechen sühnen könnte.

*

Die beiden Leutnants haben sich still von Heydebrandts Tisch entfernt. Warum sich auf Händel einlassen, denken sie. Der Kamerad ist mal wieder betrunken. Seitdem er verwundet ist, hat er das Saufen angefangen. Schade um den netten Kerl!

Heydebrandt sieht ihnen böse nach. Schafsköpfe! Kaffern! Bönhasen! Was wissen sie von einem Menschen, der zwischen Ketten gespannt ist, an denen täglich furchtbarer gerissen wird. Was wissen sie von seinen fressenden Vorwürfen, seiner würgenden Angst!

»Hallo, Mamsell, noch einen Doppelten!«

Wodka ist gut. Wodka ist die genialste Erfindung Gottes. Aus dem Wodka steigen trostreiche Ideen. Zum Beispiel, daß man Yorck in einem anonymen Brief warnen könnte. Mit dem gehörigen Quantum Wodka im Leibe fällt man auf den Strohsack und hat für acht Stunden Ruhe.

Das Mädchen bringt den Schnaps und macht auf dem Tisch einen Kreidestrich zu den übrigen. Dabei wirft sie dem Gast ein verliebt mitleidiges Lächeln zu. Sie möchte ihn gern trösten, getraut sich nur nicht.

Im Holländer Krug sind an diesem Abend alle Tische besetzt. Am langen Tisch in der Mitte sitzen ein Dutzend Herren und haben eine Bank aufgelegt. Aus Berlin ist der Rittmeister Graf Henckel von Donnersmarck gekommen. Er hat einen hübschen Beutel voll Goldfüchsen mitgebracht und läßt sich nicht lumpen. Seine Devise hieß nicht: wer mein Freund ist, darf mich anpumpen, sondern: wer mich anpumpt, soll mein Freund sein. Da blüht neues Leben aus den Ruinen. Die sonst in großem Bogen die Marketenderei umgingen, lassen sich wieder sehn. Die Taler rollen.

Der Marketender kann gar nicht schnell genug die Weinflaschen entkorken. Den drallen Mädchen steht der Schweiß auf der Stirn, so müssen sie laufen. Doch finden sie immerhin noch Zeit, sich diesem und jenem Leutnant auf den Schoß zu setzen und einen Schluck zu tun.

Was für ein schweinischer Stumpfsinn! denkt der Einsame. Das edle Geschenk des Lebens so zu vergeuden. Ein solcher qualmender Höllenpfuhl ist gut für einen Menschen wie ich. Für einen Menschen, dessen Weg zu Ende ist. Für einen, der zerrieben wird zwischen den Mühlsteinen seiner Pflicht und seiner Liebe. – Liebe! Liebe ich sie denn? Begehre ich sie noch? Hoffe ich noch auf sie? Ich kann einfach ihr reines Antlitz nicht bespeien. Ich glaube an ihre Unschuld. Wirklich? Tu ich's?

»He, Teufel, laufen Sie doch nicht vorbei! Noch einen Doppelten.«

Grade will er das volle Glas ansetzen, als er zusammenfährt, daß der wasserklare Schnaps über seine Finger trieft. Großer Gott, denkt er, willst du mir wirklich barmherzig sein?

Aus dem dunstigen Rauch taucht der Leutnant de Clavé auf, elegant und strahlend wie immer. Sein rosiges Gesicht, die glitzernden Augen verraten, daß er schon einige angenehme Stunden verlebt hat.

Neckworte fliegen ihm entgegen. Die Herren am Spieltisch rufen ihm zu, er solle sich zu ihnen setzen.

»Um zu zeigen, meine Herren, daß alle Scherze Verleumdungen sind, werde ich Ihnen jetzt die Zechinen aus der Tasche holen.«

»Mamsell! Mamsell!« ruft Heydebrandt und schwenkt sein leeres Glas. Seine Aufregung läßt sich kaum bändigen. Er ahnt, daß sich ihm hier ein Ausweg bietet. Gott, warum ist er nicht früher daraufgekommen!

Aber er muß haarscharf alles überlegen. Und dazu muß er einen klaren Kopf bekommen. Und zu dem Zweck trinkt er langsam und gewissenhaft noch drei Wodkas.

Dann geht er mit etwas torkelnden Schritten an den Spieltisch und mischt sich unter die Zuschauer.

»Monsieur Clavé«, sagt er und rüttelt ihn am Arm. »Sie spielen ja falsch.«

Dieser fährt zur Seite, daß die Säule von Talerstücken vor ihm umfällt und über den Tisch rollt.

»Sie Schuft! Sie Falschspieler!« sagt Heydebrandt.

Clavé ist aufgesprungen und holt zum Schlage aus. Sein Nachbar fällt ihm in den erhobenen Arm.

» Cochon! Cochon! Sale cochon!«

Jemand hat Heydebrandt beiseitegerissen. Alle stehen, gestikulieren, schreien durcheinander. Ein paar Offiziere haben sich zwischen die Gegner gestürzt. Der Marketender, die Kellnerinnen sind auf einen Wink verschwunden. Ein älterer Offizier bittet einige jüngere Herren, die Stube ebenfalls zu verlassen. Nachdem die beiden Gegner ihr Ehrenwort gegeben haben, nicht handgreiflich zu werden, läßt man ihre Arme los, und Heydebrandt wird aufgefordert, seine Anschuldigung zu beweisen.

Was er vorbringt, ist beinah kindisch. Er will gesehn haben, wie Clavé unter dem Tisch eine Karte hervorholte. Es stellt sich heraus, daß er überhaupt nichts vom Pharaospiel versteht.

Zwei Kameraden nehmen ihn in einer Ecke energisch vor. Er soll sich entschuldigen. Er ist ja total betrunken.

Er ist so wenig betrunken wie sie. Er nimmt kein Wort zurück. Clavé soll sich mit ihm schießen.

Blödsinn! Jetzt im Krieg! Zum Teufel, er muß doch einsehn, was er seinen Kameraden für eine Schweinerei einbrockt! Bei der Untersuchung wird sich herausstellen, daß sie trotz des strengen Verbots hasardiert haben.

Es tut ihm leid. Aber zurücknehmen kann er nichts.

Dabei bleibt er und macht nicht einmal so sehr den Eindruck von Betrunkenheit wie den stierköpfigen Eigensinns.

Clavé benimmt sich tadellos. Höchstens könnte man seine Bereitwilligkeit, zu einem gütlichen Arrangement zu gelangen, etwas zu weitgehend finden.

Nach allem Hin und Her sehen die Herren keinen andern Ausweg, als daß die beiden sich schießen. Die Vorbereitungen werden sofort getroffen. Das Duell soll am nächsten Morgen stattfinden.

Heydebrandt wirft sich auf seinen Strohsack und beschließt, wie ein Murmeltier zu schlafen. Ihm ist die Welt wieder eine Stätte geworden, in der er leben kann.

Aber ehe noch der Morgen graut, erscheint der Adjutant seines Regimentskommandeurs und ersucht ihn, mitzukommen.

Der Oberst von Bardeleben ist ein cholerischer kleiner Mann, und da man ihn aus seinem besten Schlaf geweckt hat, spuckt er schon im voraus Gift und Galle. Aber anderseits schätzt er auch Heydebrandt als Offizier.

Nachdem er sich deshalb vom Baß bis zur Fistel ausgetobt hat, gibt er ihm den guten Rat, schleunigst mit dem Adjutanten sich zu Clavé zu begeben und ihn wegen der besoffenen Geschichte um Entschuldigung zu bitten.

Heydebrandt weigert sich. Es wiederholt sich die gleiche Szene wie im Wirtshaus. Als das Toben des Oberst sich steigert, bricht wieder der fahle Trotz aus dem Augengrund, und um die Mundwinkel flattert das hilflose, traurige Lächeln.

Da brüllt der Oberst: Wenn der Herr Leutnant den Verrückten spielen will, wird er ihm entsprechend aufwarten. Ehe er das Duell zuläßt, wird er Heydebrandt in die Zwangsjacke stecken und nach Mitau ins Narrenhaus transportieren lassen.

Da bequemt sich der Bedrohte zu einem halben Geständnis. Den Vorwurf des Falschspielens hat er nicht wörtlich gemeint. Er wollte Clavé der Spionage bezichtigen. Er hat ihn bei einem heimlichen Gespräch mit einer jungen Dame belauscht. –

»Der Name?«

Den Namen kann er nicht nennen. Es handelt sich um eine Dame vom baltischen Adel.

Wo das Gespräch stattgefunden hat?

Auch das kann er nicht verraten. Aber es handelte sich um Dinge von äußerster Wichtigkeit. Er bittet, so bald wie möglich vor Seine Exzellenz geführt zu werden. Ihm werde er alles enthüllen. Das junge Mädchen soll zu einem schändlichen Verrat mißbraucht werden. Er ist überzeugt, daß Yorck ihm aufs höchste dankbar sein wird, denn möglicherweise rettet er ihn aus der größten Gefahr.

Zweifellos, denkt der Oberst. Der Isegrim ist ja auch grade der Mann, dem junge Mädchen gefährlich werden. Aber er ist doch sehr froh, daß er jetzt den Schlüssel zu dem rätselhaften Fall gefunden hat. Der junge Mann ist einfach eifersuchtstoll. Das kommt von dem unnatürlichen Leben. Die jungen Leute wollen sich vor Liebe nicht zu retten. Läuft ihnen dann mal ein junges Mädchen über den Weg, so stürzen sie sich darauf wie hungrige Wölfe, und es kommt zu Mord und Totschlag.

Er schlägt nun einen mehr väterlichen Ton an. Heydebrandt soll sich nur nach Hause verfügen. Er muß aber das Ehrenwort geben, seine Strohhütte nicht zu verlassen.

Ob er denn morgen Seiner Exzellenz vorgeführt wird?

So bald wie möglich. Aber er muß bedenken, daß Yorck sein Quartier nach Mitau verlegt hat und viel unterwegs ist.

Aber seine Sache leidet keinen Aufschub.

Soll sie auch nicht. Sie wird prompt und aufs beste erledigt werden.

Sobald Heydebrandt draußen ist, notiert sich der Oberst, daß er heute noch zu ihm den Regimentschirurgus schicken wird. Der soll den Verliebten zur Ader lassen und ihm ein Purgiermittel geben. Zur Vorsicht wird ihm der Oberst auch noch einen Wachtposten vor die Tür stellen.

Der Teufel soll mich holen, denkt er, wenn dieser Stunk zu Seiner Exzellenz dringt. Er ist ein wackerer Mann, der Oberst. Dem Feinde gegenüber kennt er keine Furcht, aber vor dem Isegrim hat er Angst wie ein Schuljunge.

 

Bald nach dem Besuch Macdonalds hat Yorck sein Quartier nach Mitau verlegt. Es befindet sich im Hause des geflüchteten Adelsmarschalls und ist wie immer miserabel. Die Fenster sind so klein, daß die Stuben nie hell werden, außerdem zieht's überall, und die Türschlösser schließen nicht.

Dieser letzte Umstand hat allerdings auch sein Gutes. Eines Morgens kommt Yorck nach Hause, die Tür ist wieder mal aufgesprungen, und er sieht vom Vorzimmer aus, wie ein französischer Offizier in den Papieren auf seinem Schreibtisch herumkramt. Der Franzose ist der Leutnant de Clavé.

Angesichts dieser Unverschämtheit will Yorck im ersten Augenblick zugreifen. Aber im nächsten besinnt er sich. Nach der Ordensgeschichte ist er noch auf ganz andere Dinge gefaßt.

Er räuspert sich nur ein bißchen, um nicht den Entrüsteten spielen zu müssen. Clavé ist von strahlender Unbefangenheit. Er trägt seine Meldungen vor. In der Hauptsache handelt es sich um ein Unternehmen, für dessen Leitung der Marschall den General Bachelu bestimmt hat.

Yorck erkundigt sich nach Neuigkeiten aus dem Kaiserlichen Hauptquartier. Der Marschall Ney hat einen neuen großen Sieg erfochten. Der Kaiser befindet sich in Wilna.

In Riga wird ein neuer Gouverneur erwartet. Weiß Clavé etwas über ihn?

Er hat von dem Gerücht gehört, aber Näheres ist ihm nicht bekannt.

Beim Abschied reicht Yorck ihm besonders freundlich die Hand. Bis jetzt hat er sich leider so wenig um ihn kümmern können, aber er hofft, das nachzuholen. Wenn der Herr Leutnant Zeit hat, begleitet er ihn vielleicht morgen auf einem Ritt zu den Stellungen. Clavé ist über die Ehre sehr beglückt.

Yorck hat sich in Intendanturberichte vertieft. Nach einer Weile meldet sein Adjutant, daß – er verschluckt sich unwillkürlich – daß eine Dame Seine Exzellenz zu sprechen wünscht.

Yorck macht ein Gesicht, daß der Adjutant denkt, wenn ich die Dame wäre, würde ich auf das Unternehmen verzichten.

Was sie will?

»Das hat sie nicht gesagt.«

Warum er oder der Oberst Röder die Person nicht abgefertigt hat?

»Sie behauptet, eine Meldung von größter Wichtigkeit für Euer Exzellenz persönlich zu haben.«

»Soll eintreten. Wenn sie aber etwa wegen einer schwangeren Tochter kommt –«

»So sieht sie nicht aus.«

Nein, wirklich, sie steht nicht so aus. Aber wonach sieht sie eigentlich aus? Sie hat so gar keine auffallenden Merkmale unter dem schutenförmigen Hut und der mit grauem Pelz besäumten Enveloppe. Bemerkenswert ist höchstens ihre Reizlosigkeit und ihr schüchternes Auftreten, zu dem ihre angenehme und flüssige Redeweise in einem gewissen Gegensatz steht.

Ehe Yorck sie noch fragt, hat sie ihn über ihre Person aufgeklärt: Wera von Tuschkewitsch, die Tochter des russischen Oberst von Tuschkewitsch aus Riga. Da ihr Vater im Feld ist, lebt sie bei ihrer Tante, der Baronesse Rosen auf Katherinenhof.

»Die Demoiselle wünscht?«

»Der Gouverneur von Riga, der General von Paulucci –«

»Der Gouverneur von Riga ist der General von Essen«, unterbricht Yorck sie.

»Er ist vor einigen Tagen abberufen worden, und an seine Stelle ist ihr Onkel, der Marquis von Paulucci, gekommen.«

Yorck weist auf einen Stuhl dem seinen gegenüber und setzt sich ebenfalls.

Ihr Onkel hat sie gebeten, dies Schreiben, das von außerordentlicher Wichtigkeit ist, an Seine Exzellenz persönlich auszuhändigen. Sie zieht aus ihrem Pompadour einen umfangreichen Brief hervor und legt ihn auf den Schreibtisch, da Yorck keine Anstalten macht, ihn an sich zu nehmen. Er meint, für einen Russen sei Paulucci ein ungewöhnlicher Name.

Er ist Italiener, hat in jungen Jahren dem König von Sardinien gedient, ist aber schon unter dem Kaiser Paul in russische Dienste getreten. Durch seine Frau, die Schwester ihrer Mutter, ist Wera mit ihm verwandt. Übrigens ist der Marquis während seines Aufenthalts in Riga auch mit ihrem Vater sehr befreundet gewesen.

Yorck plaudert mit ihr über Sardinien, über Riga, über alles mögliche, als wenn der Vielbeschäftigte Zeit im Überfluß hätte.

Schließlich lenkt Wera vorsichtig wieder auf den Zweck ihres Besuchs hin, indem sie bemerkt, daß sie auch noch einige ältere Briefe ihres Onkels mitgebracht habe, falls Seine Exzellenz etwa an der Echtheit dieses Briefes zweifeln sollte.

»Aber durchaus nicht! Es bedarf gar keiner Beweise.«

Immerhin legt Wera auch diese Briefe auf den Tisch.

Nur – fragt Yorck – ob es nicht etwas unpraktisch sei, daß ihr Onkel sie als Mittelsperson gewählt habe? Es wäre doch viel einfacher gewesen, den Brief durch einen Offizier bei den preußischen Vorposten abzugeben.

Ihr Onkel hat das damit begründet, daß es an der ganzen Front von französischen Spionen wimmelt.

Das läßt sich hören. Und da sie sich grade in Riga befand –

Nein. Seit Ausbruch des Krieges hat sie Katherinenhof nicht verlassen. Eine Bäuerin hat ihr den Brief gebracht.

»So? Daß dieser Schmuggelverkehr doch nicht abzustellen ist!«

Ob Seine Exzellenz den Brief nicht lesen will? fragt Wera mit schüchternem Lächeln.

»Selbstverständlich! Aber vielleicht hat es noch etwas Zeit. Grade heute liegt so viel vor.«

Wera blickt verlegen in den Schoß. Sie ist ohne Wissen ihrer Tante nach Mitau gefahren und muß heute abend die Antwort zurückbringen.

»Heute abend schon?« Nun ja, er versteht das. Eine junge Dame bleibt nicht gern über Nacht aus. Da muß er also wohl andere Sachen liegenlassen. Junge Damen gehn vor.

Ein kleines Lächeln streift sein strenges Gesicht, das aber bei der Lektüre des Briefs dem Ausdruck verlegenen Ärgers weicht.

Eine verflixte Geschichte! Er hat sein Französisch so gründlich vergessen, daß er nicht mal einen einfachen Brief lesen kann. Er muß seinen Generalstabschef holen.

Als er in dessen Bureau kommt, sagt er dem diensttuenden Adjutanten:

»Der Keller soll der Person nachgehn und über sie recherchieren.«

Dann klärt er in kurzen Worten Röder über den Inhalt des Briefes und die Überbringerin auf. Sie macht ihm, er weiß nicht warum, einen verdächtigen Eindruck.

Während Wera, um ihre Aufregung zu meistern, sich die bevorstehenden Liebesfreuden ausmalt, lesen die beiden Herren den Brief. Paulucci führt eine noch verwegenere Sprache als der General von Essen. Nach einigen Schmeicheleien für Yorck entwickelt er den Plan, daß er mit der gesamten Besatzung einen Ausfall machen wird, Yorck soll sich zum Schein zur Wehr setzen, in Wahrheit aber zurückziehn. Bei der Gelegenheit werden die Russen den Marschall in Stalgen überfallen und gefangennehmen. Der Zar ist bereit, zur Fortsetzung des Krieges mit Preußen ein Bündnis abzuschließen. Yorck wird gebeten, sich an einer bestimmten Stelle zwischen den Vorposten einzufinden.

Yorck erkundigt sich nochmals, wo Wera abgestiegen ist, und verspricht, ihr die Antwort so rasch wie möglich mitzuteilen. Gegen vier Uhr soll sie nochmals vorsprechen.

*

An diesem selben Morgen geht der Posten vor der Strohhütte des Leutnants von Heydebrandt auf und ab. Beim Hingehn denkt er: Schweinebraten mit Sauerkohl … und beim Hergehn denkt er: Sauerkohl mit Schweinebraten … Das vertreibt ihm die Zeit.

Manchmal sieht er durchs Schlüsselloch. Der Gefangene trommelt mit seinen Fingern auf den Tisch, rüttelt an seinem Stuhl. Einmal stürzte er sogar hinaus und fragte mit rollenden Augen, ob jemand gekommen sei? Aber da war der Posten gleich zur Stelle, das Gewehr im Anschlag.

Schweinebraten mit Sauerkohl … Sauerkohl mit Schweinebraten … Da kommt eine Zivilperson angeritten, steigt ab und bindet ihr Pferd an einen Baum hinter der Hütte. Beim Zurückkommen sieht der Posten, daß die Zivilperson weiblichen Geschlechts ist. Sie will stracks in die Hütte hinein, aber schon versperrt sein Gewehr ihr die Tür.

»Halt! Das gibt's nicht.«

»Das gibt's nicht? Seine Kameraden besuchen den Herrn Leutnant doch auch.«

»Das ist was anderes.«

»Wieso? Ich habe die Erlaubnis vom Herrn Hauptmann. Ist der Herr von Borke Euer Hauptmann oder nicht?«

»Zu Befehl!«

»Na also! Warum sind Sie denn so grob?«

Und schon ist das Fräulein in der Hütte. Ein Sonnenstrahl fällt durch das Fenster auf sie. Sie steht ganz im Glanz.

Heydebrandt hält sich am Stuhl fest, und der Stuhl zittert in seiner Hand. Man hat ihm einmal erzählt, oder hat er es gelesen? daß zu einem Gefangenen ein lichter Engel kam, der ihn bei der Hand nahm, und beide schritten durch die Kerkermauern wie durch eine Nebelwand.

Auch er spricht kein Wort. Aber sein Atem stürmt, sein Atem drängt: Was bringst du? Sein Atem fleht: Enttäusche mich nicht! Sein Atem stockt: Warum sprichst du nicht?

Da fällt sie ihm um den Hals, und beide weinen wie Kinder und küssen sich wie Brautleute.

Aber nachdem sie hinreichend salzige Küsse ausgetauscht haben, schüttelt sie ihre Tränen aus den Augen, schüttelt sich mit wahrer Wut, daß unter ihrem Dreispitz sich ihre Zöpfe lockern. Dann lacht sie:

»Ach, und im letzten Augenblick hatte ich noch solche Angst!«

»Du bringst die Rettung, Marlene?«

Sie nickt heftig. Aber nun sie ihm alles erzählen will, findet sie den Anfang nicht und stottert ungewiß:

»Ich muß Sie um Verzeihung bitten, Herr von Heydebrandt, Sie hatten nämlich recht.«

Er protestiert empört sowohl gegen das Sie wie gegen das Recht. Sobald sie aber Weras Namen nennt, schiebt er ihr den Stuhl hin, setzt sich auf die Tischkante und lauscht mit offnem Mund.

Marlene berichtet, wie sie nach der Trennung von ihm mehrere Stunden so aufgebracht war, daß sie überhaupt nichts denken konnte. Aber dann, als sie im Dunkel schlaflos lag, fiel ihr auf einmal ein, daß in der Nacht, als Heydebrandt sie belauscht haben wollte, ihre Tante einen Anfall von Magenschmerzen bekam. Marlene wollte Wera wecken, die aber nicht antwortete. Und ihre Kammertür war verschlossen, worüber Marlene sich wunderte, denn das war früher nie geschehn. Auch besuchte Wera jetzt häufig ihre Tante Liewen in Mitau und kam erst spät abends zurück. Schließlich entschloß Marlene sich, obwohl es ihr furchtbar peinlich war, das Zimmer ihrer Kusine zu durchsuchen. Da fand sie unter den Papieren kurze abgerissene Zettel wie angefangene Briefe, die ihr recht merkwürdig vorkamen. Nun ließ sie sich von Akim einen Dietrich anfertigen, und als Wera heute morgen wieder erklärte, daß sie nach Mitau wolle, öffnete sie ihren Koffer und entdeckte darin nicht nur eine Dose mit den Initialen Clavés, sondern auch Briefentwürfe, aus denen unzweifelhaft hervorging, daß Wera sich für seine Zwecke mißbrauchen ließ.

»Und ich hatte dich in Verdacht. Oh, ich mit meiner blödsinnigen Eifersucht! Verzeih mir!«

»Nein, du mußt mir verzeihen! Denn wenn ich nicht so furchtbar wütend gewesen wäre, hätte ich die Wahrheit ja gleich entdeckt. Aber was machen wir jetzt?«

»Ich muß sofort nach Mitau zum General. Aber ich habe mein Ehrenwort gegeben, meine Hütte nicht zu verlassen.«

»Aber wenn du dadurch Yorck rettest?«

»Gut. Ich wag's. Nur läßt der Posten mich nicht heraus. Der dämliche Kerl ist imstande und schießt.«

»Da müssen wir uns was ausdenken. Warte mal!«

Sie schlägt die Beine übereinander und kreuzt die Arme. An ihrer gerunzelten Stirn und ihren glänzenden Augen kann man sehn, wie sich ihr Geist anstrengt.

Angetan ist sie wie ein Jägersmann mit einem grünen, in der Taille prall anliegenden Schoßrock und Beinkleidern, die in schwarzen Stulpenstiefeln stecken. Dem Dreispitz hat sie einen kleinen Klaps gegeben, wodurch er fester, aber auch noch schiefer das Rund der Zöpfe überdacht. Man sieht ihr den scharfen Ritt an, von ihren Farben Milch und Blut ist nur die eine geblieben, und auf ihrer schmalen Oberlippe runden sich wie Miniaturperlen kleine Schweißtropfen.

Er ist von ihrem Anblick wieder so begeistert, daß er den Zweck ihres Besuches beinah vergißt und nur denkt, wie überschwenglich ihn dieser Augenblick für alles ausgestandene Leid belohnt. Als sie ihre Handschuhe zusammenschlägt und sagt: »Ich hab's!« muß er ihr noch einmal um den Hals fallen, und seine heftige Umarmung verwandelt das blonde Nest in zwei ringelnde Schlangen.

Es hilft nichts. Sie muß ihre Zöpfe neu flechten. Um aber keine Zeit zu verlieren, entwickelt sie ihm zugleich ihren Plan.

»Er ist ein bißchen dumm«, meint sie, »aber ich habe immer gefunden, wenn man die Männer überlisten will, ist das Dümmste das Beste. Also paß auf! Du stellst dich hinter der Tür auf, und sobald du einen Schuß hörst –«

»Willst du den Posten denn erschießen?«

»So schnell wie du bin ich nicht mit dem Erschießen bei der Hand. – Also sobald du einen Schuß hörst, stürzt du heraus, schließt hinter dir ab und jagst auf meiner Fatme davon, was die Riemen hergeben. Aber daß du mir sie nicht zuschanden reitest! Hast du alles verstanden?«

Er nickt und wiederholt:

»Schuß – raus – abgeschlossen – losgebraust.«

Draußen bindet Marlene ein Körbchen vom Sattel ihres Pferdes und sagt zu dem Posten:

»Traurig! Traurig! Aber der arme Herr Leutnant ist wirklich recht krank.«

Dabei tippt sie sich auf die Stirn. Der Posten nickt.

»Gestern bekam er eine schöne Portion Gänsebraten. Glauben Sie, er hätte sie aufgegessen? Kaum angerührt. Verrücktheit ist was Schreckliches.«

»Ich wollte ihm ein bißchen was mitbringen. Aber er nimmt's doch nicht. Vielleicht kann ich's Ihnen lassen. Es sind ein paar Würste und eine Flasche Branntwein.«

»Na meinetwegen, lassen Sie's da.«

»Haben Sie ein Schnupftuch? Denn das Körbchen muß ich wieder mitnehmen.«

Der Posten zieht einen umfangreichen Lappen aus seiner Hosentasche.

»Sehr gut!« sagt Marlene. »Unter der Trauerfahne vermutet niemand so leckere Sachen. Aber ich gehe lieber damit in den Wald. Besser ist besser. Es gibt so viele Neidhämmel.«

Während Marlene hinter den Bäumen kniet und mit dem Umpacken beschäftigt ist, schreit sie plötzlich:

»Posten, schnell! Schnell! Schnell!«

»Was gibt's denn?«

»Schnell! Schnell! Der Branntwein läuft aus. Geben Sie mir's Gewehr und stecken den Daumen in die Flasche. Ist das Gewehr geladen?«

»Und ob!«

Bums! kracht auch schon der Schuß, worauf Marlene schreiend tiefer in den Wald läuft. Der Posten hinter ihr her. Als er über eine Wurzel stolpert, wirft sie das Gewehr in ein Brombeergesträuch.

»Wo ist mein Gewehr?«

»Da!« schreit Marlene und zeigt in den Himmel.

»Wo? Wo? Daß dich der Donner –«

»Da in den Brombeeren.«

Der Posten macht einen verwegenen Anlauf, prallt aber vor dem Dorngestrüpp zurück. Es bleibt ihm nichts übrig, als geduldig und vor Schmerzen fluchend sich Schritt vor Schritt vorwärts zu arbeiten. Marlene lauscht. Als sie auf der Landstraße Hufklappern hört, bricht sie wieder in ihr Jammergeschrei aus. Der Posten trinkt ärgerlich den Rest des Branntweins aus und packt die Würste in sein Schnupftuch. Den Korb bringt er Marlene, die sich von ihrem Schreck erst noch ein bißchen erholen muß.

Der Posten sieht durchs Schlüsselloch. Da er niemanden bemerkt, will er die Hütte betreten, findet aber die Tür verschlossen. Das beruhigt ihn. Offenbar hat sich der Gefangene, wie er das öfter tut, aufs Bett gelegt.

Er marschiert nun wieder auf und ab, indem er denkt: die Weiber sind doch zu dumme Luder … Zu dumme Luder sind die Weiber …

Marlene bleibt noch eine Weile sitzen, dann sagt sie:

»Nun denken Sie nur, mir ist mein Pferd davongelaufen.«

»Da werden Sie wohl zu Fuß nach Hause gehen müssen.«

»Adieu denn! Und seien Sie mir nicht böse.«

»Och, warum denn?«

»Weil der auch davongelaufen ist … der Branntwein.«

*

Wera bummelt durch die Straßen. Sie hat ja nichts zu tun, und es ist ein schöner Tag. In den Kolonnaden begegnet ihr Clavé. Er grüßt sie nicht, hört nur die hingeworfenen Worte: » Réponse à quatre heures.« Zehn Schritte weiter stößt er auf Keller. Der Geheimpolizist ähnelt nach Aussehen und Kleidung einem behäbigen, etwas schmuddligen Kleinbürger.

»Wen haben Sie denn auf dem Strich?« fragt Clavé.

»Mal was anderes. Ein Mädchen.«

»Hübsch?«

»Na, Schönheit drückt sie grade nicht.«

»Blond?«

»Ne, brünett.«

»Dann interessiert sie mich nicht.«

Wera studiert in diesem Schaufenster die für Mitau neuesten Damenmoden, sieht sich in jenem juchtenlederne Schuhe an und landet gegen eins im Hause ihrer Tante, der Baronin von Liewen.

Unterdes tauschen Yorck und sein Generalstabschef ihre Ansichten über den Brief aus. Röder meint:

»Aus der Eile, mit der der Italiener die Verbindung aufnimmt, kann man schließen, wieviel den Russen daranliegt, Euer Exzellenz zu gewinnen.«

Yorck nickt stumm. Er betrachtet nochmals den Brief, vergleicht ihn auch mit den früheren Briefen Pauluccis. Nicht das geringste Anzeichen läßt auf eine Fälschung schließen. Aber die Überbringerin selbst ist ihm verdächtig. Warum? Er findet keinen Anhalt. War ihre Ruhe nicht etwas gekünstelt? Aber ein Wunder, wenn sie nicht aufgeregt gewesen wäre. Schließlich denkt er ärgerlich: sie ist mir einfach zu garstig. Hätte sie ein gefälliges Äußere, würde ich weniger argwöhnisch sein.

Aber etwas warnt ihn immer noch, eine unbestimmte Witterung. Er sagt zu Röder:

»Ich denke, wir schicken den Brief einfach wieder nach Berlin, ohne ihn zu beantworten. Mögen die im Kabinett entscheiden. Schließlich ist es ja keine militärische, sondern eine politische Angelegenheit.«

»Aber werden Euer Exzellenz sich damit nicht den Zaren vergrämen?«

Yorck schweigt. Endlich meint er, die Entscheidung habe ja noch Zeit bis nach Tisch.

Das Essen verläuft ziemlich einsilbig. Nach aufgehobener Tafel zieht Yorck sich sofort in sein Arbeitszimmer zurück. Er grübelt und brütet.

Bei dem Brief Essens lag die Sache ganz einfach. Der wurde ihm von einem preußischen Offizier überbracht. Die Handschrift war ihm aus früheren Korrespondenzen bekannt. Aber hier – eine unbekannte Frauensperson. Wieder spürt er den inneren Widerstand, körperliches Unbehagen, ein Gefühl, als tappe sein Fuß in ein schwarzes Loch. Zum Teufel, denkt er, wohin gerät man, wenn man sich auf innere Stimmen einläßt. Alte Weiber mögen das tun.

Er läßt den Oberst kommen, der unterdes mit dem Geheimpolizisten gesprochen hat. Die Angaben der jungen Dame haben sich als richtig herausgestellt. Ihr Wagen steht im Hause der Baronin von Liewen, deren Nichte sie ist. Sie selbst wohnt auf Katherinenhof.

Yorck sagt:

»Sie haben recht, Röder. Wir dürfen den Zaren nicht verstimmen. Wenn wir die ausgestreckte Hand nicht ergreifen, ist er imstande und macht mit Napoleon Frieden. Dann ist Preußen geliefert. – Was der Kerl da von seinem Ausfall schreibt, und daß ich zum Feind übergehn soll, sind natürlich Tartarenideen. Sie verlohnen keine Antwort. Wir bitten zwecks Weiterführung der Verhandlungen um eine authentische Nachricht über die Absichten des Zaren. Am besten um einen eigenhändigen Brief. Schließlich bin ich auch zu einer mündlichen Aussprache bereit.«

Röder entwirft die Antwort, und Yorck schreibt sie mit einigen Änderungen ab. Es ist mittlerweile vier Uhr geworden. Das Fräulein müßte eigentlich schon da sein. Plötzlich sagt Röder:

»Wenn das Ganze nun aber eine Fälschung ist? Eine Falle von Macdonald oder vom Oberst Terrier?«

Yorck sieht seinen Generalstabschef an mit einem stillen, grauen und etwas traurigen Blick. Das war ja immer meine Vermutung, denkt er. Warum bist nicht auch du darauf gekommen? Freilich, um deinen Kopf geht's nicht.

Es klopft. Der Adjutant meldet das Fräulein von Tuschkewitsch. Yorck zuckt die Achseln, als wollte er sagen: »Nun kann man nicht mehr zurück.« Wera sieht den Brief in seiner Hand, und ihr springt vor Freude das Blut in die Wangen. In einer halben Stunde wird sie Clavé unter den Kolonnaden treffen und ihm zuflüstern können: » C'est fait …« Und heute abend – Sie erschrickt. Sie hat das Gefühl, man müßte ihr ansehn können, woran sie denkt.

Yorck betrachtet sie und sagt sich, wie leicht man doch geneigt sei, einem Menschen Unrecht zu tun. Ein etwas trüber Blick, ein fleckiger Teint, und schon wittert man seelischen Unrat.

Er tunkt die Gänsefeder ein, um zu unterschreiben, aber was geschieht? Ist der Kiel oder seine Hand so widerborstig ein großer Klecks entsteht, und die Tinte spritzt nach allen Seiten. Trotzdem kratzt er unwillig seinen Namen hin.

Aber während er noch schreibt, haben seine Gedanken das Haus des Adelsmarschalls, die Stadt und Kurland selbst verlassen, haben den eisernen General in ein weichherziges Bübchen verwandelt, das trostbedürftig seine Mutter umschlingt und in ihre Augen blickt, in ihre schönen, braunen Nußaugen – sie glänzen auch noch, wenn sie weinen. Ihre Tränen fließen, weil ihr Bübchen fort soll, ins Kadettenkorps, so klein noch, gestern saß er noch auf ihrem Schoß, und heute muß er die Zähne zusammenbeißen wie ein Mann … Und hat er das nicht immer getan, sein Leben lang? Das Härteste gewählt, das seinen Wünschen Widersprechendste! Soll man das tun? Ist er vielleicht darum ein so finsterer, gallsüchtiger, ewig aufgebrachter alter Mann geworden, weil er dauernd seiner Natur Gewalt angetan und nie auf seine inneren Stimmen gehört hat?

Wie lange dauert diese Gedankenflucht, dies Wetterleuchten an seinem Seelenhorizont, das versunkene Bezirke seines Lebens erhellt und wie ein dunkler, schwermütiger Vorwurf in ihm grollt?

Jedenfalls hält der Oberst Röder es nicht für angebracht, das Schweigen sich länger ausdehnen zu lassen, und nimmt das Gespräch mit der Besucherin wieder auf. Wera gibt sich alle Mühe, ihre Ungeduld zu meistern. Der General ist ja schon dabei, den Brief zusammenzufalten. Im nächsten Augenblick wird sie damit das Zimmer verlassen.

Da öffnet sich hinter ihrem Rücken geräuschlos die Tür, und durch die Spalte steckt der Adjutant sein Gesicht, legt den Finger auf den Mund und winkt, als wollte er sagen: »Schnell! Schnell!« Wäre seine Miene nicht so verflucht ernst, dann dächte Yorck, er sei übergeschnappt.

Im nächsten Augenblick tritt er vollends ein und sagt:

»Euer Exzellenz werden dringend in Intendanturangelegenheiten gewünscht.«

»Entschuldigen Sie mich!«

Yorck fühlt ein sonderbares Verwundern über sein Herz gehn. Er ist gewohnt, in gehorsam-starre, todernste Gesichter zu sehn, und dieses da lacht ihn an mit blanken, leuchtenden braunen Augen.

»Was gibt's? Bitte, sich kurz zu fassen.«

Was das betrifft, so hat Heydebrandt in seinem Stubenarrest genügend Zeit gehabt, für seine Mitteilung die nötige militärische Knappheit zu finden. Ohne alle Umschweife und Beschönigung meldet er, daß Fräulein von Tuschkewitsch eine Spionin ist und der Brief des Gouverneurs eine Fälschung. Das Ganze ist eine Intrige des Oberst Terrier und des Leutnants de Clavé, um Yorck zu vernichten.

Der steht und starrt und schweigt und blickt dem jungen Leutnant in die Augen. Erinnern diese klaren, braunen Augen ihn vielleicht an die seiner Mutter? Spürt er in diesem Augenblick noch nachträglich die kühle Moderluft des Abgrunds, fühlt er sich vielleicht auch leise berührt von einer unsichtbaren Gewalt, die ihn schirmt, von einer Hand, die ihn führt?

Er tut noch drei, vier kurze Fragen, dann befiehlt er dem Leutnant, im Büro auf ihn zu warten, worauf er in sein Arbeitszimmer zurückkehrt und mit ärgerlichem Knurren den Oberst Röder ersucht, sich doch ins Büro zu bemühn und die verfluchte Intendanturgeschichte ins reine zu bringen.

Dann nimmt er wieder seinen zusammengefalteten Brief in die Hand und überlegt. Wera war infolge der Unterbrechung schon in abergläubiger Furcht, aber Yorcks Blick ist von solcher Gelassenheit, daß sie erlöst aufatmet. Unwillkürlich öffnet sie bereits ihren Pompadour.

»Es war gar nicht leicht, auf den Brief des Herrn Marquis eine Antwort zu finden. Denn einerseits ist er doch unser Gegner, anderseits ist aber Seine Majestät der Zar so eng befreundet mit unserm König gewesen – da den richtigen Weg finden, sich hindurchzuwinden, ohne hier oder dort anzustoßen, das ist wirklich äußerst schwierig, und – – offen gestanden« – Yorck erhebt sich, geht an den Kamin –, »der Brief befriedigt mich nicht recht.« Damit wirft er ihn ins Feuer. »Ich halte es für das beste, dem Herrn General gar keine Antwort zu geben. Als Offizier wird er sie sich ja deuten können.«

Wera versteht, sich zu beherrschen. Sie ist nur ein bißchen fahler geworden.

»Soll ich denn von Euer Exzellenz eine mündliche Bestellung ausrichten?«

»Nicht nötig. Ihr Onkel wird mein Schweigen schon verstehn.«

»Und kommen Euer Exzellenz auch nicht zu der Besprechung?«

Yorck schüttelt nur den Kopf.

Wera geht. Ihr Pompadour hängt an ihrer Hand wie ein toter Fisch mit weit aufgerissenem Maul.

 

Nachdem Yorck sich von Heydebrandt nochmals hat Bericht abstatten lassen, befiehlt er ihm, sofort in seine Strohhütte zurückzukehren und über den ganzen Vorfall das strengste Stillschweigen zu bewahren. Wegen der Beleidigung muß er sich bei Clavé entschuldigen. Yorck wird dafür sorgen, daß damit die Sache erledigt ist.

»Saufen Sie nicht wieder so viel!« knarrt er den jungen Offizier an und fügt hinzu: »Allerdings ist das manchmal die einzige Rettung. – Aber das Fräulein von Rosen scheint eine wackere Demoiselle. Die können Sie von mir grüßen.«

Der Zufall will, daß Yorck an diesem selben Abend noch einen zweiten Brief des Generals Paulucci erhält. Ihn überbringt ein preußischer Offizier, dem er durch einen russischen ausgehändigt ist. An der Echtheit dieses Schreibens ist nicht zu zweifeln.

Es spricht für die gute Nase der Fälscher, daß er von dem vorigen gar nicht so sehr verschieden ist. Von einem Überfall auf Stalgen ist freilich nicht die Rede. Dagegen findet sich wieder ein Hinweis auf die Bündniswilligkeit des Zaren.

Yorck hat zuerst die Absicht, auch diesen Brief ins Feuer zu befördern. Er ist nicht der Mann für solche dunklen Wege. Aber eine schlaflose Nacht drängt ihm die Überzeugung auf, daß einzig ein Bündnis mit dem Zaren Preußen vor der Vernichtung bewahren kann. Darf er zögern, die ausgestreckte Hand zu ergreifen?

Diese Überlegung bestimmt ihn schließlich, zu antworten. Allerdings mit abwartender Vorsicht. Aber er weiß: die Antwort mag noch so zurückhaltend abgefaßt sein, die Tatsache allein, daß er mit dem Feind in einem derartigen Briefwechsel steht, kostet ihm im Fall der Entdeckung den Kopf.

Die Abfertigung des Offiziers verzögert etwas den geplanten Ritt. Clavé ist unruhig und übler Laune. Gestern hat er Wera nur einen Augenblick gesehn. Im Vorübergehn warf sie ihm das eine Wort: » raté«, »mißglückt«, hin. Zu dem verabredeten Rendezvous erschien sie nicht. Vielleicht glaubte sie sich beobachtet.

Ob der alte Fuchs die Falle gerochen hat?

*

Der Grauschimmel des Generals atmet stetig und langsam, genau wie er trabt. Aber das braune Vollblut Clavés schnaubt zornig, wirft unruhig den Kopf auf und scheint ununterbrochen zu protestieren gegen die schleimige, übelriechende Nebelbrühe, die ihm in die Lungen dringt.

Sein Herr klopft ihm manchmal den Hals. Weiß schon! Weiß schon! Wir sehnen uns nach unserem schönen Frankreich. Ist das hier eine Schweinegegend!

Der Weg führt durch verschneiten Wald. Die Bäume stehn wie mit einem dicken Schimmelpilz überzogen. Der Nebel ist noch dicker und undurchsichtiger. Seit Jahrhunderten scheint hier Winter zu herrschen. Dann biegen sie auf eine breite Straße ab. Man gewahrt die Ruinen einiger Ziegelbauten. An der Straße liegen Trümmer von Kanonen.

»Sind das russische Geschütze, Euer Exzellenz?«

»Mißglückte Versuche, Kanonen zu gießen. Altes Eisen!« knurrt Yorck.

Selbst altes Eisen! denkt Clavé. Wahrhaftig, wie ein alter Schulmeister sieht er aus mit seinem versorgten und zerfurchten Gesicht und seinem fadenscheinigen Mantel, den Regen und Sonne so zugerichtet haben, daß er überhaupt keine Farbe mehr zeigt.

Gott, was sind dagegen die französischen Marschälle für andere Gestalten! Der Herzog von Tarent. Das Lieblingskind des Sieges, Masséna. Der Tapferste der Tapferen, Ney. Um an den glorreichen Reitergeneral Murat gar nicht zu denken. Wo mögen sie jetzt stecken? Im nächsten Jahr wird der Kaiser eine neue Kampagne machen, vielleicht nach der Türkei und Persien, um Indien zu erobern. Gott, das wäre eine Lust, in seiner Nähe zu sein!

Dem jungen Offizier, der von den schlimmsten Nachrichten noch keine Ahnung hat, zerspringt beinahe die Brust vor Neid und Sehnsucht, aber auch vor Daseinslust. Und als fühlte das Pferd diese Ungeduld seines Herrn, tänzelt es unter ihm und macht immer wieder einige Galoppsprünge, während der Grauschimmel ruhig seinen Trab fortsetzt.

Nach einer Weile beginnt die Straße zu steigen und führt zu einem Wiesenplateau. Der General befiehlt den beiden Reitknechten, hier zu warten.

»Es hat keinen Zweck, den Feind durch eine größere Kavalkade zu reizen«, sagt er.

Nur nicht so ängstlich, mein Alter! denkt Clavé.

Der Nebel ist gefallen, und unter dem reinen Winterhimmel liegt die Landschaft weit übersehbar vor ihnen: wellige Wiesen, da und dort mit Fichten und fast schon entblätterten Birken bestanden. Wo die Sonne hingeschienen hat, breiten sich saftige grüne Teppiche, mit Millionen Tautropfen bestickt, und daneben liegen, scharf abgeschnitten, riesenhafte weiße Eisbärfelle. Am fernen Horizont läßt der gewundene Rand von Erlen und Schilfrohr den Lauf eines Flüßchens vermuten.

»Es sollte mich nicht wundern, wenn sie dahinter ihre Artillerie versteckt hätten«, sagt Yorck und nimmt sein Fernrohr an die Augen.

»Schritt!«

Welche Behutsamkeit! denkt Clavé.

Der Friede dieses Wintertages könnte nicht ungestörter sein. Kein Windhauch regt sich. Ein paar dünne Wölkchen hängen, wie von der Ewigkeit hier vergessen, am blauen Firmament. Den hellen Birken scheinen die zarten Goldblätter nur wie aus träumerischer Zerstreutheit zu entgleiten.

»Nichts zu entdecken!« knurrt Yorck.

»Nichts!« wiederholt sein Begleiter gedankenlos.

Da zerreißt ein scharfer, peitschender Knall die Luft, und im selben Augenblick stiebt aus einigen Fichten ein unwillig krächzender Krähenschwarm.

»Aha!« sagt Yorck befriedigt. »Also von der Cotéseite.«

Ruhig! Ruhig! Verrücktes Kerlchen! denkt Clavé und tätschelt den Hals seines erschrockenen Pferdes. Hast du denn noch nie schießen gehört?

»Haben Sie den Abschuß beobachtet?«

»Nein, Euer Exzellenz!«

»Der Einschlag war dort.«

Yorck weist auf eine Baumgruppe.

Patsch! Patsch! macht es jetzt zweimal.

Der Leutnant reißt das Pferd, das steigen will, zusammen. Er sieht einen Haufen zersplitterter Äste.

»Möchte wissen, ob's die Engländer sind«, knarrt Yorck. »Na, wir werden's ja sehn. Die Kerls schießen nämlich sehr gut.«

Jetzt ein dumpfes Dröhnen, ganz in der Nähe, dem ein krachender Knall nach dem andern folgt. Die Stute steigt und dreht sich wie irrsinnig im Kreise.

»Ein Vierundzwanzigpfünder«, stellt Yorck voll Interesse fest. Er hat haltgemacht und sucht mit seinem Glas die Ferne ab, wo jetzt eine dünne graue Wolkenschicht sich ausbreitet.

Clavé hebt auch von Zeit zu Zeit die Hand mit dem Fernrohr an die Augen, doch gilt seine ganze Aufmerksamkeit dem Pferd. Er hält es fest an der Kandare und preßt mit aller Kraft seine Schenkel gegen den schmächtigen zitternden Leib. Aber er spürt selbst, wie in seinen Knien und Waden Muskeln zucken, deren Vorhandensein er früher nie bemerkt hatte. Es ist keine Furcht, es sind nur die Nerven.

»Können Sie die Abschüsse beobachten?«

»Ausgezeichnet, Euer Exzellenz.«

»Dann sehen Sie mehr als ich. Wir müssen näher 'ran.«

Der General gibt dem Grauschimmel einen Schenkeldruck, der sich ruhig in Bewegung setzt. Aber die Stute verweigert den Gehorsam. Als jetzt mit furchtbarem Dröhnen wieder ein Vierundzwanzigpfünder wenige Schritte vor ihnen einschlägt, schnellt sie wie ein Ball vom Boden, kommt mit der Hinterhand auf die Erde und dreht sich wie ein Kreisel um sich selbst. Der Leutnant keucht vor Erregung und Anstrengung, das vor Angst wie irrsinnige Tier zu bändigen.

»Warum setzen Sie sich auf so ein Aas, das Sie nicht reiten können?« faucht Yorck ihn an.

»Ich glaube, man hat uns gesehn, Euer Exzellenz.«

»Scheint beinah so. Ihre Uniform leuchtet ja auch wie ein Regenbogen.«

Den Feind scheinen die beiden Gestalten aus der sonnigen Höhe, der eine phlegmatische Reiter und sein bunter, quirlender und tanzender Trabant, immer rabiater zu machen. Es ist, als wenn sich ein Gewitter über ihnen zusammengezogen hätte, so rasch folgen sich die Einschläge. Yorck hat wieder haltgemacht. In seiner Unbeweglichkeit gleicht er einem Standbild. Warum muß grade ich vor diese Entscheidung gestellt werden? denkt er. Alles Furchtbare hebt das Schicksal für mich auf … Seine Augen brennen vor wunder Müdigkeit. Sie haben wie ein Leuchtturmlicht sich die ganze Nacht hin und her drehn müssen: für und wider – für und wider – für und wider. Eine Kugel – tot sein – Frieden … Nie hat er so die Süße und Lindigkeit gefühlt, die in dem Wort ewiger Friede liegt.

Er blickt zur Seite und nimmt mit Erstaunen wahr, was neben ihm vorgeht. Die schöne schlanke Stute steht ganz in Angst verkrampft, geifernder Schaum hängt in langen Fasern aus ihrem geöffneten Maul. Ihre Augen sind hervorgequollen. In keuchenden Stößen drängt der graue Atem aus ihren heißen, blutigen Nüstern.

Ihr Reiter hält sie noch immer wie im Schraubstock. Aber sein Gesicht ist förmlich zusammengeschrumpft und gelbgrün. Als Yorcks Blick ihn trifft, macht er gar nicht den Versuch, seinen verzerrten Ausdruck zu meistern, sondern keucht:

»Wäre es nicht besser, Euer Exzellenz, wir kehrten um?«

Ohne daß sein schwerer Geierblick sich im geringsten verändert hätte, erwidert Yorck:

»Ein preußischer Offizier hätte eine solche Frage nicht gestellt.«

Hol' der Satan alle Preußen, denkt der Leutnant de Clavé. Aber wenn dieser verfluchte Hund von einem Selbstmörder mich noch einmal auffordert, ihn zu begleiten, dann knalle ich mir lieber gleich eine Kugel vor den Kopf.

Yorck hat eigentlich umkehren wollen, jetzt aber reitet er, in dem phlegmatischen Tempo eines Herrn, der seinen Verdauungsritt macht, an den feindlichen Linien noch eine halbe Stunde entlang, während der vereiste Dreck von den Einschlägen ihnen um die Ohren spritzt. Er denkt, zum mindesten muß der junge Herr doch erfahren, daß das Spionieren beim General Yorck auch seine Schattenseiten hat. Dann hält er still und meint, sie könnten mit der Portion Eisen, welche die Herrschaften drüben für sie verschwendet hätten, ganz zufrieden sein, holt ein Stück Kommißbrot hervor und reicht seinem Begleiter die Hälfte davon.

Der kaut zum Schein daran, aber ihm ist zumute, als hätte er rostige Schuhnägel im Munde.

Nachdem Yorck sein Frühstück beendigt hat, trabt er mit dem Leutnant gelassen nach Hause. Sobald dieser in seinem Quartier angekommen und abgesessen ist, wankt er wie ein Schwerbetrunkener in den Stall und beugt sich über den ersten besten Eimer, während sein Diener ihm den Kopf hält. Dann wirft er sich mehr tot als lebendig auf sein Bett.

Zu Mittag läßt er sich nicht an der Tafel sehn. Als Yorck ihn nach einigen Tagen wieder zu einem gemeinsamen Ritt auffordert, bittet er, wegen Unwohlseins zu Hause bleiben zu dürfen.

Den Tag darauf meldet er sich krank.

 

Bei der Division Grandjean befindet sich der Brigadegeneral Bachelu, ein schmucker junger Herr, der ein Hausfreund der Fürstin Pauline, der Schwester des Kaisers Napoleon, ist. Höhere Rücksichten machen es erwünscht, daß er sich in diesem Feldzug einige Lorbeeren und damit die Anwartschaft aus eine Division erwirbt. Darum überträgt ihm der Marschall den Oberbefehl über ein Unternehmen, das die gegen Eckau vorgeschobenen feindlichen Truppen abschneiden und den Sektor ein für allemal reinigen soll. Der Vorstoß bringt für das preußische Korps große Verluste und hat dank den »höchst miserabelen Befehlen« Bachelus – wie der Marschall privatim schreibt – nur einen sehr mäßigen Erfolg. Im offiziellen Parolebefehl liest man's freilich anders. Da wird dem General Bachelu hohes Lob gespendet »über die Talente und die Tätigkeit, die er entwickelt hat.«

So wirken seine Siege in den Pariser Salons sich noch auf den Schlachtfeldern Kurlands aus.

Nach beendigter Affäre hat sich der Rittmeister von Tungeln einen kurzen Urlaub ausgebeten, den er in Ohlenhof verbringt. Jetzt reitet er mit Heinrich wieder ins Lager zurück.

Die Sonne scheint erst seit kurzer Zeit, dafür verbreitet sie aber auch wie ein hoher Herr Glanz in verschwenderischer Fülle um sich. Trotz der Kälte liegt ein warmer würziger Geruch in der Luft nach tauendem Schnee und Harz und Tannengrün. Hoch oben muß ein ziemlich scharfer Wind wehn, das sieht man an den kleinen rauchigen Wölkchen, die dahinziehen, plötzlich gehascht werden und im blauen Licht zerstäuben.

Und diesem blauen Licht, das kein noch so kleines Wölkchen duldet, gleicht augenblicklich des Rittmeisters Stimmung. Marie hat ihm einen Brief ihres Gatten gezeigt, worin er einwilligt, sich scheiden zu lassen. Für ihre Freiheit muß sie ihm Ohlenhof lassen. Das tut sie gern. Wenn der Krieg vorbei ist, will sie mit Tungeln nach Deutschland übersiedeln.

Als der Rittmeister sich dem Alarmhaus nähert, das einem Pikett Husaren als Schlafraum dient, kommt sein Wachtmeister ihm entgegen und meldet, daß seine Leute heute in der Frühe noch einen verwundeten russischen Offizier im Walde gefunden haben. Er hat nur eine unbedeutende Wunde am Bein, sonst aber geht's ihm ganz verwunderlich. Er wird immer dicker und schwillt an wie ein Mehlkloß. Wenn's so weiter geht, meinen die Husaren, wird er platzen.

Während der Rittmeister noch in der Tür steht, ist sein erster Gedanke, daß seine Husaren doch die richtigen Zigeuner seien. Infanteristen hätten sich gleich Tische und Stühle geschreinert. Aber seine Kerls hocken bei ihrem Kartenspiel auf dem Lagerstroh. Außerdem machen sie einen Lärm, als wenn sie betrunken wären. Wahrscheinlich sind sie's auch. Als Belohnung für das Bachelu-Unternehmen gibt's eine Woche lang die doppelte Ration Branntwein.

Jetzt sind alle aufgesprungen, und der Stubenälteste brüllt:

»Melde gehorsamst, sieben Husaren und ein gefangener Russe.«

Der Wachtmeister, der hinter Tungeln eingetreten ist, zeigt auf ein Wesen, das neben dem glühenden Ofen auf einer Strohschütte liegt. In dem Halbdunkel könnte man es eher für eine groteske Stein- oder Holzfigur, als für einen Menschen halten, wenn es nicht fortwährend röchelte. Menschliche Züge trägt das Gesicht kaum noch. Nase, Augen, Mund, alles ist in der roten Fleischmasse verquollen. Die Hände gleichen den Tatzen eines Riesen, und an dem straff gespannten Tuch sieht man, wie auch die Glieder angeschwollen sein müssen.

»Den ins Lazarett zu transportieren, hat doch wohl keinen Zweck«, meint der Wachtmeister. »Man strapaziert bloß unnötig die Pferde. Und sie sind ohnehin so rippenscheinig.«

Auch des Rittmeisters erster Gedanke angesichts dieser stöhnenden Fleischmasse ist: um Gottes willen, nur rasch einen Gnadenschuß! Unwillkürlich greift er nach der Pistole in seinem Gürtel, als seine Hand innehält.

»Licht anstecken!« befiehlt er.

Während ein Husar diensteifrig mit dem Licht sich über den am Boden Liegenden bückt, ergreift Tungeln dessen Hand. Zwischen den Fleischwülsten des Ringfingers bemerkt er einen Karneol mit dem Wappen der Steenbocks.

Dem Rittmeister wird auf einmal übel.

Der Wachtmeister, der nun auch sein Interesse für den Verwundeten zeigen will, meint, vielleicht sei die Bullenhitze nicht das Richtige für ihn gewesen, vielleicht hätten die Leute ihm auch zuviel Branntwein gegeben. Jedenfalls hätten sie's gut gemeint.

»Habt ihr denn nicht nach dem Chirurgus geschickt?« fragt Tungeln.

»Zu Befehl, nein!«

In seiner Aufregung, in der Empörung über das, was sich da vollzieht, wettert er gegen den Wachtmeister und die Husaren los, die ihn mit dummen, roten Gesichtern ansehen und sich dann wie die Schuljungen zur Tür hinausstehlen. Darauf befiehlt er Heinrich, er solle so schnell wie möglich ins Lager reiten und den Chirurgus holen.

Ein Husar bleibt als Wache bei dem Verwundeten zurück. Der Rittmeister selbst ist hinausgegangen, da er das Stöhnen nicht mitanhören kann.

Endlich kommt nicht der Chirurgus, aber der Feldscher.

Auch er ist der Ansicht, daß es wohl nicht angebracht gewesen sei, den Erfrorenen in die Nähe des Feuers zu legen. Man hätte ihn erst mit Schnee einreiben sollen. Jetzt sei es aber zu spät, und eine gnädige Kugel Menschenpflicht. Wenn der Herr Rittmeister befiehlt, will er die Sache sofort ausführen.

Dieser fragt, ob der Feldscher wirklich auf Ehre und Gewissen die Verantwortung dafür übernehmen kann, daß keine Rettung mehr möglich ist? Der Feldscher erklärt, der Augenschein sei doch hinreichend überzeugend. Trotzdem beschließt der Rittmeister, noch den Regimentschirurgus zu holen.

Er wirft einen Blick auf den Stöhnenden zurück und denkt: wenn mich jemand so liegen ließe und gäbe mir nicht den Gnadenschuß, den würde ich einen Hundsfott nennen. Aber Steenbock muß ihm verzeihen. Er kann es nicht. Er kann den Gedanken nicht ertragen, daß Marie vielleicht später glaubt, er habe ihres Mannes Tod verschuldet.

So reitet er selbst ins Lager, um einen Schlitten zu besorgen. Aber die wenigen, über die man verfügt, sind alle zum Futterholen unterwegs. Stunden vergehen, ehe er einen auftreibt. Als er zurückreitet, ist die Sonne grade im Versinken. Während auf der Himmelsbühne sich mit allen dramatischen Effekten das Schauspiel ihres Endes vollzieht, sickern aus dem Wald mit unheimlicher Lautlosigkeit bläuliche Schatten, vertiefen sich, huschen zusammen und weben die ungastliche kalte Winternacht. Auf einer freien Stelle zwischen den Fichten sitzt eine ganze Schar Dompfaffen, die mit leisem Schwirren im Brombeergestrüpp verschwinden.

Der Rittmeister ertappt sich auf dem Wunsch, daß es inzwischen mit dem Unglücklichen zu Ende gegangen sein möge.

Nach kurzem Zögern macht er die Tür auf.

Es ist ganz still und gewissermaßen leer in dem kalten Raum, obwohl die in einem Trichter steckende Kerze die beiden Gestalten einigermaßen erhellt: den auf der Strohschütte Liegenden und den ihm zur Seite hockenden Husaren. Aber das Fehlen des röchelnden Stöhnens, das einen solchen Aufruhr von Entsetzen erzeugte, verursacht den Eindruck der Leere.

Doch nicht das allein: die ungeheure Fleischmasse hat sich auf beinah normale Maße wieder zusammengezogen, der rote Klumpen ist fast wieder ein menschliches Gesicht geworden.

Während der Husar aufspringt, ist die Meerschaumpfeife des Grafen von dessen Brust heruntergeglitten.

»Melde gehorsamst, der erfrorene Russe wollte trinken, da habe ich ihm Tee gegeben, den mochte er aber nicht. Jetzt will er rauchen.«

Die Augen mit ihren aufgetriebenen, feurigroten Tränensäcken sind noch immer geschlossen. Aber Tungeln glaubt zu bemerken, daß ein schmaler Spalt sich zwischen ihnen auftut und etwas wie ein Lächeln das Gesicht verzieht.

»Steenbock!« flüstert er.

Die Lippen bewegen sich, beginnen ein untergründiges Murmeln wie eine Uhr, die abgelaufen ist und nochmals schlagen will, dann sagen sie deutlich:

»Tabak!«

Husaren sind hereingekommen. Ihnen ist der Wachtmeister gefolgt, der kopfschüttelnd die Begebenheit ansieht.

»Es ist doch wohl nicht menschenmöglich!« brummt er. »Na, so was bringt auch nur ein Russe fertig. – Was machen wir nun mit ihm, Herr Rittmeister? Vielleicht braucht er gar nicht ins Lazarett? Dann könnten die Pferde den Weg sparen.«

»Nach Haus!« sagt die Stimme, und es hat etwas Unheimliches, daß aus dem mißgestalten Gesicht diese menschliche und beinah klare Stimme kommt. »Nach Ohlenhof! Ich will nicht ins Lazarett.«

»Sie haben hier überhaupt nichts zu wollen«, weist der Wachtmeister ihn zurecht. »Sie sind Kriegsgefangener.«

»Pascholl! Halt's Maul!« sagt die Stimme.

»Wir könnten ihn ja schließlich auch nach Hause schaffen«, meint der Wachtmeister. »Für die Pferde ist es der gleiche Weg.«

Etwas empört sich in Tungeln, und doch beugt er sich unter der Wucht des Geschehens. Es ist ein Gottesurteil. Ein endgültiges Nein.

»Nach Ohlenhof!« befiehlt er. »Die Leute sollen die Decken holen.«

Der Wachtmeister geht mit den Husaren hinaus. Aber in der Tür dreht er sich noch einmal um und sagt vertraulich:

»Ich hab's ja gleich gesagt, Herr Rittmeister, die Bullenhitze war nicht das Richtige. Da ging er auseinander. Der Mensch ist eben auch nur ein Erdenkloß.«

»Guter Freund!« flüstert Steenbock. Er hebt mühsam den Zeigefinger der Rechten einmal und noch mal und sagt, während wieder die Grimasse eines Lächelns sein Gesicht verzieht:

»Zweimal das Leben gerettet! Sehr guter Freund! Das Schwein von Doktor wollte ja schon schießen.«

»Haben Sie denn gehört, was wir sprachen?«

»Alles.«

Der Rittmeister weiß nicht, ob der Mond scheint, ob Sterne am Himmel stehn, er merkt nicht die grimmige Kälte und daß er mit den Zähnen schnattert, da er alle Pelzsachen dem Verwundeten überlassen und sich selbst mit einem Woilach zugedeckt hat. Er sieht nur seine zertrümmerten Hoffnungen und fühlt: noch ist die Qual erträglich, aber wie wird sie diese Nacht sein und die nächste und all die kommenden Nächte … wie wird es da in ihm bangen und rufen nach der, die er verloren hat? Denn das steht als felsgewachsene Wahrheit vor ihm: von einem gesunden Mann könnte Marte sich scheiden lassen, aber diesen Kranken wird sie nie verlassen.

Er lehnt sich nicht auf gegen Gott, zweifelt, marktet und hadert nicht wie früher wohl … zu unvermutet und ungerüstet hat ihn der Schlag getroffen, als er, aller Waffen ledig, sich ganz dem Glück und der Freude hingab.

Er unterwirft sich, aber es ist kein gutes Gefühl, mit dem er es tut. Es ist, als wäre der frühere, vertrauensselige und immer wieder hoffnungsvolle Mensch in ihm zerbrochen und ein anderer, finsterer, zurückgeblieben.

Und so, mit andern, entfremdeten Augen betrachtet er auch Marie. Mit einer fast unbeteiligten Stimme berichtet er ihr das Geschehen. Sie ist hinausgeeilt, um mit Hilfe der Diener ihren Mann ins Haus zu schaffen – in des Rittmeisters Zimmer und in dessen Bett, das der Graf als der rechtmäßige Herr nun wieder einnimmt. Sie bittet Tungeln, die Nacht über dazubleiben. Aber er muß fort. Die Truppen liegen in Alarmbereitschaft. Es geht das Gerücht von einem bevorstehenden Abmarsch. Er muß versprechen, sie, so bald er irgend kann, auf alle Fälle aber noch vor dem Ausrücken, zu besuchen.

Sie schließt ihn immer wieder in ihre Arme, bedeckt unter Tränen mit immer neuen Küssen sein Gesicht, und nichts so sehr wie dieser herzzerreißende Abschied bestärkt ihn in der Überzeugung, daß es ein Abschied für immer ist.

 

Seit sechs Uhr ist der General auf den Beinen, hat morgens ein Infanterieregiment und das ostpreußische Jägerbataillon inspiziert, hat nachmittags Befehle diktiert und Berichte gelesen, hat ein voll gerüttelt und geschüttelt Maß von Pflichten erledigt: jetzt um zehn Uhr will er sich schlafen legen. In Hausschuhen steht er über den dünnbeinigen Waschtisch gebeugt, und das kalte Wasser dampft ihm von Brust und Rücken. Sein Diener legt derweil neben den Leuchter ein frisches Wachslicht, nimmt die kotbespritzten Stiefel und fragt, ob sein Herr noch Befehle habe?

»Kannst gehn. Gute Nacht!«

»Wünsche Euer Exzellenz wohl zu ruhn.«

Ehe der General sich ausstreckt, wirft er einen Blick auf die Silhouetten seiner Kinder. Wieder hat seine Frau in ihrem Garten ein Tannenbäumchen pflanzen müssen. Auch der kleine Ludwig ist nach kurzer, geheimnisvoller Krankheit gestorben. Von sieben Kindern sind ihm jetzt nur noch zwei geblieben. Je mehr der Tod ihm raubt, mit desto ängstlicherer Liebe hängen die Wurzeln seines Herzens an den Überlebenden. Und ein kurzes Streicheln fährt auch über das Bild der verhärmten Mutter. Wie mag es den dreien jetzt gehn?

Bei ihnen mit wehmütig sorgenden Gedanken zu verweilen, wäre ein süßes Ausruhn für sein überreiztes Hirn. Aber solche Labsal ist ihm nicht gegönnt.

Er streckt sich aus, doch ohne das Licht zu löschen und ohne daß sein Gesicht den Ausdruck der Entspannung annimmt, wie es ein Mensch tut, der schlafen will.

Er will gar nicht schlafen, weil er weiß, daß er es nicht kann. Denn jetzt beginnt seine private, nächtliche und heimliche Tätigkeit, die aushöhlende, zermürbende, wahnsinnig machende Sisyphusarbeit, die ihn wach hält und alle Glockenschläge hören läßt, von halb elf und elf und halb zwölf und Mitternacht und weiter, bis zu der Stunde, wo der Diener anklopft.

Dem ersten Brief Pauluccis sind noch andere gefolgt. Der schlaue Italiener, der die einzigartige Gelegenheit, sich beim Zaren in Gunst zu setzen, vollauf würdigt, bohrt immer weiter, drängt und drängt und versorgt nebenbei Yorck mit Nachrichten über die grande armée, die, wenn sie wahr sind, unbedingt eine Stellungnahme erfordern.

Und nun muß Yorck Nacht für Nacht alle Umstände und Tatsachen zusammentragen, die dafür sprechen, auf die Vorschläge der Russen einzugehen und die Franzosen zu verlassen. Aber im Augenblick, wo er sich dafür entschieden hat und es endlich gut sein lassen will, stürzt die ganze Last lautlos in bodenlose Tiefen, worauf eine geheime Kraft ihn zwingt, alle moralischen und materiellen Gründe zusammenzutragen, die gegen das Unternehmen sprechen. Aber auch dabei kann er sich nicht beruhigen, ein Nichts, ein Etwas, leichter als ein Atemzug, genügt, um auch diese Last ins Stürzen zu bringen, worauf dieselbe boshafte und unwiderstehliche Kraft ihn zwingt, die Arbeit von neuem zu beginnen.

Sie ist völlig unsinnig, denn alle Tatsachen, Möglichkeiten, Erdenkbarkeiten sind durchgrübelt. Es ist nichts als die Qual des im Tiefsten aufgewühlten Gewissens, die den Übermüdeten nicht zur Ruhe kommen läßt.

Zwölf Uhr. Noch sechs Stunden. Wie rasch können sechs Stunden vergehn, wenn sie die Hälfte eines frohen Tages sind, und nicht sechs mal sechzig Minuten, deren jede eine Zentnerlast Verantwortung zu tragen hat! Und noch manche Nacht muß er so durchwachen.

Sein erster Kurier nach Berlin ist ohne Antwort geblieben. Er hat mit dem Brief Pauluccis einen zweiten geschickt, der frühestens in einer Woche Antwort vom König bringen kann – wenn der König antwortet.

Und wenn er nicht antwortet? Was dann? Soll er dann auf eigene Verantwortung handeln?

Er nicht und keines Menschen Hirn könnte ausrechnen, wie oft er zu dem Schluß gekommen ist, daß er es tun muß, aber nicht minder oft ist er zu der Entscheidung gelangt, daß er es nicht kann und darf. Und doch zutiefst – in jenen Tiefen, die keine verstandesmäßigen Erwägungen mehr erhellen, ahnt, fühlt und weiß er, daß er es tun wird, daß er es verurteilt, aus tiefster Seele verabscheut, daß ihm davor graut, und daß er es dennoch wünscht, daß es ihn dazu treibt und daß er es herbeizwingen wird, weil es das ihm zugeteilte Schicksal ist.

Grade weil er der Treueste und Gehorsamste ist, muß er Untreue und Ungehorsam begehn, denn es ist das Gesetz seines Lebens, daß er sich immer das Härteste und Bitterste auferlegen muß. Und dann … ist etwas in ihm vom geborenen Rebellen.

Einmal als junger Offizier hat er rebelliert aus übertriebenem soldatischem Ehrgefühl und seine Tat mit Kassation gebüßt. Nun als alter Mann wird er ein zweites Mal rebellieren, wird das Heiligste, was der Soldat kennt, seine Fahnentreue, verunehren und wird die Tat vielleicht mit dem Schafott und mit der ewigen Schande seines Namens büßen. Und doch wird er sie tun, denn sie ist das ihm von Gott oder vom Teufel auferlegte Gesetz. Und wenn die ganze Welt ihn verurteilte, könnte er nur mit Luther sagen: Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

Die Kerze ist heruntergebrannt, er hat eben eine neue in den Leuchter gesteckt, als es klopft.

Der Diener tritt ein und meldet, daß der Oberst Terrier angekommen sei mit einem Befehl vom Herzog von Tarent. Der Diener fragt, ob er Seiner Exzellenz beim Ankleiden behilflich sein soll?

»Ich lasse den Herrn Oberst bitten, sich zu mir heraufzubemühn.«

So gelassen die Antwort klingt, ebenso hastig jagen sich Yorcks Gedanken.

Botschaft von Macdonald – zu dieser Stunde – durch Terrier. – Vielleicht ist mein Brief an Paulucci aufgefangen? – So scheint denn plötzlich das Ende da. – In einer Stunde vielleicht bin ich auf dem Wege nach Paris. – Mich wehren, Alarm schlagen? – Ich kann nicht meinetwegen tun, was um des Vaterlandes willen geschehn sollte. – Pariser Gefängnisse –? Ein Mann in meiner Situation müßte Gift bei sich tragen. – Den Oberst niederknallen?

Unwillkürlich streckt seine Hand sich nach der Pistole aus und zieht sich unwillig zurück.

Und beinah noch im selben Zug der Hand lädt er den Eintretenden zum Niedersitzen ein, während er das versiegelte Schreiben gewahrt und denkt: wahrhaftig, der Haftbefehl!

»Ich denke, Herr Oberst, es wird auch Ihnen angenehmer sein, Sie erledigen Ihren Auftrag gleich, als daß Sie lange auf mein Ankleiden warten müssen. – Sie bringen ein Schreiben vom Herrn Marschall?«

»Mit dem Befehl, es persönlich zu übergeben. Wollen Euer Exzellenz es gefälligst sofort lesen.«

»Natürlich! Bitte, nehmen Sie doch aus dem Stuhl dort Platz, Herr Oberst. Legen Sie die Kledagen ruhig auf den Tisch. – Sind Sie zufällig im Besitz eines Federmessers?«

Der Oberst zieht aus seiner Hosentasche ein großes, nicht sehr sauberes Messer mit Hirschhornschale, wie es auch die gemeinen Soldaten benutzen.

Yorck öffnet damit das Siegel und überfliegt den Brief.

Da er das, was er sucht, nicht gleich findet, beginnt er, der Reihe nach zu lesen.

Terrier beobachtet ihn etwas allzu gierig. Er hat ein ziemlich ordinäres Unteroffiziersgesicht, das aber mit seinem eingekniffenen Mund und seinem wie ein Horn vorstehenden Kinn an das eines alten Weibes erinnert.

Yorck vermag in dem Schreiben noch immer nichts zu entdecken, das seine eilige Sendung mitten in der Nacht rechtfertigen könnte. Anfangs enthält es nur eine ziemlich ausführliche Entgegnung auf seine Beschwerden über die mangelhafte Verpflegung der Mannschaften und Pferde. Aber mitten zwischen den Rechnungen über gelieferte Fuder Heu und Scheffel Hafer steht plötzlich der Satz: »Euer Exzellenz beklagen sich, daß Sie genötigt seien, selbst alles zu kaufen. Dies geschieht unzweifelhaft, um das Vergnügen zu haben, Ihre Auslagen nochmals zu berechnen.«

Erstaunt über diese, dem ritterlichen Sinn des Marschalls so wenig anstehende plumpe Verdächtigung steht Yorck auf, gewahrt die gierig lauernde Miene des Obersten und durchschaut plötzlich das Spiel: man denkt, er wird jetzt einen Wutanfall bekommen und mit Fluchen und Schimpfen auf den Marschall sich selbst den Strick um den Hals drehn. O Gott, ist das naiv! Ein Mann wie er, der um sein Leben spielt, um Freiheit oder Untergang des Vaterlandes – der wird sich wegen einiger Beleidigungen aufregen! Fast bis zur Heiterkeit beruhigt, liest Yorck weiter, sehr langsam, denn die Person des Herrn Marschalls verlangt, daß man seine Worte nicht obenhin überfliegt. Vielleicht wird der Herr Oberst etwas ungeduldig? Um so besser! Yorck hat ja noch so viel Zeit … beinah die halbe Nacht.

Es bleibt nicht bei der einen Beleidigung. Dem General wird vorgeworfen, daß er alles, was französisch sei, mit Haß verfolge, daß er Entmutigung unter den Offizieren und Mannschaften seines Korps verbreite. Der Marschall droht ihm, dem Kaiser über seine schlechte Gesinnung und sein feindseliges Verhalten Bericht abzustatten. Und der Brief schließt mit einer Grobheit im Kasernenhofstil: wenn Yorck sich beklage, daß die Pferde aus Mangel an Futter eingingen, so könne er, der Marschall, nur antworten: nicht daran krepieren sie, sondern an Gefräßigkeit und Fettsucht. Genau wie die preußischen Soldaten!

Ein Mann wie Yorck kann an einzelmenschliche Rücksichten weder viel Gefühls- noch Gedankenkraft verschwenden. Dennoch hat es ihn geschmerzt, daß er gerade dem Marschall gegenüber vielleicht die Rolle eines Abtrünnigen und Treulosen spielen muß. Und nun erleichtert Macdonald selbst ihm seinen Schritt, indem er diesen Streit vom Zaun bricht und noch dazu auf eine so plumpe Weise.

Mit bedächtiger Vorsicht faltet Yorck den Brief zusammen.

»Ich wollte Ihre Zeit nicht ungebührlich lange in Anspruch nehmen, mein lieber Herr Oberst, deshalb habe ich den Brief nur rasch durchflogen.«

»Ich habe den Befehl, die Antwort Euer Exzellenz gleich mitzunehmen.«

»Die Dinge, die in dem Schreiben zur Erörterung stehn, sind ja von beträchtlicher Wichtigkeit. Deshalb halte ich es für besser, gleich morgen früh den Brief in mein Übersetzungsbureau zu geben und die Antwort dem Herrn Marschall schriftlich mitzuteilen.«

»Und was werden Euer Exzellenz jetzt tun?«

»Jetzt? Wenn Sie zur Tür hinaus sind, werde ich mich auf die andere Seite legen und weiterschlafen.«

»Weiter haben Euer Exzellenz nichts zu melden?«

»Dem Herrn Marschall meine ehrerbietigsten Empfehlungen.«

Des Obersten Gesicht wird einen Augenblick glotzäugig vor Enttäuschung. Dann fluchen und funkeln seine Augen vor Wut. Memme! schimpfen sie. Ein Franzose dränge mit blankem Degen auf mich ein. Und du läßt die Beleidigungen auf dir sitzen? Feiger preußischer Hund!

Ja, mein Lieber, höhnen des Generals kalte Geieraugen zurück, für dich ist mein Leben zu schade. Wer weiß, ob ich's nicht für manche gute Schlacht, vielleicht auch … fürs Schafott aufsparen muß.

Als der Oberst gegangen ist, liest er den Brief noch einmal.

Der ist ein unschätzbares Dokument. Er beweist, daß der Marschall allerdings Verdacht gegen ihn geschöpft hat. Aber gleichzeitig geht auch daraus hervor, daß der Herzog von seinen Verhandlungen mit Paulucci weder etwas weiß noch ahnt. Wüßte er etwas, so hätte er ihn gleich verhaften lassen, ahnte er etwas, so hätte er ihn unbehelligt gelassen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Wider seinen Willen hat er die Situation prächtig erhellt.

Jetzt heißt es für Yorck, weiter auf der Hut sein und das Spiel so spielen, daß er den Russen die Bedingungen vorschreiben kann.

 

Die Glocke scheppert so zum Zerbersten schrill und laut, daß die Frau Pastor, die soeben den Teetisch für den General von Kleist gerichtet hat, im Flur stehenbleibt, um sich den Störenfried, der so unzart die Haustür aufgerissen hat, anzusehen. Der Eintretende ist gänzlich mit Schnee bedeckt, so daß man grade noch an der Form seiner Mütze den Militär erkennen kann.

»General von Kleist zu Haus?« fragt er barsch.

»Zu Hause ist er, aber ich glaube kaum, daß er sich sprechen lassen wird«, erwidert die Frau Pastor, die ihren Quartiergast wie ihren Augapfel hütet.

»Seien Sie unbesorgt: er läßt sich sprechen«, knarrt die Stimme. »Ist das seine Stube?«

»So klopfen Sie sich doch wenigstens erst den Schnee ab! Sie sind hier in einem christlichen Haus«, ruft die Frau Pastor unwillig, als sich auch schon die Tür öffnet. Und zu ihrem Entsetzen sieht sie, daß ihr hoher Gast den Eindringling mit einer Ehrerbietung begrüßt, wie man sie nur dem Vorgesetzten gegenüber zeigt.

Sollte das etwa? Aber natürlich, es kann ja niemand anders sein! … Na, dem möchte ich ja mal meine Meinung sagen, denkt die energische Frau, während sie die Treppe hinaufeilt.

»Dürfte ich Sie wohl noch um eine zweite Tasse bitten, werte Frau Pastorin?« ruft Kleist ihr nach.

»Machen Sie meinetwegen keine Umstände, mein lieber Kleist«, sagt Yorck.

Aber kaum daß ihm der würzige Teegeruch entgegenweht und die frischen Wecken, die Butter und der Honig sichtbar werden, als ihm einfällt, daß er seit dem Morgen noch nichts Rechtes gegessen hat.

Kleist nötigt ihn zum Niedersitzen. Obwohl er nur drei Jahre jünger als Yorck ist, macht er doch einen weit jüngeren Eindruck. Er ist ein stattlicher, breitschultriger Mann, in dessen vollem Gesicht soldatische Energie und humorvolle Güte sich die Waage halten.

»Kann uns von den Nebenzimmern aus jemand belauschen?« fragt Yorck.

Nebenan seien zwei Schreiber beschäftigt, die aber in wenigen Augenblicken zum Vespern gehen würden, erwidert Kleist.

»Warten wir bis dahin!«

Während Yorck ruhelos auf und ab geht, empfindet er, obwohl alle seine Gedanken einem einzigen Gegenstand zudrängen, beinah mit einem kleinen Neid die anheimelnde Behaglichkeit der Stube: den mit weißem Sand und Tannengrün bestreuten Fußboden, die sauberen Gardinen, den Ohrenlehnstuhl am Ofen mit dem braunen Bärenfell davor, den Pfeifenständer … sogar Bücher und Almanache liegen auf dem Tisch und aufgeschlagen der »Hinkende Bote«. Nicht aus irgendeiner Einzelheit, aus der unaufdringlichen Ordnung des Ganzen spricht der Geist eines Mannes, der sich auch in den Drangsalen des Krieges den milden Sinn des Friedens bewahrt hat. Eben tritt die Frau Pastor ein. Als Kleist ihr mit einem kleinen Lachen in den Augen, denn er weiß Bescheid, seinen Gast vorstellt, versinkt sie zwar in einen tiefen Knicks, aber der strenge Ausdruck auf ihrem von einem dreifachen Rüschenkranz umrahmten Gesicht läßt keinen Zweifel aufkommen, wie sie im Herzen über ihn denkt. Yorck hat vor einigen Wochen sämtlichen Militärpersonen den Umgang mit der Zivilbevölkerung untersagt. Er hält die strenge Maßnahme für notwendig, da es in der Stadt von Spionen wimmelt, die jede unbedachte Äußerung den französischen Behörden hinterbringen.

Beim weiblichen Teil der Bevölkerung aber, und die Frau Pastor mit ihren drei Töchtern ist deren Bannerträgerin, hat dieses Verbot seinen Ruf als den eines Isegrims endgültig befestigt.

Yorck hat grade die erste Tasse Tee getrunken, als Kleist auf die Tür weist.

»Wie mir scheint, gehen die Leute soeben fort.«

Die beiden überzeugen sich, daß die angrenzenden Zimmer leer sind, und verschließen sämtliche Türen. Daraus nimmt Yorck wieder Platz, schiebt aber die von neuem gefüllte Tasse mit kurzer Geste zurück und sagt:

»Was ich Ihnen mitzuteilen habe, muß Geheimnis bleiben. Von dem, was in den nächsten Tagen geschieht, hängt Preußens Schicksal ab.« Er stößt durch die beklommene Brust kurz seinen Atem aus und fährt fort:

»Ich mache Ihnen diese Mitteilungen, um Ihren Rat zu hören und vor allem Ihre Einwände, nicht um etwas von der Verantwortung auf Sie abzuwälzen.«

Wieder holt er kurz Atem.

»Schon als ich von dem Brand Moskaus erfuhr, ahnte mir, wie gewiß auch Ihnen und vielen tausend Patrioten, daß jetzt die Stunde der Abrechnung nahe sei. Ich fragte mich, was an uns sei, sie zu nutzen? In diesen Tagen erhielt ich ein Schreiben aus Riga vom General von Essen. Seit diesem Brief, seit Anfang November, stehe ich in Negoziationen mit den Russen. Der General von Essen stellte mir das Ansinnen, Macdonald und seinen Stab verhaften zu lassen.«

»Verzeihung, Exzellenz«, unterbricht Kleist ihn bestürzt. »Sie denken doch nicht ernstlich daran?«

»Von meiner Seite wird dem Marschall nicht das geringste geschehn.«

»Das beruhigt mich, denn die Gefangennahme eines solchen Ehrenmannes –«

»Der Marschall ist ein Ehrenmann, und wir sind Preußen und keine Szythen, die dem Freund von gestern heute an die Gurgel fahren. – Wie gesagt, seit Anfang November verhandle ich. Nach der Abberufung Essens mit dem General Paulucci und jetzt auch mit General Diebitsch. Sie drängen auf Abschluß eines Vertrages. Ich habe noch nichts Entscheidendes geantwortet. Für mich gibt es natürlich nur die eine Alternative: soll ich, indem ich das Vordringen der Wittgensteinschen Armee aufhalte, das preußische Korps opfern, oder soll ich den Russen freie Bahn lassen und das Korps intakt halten für eine kommende Kampagne? Darüber habe ich die Entscheidung Seiner Majestät erbeten.«

»Und was ist die Antwort Seiner Majestät?«

»Die Antwort?« Yorck holt Atem. »Die Antwort?«

Schon schweigt er wieder, und es ist, als verschlösse er rasch ein glühendbrodelndes Gefäß. Dann sagt er mit einer mühsam beruhigten, beinah flüsternden Stimme:

»Ich habe am fünften mit dem Brief Essens den Grafen Brandenburg nach Berlin geschickt. Ich habe am dreißigsten den Hauptmann von Schack mit Pauluccis Brief und ausführlichen Berichten an Seine Majestät geschickt. Ich habe, um eine Entscheidung zu erzwingen, Seydlitz als dritten hinterhergeschickt. Nicht ein klares Wort auf alle meine Fragen. Seydlitz schrieb mir, daß er in einer Audienz endlich um definitive Befehle für mich gebeten habe, worauf Seine Majestät antwortete: ›Nicht über die Schnur hauen!‹ Als Seydlitz untertänigst erklärte, dies Rätselwort nicht zu verstehen, erwiderte Seine Majestät: ›Napoleon großes Genie. Weiß immer neue Hilfstruppen zu finden.‹ Und als er flehentlich bat, ihm klar zu sagen, wie ich mich verhalten sollte, kommt die sibyllinische Antwort: ›Je nach den Umständen.‹«

»Der König ist ein Held im Leiden«, entschuldigt ihn der milde Kleist. »Aber Impulsieren ist seine Sache nicht. Und ehe man ihm in einer so schwerwiegenden Angelegenheit einen Entschluß extrahiert –«

»Eher ist der günstige Augenblick verpaßt. Aber ehe das geschieht« – Yorcks Stimme wird ganz rauh vor Erregung –, »sage ich dem König den Gehorsam auf und handle auf eigne Verantwortung.«

»Welche furchtbaren Folgen eine solche Eigenmächtigkeit für Euer Exzellenz nach sich ziehn könnte –«

»Hab ich mir überlegt. Wenn die Sache mißlich geht, wird mir Napoleon nicht mal einen ehrlichen Soldatentod gönnen. Aber ein Hundsfott von einem Soldat, der nur in der Schlacht sein Leben wagt.«

Er ist aufgesprungen und preßt den andern, der sich ebenfalls erheben will, auf seinen Stuhl zurück.

»Kleist, wir sind doch beide keine Jakobiner. Wir sind so königstreu wie nur irgendeiner. Wie oft haben wir die Faust geballt, wenn wieder eine Gelegenheit zum Losschlagen versäumt wurde, und haben doch nicht aufgemuckt. Als Majestät die schimpfliche Allianz abschloß, sind wir da wie die andern nach Rußland desertiert, haben wir den Abschied genommen? Wir sind dem König auch in diese Schmach gefolgt, weil wir uns sagten, er kann nicht anders. Aber heute kann er anders. Und wehe ihm, wenn er nicht anders will! – Kleist, kommen Sie mir nicht mit Gehorsam, Treue, Soldatenehre. Ich habe diese letzten Wochen wahrhaftig in einer Hölle zugebracht. Denn alles hat mich verdammt, was ich seit fünfundzwanzig Jahren die Kerls gelehrt habe, und worin ich, das darf ich wohl sagen, der Armee ein Vorbild gewesen bin. Aber höher als Zucht und Gehorsam steht mir, daß Preußen lebt. Und Preußen kann nicht leben, wenn es sich nicht vom Feindesjoch befreit. Ein Preußen, das nur der sklavischen Unterwürfigkeit sein Dasein verdankt, verdient ausgerottet zu werden wie Sodom und Gomorrha. Und durch alle Höllennacht hindurch hat mir immer wieder dies eine Licht geschienen: jetzt oder niemals ist die Stunde da, Preußens Freiheit zu erkämpfen. Und wenn der König zu schwach ist, die Stunde zu nutzen, dann müssen wir stark für ihn sein. – So steht die Partie … Nun schimpfen Sie mich meinetwegen Rebellen oder Deserteur oder Verräter, was Sie wollen.«

Kleist blickt stumm und grade und mit jenem soldatischen Ausdruck, der nur ein Teil der Uniform zu sein scheint, vor sich hin, halbwegs an Yorck vorbei.

Was sich da eben vor ihm abgespielt hat, verhält sich zu dem, was auch in seinem Innern wetterte und wogte, wie zum Brodeln eines nicht zur Entladung kommenden Gewitters der feuerlohende Ausbruch eines Vulkans. Und der da vor ihm steht, ähnelt einer von den Glutströmen schon beinah durchgebrannten und verzehrten Menschenhülle. Wie abgemagert der sehnige Athletenkörper wirkt, wie geisterhaft blaß im weißen Schneelicht das hagere Gesicht mit den fahlen Lichtern unter den vorspringenden Brauenbögen!

Es geht etwas wie der Flügelschlag einer übermenschlichen Macht durch die Stube und wie das Tönen einer Schicksalstunde. Und voll Ergriffenheit fühlt Kleist die Überlegenheit dieses Mannes, der mit seinem trotzigen Willen das kühn vom Himmel reißt, was er selbst in dumpfen Wünschen kaum erreichbar wähnte.

Aber da weder Gefühl noch Betrachtung sein Amt ist, sondern nüchterne Überlegung, reibt er sich heftig das Kinn, wie ein Schläfer die Augen.

»Euer Exzellenz sind also der Meinung, die große Armee sei durch die Retraite so übel mitgenommen, daß Napoleon auf sie nicht mehr recht zählen kann. Ist es nicht aber doch gewagt, den diesbezüglichen Gerüchten zu großen Glauben beizumessen?«

»Es wäre gewagt und verbrecherischer Leichtsinn, den Gerüchten oder den russischen Berichten zu glauben. Deshalb habe ich den Major von Canitz nach Wilna geschickt, damit er sich dort an Ort und Stelle informiert. Sein Bericht lautet kurz: die französische Artillerie hat keine Kanonen mehr, die Kavallerie keine Pferde und die Infanterie ist erfroren. Mit einem Wort: die große Armee ist nur noch ein Haufen von Krüppeln. Und auch die scheinbar Gesunden tragen den Keim des Todes im Leib.«

Alle preußischen Offiziere, auch Kleist, haben etwas Ähnliches gewünscht und gehofft. Nun es aber geschehen ist, verschlingt das Grauen seine Freude.

»Es bleibt dem Kaiser, der aus der Flucht nach Paris ist, nichts anderes übrig, als eine neue Armee zusammenzustellen. Ehe das geschieht, müssen wir mobilisieren und zusammen mit den Russen losschlagen.«

»Ja«, sagt Kleist und zeichnet mit dem Messer einen dicken Strich auf das schöne Tischtuch der Frau Pastor. »Aber wenn der Zar nun wieder mal auf Preußens Kosten mit Napoleon Frieden schließt?«

»Auch das ist zu bedenken. Das ist sogar der springende Punkt. Deshalb habe ich Paulucci wissen lassen, daß ich ohne Sicherheit hierüber nicht abschließen würde. Daraufhin habe ich einen Brief von des Zaren eigener Hand bekommen, worin er sich verpflichtet, wenn der König mit ihm ein Bündnis schließt, die Waffen nicht eher niederzulegen, als bis Preußen in seinem alten Umfang von 1805 wiederhergestellt ist.«

»In seinem alten Umfang wiederhergestellt?« wiederholt Kleist erregt. »Ich hatte in meinen Gedanken nur mit der Elbgrenze gerechnet. Bei Gott, Exzellenz zeigen uns da ein großes Ziel! Ich glaube, wir alle, mit mir das ganze Offizierkorps werden Ihnen begeistert folgen.«

»Ihre Einwände, Kleist!« sagt Yorck nach kurzem Schweigen.

»Bei einem so gewagten Unternehmen gibt's natürlich unzählige. Aber was nützen schließlich alle Überlegungen? Über den Ausgang entscheidet allein der Allmächtige.«

»Ich hoffe ja noch immer auf eine Antwort aus Berlin.«

»Wie lange glauben Exzellenz, die Entscheidung den Russen gegenüber noch hinauszögern zu können?«

»Sie bedrängen mich jeden Tag. Aber ich vertröste sie immer mit kleinen Brocken. Ich halte es mit ihnen wie beim Gefecht: erst die Kräfte menagieren, bis man den Feind in die Position gelockt hat, wo man ihn haben will, und dann drauflos.«

Die Arme auf dem Rücken verschränkend, lehnt er gegen den Ofen und sieht mit seinen grauen Augen in die Ferne.

»Der Marschall wird in den nächsten Tagen aufbrechen. Für den Fall, daß er beim Rückzug unser Korps zerstückeln will, habe ich einen Befehl Seiner Majestät, der das verhindert. Wenn er uns aber beisammen läßt, dann wird er uns die Arrieregarde bilden lassen.«

»Glauben Euer Exzellenz, daß er nach dem Vorgefallenen noch soviel Vertrauen in uns hat?«

»Er hat verdammt wenig Vertrauen. Ich schätze, daß er zwischen seinem Mißtrauen schwankt und dem Wunsch, uns die Schweinerei mit den Russen ausfressen zu lassen und seine Leute zu schonen. Natürlich stecke ich nicht in seiner Haut, aber bei einem couragierten Mann wie dem Marschall gibt den letzten Ausschlag immer der Egoismus. Darum glaube ich, daß er uns als Rückendeckung benutzen wird.«

»Und dann?«

»Dann wird es von den raschen Beinen der Russen abhängen, uns zu trennen. Bin ich vom Marschall abgeschnitten, befinde ich mich einer derartigen russischen Übermacht gegenüber, daß ich auch als Franzose die Waffen strecken würde, wer kann mir dann verdenken, es als Preuße zu tun?«

Das sei der ganze Yorck, denkt Kleist bewundernd: vom Wagemut eines Adlers und von der schlauen Vorsicht eines alten Fuchses.

»Wenn Euer Exzellenz so vorgehn, dann bieten Sie auch Seiner Majestät die beste Rückendeckung. Was kann Napoleon ihm dann schließlich anhaben?«

»Wenn Napoleon sich auf dem Thron behauptet, dann ist es um Seine Majestät ohnehin geschehn, ob er der Allianz treu bleibt oder nicht. Darüber haben der General Rapp und der Herzog von Bassano sich klar genug geäußert. Und übrigens pfeifen's die Spaßen von den Dächern. Des Königs einzige Chance liegt im Kampf.«

»Zu dieser Einsicht wird Majestät selbst auch gelangen, denn am Ende siegt bei ihm doch immer der point d'honneur. Und darum bin ich überzeugt, wenn er zuerst auch zürnt, er wird sich adoucieren, und Euer Exzellenz werden durch Ihre mutige Initiative schließlich noch seine unauslöschliche Dankbarkeit erwerben.«

Yorck hat sich schon zur Tür gewandt. Jetzt bleibt er stehn, und während mit der hochgezogenen rechten Braue und den zusammengepreßten Lippen Spott und Verachtung über sein Gesicht hintasten, sagt er: »Das wollen wir ein andermal erörtern, lieber Kleist. Aber denken Sie über Jahr und Tag an das, was ich Ihnen jetzt sage: geht die Sache mißlich aus, dann wird der König mir aufrichtig nachtrauern. Er hat ein edles Herz. Geht sie aber gut, dann bin ich auf ewig brouilliert mit ihm. Dann wird er mir nie vergessen, daß nicht er, sondern daß ich als erster den Degen gezogen habe. Ne, Kleist, eine Chose, um sich oben beliebt zu machen, ist das nicht, was ich vorhabe. Aber – wer weiß – vielleicht tränken wir unsere Gäule noch mal im freien deutschen Rhein.«

 

Während in Mitau phantastische Gerüchte wie dicke Nebelschwaden umherwogen, trägt der Herr Marschall in seinem Schloß zu Stalgen die heitere Gelassenheit eines unbefangenen Zuschauers auf seinem Gesicht, ja, seine strahlende Miene scheint die Gäste, die er empfängt, gradezu mit polykratischer Vermessenheit herauszufordern.

Und wenn er früher nicht müde wurde, den preußischen Offizieren zu erzählen, wie wenig ihm die rauhe Nordluft behage und wie überdrüssig er des langweiligen Brückenkopfkrieges sei, beginnt er sich jetzt für einen langen Winteraufenthalt in Kurland einzurichten, läßt die Empfangsräume des Schlosses neu tapezieren und spricht von den Bällen und Assembleen, die er veranstalten will.

Wer es aber für seine Pflicht hält, ihm etwas von den umherschwirrenden Gerüchten mitzuteilen, dem klopft er beruhigend auf die Schulter:

»Ungeheure Verluste? Ja, mein Lieber, glaubten Sie denn, ein Land wie Rußland ließe sich im Spazierengehn erobern? Natürlich waren die Verluste enorm. Aber jetzt, wo sich die Hauptstadt in unserer Hand befindet, ist auch der Widerstand gebrochen, und – ich darf eigentlich nicht darüber sprechen … im tiefsten Vertrauen gesagt, die Friedensverhandlungen sind schon im Gange. Nur noch ein klein wenig Geduld!«

Kaum aber ist er allein, so rennt er ungeduldig ans Fenster, späht hinaus, trommelt aufgeregt gegen die Scheiben, wandert seufzend in seinen Räumen auf und ab, ohne den griechischen Mustern der neuen Tapeten auch nur einen Blick zu schenken. Wenn er einen Brief des Generals Yorck bekommt, wirft er ihn in Gegenwart seiner Untergebenen mit gelangweilter Miene auf den Tisch, um ihn zwei Minuten später in seinem Privatzimmer zu öffnen. Und was er liest, treibt manchmal dicke Schweißtropfen auf seine blasse Stirn. » Une armée si belle!« seufzt er, und wenn er nicht der Marschall Macdonald wäre, würde er weinen.

Yorck hält es für ein Gebot der Klugheit, den Marschall über alle Ereignisse zu unterrichten, und hat ihm auch die Beobachtungen des Freiherrn von Canitz in Wilna mitgeteilt. Immer dringender rät er zum schleunigen Abmarsch. Eine Antwort bekommt er freilich nicht.

In diesem Punkte ist Macdonald der große Herr und des Glückes Günstling. Yorck hat die Anschuldigungen in dem Schreiben, das der Oberst Terrier überbrachte, Punkt für Punkt widerlegt, ohne daß der Marschall davon Notiz genommen hätte. Er tut so, als gäbe es überhaupt keinen General dieses Namens. Die notwendigen Verhandlungen werden durch den Oberst Röder geführt.

Eines Tages läßt sich der Major von Schenk beim Marschall melden. Der Major, der mit wichtigen Depeschen des Marschalls Berthier aus dem Kaiserlichen Hauptquartier in Wilna kommt, hat ein ziemlich schlechtes Gewissen. Anstatt nämlich auf dem kürzesten Wege herzueilen, hat er den Umweg über Tilsit gewählt und obendrein noch einen Tag mit seiner Braut vertändelt. Aber er denkt als schlauer Husar: je fauler eine Sache steht, desto forscher müsse man auftreten. Also spielt er den Harmlosen, tut so, als sei er Tag und Nacht in voller Karriere aus Wilna hergeritten, und sprudelt einen rauschenden welschen Wasserfall heraus von » mille salutations du majorgénéral, le prince de Neufchâtel, Berthier« und » les plus chaudes amitiées du duc de Bassano« und » les plus empressés respects du comte Rapp.« Aber damit ist der Fluß seines Französisch auch zu Ende, und auf des Marschalls Fragen muß er die Antworten erst mühsam zusammensuchen.

Aus Höflichkeit setzt der Marschall die Unterhaltung auf deutsch fort, der Major aber hat den Eigensinn – oder ist es List? – weiter mit seinem Französisch zu paradieren. So kommt eine ziemlich stotternde Unterhaltung zustande.

Als er erwähnt, daß er über Tilsit hätte fahren müssen, da bei Rossieny bereits Tausende von Kosaken die Gegend unsicher machten, entrüstet sich der Marschall:

»Schließlich werden Sie mir noch erzählen, die Kosaken ständen bereits im Bois de Boulogne.«

Der Major ist ein bißchen beleidigt, denn diese Kosaken sind seine Schutzheiligen und Nothelfer sozusagen, wegen der großen Umwege, die er gemacht hat. Er hat sie selbst gesehn! Ganze Scharen sind aus dem Nebel aufgetaucht.

»Was man im Nebel nicht alles sieht!« lacht der Marschall und erzählt, wie in Holland einmal ein ganzes Regiment ausgerissen und viele Meilen weit gelaufen ist, weil es an der Schelde die feindliche Armee gesehen haben wollte. Als man aber nachforschte, waren es alte Weidenstrünke, die im Nebel nickten.

Der Major lacht ausgiebig und erzählt ebenfalls eine komische Begebenheit. So scherzen sie, obwohl ihnen beiden verteufelt wenig danach zumute ist.

Dann entläßt der Marschall seinen Besucher. Der stürmt die Treppe hinunter, schmeißt die Beine auf seinen Gaul und macht, daß er außer Sehweite kommt.

Der Marschall aber zögert und zögert, die Briefe zu öffnen. Was mögen sie für Hiobsposten enthalten?

Die erste Depesche ist von Napoleon, der ihm befiehlt, sich langsam hinter die Memel zurückzuziehn.

Die zweite Depesche aber, von Marschall Berthiers Hand, drängt auf die Beschleunigung des Rückzugs.

Und die dritte, welche die Kopflosigkeit selbst diktiert zu haben scheint, beschwört ihn, wenn nötig, Bagage und Artillerie zu opfern, schlimmstenfalls die Truppen ihrem eigenen Schicksal zu überlassen und sich selbst zu den Trümmern der großen Armee nach Tilsit oder Insterburg zu retten.

Und diese Depeschen sind neun Tage alt! Neun Tage hat der Major zu seiner Fahrt von Wilna nach Stalgen gebraucht. Das grenzt beinah an Hochverrat.

Aber jetzt ist nicht Zeit, zornig zu toben. Einen Augenblick denkt der Marschall daran, sich mit seinem Generalstabschef zu besprechen. Aber er kann den Oberst Terrier nicht ausstehn und weiß, daß dieser Yorck haßt. Und doch ist es gerade Yorck, der auf schleunigen Abmarsch gedrängt hat. Wäre Macdonald seinem Rat gefolgt, dann befände sich das Korps jetzt in Sicherheit. Gewiß ist Yorck ein Franzosenhasser. Die schnöde Behandlung des Ordens der Ehrenlegion kann ihm der Marschall nicht vergessen. Aber zum Henker mit den persönlichen Gefühlen! Er braucht die Preußen.

Fiebernd überlegt er, wie er sie gegen den Feind verwenden und sich ihrer doch versichert halten kann. So wird's gehn: der General Massenbach mit seiner Kavallerie soll die Avantgarde bilden, Yorck mit der Hauptmasse der Infanterie den Rücken decken. Auf diese Weise bürgt der eine Teil als Geisel für den andern.

Der alte Streit ist jetzt vergessen. Er diktiert einen Brief, worin er Yorck in beinah herzlichem Ton für seine Nachrichten dankt und ihm mitteilt, daß er sich zum Abmarsch entschlossen habe. Gleichzeitig bittet er, den Oberst Röder zur Feststellung der Marschroute nach Stalgen zu schicken.

*

An diesem Abend wartet Wera in einem Zimmer, das die Hebamme Kyrillowna Kunkel für den Preis von fünfzig Kopeken aufwärts an Liebespaare vermietet, auf Clavé.

Der unförmige russische Ofen hat eine halbe Kiefer verschlungen, und dementsprechend ist die Hitze, die er ausstrahlt. Sie wird nur durch die Kälte übertroffen, die durch die Tür- und Dielenritzen dringt. Keine gesunde Temperaturverteilung in einem Zimmer, sie schafft kalte Füße und einen benommenen Kopf, aber vielleicht grade der richtige Zustand für Wera, die, je eisiger die Wirklichkeit ihr ans Herz greift, sich desto blinder in die trübe Glut ihrer Träume wirft.

Seit ihrem Besuch bei Yorck hat sie sich nur einmal kurz im Park von Katherinenhof mit Clavé getroffen. Ihr altes Liebesnest hier aufzusuchen wagten die beiden nicht. Später war er durch das Bachelu-Unternehmen ganz in Anspruch genommen. Jetzt wartet sie schon über eine Stunde. Der Schnee, der die Champagnerflasche in dem Eimer umhüllt, ist fast geschmolzen, und die Lichter auf dem Tisch sind in der Hitze ganz krumm gebogen.

Aber nun muß er ja jeden Augenblick kommen. Zuerst werden sie sich noch eine Weile über ihr mißglücktes Manöver unterhalten. Er wird ein bißchen schimpfen, dann aber lachen. Habe ich dich etwa deshalb zum Liebchen genommen, solcher Geschäfte wegen? Du wilde Katze! Du braune Zigeunerin! Du süßer, kleiner Teufel du!

Sie werden trinken und sich küssen, und was das betrifft, daß er verheiratet sein soll, so wird er – nein, sie wird ihn gar nicht danach fragen. Es ist eine gemeine Niederträchtigkeit von Marlene, die das zu ihrer Tante äußerte, natürlich nur, damit sie, Wera, es hörte … Und wenn's auch keine Lüge ist – so ganz ernst hat sie ja seine Reden von dem Schloß an der Mosel und den Gesellschaften, die sie in Paris geben werden, nie genommen. Mag er seine Frau behalten, wenn sie nur seine Liebste bleibt. Und dazu sind ja die Aussichten günstig. Die Sache in Rußland ist schief gegangen, ganz Europa wird jetzt aufstehn … sie wird die Welt kennenlernen.

Endlich kommt er. Aber nicht wie sonst wirft er in flottem Schwung Handschuhe und Reitpeitsche aufs Bett, faßt sie um die Hüften, um sie abzuküssen. Kaum daß er sich für das Geschenk, das sie ihm mitgebracht hat, bedankt.

»Tag!« sagt er. »Verfluchte Kälte! Komm mir nicht zu nah, ich bin naß wie 'ne Katze. Also erzähle!«

»Erst will ich einen Kuß.«

»Verdient hast du ihn nicht.«

»Warum nicht?«

»Sag' ich dir später.«

Auch er ist der Überzeugung, daß Heydebrandt und Marlene den Plan vereitelt haben. Jetzt ist ihm auch klar, warum Heydebrandt ihn wie ein Verrückter herausgefordert hat. Aber letzten Endes ist Wera die Schuldige. Wahrscheinlich hat sie einen seiner Briefe herumliegen lassen.

Sie wehrt sich, schwört, daß sie alle sofort vernichtet hat. Sie gibt ihm den Vorwurf zurück.

»Ich – deine Briefe aufbewahren? Nein, mein Kind, du kannst mir glauben, ich habe sie alle sofort verbrannt.«

Sie glaubt ihm. Und er hat ihnen nicht einen einzigen zärtlichen Blick nachgeschickt. Aber sie schüttelt das bittere Gefühl ab.

»Es wird sich schon noch mal eine Gelegenheit finden.«

»In diesem Leben nicht. Ich habe meine Abberufung. Ich werde Adjutant bei Terrier.«

Ihr greift die eisige Angst ans Herz. Vielleicht verliert sie ihn nun ganz. Aber sie läßt sich nichts merken.

»Ich gratuliere. Das ist doch eine Beförderung. Darauf müssen wir anstoßen.«

Da er keine Anstalten macht, die Flasche zu öffnen, schlägt sie ihr mit seinem Säbel den Hals ab.

Sie trinken, er läßt sich küssen. Aber seine Miene will sich nicht aufklären.

»Was ist dir? Hast du unangenehme Nachrichten bekommen?«

»Angenehme nicht. Die letzte klang nicht sehr lustig. Verflucht noch mal!«

Er zeigt ihr das berüchtigte 29. Bulletin, das den Untergang der großen Armee ahnen läßt, deutet aus eine Stelle, die sie lesen soll:

»So hart es Napoleon schien, sich in einer so schrecklichen Jahreszeit in Bewegung zu setzen, so war es doch eine notwendige Folge der neuen Lage der Dinge. Er hoffte Minsk oder wenigstens die Beresina noch vor dem Feinde zu erreichen; er ging den 13. von Smolensk ab und schlief den 16. in Krasnoi. Die Kälte, die mit dem 7. eingetreten war, nahm plötzlich zu, und in der Nacht vom 14. auf den 15. und 16. zeigte das Wetterglas 16 bis 18 Grad unter dem Gefrierpunkt. Die Wege waren mit Glatteis bedeckt; die Kavallerie-, Artillerie- und Trainpferde fielen jede Nacht in Menge um, nicht bei hunderten, sondern bei tausenden, vor allem die deutschen und französischen Pferde. Über 30 000 Pferde kamen in der Zeit von wenigen Tagen um; unsere meiste Kavallerie war unberitten, unsere Artillerie- und Transportwagen waren ohne Bespannung. Wir mußten einen großen Teil unserer Kanonen im Stich lassen und zerstören, sowie einen großen Teil unseres Mundvorrats. – Diese noch am 6. so schöne Armee war am 14. nur noch ein Schatten ihrer selbst und befand sich fast ohne Kavallerie, ohne Transportwagen.«

»Er schreibt nur vom Verlust der Pferde und Kanonen. Warum nichts von den Menschen?« fragt Wera.

»Was sind ihm Menschen? Die kann er leicht ersetzen«, höhnt Clavé.

Am Schluß all der furchtbaren Nachrichten steht der Satz:

»Se. Majestät haben sich nie gesunder befunden.«

Sie ist erschüttert, aber in der Eingesponnenheit ihrer Leidenschaft denkt sie bei dieser Katastrophe vor allem an die Folgen für ihr eigenes Schicksal und fragt sofort, ob das Gerücht wahr sei, daß die Franzosen Kurland räumen wollen?

»Unsinn! Wir bleiben den ganzen Winter über.«

»Eigentlich könnte ich dich dann doch in Stalgen besuchen.«

»Unmöglich! Du hast keine Ahnung, wie prüde der Marschall ist.«

»Er brauchte ja nichts zu merken.«

»Mein liebes Kind, wäre unser Plan geglückt, dann wäre ich heute der große Mann und könnte mir alles mögliche leisten. Aber er ist nicht geglückt, und wir müssen die Konsequenzen daraus ziehn.«

Sie schmeichelt und bittet und erreicht nur, daß er ärgerlich wird. Da beginnen das alte Mißtrauen und der heimliche Groll gegen ihn, die nie ganz geschwiegen haben, sich heftiger zu regen. Während sie seine Brust streichelt, fühlt sie die Erhöhung, die von seiner Brieftasche herrührt. Sie scherzt, sie fragt, warum die Tasche so geschwollen sei, es sei wohl Zahltag gewesen?

Froh, daß das Gespräch eine andere Wendung nimmt, zeigt er ihr die Tasche, die von schmutzigen Geldscheinen beinah platzt.

Das alles stammt von der großen Kontribution in Kurland. Sie wissen augenblicklich nicht, wohin mit dem Geld. Den ganzen rückständigen Sold hat man ihnen ausbezahlt. Will sie eine Handvoll?

Was soll sie mit Geld? Aber sie greift rasch in das andere Fach, doch kommt er ihr zuvor.

»Was sonst noch drinsteckt, interessiert kleine Mädchen nicht.«

»Ich möchte mir nur mal deine Frau ansehn«, erwidert sie frech.

Er lacht und meint, sie sei verrückt.

Aber während sie ihre Ellenbogen gegen seine Brust stemmt, sieht sie ihm stumm in die Augen, durchforscht Zug um Zug, um dahinter die Wahrheit zu entdecken, seine Seele, sein Herz … und die kalte, hochmütige Maske seines Gesichts bringt sie zum Rasen.

»Du bist ja der größte –« sagt sie langsam, »der gemeinste –«

Sie möchte stillschweigen, möchte ihr tobendes Innere beschwichtigen. Aber es ist gefährlich, wilde Hunde aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, sie sind dann nicht mehr zu bändigen.

Sie schreit nicht mit Tränen und heftigen Gestikulationen, ihre Worte sind ein heimliches brennendes Flüstern wie die intimen, zärtlichen Worte ihrer Liebesstunden. Es ist ihr gleichgültig, wie grausam sie sich selbst verwundet, wenn sie nur ihn verletzt und seine Ehre tödlich trifft. Alles was er ihr vorgeredet hat, waren ja gemeine, niedrige Lügen, wie sie die Bauernfänger, die Heiratsschwindler brauchen, um ihren Opfern das Geld aus der Tasche zu ziehn. Nicht der leiseste Hauch einer anständigen Regung ist in ihm gewesen, sondern er hat sie kalten Herzens verführt, um sein Werkzeug aus ihr zu machen.

Er beherrscht sich. Er möchte keine Szene haben. Er weiß, es ist das letztemal, daß sie sich sehen, und er möchte im guten mit ihr auseinanderkommen. Vielleicht tut sie ihm auch leid.

Aber ihre Besessenheit läßt sich nicht zum Stillschweigen bringen. Immer giftigere Vorwürfe macht sie ihm, und schließlich verliert er die Geduld. Mit einem Ruck hat er sich von ihr losgemacht und ist aufgesprungen.

»Sei still mit deiner verdammten Faselei!« herrscht er sie an. »Du gefielst mir. Ich fand dich nett. Ich hielt dich für intelligent. Ich dachte, du könntest mir nützlich sein. Natürlich habe ich dir allerhand vorgeschwindelt. Wahrscheinlich ist das gemein. Aber du vergißt, daß wir im Krieg leben. Der ganze Krieg ist gemein. Sechsmalhunderttausend Mann sind nach Rußland gezogen. Fünfmalhunderttausend sind krepiert, gefallen, erfroren, von Wölfen gefressen. Findest du das nicht gemein? Vielleicht schießt morgen ein russisches Schwein mir eine Kugel durch den Kopf. Ich fände das höchst gemein. Du sagst, daß du mich haßt, daß du mir das Böseste vom Bösen wünschst. Tu, was du magst, aber beeile dich, sonst kommst du mit deinen freundlichen Gefühlen zu spät. Vielleicht bin ich in acht Tagen auch krepiert. Leb wohl! Schade, daß es so kam. Meine Schuld ist es nicht.«

Ihr ist die Angst, die so kalt nach ihrem Herzen tastete, mit tödlichem Griff an die Kehle gesprungen, so daß sie weder reden noch sich rühren kann. Hilflos sieht sie zu, wie er den Säbel umschnallt und den Pelz anlegt. Sie denkt: er wird doch nicht gehn! Das kann doch nicht das Ende sein! Aber schon hört sie ihn draußen mit der Wirtin sprechen. Und dann ist es still.

*

Das Schicksal schlägt selten die Menschen auf einmal nieder. Sie stehen ein paarmal wieder auf und werden erst allmählich klein und weich.

Bei Wera geht es verhältnismäßig schnell. Eines Tages reitet sie nach Stalgen. Sie will nichts mehr von Clavé, sie möchte nur im guten von ihm Abschied nehmen.

In ihren besten Tagen hat sie fest an seine Leidenschaft geglaubt. Sie hat gedacht, anfangs war er wohl der Berechnende, aber später habe ich ihn im Garn gefangen. Mit meinem Schmeicheln, meiner Phantasie, meinem Zigeunertemperament habe ich ihn so toll gemacht, daß er nicht mehr von mir loskommt. Und in den Wochen, bevor sie Yorck den Brief brachte, fühlte sie sich noch sicherer. Wenn der Plan glückte, würde er durch sie Karriere machen, und sie würde mit ihm steigen.

Was ist von diesen verwegenen Hoffnungen übriggeblieben? Was ist von ihr selbst noch übriggeblieben, die frierend und kaum sich aufrecht haltend durch den verschneiten Wald reitet und sich vorkommt wie ein leeres Schemen.

Welch ein Wahnsinn, ihn noch einmal aufzusuchen! Er wird toben und sie anschnauzen. Aber sie wird ihm gleich in der ersten Minute sagen, daß sie nichts von ihm verlangt, nichts von ihm will als einen letzten Händedruck, ein kleines Lächeln, einen flüchtigen Kuß, wie man eine Blume auf das Grab einer Toten legt. Ein einziges gutes Wort möchte sie hören, an das sie sich später erinnern kann und es sich vorsagen, um sich der Illusion hinzugeben, daß er sie nicht nur als Werkzeug benutzt hat, sondern auch ein bißchen geliebt.

Aber als sie in Stalgen ankommt, findet sie das Schloß leer, und man sagt ihr, daß die Herren gestern in großer Eile aufgebrochen seien.

Während sie heimreitet, friert ein Lächeln auf ihrem Mund, und sie denkt: wie war der Wald vorhin doch so rosig und schön und sonnenfunkelnd im Vergleich zu der grauen Todesstarrheit jetzt. Vielleicht war es nur ein kleiner Funke, der in meinem Herzen glühte, eine armselige Hoffnung, aber es war doch Wärme und Leben.

Fünfmalhunderttausend Menschen, denkt sie, sind in Rußland krepiert, erfroren, gefallen, von Wölfen gefressen. Fünfmalhunderttausend Menschen – und gewiß waren viele Frauen dabei, die man nicht mitgerechnet hat. Wer wird so genau zählen! Und doch hat jeder einzelne alle Todesqualen durchgemacht und sich mit seiner letzten Verzweiflung gegen das Sterben gewehrt. Ob wohl ein einziger, ein einziger den Tod so herbeigewünscht hat wie ich?

 

Nun heißt es Abschied nehmen auch für Fritz und Marlene. Ein letztes Mal sitzen sie mit Tante Milla zusammen um den Teetisch. Tante Milla »entschuldigt« sich. Die beiden halten sich umschlungen.

Die Dämmerung wächst, die Welt wird weniger. Da stand eben noch ein Stuhl, wo ist er jetzt? Dort hing ein Bild, jetzt glänzt nur noch ein Stück des Goldrahmens. Aber immer noch sieht Marlene das Gesicht ihres Liebsten. Sie reckt sich höher mit durstigem Mund. Sie weiß nicht, wie seine Küsse schmecken, weiß nur, daß sein Gesicht, seine Brust im grauen Dunkel ein helles Eiland sind, ein Ankerplatz in der zerrinnenden Welt. Aber über ein Kurzes wird es ganz dunkel sein. Und die Dunkelheit bedeutet den Abschied. Dann wird ihre Hand ins Leere greifen. Sie möchte schreien, und sagt mit gepreßter Stimme:

»Hast du auch die Strümpfe von Tante Milla eingepackt?«

»Ja, mein Herz. Auch deine Pulswärmer.«

»Kann ich dir sonst noch irgend etwas –?«

»Nein, wirklich, ich habe alles.«

»Warum müßt ihr nun grade in der Nacht abrücken?«

»Ich weiß nicht. Befehl.«

»Wo mögt ihr morgen sein?«

Das Wort versetzt ihn mitten in den Aufbruch. Er sieht den zertrampelten Schnee, die drängenden Pferdeleiber, hört das Durcheinanderschreien und Fluchen. In halbvolle Planwagen fliegen eisenbeschlagene Kisten, Bettsäcke. Eine Strohhütte brennt. Plötzlich setzt alles sich in Bewegung. Wo mag er morgen sein? Er weiß es nicht, sowenig wie die Welle, die vom Strom getragen wird.

Da fühlt er Tropfen auf seine Hand fallen.

»Aber Kind, es ist doch nur ein Abschied für kurze Zeit. Im Februar sehen wir uns wieder. Da besuchst du uns.«

»Wird dann auch sicher Frieden sein?«

»Ganz sicher.«

Und mit der wichtigen Stimme, mit der man eine geheime Nachricht weiterverkündet, erzählt er ihr das Gespräch zwischen seinem Hauptmann und einem französischen Oberst. Im Februar würde Napoleon Frieden machen. Der Oberst weiß es aus ganz zuverlässiger Quelle.

Sie atmet auf. Wäre es doch erst Februar!

»Hast du auch den Almanach eingepackt?«

»Ja, Liebling. Ich danke dir auch noch tausendmal dafür. Und für die schöne Widmung.«

»Die stammt von Tante Milla.«

»Sind die überstandenen Schmerzen nicht unsere größten Freuden?« hat Marlene ihm auf Tante Millas Anregung hineingeschrieben. »Da ist unsre ganze Liebe drin. Weißt du noch –?«

Auf einmal sind sie ganz im schicksalsvollen Land ihrer Liebe und tauschen Erinnerungen über Erinnerungen aus, wie zwei Soldaten, die sich nach Friedensschluß zwischen ihren Stellungen treffen und sich von ihren Kämpfen erzählen: da runden sich die einseitigen Eindrücke erst zu ihrer wahren Gestalt, und unbegreifliche Dinge werden klargestellt.

Aber die Nacht wird immer mächtiger. Eben noch hing sie wie schwarzer Flor in den Bäumen, nun hat sie sie schon ganz verhüllt.

»Ich muß fort«, mahnt er.

Sie preßt sich enger an ihn, beruhigt ihren Herzschlag an seiner Brust, erstickt mit Küssen ihre Angst. Aber er löst sich sanft. Doch plötzlich weist er entzückt nach oben.

Aus der ungeheuren weglosen Dunkelheit leuchtet wie ein einsames Blinklicht ein rötlichsilberner Stern. Und mit der Schwungkraft ihrer jungen Herzen fliegen sie aus allem Trennungsschmerz zu diesem kleinen Lichtfleck wie zu einer andern Erde, einer zweiten Heimat, einem unzerstörbaren Port, und ahnen nicht, wie bald sie der große Quirl des Krieges, der sie auseinanderreißt, auch wieder zusammenschleudern wird.

Ein paar Minuten später verhallt der Hufschlag seines Pferdes im weichen Schnee.

Auch in Mitau hat's sich gezeigt, daß die Befehlsgewalt des gefürchteten Isegrims ihre Grenzen hat. Seine Kerle tun alles für ihn, aber wenn er ihnen die Liebe verbieten will, dann rebellieren sie. Ein halbes Jahr haben sie wie die Wilden in Sümpfen und Wäldern zwischen Elchen und Auerochsen gehaust und sollen nun hier, wo es von hübschen Mädchen wimmelt, ihr Herz weiter kasteien? Das will sein Leben spüren und sich am andern Herzen wärmen, und kein Isegrim und keine noch so grimmige Kälte kann es daran hindern.

Und wie der gemeine Soldat, denkt auch der Herr Leutnant. Auch er ist der Überzeugung, daß ein Mann den veredelnden Umgang mit einem gebildeten Frauenzimmer auf die Dauer nicht entbehren könne, ohne an Geist und Seele zu verkümmern.

Nun werden diese zarten Wurzeln mit einem Male herausgerissen. Die Trommel schlägt, die Hörner gellen – noch einmal stellt der brave Musketier, dem der vollgepackte Affe schon die Schultern drückt, seine Knarre an die Wand und nimmt sein Mädchen in den Arm. Dann geht's in die Nacht hinaus. Und die feuchten Taschentücher, die den Abmarschierenden nachwinken, frieren in der barbarischen Kälte steif, ehe sie noch trocken sind.

Als nach zwölfstündigem Dunkel und Schneegestöber die Sonne aufgeht, scheint sie nur vergoldete Kältestrahlen auszusenden, und es schneit Eiskristalle.

In dem Städtchen, das sie am nächsten Tag erreichen, treiben sich schon Kosaken herum, deren Angriffe sie abzuwehren haben. Die Nähe des Feindes zwingt sie, im Freien zu übernachten. Dann folgt ein Tagesmarsch von über sechzehn Stunden durch schneegefüllte Hohlwege, über vereiste Plateaus, wo einschneidender Wind den Erschöpften durch die dünnen Mäntel weht.

Es wäre nicht erstaunlich, wenn sie zusammenbrächen. In der Tat sind gegen Abend viele beim Marschieren einfach eingeschlafen, bleiben plötzlich stehn, so daß der Hintermann über sie stolpert. Beide fallen hin und bringen mit ihren Bajonetten im Stürzen ihren Nachbarn oft gefährliche Wunden bei. Solche körperliche Ermüdungserscheinungen kommen vor, aber was die Leute an seelischer Energie, an Geduld und fröhlicher Unverdrossenheit aufbringen, grenzt ans Wunderbare.

Es scheint einfach nicht mehr dieselbe Truppe zu sein wie noch vor wenig Wochen. Als damals der General Bachelu zwecks Avancements und kriegerischer Lorbeeren mit ihnen kreuz und quer im Gelände herumzog, was herrschte da für eine Stimmung! Wegen jeder Bagatelle fluchten die Vorgesetzten Himmel und Hölle auf ihre Leute herunter, und diese selbst schimpften und zankten miteinander wie bissige Köter. Selbst die doppelten Rationen Branntwein konnten die niederträchtige Wut nicht wegspülen.

Jetzt wird kaum Branntwein ausgegeben, weil der spärlich mitgenommene hauptsächlich für die Kranken gebraucht wird. Aber die Leute verlangen auch keinen. Sie tragen in sich ein Feuer, das besser wärmt. Ist es Haß, Liebe, Hoffnung, Zorn – noch wissen sie es selbst nicht. Noch liegt das Gewaltige ungestaltet in ihrem Innern und läßt sich nicht in Worte fassen.

Ja, manchmal scheint es ganz in tiefe Todesstarrheit begraben wie die unermeßliche Schwere der weißdüsteren Kronsforsten, durch die sie Stunden und Stunden marschieren, manchmal droht es auch hungrig und böse wie das nächtliche Heulen der Wölfe, und manchmal grüßt es sie mit dem hellen Silberschleier rieselnden Schnees, aber am innigsten und zuversichtlichsten klingt es aus ihnen selbst. Jetzt singen sie nicht mehr die alten unanständigen Lieder, die beim Marschieren sie mit erotischen Vorstellungen einlullen. Da ist aus Süddeutschland ein Lied zu ihnen herübergeweht, schon ein paar Jahre alt, aber jetzt erst hat sich wohl ihr Ohr dafür geöffnet: ein Lied voll Trauer, bei der ihnen aber wohler wird als bei der hellsten Luftigkeit: »Ich hatt' einen Kameraden …«

Und Ernst Moritz Arndts Lieder fliegen durch die Reihen, alle von heldischem Klang.

Und wenn nachts in den Biwakfeuern das nasse Holz zischt und knallt, erzählen sie sich das, was nicht im Liede steht: wie der Kaiser Näppel den braven Schill in Stralsund hat erschießen lassen und wie er befohlen hat, daß man ihm den Kopf abschneidet. Kein ehrliches Soldatenbegräbnis hat er ihm gegönnt, und seine Freischärler hat er in Ketten auf die Galeeren geschickt. Und auch den Palm hat er erschießen lassen, nur weil der ein Buch hat drucken lassen und hat nicht mal gewußt, was drinstand. Aber dafür hat den Tyrannen jetzt auch die Strafe ereilt.

In den Reihen der Offiziere ist jetzt nicht mehr die Rede von einer Universalmonarchie unter dem Genie Napoleons. Wenn es vor kurzem noch so manchen Kleinmütigen gab, der nicht glauben wollte, daß die Völker Germaniens je von ihrer Zwietracht lassen würden, so sind jetzt alle der Überzeugung, daß Deutschland wieder auferstehen und zu der stolzen alten Kraft und Geltung kommen müsse wie zu den Zeiten der Franken- und Hohenstaufenkaiser.

Da hat ein Leutnant ein Buch von einem gewissen Johann Gottlieb Fichte im Tornister. Das macht jetzt die Runde und wird verschlungen. Im philosophischen Gestrüpp seiner labyrinthischen Sätze entdecken sie Wahrheiten, nach denen grade diese Jugend dürstet. Erschüttert lesen sie, wie der zornige Prophet mit der ästhetischen Schlaffheit der Zeit und dem Egoismus ihrer Väter ins Gericht geht. Begeistert stimmen sie der Lehre zu, daß das Individuum sich dem großen Ganzen opfern müsse und daß, wenn eine frühere Erziehung immer von der Freiheit des Willens gesprochen habe, die neue die strenge Notwendigkeit der Entschließungen bewirken müsse. Es entspricht ihrem innersten Bedürfnis, wenn es heißt: geistige Erziehung sei nicht Selbstzweck, sondern nur das Mittel, um die Reinheit des Willens heranzubilden. Und wie geht diesen jungen Leuten, die doch mit Selbstbewußtsein aus ihre kriegerische Bewährung blicken können, das Herz auf, wie viel Trost und Genugtuung finden sie in ihrer immer noch erzwungenen und demütigenden Lage, wenn sie hören, welch hohem Volke sie angehören, dem einzigen, in dem noch ursprüngliches Menschentum und echte Sittlichkeit leben, dem Volke, das der Menschheit Herz ist.

So bricht der Weihnachtsmorgen an. Am Weihnachtsabend sind die Leute einfach am Lagerfeuer umgefallen und haben wie die Toten geschlafen. Am Morgen des ersten Feiertags hat nach einigen Marschstunden die Spitze von Yorcks Kolonne die Nachhut von Kleist erreicht, die aus sechshundert Fuhrwerken mit Verwundeten und Maroden, Munition und Fourage besteht. Mühsam kämpfen sich die Wagen auf den vereisten Wegen vorwärts. Alle Augenblicke gibt's einen langen Halt.

In einer Waldlichtung lagern ein paar Kompagnien Yorckscher Jäger und Füsiliere.

Die Leute haben in der Eile ein bißchen Holz zusammengetragen und ein Feuer angezündet, aber sie sind nicht recht bei der Sache.

Der Rauch steigt in einer hohen dünnen Säule zum dunstigen Himmel. Kein Lüftchen rührt sich. Ein matter Silberschein blinkt aus dem Schnee. Gegen die Tage vorher ist es beinah warm. Die Leute könnten lustig sein und sind es nicht.

»'ne schöne Gans, das wär jetzt was, mit Apfelschnitzen und Backpflaumen gestopft, und 'ne Weiße dazu!« sagt einer.

»Ach Quatsch!« brummt sein Nachbar.

Und wie er lassen auch die andern die Köpfe hängen. Was fehlt ihnen nur?

Sie haben Heimweh: aber nicht nach dem Zuhause von Vater und Mutter, von Weib und Kind. Es ist ein Heimweh der Seele, das sie drückt. Weihnachtsmorgen – und kein Glockenläuten hebt ihre Seelen aus der müden Schwere, kein warmer Zuspruch löst das Frieren ihrer Herzen und gibt den dumpfen Träumen erlösenden Ausdruck. Endlich offenbart einer mit einem Seufzer die Richtung ihrer Wünsche:

»Jetzt müßte der Kandidat Petry bei uns sein.«

Herr Petry aus Ohlenhof hat in den Septemberkämpfen sich der Preußen liebreich angenommen, die Verwundeten mit pflegen helfen und den Soldaten auch später noch manchen guten Waldgottesdienst gehalten.

Die andern nicken. Der fehlt ihnen. Grade den könnten sie jetzt brauchen. Der wäre ihnen lieber als Gänsebraten und Weißbier. Da stoßen ein paar Kerle einen jungen Menschen an und sagen, er solle eine Predigt halten. Er könne das doch so schön. Der junge Mensch ist von außerordentlicher Schüchternheit, und seine Kameraden haben ihn am Anfang des Feldzuges manchmal gehänselt, weil er sich weigerte, aus der Deckung auf den Feind zu schießen. Aber später bekamen sie Respekt vor ihm, als sie sahen, wie unverdrossen er auf die Russenschädel losdrosch.

Jetzt wird er rot und wehrt sich. Er kann das nur ausnahmsweise, wenn ihn grade die Lust überkommt, so aus dem Stegreif, am Wachtfeuer. Aber hier, vor so vielen …

Doch, doch, er soll nur anfangen. Er ist ja ohnehin ein halber Pastor, wenn er auch nicht ausstudiert hat. Ihnen zuliebe soll er es tun. Und wenn's auch nur ein paar Gesangbuchverse sind, mit dem Vaterunser am Schluß. Damit sie am heutigen Tage doch nicht ganz ohne was Geistliches sind.

So erhebt er sich denn und blickt aus seinen blauen Augen etwas hilflos in die Luft, ohne ein Wort herauszubringen, während er zusehends kleiner und kleiner wird, indem er immer tiefer in den mürben Schnee versinkt. Als aber darüber ein paar zu lachen anfangen, stapft er entschlossen auf eine mächtige Fichte zu und lehnt sich gegen deren Stamm.

Also er will sprechen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, weil seine Kameraden es durchaus wünschen, beginnt er mit seiner dunklen, etwas grollenden Stimme. Aber lieber wäre es ihm gewesen, es hätte sich ein anderer gefunden. Und wenn's ihm nun nicht glückt, dann sollen sie darum nicht verzagen, sondern überzeugt sein, daß der starke, treue Gott doch noch lebt. Der hat ja erst kürzlich seine Macht bewiesen, indem er den gewaltigen Heerscharen Napoleons ihr Grab bereitet hat.

Ihm stehen immer zwei Bilder vor Augen, das eine: mit welcher Pracht und Trotzigkeit die große Armee durch Ostpreußen gezogen ist. Alle diese schmucken tapferen Soldaten, die prachtvoll uniformierten Offiziere auf ihren edlen Pferden, die vielen tausend blanken Kanonen, der schier unendliche Wagentroß. So etwas hatte er noch nie gesehn und ist überzeugt gewesen, wenn eine solche Macht auszieht, muß sie die ganze Welt erobern. – Und dann das andere Bild: die öden Schneefelder Rußlands, die daliegen wie ein weites weißes Leinentuch, besät mit Fliegenschmutz. Dieser Fliegenschmutz aber, diese unzähligen winzigen schwarzen Pünktchen im öden Schnee sind alles, was Gott von der großen Armee übriggelassen hat.

Dabei sind seine blauen Augen so voll ehrlicher Ergriffenheit auf die vor ihm Sitzenden gerichtet, daß sie alle in dumpfer Bestürzung dies Strafgericht Gottes mitfühlen.

Aber nicht solche Gedanken und Empfindungen will er grade heute in ihnen wachrufen. Denn heute ist ja Weihnachten. Der Heilige Christ ist geboren. Der himmlische Heiland und das Kind, von dem die Hirten auf dem Felde künden: Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Auch der wird seine Macht beweisen, wenn sie auch heute keine Glocke zu seinem Ruhm läuten hören. Er wird seine Macht zeigen, der aber auch ein Fürst der Freiheit ist. Die Demut der Frommen ist nämlich durchaus nicht die sklavische Demut der Knechte, sondern der stolze Gehorsam der Freien. So haben auch die Vorfahren ihren Heiland, ihren Heiland, verehrt und in ihm den Führer gesehn, als dessen treue Mannen sie sich fühlten. Weil aber Christus ein Fürst der Freiheit ist, darum ist ihm auch der Krieg um der Freiheit willen heilig, der Befreiungskrieg. Und dieser Krieg wird kommen, dessen sollen sie nur versichert sein. Jetzt sind sie auf dem Wege nach Hause, zu den Eltern, zu Weib und Kind, aber nur um Kraft zu sammeln zum heiligen Befreiungskrieg, in dem Gott und der Heilige Christ ihnen helfen werden, den Erzfeind vom deutschen Boden zu vertreiben.

»Dessen bin ich so sicher«, sagt der junge Soldat, »als wenn ich in der Ferne schon die Hörner blasen und die Trommeln rufen hörte, wie man wohl unter dem blanken Eis das Rauschen der Quellen vernimmt. Und hat nicht Gott euch heute schon seine Zeichen geschickt? Seht euch doch nur um nach all den grünen Reisern um euch herum!«

Sie blicken erstaunt zu ihren Füßen und gewahren, so weit sie sehn können, die Schneedecke mit grünen Tannenspitzen bestreut, wie sie das schon die letzten Tage oft hätten sehn können und wie das häufig nach großer Kälte so ist. Aber sie meinen, sie sähen das heute zum erstenmal.

»Haben wir nicht so manches Mal gesungen:

Frisch auf, ihr tragt das Zeichen
Des Heils auf eurem Hut
Dem muß die Hölle weichen
Und Satans Frevelwut!

Darum laßt uns diese Zeichen sammeln, damit allen sichtbar wird, daß wir nicht verzagt sind, sondern voller Glauben und Hoffnung. Frühling und Freiheit und der Heilige Krieg soll unser Feldgeschrei sein. Dazu verhelfe uns unser Herr und Heiland, der heute geboren ist. Amen!«

»Amen! Amen!« antwortet die Zuhörerschar, und einige sind schon zu solcher kriegerischen Begeisterung entflammt, daß sie am liebsten Hurra riefen. Als aber der junge Mensch mit starker Stimme das Lied anstimmt: »Es ist ein Ros' entsprungen …«, da fallen alle ein.

Darauf aber beginnt ein großes Sammeln von grünen Tannenspitzen, und als zum Weitermarsch befohlen wird, tragen schon viele das Zeichen an ihren Mützen. Während des Marschierens aber laufen die Worte Heiliger Krieg und Befreiungskrieg wie der Funke an einer Zündschnur von Reihe zu Reihe, und es gibt gar kein langes Fragen und Erklären, jeder weiß, kaum daß er diese Worte hört, daß sie die Antwort sind auf die dumpfe Scham, auf den fressenden Zorn, auf die namenlose Hoffnung seines Herzens. Und jedesmal wenn ein Halt kommandiert wird, springen zahlreiche Leute aus den Reihen und sammeln im Walde grüne Zweige, und die Berittenen reißen sie einfach von den Tannen herunter.

Am selben Tag aber haben die Leute ein Erlebnis, das ihre Stimmung gewaltig hebt und das sie wie ein schönes Weihnachtsgeschenk und Vorzeichen kommender Ereignisse hinnehmen.

Gegen Mittag marschiert die Truppe durch ein schmales, dickverschneites Wiesental, als aus den steilen Anhöhen zu beiden Seiten sich plötzlich Kosaken zeigen. Zuerst sind es nur vereinzelte Schwärme, die sich auseinanderziehn und sie wie ein dünner Saum begleiten. Bald aber fliegen immer neue Scharen heran, schließlich marschieren die Preußen unter dem Druck der dichter und dichter zu beiden Seiten drohenden Wolken von Lanzenreitern. Manchmal stieben kleine Züge wie zum Überfall heran, drehen aber, ohne einen Schuß zu tun, im letzten Augenblick wieder um.

Da wird bei den Soldaten die Stimmung denn doch etwas beklommen, schließlich haben sie vor sich die ganze Wagenkolonne mit den Kranken und Blessierten, auf deren Schutz sie bedacht sein müssen.

Schon beraten die Offiziere, ob es nicht angebracht sei, durch einige Salven dem Angriff zuvorzukommen, als ein Soldat beherzt aus der Reihe heraus und einer heranpreschenden Reiterschar entgegenläuft. Indem er sein Gewehr am Kolben so hoch wie möglich hebt und mit der andern Hand wedelnde Bewegungen macht, schreit er:

»Nicht schießen, Panje! Gut Freund! Gut Freund!«

Da bricht aus dem Kosakenpulk ein rauhes Jauchzen. Sie halten die Lanzen hoch und wedeln ihrerseits mit den Händen, was die Preußen mit lauten Hurras erwidern.

Und dies wiederholt sich immer wieder. Bald einzeln, bald zu mehreren sprengen die flinken Reiter heran, die kleinen Pferde rutschen steifbeinig die steilsten Abhänge hinunter, die waagerechten Lanzen fliegen kerzengrade in die Höhe und nicken und grüßen unter dem Jauchzen ihrer Träger.

Nach einer Weile aber zeigen sich Gestalten, die bei den Offizieren nicht wenig Erstaunen, bei den Soldaten jedoch helles Entzücken erregen. In der Ferne wirken sie wie eine über den Schnee springende Schar schwarzer Flöhe. Näher kommend aber zeigen sie sich als zottige kleine Reiter auf ebenso kleinen zottigen Pferden. Sie tragen weder Lanzen noch Karabiner, sondern auf dem Rücken Bogen und Köcher mit Pfeilen. Von ihren Gesichtern kann man unter den pelzumbrämten Mützen nicht viel erkennen außer dem halbmondförmigen Schnurrbart, und wenn sie sich aufrichten, wirken sie in ihren langhaarigen Pelzen noch immer wie runde Gnomen. Dann heben sie die zur Faust geschlossene Linke und umklammern sie mit ihrer Rechten, und während sie sie drücken und pressen, stoßen diese Steppensöhne ein so wonnigliches und komisches Grunzen aus, daß die Preußen vor Freude ihre Mützen in die Luft werfen und in immer neue Hurrarufe ausbrechen.

Als würden sie vom Wind weitergetragen, verbreiten sich die Worte Heiliger Krieg und Befreiungskrieg durch die Reihen. Am nächsten Tag weiß schon die Kolonne Kleist davon, und selbst die Kranken, die auf ihren Strohschütten so apathisch daliegen und nur aufstöhnen, wenn der Wagen über eine höckrige Wegstelle rumpelt, selbst sie strecken durch die Leiterwände ihre Hände und flehen um ein grünes Reis.

Im ganzen Korps gibt es nur noch wenig Regimenter, die das Zeichen nicht tragen, sonst haben sich alle damit geschmückt, Gemeine, Unteroffiziere, Leutnants, selbst die höheren Stabsoffiziere.

Yorck verbietet das Tragen des grünen Schmuckes nicht, obwohl er ihn bemerkt haben und auch wissen muß, was er bedeutet. Aber niemals ist sein Gesicht so undurchdringlich und zwischen hochgespanntem Mut und tiefem Ernst so unbeweglich in der Schwebe gewesen wie während dieser Tage.

Und doch ist die Ungeduld der Truppe nur ein schwacher Widerschein der Flammen, die ihn verzehren. Bis jetzt hat er auf das Drängen der Russen noch keine bindende Antwort gegeben und auch nicht die geringste Maßregel unterlassen, die das Interesse der Franzosen erheischt. Vom Marschall hat er eine klare Marschroute bekommen und sie innegehalten. Der Befehl lautete, nach Tauroggen zu marschieren und sich dort mit den französischen Truppen zu vereinigen. Als er aber drei Tage nach Weihnachten dort eintrifft, ist kein Franzose mehr zu sehen, und es erreicht ihn auch kein neuer Befehl von Macdonald. Seit achtundvierzig Stunden ist er ohne Verbindung mit ihm. Muß er nicht annehmen, daß die Armee Wittgensteins sich zwischen die Franzosen und seine Truppen geschoben und die Trennung endgültig gemacht hat?

Dennoch zögert er. Es gibt etwas in der empfindlichsten Mitte seines Soldatenherzens, das er herausreißen muß, wenn er ohne den Befehl seines Souveräns die Entscheidung treffen will.

Er hat sich hundertmal in Bitterkeit gegen den König hineingedacht, aber der jetzt wider ihn aufsteht, trägt nicht die unbedeutenden Züge Friedrich Wilhelms, sondern die des Großen Kurfürsten, des Soldatenkönigs, des Alten Fritz – verkörpert in sich die übermenschlich hoheitsvollen Züge des ganzen Geschlechts. Darum zögert Yorck und wartet in einer Spannung, die an Verwirrung grenzt, auf die Antwort, sieht in jedem Schreiben einen Brief aus Berlin, in jedem Boten einen Abgesandten des Königs.

Aber in dieser Spannung hat der sonst so Erregbare sich in der Gewalt, daß niemand auf seinem Gesicht etwas erraten kann. Denn er weiß, ein Wort nur, eine unbedachte Geste, und in die geballte Erregung der ganzen Truppe schlägt der zündende Funke, und es gibt kein Löschen mehr für diese Feuersbrunst.

Und er muß bis zum letzten Augenblick seine Leute in der Hand haben, muß das Rad rückwärts drehn können und den Feind wieder zum Freund, den Freund wieder zum Feinde machen.

 

Als Yorck von einem Vorwerk nach Tauroggen zurückreitet, begegnet er am Eingang der Vorstadt einem Trupp Husaren. Der Führer pariert vor ihm sein Pferd.

»Melde gehorsamst Euer Exzellenz, Rittmeister von Tungeln mit einem Zug Husaren auf Rekognoszierungsritt.«

»Guten Tag, mein lieber Herr von Tungeln«, nimmt Yorck die Meldung entgegen. Er freut sich immer, wenn er den wackeren Rittmeister sieht. Er will sich nach seinem Befinden erkundigen, irgendeine gleichgültige Frage tun, als er des Rittmeisters kranken, fieberglänzenden Blick bemerkt und sein Gesicht, so grau in tödliche Hoffnungslosigkeit verfallen, als könnte nie mehr die Freude darauf grünen. Er hat etwas von einer Liebesgeschichte Tungelns munkeln hören.

Während er einen Augenblick zögert zwischen seiner Teilnahme und der Furcht, ihn durch ein falsches Wort zu verletzen, sagt der Rittmeister mit heiserer, erloschener Stimme:

»Ich habe eine Bitte an Euer Exzellenz.«

Yorck neigt den Kopf, und wie er Tungeln fragend ansteht und hinter ihm seine Leute bemerkt, fällt irgend etwas ihm auf, das sie von den andern unterscheidet.

»Wollen Euer Exzellenz die Güte haben, mir eine Unterredung zu gewähren?«

»Ich habe wenig Zeit, aber Ihnen stehe ich gern zur Verfügung. Haben Sie's eilig?«

»Allerdings. Wenn ich bitten dürfte, noch heute.«

»Heute? – Heute abend?« überlegt Yorck, und während er den Mann betrachtet, fällt ihm auf, daß an seiner Mütze der grüne Tannenzweig fehlt. Und auch von den Husaren, die ernst und unbeweglich hinter ihrem Rittmeister warten, trägt keiner das Zeichen.

»Heute abend wird's nicht gehn. Aber wenn's eilig ist, können wir's ja sofort abmachen.«

Yorck weist auf die Husaren.

»Lassen Sie Ihre Leute hier warten. Die Landstraße da ist ja ganz leer. Wir sind da sogar ungestörter als in meinem Quartier.«

Kaum fünfzig Schritte von der kleinen Schar entfernt stehen zwei mächtige Birken. Sie haben sich mit ihren hundertjährigen Wurzeln fest in den Boden gekrallt. Der Sturm hat sie wohl schütteln, aber nicht umwerfen können; gegeneinandergelehnt bilden sie eine Art spitzbogige Pforte am Eingang der Vorstadt, deren armselige Holzhäuser erst hinter ihnen beginnen.

Dort herrscht auf der Straße mannigfacher Verkehr. Frauen in hohen Männerstiefeln und bunten Röcken stehen herum und schwatzen. Kinder, Hunde und Hühner umlagern die Husaren. Ein Kleinbürger ist mit seiner ganzen Familie damit beschäftigt, eine Fuhre Knüppelholz abzuladen. Aus einer geöffneten Stellmacherei klingen Hammerschläge.

Aber hinter den beiden Birken ist das alles wie abgeschnitten. Die schnurgrade Landstraße verläuft unter einem schweren, melancholischen Winterhimmel in menschenleere Weiten.

»Also welchen Wunsch haben Sie, lieber Tungeln?«

»Es geht das Gerücht, Euer Exzellenz, daß man beabsichtigt, von den Franzosen« – das Wort »abfallen« will ihm nicht über die Lippen – »sich zu trennen und gemeinsame Sache mit den Russen zu machen. Darf ich gehorsamst fragen, ob das auf Befehl Seiner Majestät geschieht?«

»Wenn ein solcher Befehl vorläge, würde ich ihn doch bekanntgegeben haben. Sie könnten sich das eigentlich selbst sagen, Herr Rittmeister.«

»Es könnte ja immerhin möglich sein, daß der Befehl noch geheimbleiben müßte.«

»Dann wäre ich der letzte, ihn mitzuteilen. Aber mir ist von einem solchen Befehl nichts bekannt.«

»Darf ich dann fragen, ob Euer Exzellenz auch ohne Befehl Seiner Majestät diesen Schritt beabsichtigen?«

»Es ist nicht die Gepflogenheit in der preußischen Armee, daß die Vorgesetzten den Untergebenen über ihre Absichten Rede stehn. Es genügt, daß der Befehl befolgt wird, wenn er herauskommt«, entgegnet Yorck schroffer, als seine Absicht ist.

Aber dann sieht er, wie in dem Gesicht die Erregung zuckt, wie die Angst aus den fahlen Augen bricht, und in Erinnerung an die eigenen Kämpfe sagt er:

»Wenn es Sie beruhigt, lieber Tungeln – ich erwarte stündlich den Befehl Seiner Majestät, der mich zu diesem Schritt autorisiert.«

»Und wenn der Befehl ausbleibt?«

Yorck fährt auf. Das ist ihm denn doch seit Jahren nicht passiert, daß jemand sich erdreistet, ihn zur Rede zu stellen. Wieder will er die Frage schroff abschneiden, und wieder zwingt ihn die Angst in Tungelns Augen, diese Angst der Treue, die sich verraten fühlt, zu einer Antwort.

»Wenn der Befehl ausbleibt, dann werde ich – vielleicht … wahrscheinlich sogar auf eigene Verantwortung handeln.«

»Von den Franzosen abfallen und zu den Russen übergehn auf eigene Verantwortung?«

»So ist es.«

»Erinnern Euer Exzellenz sich an Ihre Worte in Gegenwart des gefallenen Majors von Tiedemann? Euer Exzellenz richteten an uns die Mahnung, die mir unvergeßlich geblieben ist: treu dem Befehl bis zum letzten Atemzug, aber nichts ohne des Königs Befehl! Euer Exzellenz nannten den Toten einen Deserteur. Euer Exzellenz sagten: ein Soldat, der selbständig Politik treibt, hat aufgehört ein ehrlicher Soldat zu sein. Das war sehr streng, aber es war im Geist des großen Friedrich gesprochen. Und was planen Euer Exzellenz jetzt? Das ist –«

»Sprechen Sie das Wort nur ruhig aus. Ich habe es mir zu oft selbst gesagt, als daß es mich erschrecken könnte. Es ist Rebellion. Ich handle ohne und vielleicht sogar gegen des Königs Befehl. Aber es bleibt mir keine andere Wahl, wenn anders ich seine wahrhaften Interessen vertreten will.«

»Seine wahrhaften Interessen! Sind Euer Exzellenz zum Richter über Seine Majestät gesetzt?« erwidert Tungeln und fährt fort in überstürzten Sätzen, die flüsternde Schreie sind:

»Euer Exzellenz sagen selbst, was Sie planen, ist Rebellion. So hat's in Frankreich auch angefangen. Zuerst kündigte man dem König den Gehorsam auf, dann schleppte man ihn aufs Schafott. Noch können Euer Exzellenz zurück, noch steht des Königs Majestät unangetastet da, und alle blicken in Ehrfurcht zu ihm auf. Aber wenn der oberste Befehlshaber das Beispiel der Rebellion gibt, was soll dann der gemeine Mann denken? Euer Exzellenz sind mein Vorbild gewesen, solange ich diene. Als die andern davonliefen, hat der General Yorck mit Blücher standgehalten. Euer Exzellenz sind der Ruhm und der Stolz der Armee, das wissen Sie ja selbst. Die Armee kann besiegt werden, das Schlachtenglück wechselt. Aber nie hat gewechselt Treu und Glauben. Ein solcher Abfall ist beispiellos, etwas Ähnliches hat's nicht gegeben, seitdem Preußen besteht. Bringen Euer Exzellenz durch Ihren Schritt nicht ewige Schande über die Armee!«

Er schwankt, während immer neue Wellen der Erregung auf ihn niederbranden, bricht in die Knie, und wenn Yorck ihn nicht mit entschlossenem Griff am Arm festgehalten hätte, wäre er ihm zu Füßen gestürzt. Nachdem sein heiseres Schluchzen sich einigermaßen gestillt hat, sagt Yorck:

»Ja, sehn Sie, Tungeln, alles das, was Sie mir da sagen, habe ich mir selbst auch gesagt. Es ist ein Schritt von äußerster Gefahr, zu dem nur die äußerste Not berechtigt, und Sie haben recht: es gibt dafür kein Beispiel in der preußischen Armee. Aber so ist das Leben: es führt den Menschen bis an den letzten Abgrundsrand, in eine Einsamkeit, wo kein Instruktionsbuch, kein Ehrenkodex, kein Sittengesetz ihm mehr helfen: ganz allein steht er da vor seinem Gott und muß tun, was sein Gewissen ihm vorschreibt. Und mein Gewissen sagt mir: mögen sie alle über mich herfallen und mir Verrat und Schande vorwerfen, wenn nur Preußen lebt! Aber Preußen kann nur leben, wenn es sich befreit.«

»Es wird nie in Ehren wieder leben, wenn es Treu und Glauben bricht.«

»Wir wollen nicht länger streiten, lieber Tungeln. Die Sache führt zu nichts. Wenn's Zeit ist, werden Sie benachrichtigt. Aber vielleicht überlegen Sie sich meine Worte doch noch einmal. Ich denke, eine Sache, für die der alte Yorck bereit ist, seinen Kopf auf den Block zu legen, die könnte auch der Herr von Tungeln vertreten.«

Damit geht er, und Tungeln sieht ihm nach. Sein keuchender Atem, die dumpfen Stöße seines Herzens hüllen ihn in eine Art Betäubung. Seine Hand ballt sich immer krampfhafter. Sie darf sich nicht öffnen, darf nicht den Pistolengriff umspannen. Aber muß er es nicht? Verlangt es nicht seine Offiziersehre?

Mein Gott, mein Gott, durchfährt es ihn in seiner Verzweiflung, wenn Yorck ihn auf solche Gedanken bringt, was für eine Wüstenei muß er dann im gemeinen Mann anrichten!

Endlich legt sich der Krampf, sein Arm sinkt schlaff und wie leblos herunter. Er beginnt vor Frost heftig zu zittern. Durch den lockeren Schneebehang der Birken hört er menschliche Stimmen und das Schnauben und Scharren der Pferde. Ein Trupp Füsiliere zieht vorbei. Sie singen im Rhythmus des Marschierens:

»Frischauf, ihr teutschen Scharen,
Frischauf zum Heil'gen Krieg!
Gott wird sich offenbaren
Im Tode und im Sieg!«

Alle tragen sie einen Tannenzweig an ihrer Mütze und denken offenbar auch alle so wie seine eigenen Regimentskameraden.

Mit denen ist er gänzlich zerfallen. Ihre Unterhaltung beschränkt sich nur noch auf das dienstlich Notwendige, nachdem er bis zur Gehässigkeit mit ihnen gestritten hat. Auf alle seine Einwände erwidern sie, daß sie nicht länger ihre eignen Ketten schmieden wollen, und daß die Waffenehre etwas anderes sei als Bedientenehre. Genau das, was auch der Major von Tiedemann in der Nacht bei Lutter & Wegner gesagt hat. Ihm aber werfen sie mit versteckten Worten Kadavergehorsam und Mangel an Courage vor.

Er ist zu stolz, um ihnen zu erwidern, daß niemand lieber als er im Kampf mit den Welschen sein Blut verspritzen würde. Denn nachdem er Marie verloren hat, dünkt ihn das Leben nur noch ein düsteres Gefängnis.

Wenn aber so die Stimmung im ganzen Korps ist, dann bringt das Verbleiben dort keine Ehre mehr. Dann reißt er sich am liebsten die Achselklappen vom Rock und schießt sich eine Kugel vor den Kopf.

Nachdem er sich den Schnee von seinen Hosen abgeklopft hat, stapft er zu seinen Leuten zurück.

Die haben sich unterdes beraten und sind zu dem Schluß gekommen, daß etwas geschehn müsse. Es gibt weit und breit keinen Wald in der Nähe, aber zufällig stehen an einem Haus, wo kürzlich Hochzeit gefeiert wurde, zwei Fichtenbäume zu beiden Seiten der Haustür. Da reitet erst einer von den Leuten hin und reißt einen Zweig ab, dann ein zweiter und schließlich alle andern. Als ein Leutnant schimpft, sie sollen den verfluchten Unsinn doch sein lassen, murren sie, sie ließen sich nicht länger von ihren Kameraden beschimpfen.

Der Rittmeister hat sich eben in den Sattel geschwungen, als er die Reiser an den Mützen bemerkt.

»Herunter mit dem Mist!« schreit er. »Kerls, versteht ihr mich nicht?«

»– – gehorsamst, Herr Rittmeister«, versucht der Wachtmeister ihn zu beschwichtigen. »Es ist ja nicht Ungehorsam. Es ist ja nur wegen der Schande. Sie wollen sich nicht länger Franzosenärsche und welsche Knechte rufen lassen.«

»Wenn einer sich untersteht, euch zu beschimpfen, dann meldet es mir. Ich schieße den Hund über den Haufen. Aber ihr legt das Zeichen ab. Ihr seid preußische Soldaten und keine Rebellen.«

Und da sie zögern, wird er, der sonst im Zorn immer einen roten Kopf bekommt, plötzlich todblaß, reißt seine Pistole aus dem Gürtel und setzt sie dem ersten besten Mann auf die Brust.

»Kerl, wird's bald?«

Da macht der erschrocken den Zweig von seiner Mütze los, und wie er auch seine Kameraden. Wütend schmeißen sie die Reiser in den Schnee.

»Damit ihr's wißt! Ich hoffe so gut wie ihr auf einen Krieg mit den Welschen. Aber noch sind sie unsere Bundesgenossen. Erst muß Seine Majestät die Allianz kündigen und dem Kaiser Napoleon den Krieg erklären. Es muß alles nach Recht und Ordnung zugehn, wie das der Brauch ist bei der preußischen Armee. Und das sage ich euch noch: Wenn ihr verfluchten Kerls euch untersteht und morgen wieder das Schandzeug ansteckt, dann habt ihr mich zum letztenmal bei der Schwadron gesehn.«

Schweigend, in tiefem Zwiespalt reiten die Husaren weiter.

 

Auf der breiten Straße Tauroggens steht man nur wenig von der einheimischen Bevölkerung. Ein paar Kleinbürger in abgetragenen Pelzen, ein paar Juden in schmutzigen Kaftanen drücken sich bescheiden an den vereisten Gossen entlang. Über die schmalen hölzernen Bürgersteige aber schiebt sich straßauf, straßab die dichte Menge der Soldaten.

Sie sehen ein bißchen hungrig und verfroren aus, aber man spürt ordentlich, wie wohl es ihnen tut, daß der schwere Tornister ihren Rücken nicht mehr drückt. Vorige Woche schossen sie sich noch mit den Russen herum, gestern begeisterten sie sich für Freiheit und Vaterland, heute aber tragen sie auf ihren Gesichtern den glücklichen und herrlich gedankenlosen Ausdruck von Kindern, die Ferien haben.

Vor jedem Schaufenster bleiben ein paar stehn. Tiefsinnig betrachten sie in der Apotheke die mit geheimnisvollen violetten und rosaroten Flüssigkeiten gefüllten Gläser und den in Spiritus verwahrten Bandwurm. Weniger interessieren sie die bunt kolorierten Schlachtenbilder in der Buchhandlung, desto mehr aber die Fürstin Pauline, die in dem Kostüm, in welchem Gott sie geschaffen und Canova modelliert hat, vor ihnen hingegossen liegt. Sie versammelt immer eine dichte Schar von Bewunderern, die sich nach ihr die Nase platt drücken. Die Hauptanziehungskraft aber üben die Bäckerläden aus mit ihren süßen Korinthenbröten, Fladen und Kuchchen und vor allem mit den eingezuckerten Erdbeeren und Himbeeren. Mancher dieser rauhen Männer bleibt stehn, und während ihm das Wasser im Munde zusammenläuft, fingert er in der Tasche mit seinen paar Pfennigen und Kopeken herum, überlegt und überlegt, bis er schwach wird und in den Laden stolpert. An einem süßen Klümpchen lutschend, schiebt er dann seinen Weg weiter.

Wenn sie aber des Generals Yorck ansichtig werden, dann ist es, als hätte der Blitz sie getroffen. Sie stürzen vom Bürgersteig, machen Front zur Straße, werfen den Kopf in den Nacken, pressen die Hände an die Mäntel, drücken die Knie durch und erstarren zu furchterregenden Eissäulen.

Yorck sieht sie heute nicht und hört auch nicht die Unterhaltung seines Adjutanten, des munteren Leutnants von Löllhövel. Vor seinem Quartier angekommen, steigt er ab und geht nach stummem Gruß in sein Zimmer.

Der Diener, der vergessen hat, Feuerung nachzulegen, stürzt schuldbewußt herein und baut über der heruntergebrannten Glut einen kunstvollen Scheiterhaufen auf.

Yorck geht in tiefen Gedanken auf und ab, und ihm zur Seite geht still der Kamerad von der Landstraße … der verwundete Rittmeister. Unwillkürlich nennt Yorck ihn so, denn wenn er auch nicht getroffen ist von Eisen und Blei, so ist er doch zerfetzt von Zweifeln und zerschmettert vom Gebälk seines stürzenden Glaubens. Er hört noch immer die rauhen Flüsterschreie … sind es nicht die Stimmen seiner eigenen angstvollen Gedanken in den schlaflosen Nächten?

Armer Kerl! denkt er. Hast gelitten wie ich. Da glaubte ich, der einzige zu sein, der den furchtbaren Kampf durchkämpfen mußte, und nun ist da dieser andere. Und gewiß sind ihrer noch viele und nicht die schlechtesten. Wer weiß, wenn ich an seiner Stelle wäre, ob ich nicht genau so dächte wie er?

Auf seinem Tisch liegen Befehle zum Unterschreiben, Haufen von Meldungen, jede Minute ist berechnet – aber er läßt alles liegen und sitzt vor dem Kaminfeuer in tiefen Gedanken.

Bisher hat er immer darüber gegrübelt, was geschehn wird, mit dem König … mit dem preußischen Staat … mit ihm selbst … wenn der Abfall von den Franzosen mißlingt. Jetzt zum erstenmal malt er sich die Folgen eines geglückten Unternehmens aus. Wenn er mit den Russen einig geworden ist, will er sofort nach Königsberg eilen und eine Volkserhebung und die Bewaffnung des Landsturms in die Wege leiten. Wird aber später das Volk sich noch zügeln lassen, wird nicht der gemeine Haufen die Übermacht bekommen? Er will den König auf seinem Thron erhalten und wird vielleicht die Bahn frei machen für die Jakobiner und Nivelleure und die verhaßten Freiheitsmänner.

Sei's drum! denkt er und gibt dem künstlichen Holzstoß im Kamin einen Fußtritt, daß er unter mächtigem Funkenprasseln zusammenbricht. Was reif zum Fallen ist, soll fallen. Mich kann nicht kümmern, was in hundert Jahren geschieht, mich hat zu kümmern, was heute und morgen geschehn muß. Mein Amt ist, Preußen vom Franzosenjoch zu befreien, und das geschieht jetzt oder niemals.

Grade will er sich in das gegenüberliegende Adjutantenzimmer begeben, als er im Gange eine Gestalt gewahrt, die er trotz ihrer Vermummung erkennt.

»Seydlitz!«

In seiner stürmischen Freude vergißt er alle Rücksichten und schließt den jungen Offizier in seine Arme.

»Endlich! Wo kommen Sie her?«

»Aus Memel. Und beinah wäre ich überhaupt nicht gekommen, denn der Marquis von Paulucci wollte mich als Kriegsgefangenen festhalten.«

»Kommen Sie herein! – Tee!« befiehlt Yorck dem Diener. »Was bringen Sie für Nachrichten aus Berlin?«

Ein geringes Heben der Stirn, ein kurzes Achselzucken ist die ganze Antwort. Über Yorcks Gesicht fliegt eine Bö von Zorn und wühlt finstere Unmutsfalten auf. Eine ganze Weile stehen die beiden sich gegenüber. Keiner findet ein Wort.

»War denn die Audienz, von der Sie schrieben, die einzige?« fragt Yorck endlich.

In diesem Augenblick bringt der Diener den Tee und meldet gleichzeitig, daß ein Jude Seine Exzellenz dringend zu sprechen wünscht.

»Schmeiß ihn 'raus! – Hatten Sie keine weitere Audienz mehr beim König?«

»Ich habe mich bemüht, aber vergeblich.«

»Und Majestät ist noch immer in Berlin?«

»Bis zu meiner Abreise war er noch da.«

»Tut keinen Schritt – rührt nicht die Hand. Verstehn Sie das, Seydlitz?«

»Ich erlaube mir nicht, an dem Verhalten Seiner Majestät Kritik zu üben.«

»Sollte es nicht so liegen, daß Seine Majestät insgeheim mein Unternehmen billigt, sich aber absichtlich nicht dazu äußert, um mich Napoleon gegenüber jeden Augenblick verleugnen zu können?«

»Möglich, daß diese Erwägungen ihn bestimmen. Aber ich glaube, es ist einfach ein Ausweichen vor der Verantwortung.«

»Und der Kanzler? – Zum Donnerwetter, was gibt's schon wieder?«

Der Diener meldet, daß der Jude sich nicht abweisen lasse.

»Dann führ den Kerl zum Herrn Major von Brause.«

»Ich habe mich mit dem Staatskanzler eine ganze Stunde unterhalten, aber ich kam ebenso klug von der Audienz zurück, wie ich hingegangen war. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, so hatte ich den Eindruck: je höher hinaus, desto flauer die Stimmung. Man muß unter's Volk gehn, wenn man nicht verzweifeln will. Das ist einig in seinem Freiheitsdrang. Es wartet nur auf den Führer.«

Zum drittenmal klopft es, und auf das wütende Knurren Yorcks kommt der Diener wieder und meldet, der Jude wolle unter allen Umständen Seine Exzellenz selbst sprechen.

»Also 'rein mit ihm!«

Beinah im selben Augenblick schlüpft auch schon ein schmächtiger, blasser Jude mit Peies, in langem, fettglänzendem Kaftan ins Zimmer, der, seine Schirmmütze in der Hand, sich ununterbrochen tief verbeugt und »Scholem allechem!« murmelt.

»Was will Er?«

»Ich hob rumgeloffen im ganzen Mokom, um zu suchen den graußen Saarhazobe.«

»Laß Er das Mauscheln! Sprech Er wie ein vernünftiger Mensch!«

»Rachmones, Rachmones!« erwidert der Jude ängstlich, indem er sich wieder verbeugt. »Ich wollt mir nur iberzeugen, daß ich aach die Ehre hob, zu sehn den graußen Herrn General von Yorck persönlich. – Se sind mir bekannt, Herr von Yorck«, fügt er vertraulich lächelnd hinzu.

»Was hat Er mir mitzuteilen?«

»Eppes Kleines.«

Eifrig holt er aus seinem Mützenfutter ein schmieriges Stückchen Papier. Yorck nimmt es ihm ab, liest es und fordert, mit einem stummen Blick, auch Seydlitz auf, es zu lesen. Es enthält nichts als die Worte:

»Der General Yorck wird ungeduldig in Tilsit erwartet. M.«

»Wie hat Er es fertiggebracht, sich durch die Kosakenkette durchzuschleichen?«

»Wie heißt durchschleichen, Herr General, wenn ich hob gefahren in meiner eigenen Kibitka?«

»Er lügt! Die Kosaken hätten ihn ja nie und nimmer durchgelassen.«

»Jedes Wort soll auf maner Seel verbrennen, was ich hob gelogen.«

»Was für Lügen hat Er denn den Kosaken aufgebunden?«

»Wenn Sie mir nich wern verpetzen, Herr General, ich hob ihnen gar kane Lügen aufgebunden. Ich hob gesprochen mit dem Herrn Kosakenhetman und hob ihm gesagt: wenn Sie mir werden geben Geld, werd ich Ihnen besorgen joinsorof, ich mane Branntwein, in Tilsit. Weil hier in der Gegend is nix mehr mit Branntwein. Hot er mir gegeben dreißig Rubel, und ich hob gefahren nach Tilsit. In Tilsit hoben die Herren Franzosen mir wollen verhaften, weil sie sagten, ich komme von de Russen in Mitau. Hob ich gesagt, daß mein Bruder Moses Levy in Tilsit mir hot geschickt, Vieh einzukaufen in der Gegend, und daß ich nix hob gehört von de Russen in Mitau seit zwei Wochen. Hot mir gegeben ein feiner Offizier von de Franzosen zwei Taler und hot mir abgenommen das Versprechen, daß ich übergebe diesen Zettel dem Herrn General persönlich. Nu – bin ich doch an armer Jüd und muß halten mein Versprechen. – 's wär mir leid, wenn ich tät bereiten dem graußen Herrn General eine Beschwerlichkeit.«

Yorck reicht dem Juden einige Taler, der sich mit vielen Massel- und Brochewünschen hinausdienert.

»Auf diesen beiden Füßen stand mein ganzes Unternehmen, Seydlitz, auf der Einwilligung des Königs und auf der Umzinglung des Marschalls durch die Russen. Ich hätte auch gegen des Königs Befehl gehandelt, wenn ich mit gutem Gewissen vor ihn hätte hintreten können: die Vereinigung mit den Russen war notwendig, damit ich nicht nutzlos siebzehntausend brave Soldaten opferte. Kann ich das heute noch sagen, wo der Marschall mich einen Tagesmarsch von hier erwartet?«

Während Yorck auf und ab geht, knarrt der Fußboden unter seinen schweren Reiterstiefeln. Seydlitz beobachtet ihn. Es ist kaum drei Wochen her, daß er seinen General verlassen hat. Aber wie furchtbar ist er in dieser Zeit gealtert!

Als wenig später die russischen Unterhändler, der Graf Dohna und der Oberstleutnant von Clausewitz, gemeldet werden, will Seydlitz sich rasch empfehlen, aber Yorck bittet ihn zu bleiben. Indem er sein Aufundabgehn verlangsamt, holt er mehrmals tief Atem, um sich zu beruhigen.

Seydlitz wünscht sich sehnlichst fort aus dem Zimmer.

Yorck empfängt die Eintretenden scheinbar ganz gelassen und begrüßt Clausewitz, mit dem er schon mehrmals hart aneinandergeraten ist, sogar noch freundlicher als den Grafen Dohna.

Nachdem die Herren Platz genommen haben, fragt er nach ihren Wünschen. Als hätten sie unter sich die Gesprächsführung abgemacht, antwortet Dohna zuerst, sie seien in der Hoffnung gekommen, daß Yorck ihnen nun seine endgültige Entscheidung mitteilen werde. Außerdem hätte er im Auftrage seines Generals einen sehr wichtigen Brief zu überreichen, fügt Clausewitz hinzu.

»Sooo … Übrigens – ist die Situation doch noch die gleiche wie gestern? Ich bin vom Marschall nach wie vor vollständig abgeschnitten?«

»Vollständig«, erwidert Dohna.

»Das ist mir sehr wichtig. Denn – so ist es ja ausgemacht: nur wenn ich vollständig abgeschnitten und ohne Befehl vom Marschall bin, kann ich den Übertritt zu euch verantworten.«

»Euer Exzellenz dürfen vollständig beruhigt sein«, antwortet Clausewitz. »Der Kordon ist so dicht, da kommt keine Maus mehr durch.«

»Jaaa – dann verstehe ich nur nicht, wie mich vor fünf Minuten ein Befehl des Herzogs erreichen konnte.«

»Nicht möglich!«

»Bitte, lesen Sie!«

Damit reicht er den beiden Herren den Zettel Macdonalds. Der Graf Dohna, eine elegante, schlanke Reiterfigur, macht ein betroffenes Gesicht und weiß offenbar nichts zu sagen. Clausewitz faßt sich zuerst.

»Ich bin aufs Äußerste bestürzt, Exzellenz. Aber wenn Sie bedenken, daß auf dem Wege von Tilsit hierher große Wälder –«

»Reden Sie keinen Unsinn, Herr!« donnert Yorck ihn an. »Der Jude, der mir die Nachricht brachte, hat mit seinem Schlitten die Landstraße passiert. Allerdings führte er einen Freibrief in Gestalt eines Branntweinfasses mit. Da ließen eure Herren Kosaken ihn überall durch. – Tja, Seydlitz, was denken Sie? Kann man sich ernsthaft mit Leuten einlassen, die um ein paar Liter Branntwein die festesten Versprechungen preisgeben?«

»Euer Exzellenz!« fährt Clausewitz auf.

»Bitte, Herr Oberstleutnant?« mißt Yorck ihn voller Hohn.

»Euer Exzellenz dürfen überzeugt sein«, mäßigt Clausewitz sich, »daß der betreffende Offizier, der an diesem unerhörten Vorfall schuld ist, schwer bestraft wird. Das darf ich Ihnen im Namen meines Generals jetzt schon sagen.«

»Und in meinem Namen sagen Sie Ihrem General, daß ich die Verhandlungen für abgebrochen halte. Mit diesem Befehl in der Hand ist für mich alles erledigt.«

»Ist das wirklich das letzte Wort von Eurer Exzellenz?« fragt Graf Dohna schüchtern.

»Ach, bleibt mir doch vom Hals mit euren Unterhandlungen! Ich riskiere Kopf und Kragen, und eure Leute benehmen sich – –«

Dohna will schon salutieren und das Zimmer verlassen, als Clausewitz, mit einem letzten Versuch zur Fortsetzung der Verhandlungen, bittet, den Brief überreichen zu dürfen.

»Was soll ich damit – jetzt, wo ich euer Feind bin?«

»Wenn's auch nur eine Formsache ist: Exzellenz werden mich doch nicht in die Verlegenheit bringen, abzureisen, ohne meinen Auftrag erledigt zu haben?«

Yorck reißt ihm das Schreiben aus der Hand und beginnt es mit verächtlich zorniger Miene zu lesen, während seine Brust unter den erregten Atemzügen aus und nieder geht. Zuerst fliegen seine Augen nur über das Schriftstück, und es hat den Anschein, als wenn er nichts vom Inhalt aufnehme. Aber dann bleibt sein Blick zurückfahrend haften.

Nach einigen Augenblicken setzt er sich und stützt den Kopf so auf seine Hand, daß sein Gesicht den Umstehenden verborgen ist.

Wie mehrfach schon in der letzten Zeit, wo Erregungen von äußerster Heftigkeit sich jagten, überfällt ihn ein krampfartiger Schmerz, der, aus der Herzgegend aufsteigend, in den linken Arm ausstrahlt und sich bis zu völligem Vernichtungsgefühl steigert. Danach tritt Erschöpfung ein, das Bedürfnis nach Schlaf und tiefster Ruhe … Aber er reißt sich zusammen.

Aus dem Schreiben geht hervor, daß nach zwei Tagen die gesamte Wittgensteinsche Armee in Stärke von fünfzigtausend Mann die Straßen nach Westen beherrschen wird. Der Kampf gegen eine solche Übermacht würde, auch wenn die Vereinigung mit den Franzosen gelänge, die Vernichtung des preußischen Korps bedeuten.

Während seine Lippen die Worte mitflüstern, beginnt Yorck die Lektüre von neuem, murmelt: »Doch der 29. heute? …« worauf die drei Herren wie aus einem Mund: »Der 29., jawohl«, antworten, sieht dann mit senkrecht gerunzelter Stirn Clausewitz an, der den Blick fest und unverwandt erwidert, obwohl er schließlich das Gefühl hat, daß die scharfen Klauen dieser Augen sich ihm in Fleisch und Muskeln graben … und sagt plötzlich:

»Seydlitz, bitte, den Herrn Oberst Röder hereinzurufen.«

Als dieser kommt, gibt er ihm stillschweigend den Brief.

Der Oberst, der ziemlich kurzsichtig ist, hält sich das Schreiben dicht unter die Augen und sagt, nachdem er es gelesen, mit seiner etwas näselnden und schläfrigen Stimme:

»In Erwägung der obwaltenden Umstände sehe ich mich veranlaßt, zu erklären, daß für den preußischen Staat und die Armee nichts heilvoller sein könnte, als wenn Euer Exzellenz den Neutralitätsvertrag mit den Russen abschlössen. Euer Exzellenz setzen dabei natürlich Ihr Leben und Ihre Reputation aufs Spiel. Deshalb müssen Euer Exzellenz den diesbezüglichen Entschluß selbst fassen.«

»Danke!« erwidert Yorck, und nach sekundenkurzem Überlegen: »Clausewitz, Sie sind ein Preuße. Glauben Sie, daß der Brief ehrlich ist und daß die Russen übermorgen wirklich an den genannten Punkten sein werden? Können Sie mir darauf Ihr Ehrenwort geben?«

»Auf die Ehrlichkeit des Briefes mein Ehrenwort. Aber ob die Dispositionen auch so ausgeführt werden, dafür kann ich mich nicht verbürgen. Euer Exzellenz wissen ja selbst, daß man im Krieg oft mit dem besten Willen nicht die Linie erreicht, die man sich gezogen hat.«

»Ja, ja …« murmelt Yorck und nickt, als wenn er den Worten zustimmte, während er in Wahrheit doch einem andern zunickt, auf der Landstraße, unter den melancholischen Schneewolken … und ihm sagt, daß er recht hat. Es ist ein Bruch mit der ganzen ehrwürdigen Tradition und mit allem, was bis auf den heutigen Tag sein Herz beschwingt und seinen Mut gestählt hat. Aber den Bruch nicht zu wagen, würde Feigheit sein … Und darum muß er ihn stehn lassen – ohne Trost, den hochherzigen Kameraden und, wie ihn beinah dünkt, sein eigenes altes Ich.

Dann sich straffend, streckt er Clausewitz die Rechte entgegen, und mit einer beinah gütigen Bewegung ihm die andere Hand auf die Schulter legend, sagt er:

»Ihr habt mich. – – Sagt dem General Diebitsch, daß ich mich morgen früh bei den russischen Vorposten einfinden werde. Zeit und Ort der Zusammenkunft möge er bestimmen.«

»Ich danke, Euer Exzellenz«, erwidert Clausewitz bewegt.

Das vorherrschende Gefühl aller ist eine ungeheure Erleichterung, aber um sich zu freuen, um die Tragweite des Ereignisses abzuschätzen, dazu sind alle zu erschöpft.

Auf eine Handbewegung des Generals haben sie Platz genommen. Yorck sitzt am Kamin und blickt traurig und müde in die unter der weißen Asche fast erloschene Glut. Vor einigen Tagen hat er sich von dem Generalchirurgus Völtzke ein rasch wirkendes Gift geben lassen, das er ständig bei sich trägt.

Der Oberst Röder räuspert sich endlich und sagt:

»Es trifft sich günstig, daß vorhin der Leutnant Wernsdorf von Massenbachs Quartier angekommen ist.«

Als hätte er zwanzigjährige Knochen im Leibe, springt Yorck bei dieser Nachricht auf.

»Der Leutnant ist mit unserer ausdrücklichen Einwilligung durch die Linie gelangt«, sagt Clausewitz hastig. »Ich glaube, er kommt im Auftrag seiner Kameraden, die ungeduldig den Entschluß Euer Exzellenz erwarten.«

»Wenn's so ist, dann haben Sie Glück, Clausewitz. Dann verschaffe ich euch auch noch den Massenbach.«

Yorck fragt, wie es vorn stehe, und Wernsdorf meldet von einem Scharmützel, das vor drei Tagen im Dorf Piktupöhnen zwischen den Dragonern Treskows und russischen Jägerbataillonen stattgefunden habe.

»Dann ist also die Allianz mit den Franzosen noch in ihrem alten Flor?«

»Im Gegenteil, Euer Exzellenz! Unter uns herrscht nur eine einzige Stimme der Begeisterung bei dem Gedanken, daß Euer Exzellenz dem verhaßten Bündnis ein Ende machen werden.«

»Ja, ihr jungen Leute habt gut reden, aber mir Alten wackelt der Kopf auf den Schultern«, lacht Yorck grimmig. »Na, lassen Sie sich vom Oberst Röder die nötigen Weisungen an den Herrn General von Massenbach mitgeben. – Und Sie, meine Herren«, wendet er sich an Clausewitz und Dohna, »benachrichtigen Sie mich möglichst bald, wo und wann Ihr General die Zusammenkunft wünscht. Leben Sie wohl! – Sie aber, Seydlitz, sorgen Sie dafür, daß sich die Offiziere der verschiedenen Regimenter um acht Uhr hier einfinden.«

 

In Tilsit bei den Truppen Massenbachs, wo die Magnetkraft Yorcks durch die Nähe des Marschalls geschwächt ist, gibt es doch mehr Bedenkliche und Unschlüssige, als der Leutnant Wernsdorf in seiner Begeisterung zugeben wollte. Vor allem ist Massenbach selbst nicht sonderlich zu dem Wagnis geneigt, ohne des Königs Befehl zu handeln. Es ist zu befürchten, daß im Augenblick der Entscheidung Uneinigkeit eintreten wird. Einige Verwegene unter den jüngeren Offizieren haben deshalb den abenteuerlichen Plan ersonnen, den in der Nähe liegenden Kosakenführer Tettenborn herbeizurufen, gemeinsam mit ihm die Franzosen zu überfallen und den Marschall gefangenzunehmen.

Jetzt aber, wo Massenbach durch den strikten Befehl Yorcks gedeckt ist, stimmt er freudig der Trennung zu. Der Plan einer Vereinigung mit Tettenborn wird fallengelassen, man beschließt, kurzerhand am nächsten Morgen abzumarschieren. Nötigenfalls soll der Ausbruch mit Gewalt erzwungen werden.

Die Beratung der Offiziere ist den französischen Aufpassern nicht entgangen. Ingenieure haben begonnen, die Ausgänge der Stadt zu verbarrikadieren. Die Truppen der Division Grandjean liegen in Alarmbereitschaft. Gelten diese Maßregeln nur den Kosaken? Die Preußen sind auf alles gefaßt. Auch sie verbringen die Nacht Gewehr bei Fuß.

Aber am nächsten Morgen vollzieht sich der Abmarsch ohne jedes Hindernis. Die Brücken sind gesperrt. Aber die fest gefrorene Memel bildet eine einzige große unversperrbare Brücke. Begleitet von den erstaunten Blicken der zurückbleibenden Truppen, bewerkstelligen die Preußen den Übergang. Nur ein Adjutant Macdonalds ist aufmerksam geworden und fragt, was eigentlich am Werke sei? Ihm übergibt Massenbach seinen und Yorcks Abschiedsbrief.

Der Marschall hat soeben sein Frühstück beendigt.

Das vergebliche Warten auf Yorck, die schlimmen Nachrichten der letzten Zeit haben selbst seine standhafte Natur in ihren Grundfesten erschüttert. Vielleicht hält er auch die Maske der heiteren Sorglosigkeit, die er noch in Stalgen trug, für allzu unglaubwürdig, um sie nicht lieber aufzugeben. Er verbirgt seine tiefe Niedergeschlagenheit nicht. Nur den Verdächtigungen des Oberst Terrier gegenüber, der immer wieder vor der preußischen Arglist warnt, verhält er sich hochmütig ablehnend. Und das Gefecht bei Piktupöhnen scheint ihm recht zu geben. Sonderbare Verräter, die mit solcher Bravour gegen einen Feind losgehn, mit dem sie im Geheimen konspirieren.

Am Ausbleiben Yorcks fühlt er sich selbst nicht ohne Schuld. Die Alarmpost Berthiers, die ihm riet, schlimmstenfalls die eigenen Truppen zu opfern, ist ihm, mehr als er zugibt, in die Glieder gefahren; in seiner Eile, die Memellinie zu erreichen, hat er sich um die rückwärtige Verbindung nicht genügend gekümmert. So sind ihm die Preußen im Schneetreiben und im Dunkel der Winternacht buchstäblich entschwunden.

Und jetzt muß er sie endgültig ihrem Schicksal überlassen. Grade beim Frühstück teilt er den Herren seiner Umgebung mit, daß er in der Nacht den Entschluß zum Abmarsch gefaßt habe. So schmerzlich es ihm ist, er kann nicht länger auf Yorck warten.

»Weiß der Himmel«, sagt er, »ich würde gern die Hälfte meines Vermögens opfern, wenn ich zusammen mit ihm marschieren könnte.«

Die Herren ergehen sich noch in Mutmaßungen über den Verbleib des Korps, als der Adjutant eintritt und die beiden Briefe überreicht.

Den Yorcks reißt Macdonald mit hastig ungeschickter Hand auf. Überkommt ihn plötzlich die Ahnung dessen, was geschehn ist?

Yorck teilt ihm mit, daß die Gefährdung seiner Truppen auf den Flanken und im Rücken durch überlegene feindliche Kräfte ihn veranlaßt habe, mit den Russen einen Neutralitätsvertrag abzuschließen.

Der Marschall läßt die Hand sinken und sagt, indem er den Blick auf den Leutnant von Korff, den Kommandanten seiner preußischen Stabswache, richtet:

»Ihr General teilt mir soeben mit, daß er zu den Russen übergegangen ist.«

Da springt der Oberst Terrier auf. Während alle aufs tiefste bestürzt sind, funkelt aus seinen kleinen Augen unverhohlene Schadenfreude.

»Im Augenblick der größten Gefahr verrät dieser preußische Schuft uns. Habe ich's nicht immer gesagt! Wer hat nun recht?«

Der Marschall fährt sich nur leicht über das Gesicht.

»Sie mögen recht haben, Herr Oberst, aber die Art, wie Sie es vertreten, könnte einen beinah glauben machen, daß Sie unrecht haben. – Übrigens, da jetzt der Hauptgrund unseres Wartens fortgefallen ist, müssen wir unsern Abmarsch um so mehr beschleunigen. Legen Sie, bitte, die Karten bereit. Ich komme gleich nach.«

Während der Oberst sich mit höhnischem Gemurmel entfernt, liest Macdonald den Brief Massenbachs. Er bittet um Entschuldigung, daß er nicht selbst gekommen sei, den Marschall von seinem Abmarsch zu unterrichten: »Es geschah, um mir eine für mein Herz sehr peinliche Begegnung zu ersparen, weil die Empfindungen der Verehrung und Hochachtung für Ew. Exzellenz Person, die ich bis ans Ende meiner Tage bewahren werde, mich gehindert haben würden, meine Pflicht zu erfüllen.«

Während der Marschall liest, sind aller Blicke auf den unglücklichen Leutnant von Korff gerichtet. Vom General Bachelu bis hinunter zum Leutnant de Clavé fliegen ihm Spieße des Hasses entgegen, und jeder scheint zu erwarten, daß er sofort füsiliert, zum mindesten verhaftet werde.

Niemals jedoch – so dünkt den Leutnant von Korff – habe in eines Menschen Auge so viel ritterliche Güte und liebenswerte Hochherzigkeit gelegen wie jetzt in dem Blicke Macdonalds, als er sagt:

»Ich bin aufrichtig betrübt, mein lieber Herr von Korff, daß wir uns trennen müssen. Folgen Sie Ihren Kameraden über die Memel. Es scheint mir nicht der Augenblick, um über die Tat Ihres Generals zu urteilen. Ihre Kameraden aber und die braven preußischen Soldaten habe ich aufrichtig schätzen gelernt. – Sie haben einmal Ihre Freude an der hübschen Gravierung meines Ringes geäußert. Nehmen Sie ihn zum Andenken. Es freut mich, ihn in Ihrer Hand zu wissen, die mich jederzeit in der Gefahr geschützt hätte. Grüßen Sie Ihre wackeren Dragoner. Wenn wir uns nicht früher wiedersehn, dann auf dem Felde der Ehre. Leben Sie wohl!«

Mit einer stummen Handbewegung verabschiedet er sich von den andern Herren.

Als er allein ist, ballt er die Hände und knirscht vor Zorn und muß dabei doch so mühsam Atem holen wie ein gebrochner alter Mann.

In seinem Leben, das von seinen frühesten Mannesjahren an mit dem Drama der Revolution und dem des Kaiserreichs verbunden war, hat er so manchen Aufstieg und jähen Sturz erlebt und am eignen Leibe Siege und Niederlagen genug erfahren. Aber kein Ereignis hat in ihm ein so gallenbitteres Gefühl der Enttäuschung hinterlassen wie dieser Abfall Yorcks. Ja, der Oberst Terrier hat recht: der Mann ist ein Verräter. Einzig, damit ihn die Rache ereile, wünscht er mit heißem Herzen, daß Napoleon über die Preußen triumphieren möge.

Aber während er noch in Schauern des Zornes bebt, muß er sich plötzlich fragen, warum denn die Tat dieses preußischen Generals ihn so erregt? Und er gesteht sich, daß es der Zorn gekränkter Liebe ist. Eine unerklärliche Sympathie hat ihn von Anfang an zu Yorck hingezogen. Aber kann er gerechterweise verlangen, daß der andere dieses Gefühl erwidert? Yorck ist sowenig Privatmann wie er selbst. Sie müssen beide die Interessen des großen Ganzen über ihre persönlichen Neigungen stellen. Und ist es nicht begreiflich, wenn Yorck die Schwäche des Gegners jetzt benutzt, um ein für sein Vaterland heilsames Unternehmen durchzuführen?

Verrat? Zum mindesten muß er dem »Verräter« die Gerechtigkeit lassen, daß er sich niemals hinter der Maske der Freundschaft verborgen hat. Die eine Gelegenheit ausgenommen, wo sie bei einer Flasche Wein einige harmlos heitere Stunden verbrachten, hat der General immer die strengste Zurückhaltung beobachtet. Und nicht zum wenigsten diese ablehnende Steifheit hat ihn in den Ruf eines Franzosenhassers gebracht. Nein, wahrhaftig, eine Freundschaft ist hier nicht verraten worden.

Und Treubruch? Wenn er, Macdonald, mit solcher Zuversicht von der Treue der Preußen sprach, hat dann dies Wort nicht stets den leisen Nebensinn der Einfältigkeit und des mangelnden Nationalstolzes gehabt? Wenn Yorck jetzt das Wagnis unternommen hat, den unnatürlichen Bund zu zerreißen, dann hat er als wahrhafter Patriot gehandelt, und jeder gute Franzose oder Engländer hätte gehandelt wie er.

Hier in diesem selben Haus, wo der Marschall augenblicklich Quartier genommen, hat vor fünf Jahren Napoleon den Frieden von Tilsit geschlossen, jenen Frieden, der Preußen mit einem Schlag seiner wertvollsten Provinzen beraubte und es auf die Hälfte seines Gebietes verkleinerte, der es finanziell aussog und in einen Zustand der Unfreiheit versetzte, den kein ehrliebendes Volk auf die Dauer vertragen kann.

Und in diesem selben Hause – so hat das Schicksal es gefügt – muß er, Macdonald, die Nachricht von der Tat Yorcks erfahren, von einer Tat, die ganz danach angetan ist, die europäische Politik zu verändern. Wenn Preußen dem Zaren eine unversehrte, schlagfertige Armee liefert, wenn beide zusammenstehn, England neue Hilfsgelder schickt, in Spanien der Volkskrieg wieder auflodert – wer von den Freunden Napoleons wird dann treu bleiben?

Bis jetzt hat der Marschall in der russischen Katastrophe nur ein vorübergehendes Mißgeschick gesehn. In diesem Augenblick glaubt er nicht mehr an Napoleons Stern und erinnert sich der Verse aus »Cäsars Tod«, die Yorck, vielleicht schon damals mit prophetischem Bewußtsein, zitiert hat:

» Et dans les factions comme dans les combats
Du triomphe à la chute il n'est souvent q'un pas.
«

 

Lange Zeit ist der Rittmeister von Tungeln wie betäubt und kann nur mit Entsetzen an das Geschehene denken. Aber in seinem Quartier gerät er unwillkürlich von neuem in die Auseinandersetzung mit Yorck, schilt ihn einen Verräter und zweiten Wallenstein, und doch zerreißt es sein Herz, daß er seinem angebeteten Vorbild solche Namen geben muß.

Plötzlich öffnet sich die Tür, und der Leutnant von Wedel, mit dem Tungeln das Quartier teilt, tritt ein. Als er aber bemerkt, daß der Rittmeister aufgeregt mit sich selbst spricht, sieht er ihn nur erschrocken an und entfernt sich schnell wieder.

Heinrich sitzt während dieser Zeit in einer andern Stube des Hauses, wo ein Dutzend Husaren einquartiert sind, und hört dort von seinen Kameraden, was am Morgen vorgefallen ist. Sie versichern ihm, es ginge so nicht weiter, die Schwadron könne die Schande nicht länger auf sich sitzenlassen.

Heinrich, der im Grunde ganz ihrer Meinung ist, hält es doch für seine Pflicht, seinen Herrn zu verteidigen. Der Rittmeister sei eben ein Edelmann von altem Schrot und Korn, sagt er, der selbst dem Teufel sein gegebenes Wort halten würde.

»Ich will dir sagen, was der Alte ist«, erklärt ihm einer der Husaren. »Ein Dickkopp is er. Und wenn einer ein Dickkopp is, denn kann er nicht tun, was er will, denn muß er tun, was sein Dickkopp will.«

»Dann sind wir eben auch Dickköppe!« vermißt ein anderer sich.

»Ne, ne«, meint ein Berliner, »davor bin ick nich. So'ne Dickköppe, det keene Kugel durchjeht, könn' wir doch nich sind. Und der Olle is imstand und schießt wirklich.«

»Da sind bloß die Weiber dran schuld«, meint der erste. »Weil das Mensch, die Gräfin, ihn hat sitzenlassen, hat er 'ne Wut auf die ganzen Russen.«

»Dumm Tüg!« sagt Heinrich. »Die Gräfin und ihn sitzenlassen! Die nähme ihn lieber heute als morgen. Sie kann bloß nicht, weil sie ihren Olschen wieder im Hause hat.«

Er geht schweren Herzens hinüber. Ihm gefällt sein Herr gar nicht mehr. Offenbar hat er sich den Abschied von der Gräfin zu sehr zu Herzen genommen. Und nun kommt noch diese neue Not. Daß der Rittmeister nachgeben wird, glaubt er nicht. Eher kann ganz was anderes passieren.

Nachdem er seinem Herrn Tee und Licht hingestellt hat, macht er sich unauffällig an dem Gepäck zu schaffen und nimmt die Kuchenreuter mit in die Mannschaftsstube.

Ohne den Tee zu berühren, beginnt der Rittmeister einen Brief an Marie, um sich bei ihr zu entschuldigen, daß er sie ohne Abschied verlassen hat, und um sein Verhalten Yorck gegenüber zu rechtfertigen. Sie ist der einzige Mensch, der seine Not versteht. Aber plötzlich bricht er ab und sinkt zusammen. Mit einem müden Atemzug bläst er das Licht aus. Und so dunkel wie es jetzt in der Stube ist, ebenso dunkel ist es auch in ihm.

Stunden vergehn. Heinrich kommt und meldet, daß die Herren Offiziere um acht Uhr in die Kommandantur befohlen sind und vorher noch eine Besprechung beim Kapitän von Brandenstein haben, fragt, was er zum Abendessen machen soll, worauf der Rittmeister erwidert, er werde nicht hier zu Abend essen, fragt weiter, ob er neues Licht bringen solle, worauf die Antwort kommt: »Nein.«

Etwas später aber tritt der Leutnant von Wedel wieder ein, dem sein Diener mit einem Licht folgt, und fragt, ob dem Herrn Rittmeister der Befehl Seiner Exzellenz bereits mitgeteilt worden sei? Tungeln antwortet, er wisse davon, werde aber nicht Folge leisten.

Darauf beginnt der Leutnant mit Hilfe seines Dieners sich umzukleiden und seine neue Uniform anzulegen. Dann salutiert er stumm und verläßt das Zimmer.

Es ist wieder dunkel geworden. Die kleinen Fenster der ebenerdigen Stube sind so niedrig, daß man auf der Straße die Köpfe der Vorübergehenden sehen kann. Wenn es draußen auch nicht hell genug ist, um sie zu erkennen, so hört er doch desto deutlicher die knirschenden Schritte und die Unterhaltungen der Vorübergehenden. Manchmal glaubt er mit seinen überreizten Nerven sogar bekannte Stimmen unterscheiden zu können.

Die da gehen, sind seine Kameraden, aber von heute abend ab sind sie es nicht mehr. Er allein vom ganzen Korps bleibt zurück und wird von allen als ein Ausgestoßener angesehen. Bis gestern noch hat er die Hoffnung gehabt, daß ein ehrlicher Reitertod ihn von diesem Leben erlösen würde. Aber wenn jetzt die Verbindung mit den Russen zustande kommt, gibt es auch diese Hoffnung nicht mehr.

Er steht am Fenster, und das immer lauter werdende Trappeln bereitet ihm solche Schmerzen, als wäre es sein eigenes Herz, das unter diesen Fußtritten ächzte und knirschte.

Dann kommt sein Hauswirt herein, entschuldigt sich umständlich wegen seiner Versäumnis und schließt die Läden. Darauf wird es auf einmal vollkommen still.

Der Rittmeister faltet die Hände und versucht seine Gedanken auf Gott zu richten. Der hat ihn in der letzten Zeit zwar hart angepackt. Aber welch ein unaussprechliches Glück hat er ihm auch geschenkt, und hat er ihm nicht immer wieder aus der Not geholfen? Das wird er auch setzt tun … Aber der Beter glaubt seinen eigenen Einflüsterungen nicht. Er fühlt nur die Schwermut, welche die dunkle Abgeschiedenheit ihm bereitet und daß diese Schwermut und diese Abgeschiedenheit ihn bis in den Tod begleiten werden.

So tief umschließt ihn der Brunnen seiner Einsamkeit, daß er zwar das Klingeln eines Schlittens vernimmt und das Durcheinandersprechen verschiedener Stimmen, von denen eine ganz auffallend der des alten Jurra, des Dieners der Gräfin, ähnelt, und daß er schließlich sogar eine weibliche Stimme hört, die beinah wie die Mariens klingt – daß er das alles zwar vernimmt, aber für verworrenen Traumspuk hält. Und selbst als sich jetzt die Tür öffnet und im hellen Schein der Kerzen zwischen dem ehrfurchtsvoll ernsten Jurra und dem glückstrahlenden Heinrich die Gräfin steht, zeigt sein Gesicht nur einen verwirrten und erschrockenen Ausdruck.

Aber Marie hat ihn kaum gesehn, als sie ihm entgegenstürzt und ihn in ihre Arme schließt. Sie will etwas sagen, bringt aber kein Wort heraus, da ein krampfhaftes Schluchzen ihre ganze Gestalt erschüttert. Selbst ihre Küsse sind weniger Liebkosungen als ein Haltsuchen und Festklammern und immer erneutes Losreißen, um sich mit ihren Augen seiner Erscheinung zu vergewissern.

Endlich ist es ihr gelungen, ein Taschentuch zu finden. Nachdem sie ihre Augen und sein von ihren Tränen überströmtes Gesicht ein wenig abgetrocknet hat, sagt sie:

»Ich weine ja nur vor Glück, weil ich bei dir bin. Ich habe ja so gelitten, seit du fort warst – ich hätte nie geglaubt, daß ein Mensch so leiden könnte.«

Er führt sie sanft zu einem Stuhl, und sie läßt sich auf seinem Schoß nieder, und so groß und stattlich sie ist, preßt sie doch ihren Kopf an seine Schulter, ganz wie ein Kind.

Er streicht ihr über das zerzauste Haar, und auf seinem Gesicht liegt noch immer das traumbefangene, fassungslose Lächeln. Während er fühlt, wie linde Wärme ihn wunderbar durchströmt, kann er nicht begreifen, daß er vor wenigen Minuten noch in solcher Kälte und Lebensferne gefroren hat. Wie seltsam und über alle Berechnungen wunderbar ist doch das Leben!

Aber das unverhoffte Erscheinen Mariens und das schwarze Kleid unter ihrem Pelz drängt ihm einen Gedanken auf. Er fragt nach ihrem Mann.

»Alexander ist tot.«

Sie trocknet nochmals ihre Augen und berichtet dann, daß sie noch in der Nacht, als Tungeln ihn gebracht hat, nach dem Arzt geschickt habe, da das Aussehen der Wunde sie beunruhigte. Auf dessen Rat ist der Graf dann ins Mitauer Krankenhaus gebracht worden, und dort hat man ihm das Bein abgenommen. Aber es war zu spät. Der Arme hat noch sehr ausstehen müssen.

Als Tungeln sich weiter erkundigt, wann er gestorben sei, erfährt er, daß es bereits fast zwei Wochen her ist. Einige Tage nach seiner Beerdigung ist die Gräfin ihm nachgereist.

»Ich hörte ja schon in Mitau von eurem Aufbruch, und als man mir nun in jeder Ortschaft, durch die ich kam, sagte, ihr wäret schon durchmarschiert, malte ich mir aus, wie ihr mit den Unsrigen zusammen die Franzosen vor euch hertriebet. Vielleicht sind sie schon in Tilsit, dachte ich mir, vielleicht gar in Königsberg. In der Eile hatte ich mir nur hundert Rubel mitgenommen. Aber das war meine geringste Sorge. Ich hätte dich gefunden, auch wenn ihr schon am Rhein gewesen wäret. Hier hörte ich, daß ihr Offiziere alle auf der Kommandantur wäret – warum bist du übrigens nicht da? – und ich fuhr nur in dein Quartier, um hier auf dich zu warten. Und jetzt – welches Glück!«

Sie tut einen tiefen Seufzer und streift ihren Pelz ab, wobei an ihrer Brust ein grünes Tannenreis zum Vorschein kommt. Als hätte sie seinen Blick verstanden, fragt sie:

»Bist du nicht glücklich, daß ihr jetzt mit den Unsrigen zusammengeht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil es ein Treubruch ist. Und außerdem geschieht es gegen des Königs Befehl. Ich sehe die schlimmsten Folgen daraus entstehen.«

»Wirklich?« fragt sie ungläubig. Als sie aber seine finstere Miene bemerkt, sagt sie kleinlaut:

»Ich verstehe ja nichts davon. Ich denke nur, man soll dem treu sein, der selbst treu ist. Wer aber so voll Lug und Trug steckt wie der Kaiser Napoleon –. Aber du hast gewiß das Richtige getan«, unterbricht sie sich rasch und fragt zärtlich: »Freust du dich, daß ich gekommen bin?«

»Ich kann's noch immer nicht begreifen. Du hier – dein Mann gestorben. Mir ist das alles wie ein Traum. – Und doch ist es ja kein Traum«, versichert er sich, während er ihre Hände ergreift.

Aber ist es nicht doch ein Traum? Wie sollte er dieses Glückes wohl teilhaftig werden? Kann es für ihn überhaupt noch irgendein Glück geben? Wie ist das alles verworren! … Er ist bereit, seinen Weg zu gehen, so hart und dunkel er auch ist. Aber was hat das Schicksal mit ihm vor?

Für den Augenblick sieht er sich jedoch vor eine ganz andere, recht nahe und alltägliche Frage gestellt.

Für die Gräfin muß ein Nachtquartier beschafft werden. Die Gasthäuser sind wie die andern Häuser in Tauroggen vom Keller bis zum Dachboden mit Soldaten vollgestopft. Der Rittmeister schlägt ihr vor, diese Stube zu nehmen. Sein Kamerad und er werden schon irgendwo unterkommen. Da die Gräfin einsieht, daß keine andere Möglichkeit besteht, nimmt sie ohne langes Sträuben an.

Tungeln will gleich durch den alten Jurra die Bettsachen Mariens herbeischaffen lassen. Kaum ist er fort, als ihr einfällt, daß sie mit dem Diener auch wegen der Zurüstungen zum Abendessen sprechen könne.

Da sie den Weg zum Stall, wo die Diener wahrscheinlich zu finden sind, nicht kennt, öffnet sie auf gut Glück eine Tür auf der andern Seite des Ganges und gerät in die Werkstatt des Hausherrn.

Aber im ersten Augenblick hat sie das Gefühl, in die Arche Noahs geraten zu sein, die seit Beginn der Sintflut – und wie lange mag das her sein? – nicht gelüftet worden ist. Alles was Mensch und Tier und Pfeifentabak und schmutzige Wäsche und feuchtes Holz ausdünsten können, schlägt ihr entgegen. Sie atmet den Brodem tapfer ein und tritt lächelnd näher.

Auf einem Tisch in der Mitte hockt in Schneiderstellung der Hausherr; ein blasser Mann in Hemd und Hose, und hantiert beim Licht einer Unschlittkerze mit einer großen Schere. Unter den Heiligenbildern sitzt, umgackert, umschnattert und umgrunzt von vielerlei Getier, die Hausfrau und rührt in einer großen Schüssel Teig an. Ihre Tochter steht in einer andern Ecke über einen dampfenden Waschbottich gebeugt. Auf einer Bank vor dem flackernden Essenfeuer, über dem eine Menge Fußlappen trocknen, hocken schwalbendicht beieinander ein halbes Dutzend Husaren. Einer bläst wie ein Posaunenengel auf einer Mundharmonika. Sein Nachbar hält ein nur mit einem kurzen Hemdchen bekleidetes Kind an den hochgestreckten Armen und läßt es wie eine Marionette tanzen, während seine Kameraden jeder ein mehr oder weniger nacktes Wurm auf dem Schoße haben, die alle nach der Melodie der Harmonika mit den Gliedern zappeln.

Das Erscheinen der Gräfin richtet eine beträchtliche Verwirrung an. Die Husaren springen auf und befreien sich von den Kindern. Diese laufen teils zur Mutter und teils der Eintretenden entgegen. Der Hausherr knöpft sich eilig seinen Hosenstall über dem Schmerbauch zu. Die Tochter wischt sich den Seifenschaum von den Armen und versetzt dem kläffenden Spitz einige Fußtritte. Die Hausfrau hat sich erhoben und dadurch das Federvieh und die Ferkel aufgescheucht, die grunzend durch die Stube trollen und dabei ein Kind umrennen, das sich soeben hingesetzt hat, um die unterschiedlichen Flüssigkeiten auf dem Lehmboden durch ein Wässerchen zu vermehren.

Marie erkundigt sich nach dem Stall, und einer der Husaren erbietet sich, sie dorthin zu begleiten.

Während sie sich noch mit ihnen unterhält, von denen einige wiederholt auf ihrem Gute waren, fällt ihr auf, wie verwundert und neugierig alle sie ansehen. Sie will schon nach dem Grund fragen, als der Berliner sagt: die Frau Gräfin möge ihn nicht für ausverschämt halten, aber was sage denn der Herr Rittmeister dazu, daß sie das Zeichen der Rebellion trage?

Das trügen doch alle, die gut preußisch gesinnt seien, erwidert sie.

»Au, au«, meint der Husar. »Das sagen Sie nur nicht dem Herrn Rittmeister.«

»Uns hat er es verboten«, murrt ein anderer.

»Er hat gedroht, wir sehen ihn zum letztenmal, wenn wir es antun«, fügt ein dritter hinzu.

Und nun bitten alle, sie möge ein gutes Wort dafür einlegen, daß er das Verbot aushebe. Denn es sei eine Blamage für sie vor dem ganzen Korps.

Sie verspricht, ihr Bestes zu tun, wenn sie auch hinzufügt, es sei eine Männerangelegenheit, bei der sie wenig ausrichten könne.

Als Marie zurückkehrt, sieht sie den Rittmeister in erregter Aussprache mit einem jüngeren Offizier, die aber durch ihr Erscheinen unterbrochen wird.

Tungeln macht sie mit dem Leutnant von Wedel bekannt, der sich sofort bereit erklärt, ihr die Stube zu überlassen. Die Einladung zum Abendessen lehnt er indes mit der Begründung ab, daß er dienstlich verhindert sei.

Da gerade Jurra und Heinrich die Pelzsachen und Decken hereintragen, wartet Marie, bis sie wieder draußen sind. Dann erkundigt sie sich, was der Leutnant gewollt habe.

»Er hat im Auftrag der Kameraden noch einmal versucht, mich umzustimmen.«

»Und du bleibst bei deiner Überzeugung, daß du diesen Schritt nicht mitmachen kannst?«

»Marie, du bist eine Frau und bist keine Preußin. Ich aber müßte alle Grundsätze, in denen ich aufgewachsen bin, mit Füßen treten, wenn ich mitmachen wollte. Die andern wissen ja nicht, was sie tun. Es ist der erste Fall von Treubruch in der preußischen Armee.«

»Aber was soll aus Preußen werden? Die Unsrigen können allein gegen Napoleon nichts ausrichten. Und wenn er Sieger bleibt, wird er sich für die Verluste in Rußland an Preußen rächen.«

»Man soll warten, bis der König die Lösung des Bündnisses befiehlt.«

»Ach, euer König – dieser schwache Mensch!«

»Marie, würdest du erlauben, daß ich in diesem Ton über euren Zaren spreche?«

»Oh, unsere Zaren – wenn die nicht wollen wie wir, dann werden sie eben umgebracht«, erwidert sie gleichmütig.

»Ja«, entgegnet er aufflammend, »und weil ich nicht will, daß solche Sitten auch in Preußen eingeführt werden, deshalb versage ich mich dem Anfang. Denn so verläuft's: erst der Ungehorsam und dann der Mord.«

»Wir wollen uns nicht streiten«, erwidert sie sanft und küßt ihn zärtlich auf die Augen.

»Ach, Marie, wenn du mich doch verstehen könntest! Du – du würdest mir alle Kameraden ersetzen. Lies doch den Brief da! Ich habe nicht alles schreiben können, aber doch die Hauptsache.«

Sie beginnt zu lesen. Indes kommt Jurra herein, um den Tisch zu decken.

»Du hast recht«, sagt Marie, nachdem sie gelesen. »Gegen deine Gründe kann man nichts einwenden. Ich wenigstens kann es nicht. Du willst nun also deinen Abschied nehmen?«

»Wenn es wirklich so weit kommt, bleibe ich keinen Tag länger beim Regiment.«

»Und dann – wenn du den Abschied hast?«

»Ja, was dann werden soll –?«

»Georg, dann wohne doch bei uns!« bittet sie schüchtern. »Willst du nicht? O Gott, das wäre ja ein unaussprechliches Glück für mich, wenn wir uns gar nicht mehr zu trennen brauchten. Liebster Georg, sag, daß du willst!«

»Das kann ich jetzt doch noch nicht entscheiden.«

Aber sie scheint, kaum daß ihr dieser Gedanke gekommen ist, ganz davon ergriffen.

Jetzt, wo die Preußen abgezogen sind, treibt sich eine Menge Gesindel in ihrer Gegend herum, die Frauen brauchen einen Schutz, das Gut eine feste Hand. Sie malt ihm aus, wie schön alles werden wird, wenn sie zusammen über die Felder reiten und frühmorgens im Wald die Singvögel belauschen.

Halb widerwillig, halb nachgiebig hört er diesen Zukunftsphantasien zu, als die Wanduhr laut und langsam zu schlagen beginnt. Da schrickt er wie aus einem verworrenen Traum aus und sagt:

»Jetzt haben sie sich bei Yorck versammelt, und er verkündet –«

Seine Stimme bricht ab, und sein Blick, der eben noch aus sie gerichtet war, löst jede Verbindung mit ihr.

Es verbreitet sich ein Schweigen im Raum, und die Gegenstände werden wesenlos, als wenn alles erstorben wäre außer der Zeit, welche die Uhr mit ihrem Ticken laut und hart verkündet.

Marie wagt kein Wort zu sagen, wagt nicht, seine Hand zu berühren, wagt kaum, ihn anzusehn, und bemerkt doch die Veränderung, die auf seinem Gesicht vor sich geht. Wie nach einer kurzen Trübung durch das wieder klare Wasser der Untergrund schimmert, so steigt aus seiner Seele der alte, starre, gramvolle Schmerz und nimmt von seinen Zügen Besitz.

Bis jetzt hat sie gehofft, wenn sie nur geduldig wartet, ihn durch gütiges Zureden umstimmen zu können. Dann hat sie mit der Fata Morgana dieser neuen Hoffnung sich eine kurze Rauschseligkeit verschafft. Nun fühlt sie, daß sie keine Macht über ihn hat, daß er seinen Weg allein gehn wird – diesen Weg, der nirgendwohin führen kann, nur von ihr fort.

Während ihre Gedanken in immer weiteren Bahnen laufen und die entlegensten Erinnerungen aufscheuchen, wühlt die Angst sich immer tiefer in sie ein. Sie will nicht daran denken, verschließt ihren Sinn dagegen und muß doch mit selbstquälerischer Grausamkeit das Erlebnis wiederholen, das sie am Krankenbett ihres Mannes gehabt hat. Sie sitzt bei ihm, während er leidlich wohlauf ist und sogar in seiner alten leichtsinnigen Munterkeit mit ihr zu scherzen versucht … da wird sie hinausgerufen, und als sie wiederkommt, sagt ihr ein kalter Schauder, daß er sterben wird. Sie hat geradezu das Gefühl, eben in ihrer Abwesenheit sei der Tod dagewesen und habe ihn angekreuzt.

Und diese Kälte, diese Nähe einer Macht, die alles Leben erstarren läßt, fühlt sie auch jetzt und kann sich nicht dagegen wehren.

 

Nicht die Zugluft, nicht der nasse Schnee oder die Kälte, die jeder der Neuankommenden in den mit Offizieren aller Waffengattungen gefüllten Raum trägt, verbreiten sich und geben der Atmosphäre ihren Charakter, sondern der heiß aus gezwängter Brust strömende Atem, das erregt pulsende Blut, die glühende Kampflust – sie steigen aus allen diesen jungen und alten Männern, und es liegt über dem im Licht spärlicher Kerzen dämmernden Saal die großartige Spannung eines befreienden Sommergewitters.

Niemand weiß etwas Bestimmtes, doch jeder ahnt das Kommende. Obwohl aber alle in sich aufgeregte Vermutungen, Zweifel und Hoffnungen wälzen, werden doch kaum da und dort einige leise Worte gewechselt.

Für die Generale und älteren Stabsoffiziere hat man einige Stühle herbeigeschafft, doch weitaus die meisten Offiziere stehen. Nur dann und wann wird ein Räuspern, ein kurzes, unterdrücktes Husten vernehmbar.

Als Yorck eintritt, erheben alle sich. Es wird so still, daß man das Ticken der Wanduhr hört, und unwillkürlich wenden viele ihren Blick dorthin – der Zeiger steht genau auf der achten Stunde – um ihn gleich wieder auf Yorck zu richten.

Während des langen Sommers sind alle Offiziere dem General viele Male begegnet, und jeder kennt ihn von Angesicht. Heute erscheint er ihnen als ein anderer. Liegt es nur daran, daß sie gewohnt sind, ihn zu Pferde vorbeireiten zu sehen, die Stirn bis zu den buschigen Brauen vom Mützenschirm verdeckt, das Gesicht hart und unnahbar in sich verschlossen, oder mit den grauen Raubvogelaugen die Nähe und Ferne durchdringend?

Als er jetzt eintritt, ist er unbedeckt. Sein Haar, das sich vom Hinterkopf in die Stirn lockt, schimmert schon grau. Der tiefe Ernst seiner Züge ist gelöst in einer beinah überirdischen Milde, und seine Augen strahlen einen Glanz aus, der von überwundenem Leid und Opferglück spricht. Alle haben mit wunderbarer Einmütigkeit den Eindruck, nicht komme zu ihnen ihr General, um ihnen seine Befehle mitzuteilen, sondern ihr Herr und Meister, dem sie in Sieg und Tod Gefolgschaft leisten.

»Meine Herren«, sagt Yorck, »das französische Heer ist durch Gottes strafende Hand vernichtet worden. Es ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir unsere Selbständigkeit wiedergewinnen können, wenn wir uns jetzt mit dem russischen Heer vereinigen. Wer so denkt wie ich und bereit ist, sein Leben für das Vaterland und die Freiheit hinzugeben, der schließe sich mir an. Wer dies nicht will, der bleibe zurück. Der Ausgang unserer heiligen Sache mag sein, wie er will, ich werde auch den stets ehren, der nicht meine Meinung teilt und zurückbleibt.

Geht unser Vorhaben gut, so wird der König mir meinen Schritt vielleicht vergeben, geht es mißlich, so ist mein Kopf verloren. In diesem Fall bitte ich meine Freunde, sich meiner Frau und Kinder anzunehmen.«

Bei den letzten Worten ist Yorcks Stimme leiser geworden, und seine Augen haben sich unwillkürlich auf Kleist gewandt. Vielleicht will er noch mehr sagen und schweigt nur, um Atem zu schöpfen. Kleist aber, von seiner Ergriffenheit überwältigt, springt in diesem Augenblick auf und reißt seinen Degen aus der Scheide. Und in der nächsten Sekunde ist es, als pfiffe ein schneidender Wind durch den Saal, alle Säbel werden gezückt, und in der Luft blitzt und klirrt es von hundert stählernen Schwurfingern.

Dann brandet mit rollendem Donner herzbefreiendes, jubelndes Hurra zu Yorck empor, bis auch er seinen Arm erhebt und dem großen Augenblick zugleich Siegel und Segen gibt mit den Worten:

»So möge denn unter göttlichem Beistand das Werk unserer Befreiung beginnen und sich vollenden.«

*

Der Rittmeister weiß nicht und wird's in der kurzen Spanne Zeit, die ihm noch beschieden ist, auch nie erfahren, warum er an diesem Abend nicht sein Lager aufsucht, sondern noch in die eisige Nacht hinauswandert.

Er geht durch die leeren Gassen, bis er an den Rand des Städtchens kommt, wo sich hinter den spitzbogigen Birken zu beiden Seiten der Landstraße die weißen Felder ausdehnen.

Der Wind saust und trägt das Heulen verwilderter Hunde und der Wölfe, die das Aas gefallener Pferde aus ihren Wäldern gelockt hat, zu ihm hin. Es ist eine mondlose Sternennacht, und das Strahlen der silbernen Himmelszeichen hat für den Wanderer etwas ungemein Tröstendes und Verheißungsvolles, ist ihm wie die Botschaft, daß von dort her die Erleuchtung und Gewißheit kommen werden, die allen seinen Zweifeln ein Ende machen.

Aber während er einen Ausweg aus den dunklen Gassen seiner Gedanken und eine Brücke über den Abgrund sucht, stößt er immer nur gegen die alten Schranken und steht immer hoffnungsloser vor dem Unmöglichen. Entweder muß er die Treue brechen und seine Offiziersehre beflecken, oder er muß sich selbst aus der Gemeinschaft seiner Kameraden verstoßen. Es bleibt ihm keine andere Wahl, und keine Macht auf Erden und keine im weiten Sternenhimmel kann ihn dieser Entscheidung entheben.

Da beginnt er sich gegen das leere Glitzern und Flimmern aufzulehnen. Und immer tiefer durchdringt ihn das wahre Gesicht dieser Winternacht, ihre Kälte und Feindseligkeit gegen alles Leben, ihre unmenschliche Verlassenheit und ihr eisiger Tod. Es ist der Tod, nicht in der Gestalt, wie er ihn kennt, im Pfeifen der Kugeln und im klirrenden heißen Gedränge von Roß und Mann. Die ganze Unendlichkeit ist hier der Feind mit ihren Stimmen von Hunden und Wölfen und ihrer Kälte, die aus Tiefen und Höhen strömt. Er aber ist ein Mensch und sehnt sich nach einer Menschenstimme.

Wohl zehnmal geht er vor dem Hause des Schneiders auf und ab und sieht durch die Ritzen der Läden in seiner Stube den Lichtschimmer, bis er sich endlich entschließt, hineinzugehn und an Mariens Tür anzuklopfen.

Als sie bei seinem Eintreten sich aufrichtet, knistert es, und die gelben Strohhalme kommen unter dem Leintuch zum Vorschein. Ihr Anblick in dem weißen Nachtgewand und mit dem Häubchen, das ihre blonden Zöpfe bedeckt, erweckt in ihm die Erinnerung an den Augenblick, als er nach langer Bewußtlosigkeit sie zum erstenmal gesehn hat. Das Gefühl von etwas noch Leichterem und Beglückenderem, als Leben ist, das ihn damals durchströmte, hat seine Schwingen nicht verloren, aber zugleich durchflutet ihn die schwerere, süßere Lust, niederzuknien und warmes Leben zu trinken aus ihrem Mund und im weichen Dunkel ihrer Brust seinen fressenden Gram zu besänftigen.

Zu Häupten ihres Lagers steht auf dem Boden ein Licht, und daneben stehen an der Wand zwei Stühle, die mit Waschgefäßen und ihren Kleidern bedeckt sind. Er stellt das Licht beiseit und will sich auf einer ihrer Gepäckhüllen niederlassen, aber sie rückt zur Wand, so daß ein Teil der Strohschütte frei wird.

Während sie ihn umschlingt und küßt und ihm Liebesworte gibt, schwankt das Licht hinter ihm auf und nieder. Aber nicht wie damals hat er das Gefühl des höher und höher Schwebens, sondern wie ihr Gesicht sich aus dem Hellen ins Dunkel verliert, wieder auftaucht und von neuem versinkt, bekommt es etwas von einem fliehenden Schatten. Endlich aber beruhigt die Flamme sich.

»Marie«, sagt er, »weißt du wohl, was ich damals, als du dich zum erstenmal über mich beugtest, empfunden habe? Du erschienst mir wie ein Engel. Ich wagte nicht, es dir zu sagen. Und doch ist es die Wahrheit. Und so bist du mir immer geblieben und wirst mir immer bleiben. Und darum sag mir noch einmal: gibst du mir wirklich recht?«

»Ja, wirklich!« flüstert sie.

»Nicht nur mit dem Verstand, auch mit dem Herzen?«

»Auch mit meinem Herzen. Denn was dich treibt, ist ja nicht Selbstsucht oder Eigensinn, sondern deine tiefste Überzeugung, dein Glaube als preußischer Offizier, und dem darfst du nicht abschwören.«

»Ja«, bestätigt er, »so ist es wirklich. Ich bin des felsenfesten Glaubens, daß meine Kameraden ein Unrecht begehen, und würde mein Leben daransetzen, wenn ich den Schritt verhindern könnte. Aber – – nun hör zu, Marie: ich kann's nicht verhindern. Ich kann nichts daran ändern. Kein einziger der Kameraden wird sich um mich scheren. Sie werden alle in den Kampf ziehen, und ich soll zu Hause bleiben? Ich kann's nicht.«

»Ich war so glücklich bei dem Gedanken, daß du bei mir bliebest –«

»Ich kann's nicht. Ich kann nicht in Glück und Freuden leben, wenn die andern hinausreiten in eine Winternacht wie heute und ihr Leben in die Schanze schlagen. Und ihnen folgen und mir selbst untreu werden kann ich auch nicht. Marie, sag du mir, was ich tun soll.«

Sie antwortet nicht, sondern streichelt ihn nur zärtlich und warm. Auch sie weiß in ihrem Verstand ja keinen Rat und keine Hilfe, sie weiß nur in ihrem Herzen um den Trost der Mutter und Frau.

 

Der Rittmeister von Tungeln hat mancherlei Untugenden, aber Feigheit gehört nicht dazu. Nie hat er ängstlich an der Wahrheit vorbeigeschielt, und was er für recht hielt, stets wacker verfochten. Als er aber an diesem Morgen auf seine Schwadron zureitet, schickt er ein Stoßgebet gen Himmel, und es kostet ihn einen kurzen Kampf, bis er den Blick auf seine Kerle richtet. Denn wenn sie die grünen Tannenzweige tragen, muß er umdrehen und nach Hause reiten.

Aber während ihn alle ernst und bedeutungsvoll ansehen, könnte auch das strengste Auge an ihrer Uniform nichts auszusetzen finden. Da schießen ihm die Tränen in die Augen, und seine sonst so markige Stimme kippt ein bißchen um, als er sagt:

»Kerls, ich habe geglaubt, der eine oder andere könnte mir doch ungehorsam sein. Dann hättet ihr mich nicht wiedergesehn. Nun sehe ich, daß ich mich geirrt habe. Das freut mich, als wenn ihr meine Kinder wäret. Ich habe euch manchmal hart angepackt, jetzt will ich aber auch wie ein Vater zu euch sein.«

Die Schwadron macht einen Rekognoszierungsritt auf der Straße gen Tilsit, um dann nach rechts abzuschwenken, wo in den umliegenden Dörfern größere russische Kräfte aufgetaucht sein sollen. Ganz plötzlich ist der Befehl gekommen, und der Rittmeister hat sich in aller Hast von Marie verabschieden müssen.

In der Nacht haben sie noch lange den Fall beredet, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen. Aber schließlich hat Marie als Frau die Prinzipienfrage von ihrer praktischen Seite aus betrachtet und sich dahin geäußert: wenn Yorck den Abfall von den Franzosen jetzt auch ohne, vielleicht sogar gegen den Willen des Königs unternimmt, ist es denn unmöglich, ist es nicht sogar sehr wahrscheinlich, daß er noch nachträglich die Einwilligung erhält? Wenn dem aber so ist, kann auch Tungeln mit gutem Gewissen seine Entscheidung noch einige Tage hinausschieben und erst dann seinen Abschied nehmen, wenn der König sich gegen Yorck erklärt.

Ganz gerade und seinen Ehrbegriffen entsprechend dünkt den Rittmeister dieser Ausweg allerdings nicht. Doch läßt sich manches zu seiner Rechtfertigung sagen.

Aber ein anderes Wort hat Marie hingeworfen, das wurzelt in seinem Herzen, quillt und treibt und erweist sich als ein wahres Lebenswort.

Durch ihre Verwandten, die in hohen Staatsstellungen sind, mit der russischen Politik vertraut, hat sie ihm auseinandergesetzt, wie die Rettung Preußens in der Tat an der Erhaltung des Yorckschen Korps hängt. Es gibt eine große Partei, mit dem Feldmarschall Kutusow an der Spitze, die schon jetzt Frieden schließen will. Ihr genügt es, den Feind aus Rußland vertrieben zu haben. Der Zar aber, begeistert und gestählt durch den unermüdlichen Zuspruch seines Beraters, des Freiherrn vom Stein, erhebt sich aus dem engen Bezirk der nur russischen Interessen und drängt in die Bahnen einer großen europäischen Politik. Er ist für die Fortsetzung des Krieges an der Seite Preußens. Mit Rücksicht daraus hat er, ein äußerstes Zugeständnis für sein hochgespanntes Selbstgefühl, jenen Brief mit dem Bündnisantrag an Yorck übermitteln lassen. Enttäuscht dieser jetzt seine Erwartungen, so wird aller Wahrscheinlichkeit nach seine schwankende Natur sich zur Auffassung Kutusows bekehren – und dann wehe Preußen!

Als Marie ihm das mit aller Eindringlichkeit darstellt, hat sie mit den Worten geschlossen: »Ob Schande oder Ehre, das wäre mir einerlei, wenn's ums Vaterland geht.«

Und dieses Wort ist es, das in ihm wächst und wächst. Der strenge Royalist, der immer nur des Königs Befehl hörte, vernimmt hier eine neue Stimme, und sie klingt immer beziehungsreicher und geheimnisvoller: das Vaterland.

Heute morgen beim Abschied hat Marie ihm noch mit einem letzten Kuß ihren grünen Zweig angesteckt, als Amulett, wie sie sagte, als Zeichen, daß das Leben ihm grünen soll.

Es dünkt ihn beinah ein Betrug, daß er es trägt, wenn auch unter dem Mantel versteckt, da er es seinen Leuten so streng verboten hat. Aber vielleicht – noch hat er den Kampf nicht zu Ende gekämpft – wird er auf dem Rückweg zusammen mit seinen Leuten sich mit dem Zeichen schmücken.

Vielleicht! Vielleicht! Sein Innerstes ist allzu heftig aufgewühlt worden, als daß es so schnell wieder zur Klarheit kommen könnte. Und in ganz ähnlicher Verfassung wie er befindet sich die große Allgemeinheit. Schon ist die Entscheidung gefallen, der Streit beendigt, aber noch gehen hüben und drüben die Wellen unruhig auf und nieder.

Nachdem überall die Kosakenscharen in Memel, Tilsit und Gumbinnen als die Befreier begrüßt worden sind und sich ihrerseits als die Freunde der Einwohner bewiesen haben, ist durch das Gefecht in Piktupöhnen – das schließlich auch nur durch ein Mißverständnis zustande kam, indem jede Partei mit der Nachgiebigkeit der andern rechnete – plötzlich die alte Feindschaft wieder aufgeflammt. Gerüchte verbreiten sich, Yorck triebe ein unehrliches Spiel und zöge die Verhandlungen hinaus, um dem Korps Macdonald einen ungehinderten Rückzug zu verschaffen und die Russen in eine Falle zu locken.

Aufklärung ist durchaus nötig, und diesem Zweck gilt auch der heutige Rekognoszierungsritt. Der Rittmeister hat den ausdrücklichen Befehl, die Russen nicht etwa anzugreifen, wenn sie aber ihrerseits sich feindselig verhalten, sie energisch zurechtzuweisen.

Während die Husaren in schläfrigem Trab über die Landstraße reiten, die sich mit ihren verwehten Wagenspuren kaum von den Feldern unterscheidet, schüttet der graue Himmel still und stetig seinen Schnee über sie aus. Sie durchqueren eine flache Mulde, aus der es aufwärts geht. Obwohl die Steigung kaum zu spüren ist, fallen die Pferde von selbst in Schritt.

Dann hört es auf zu schneien. Noch kreiseln die letzten Flocken unsicher und verwirrt durch die Luft, und schon werden die blauen Inseln zwischen dem weißlichen Gewölk immer größer. Schließlich legt sich eine breite goldene Sonnenbahn über das Land, begießt den Schnee mit honigfarbenem Schimmer und zeigt den Reitern in der Ferne ein Dorf, aus dessen Schornsteinen lustiger Rauch quirlt und dessen blinde kleine Fenster wie Edelsteine funkeln.

Alle belebt neuer Mut. Die Husaren wischen sich die triefenden Nasen und schütteln den Schnee von ihren Schultern, die Pferde schlagen schnaubend mit den Schweifen ihre nasse Kruppe.

Ohne daß der Rittmeister es weiß, ist er zu einer Entscheidung gelangt. Die Kette, an der seine Gedanken festgeschmiedet waren, so daß er sich wie in einem Gefängnis bewegte, ist gesprengt, und seine Seele, ihrer wiedergewonnenen Freiheit froh, stürzt sich berauscht in die Weite.

Während er den Gedanken Vaterland liebkost und sich daran freut wie an einem neuen Geschenk, durchströmen Glück und Dankbarkeit ihn wie leuchtende Sonnenstrahlen. Hat Gott es trotz aller Prüfungen nicht gut mit ihm gemeint? Er besitzt eine so herrliche Schwadron, so brave, treue Kerle, die schönste, liebste Frau ist sein eigen.

Und alles muß sich zum Guten wenden. Der König muß ja ein Einsehen haben und um des Vaterlandes willen den Ungehorsam verzeihen. Neuer Krieg wird kommen und Sieg und danach der Frieden. Im Sommer wird er wieder über die heimatlichen Felder reiten, wo die Pflüger blanke Furchen schneiden und die Lerchen in den blauen Himmel steigen. Und mit Marie wird er frühmorgens in den Wald gehn, und vielleicht hört er dann das Lied des Vögleins wieder, das er einmal als Kind und dann nie mehr vernommen hat. Aber oft hat es noch in seinem Traum getönt und ihn mit unnennbarer Sehnsucht erfüllt. Wie lange hat er nicht mehr daran gedacht! …

Und während das Glücksgefühl ihm immer mehr alle Schwere nimmt und er höher und höher zu schweben glaubt, ganz wie in jenen Augenblicken des Erwachens nach langen Fiebernächten, tönt es in ihm so süß, und er sieht über sich ein Antlitz, das weder ganz das Mariens noch das seiner Mutter ist, aber in seiner Milde alles vereint, was er liebt. Dann sagt er, ehe noch das Lächeln auf seinem Gesicht sich verwischt, plötzlich mehr erstaunt als erschrocken, leise: »Ach Gott!«

Da sein Pferd steigt, fällt sein Wachtmeister ihm in den Zügel. Auf die Schüsse wollen einige Husaren vorsprengen, als sie aber ihren Rittmeister wanken sehen, umringen sie ihn, und in seinen brechenden Augen spiegeln sich ihre bestürzten und traurigen Gesichter.

Das Gewehrfeuer hat nach einigen Schüssen ebenso plötzlich aufgehört, wie es begonnen hat. Während die Husaren ihren toten Führer in den Schnee betten, beraten die beiden Leutnants, was zu geschehen habe.

Im ersten Zorn wollen sie das Dorf stürmen und die darin versteckten Kosaken niedermachen. Aber während der alte Wachtmeister die Vermutung ausspricht, die Schießerei sei wieder mal die Tat einiger Angsthasen, taucht am Eingang des Dorfes ein Kosak auf, der an seiner Lanze ein weißes Tuch schwenkt.

Da holen auch die Husaren einen weißen Lappen hervor. Die Führer kommen zusammen, und es stellt sich heraus, daß der Befehlshaber der Kosaken der den Preußen wohlbekannte Oberst Dörnberg ist. Er drückt sein Bedauern über den Vorfall aus, macht zur Entschuldigung seiner Leute aber geltend, daß die Husaren nicht den Tannenzweig an ihren Mützen getragen hätten, in dem die Russen das Zeichen der Verbrüderung sehen.

Aus einigen Stangen und Zeltbahnen bereiten die Husaren eine Bahre und reiten traurig mit ihrem Toten nach Tauroggen zurück.

 

An diesem selben nächtlich grauen Wintermorgen wartet in der Poscheruner Mühle der russische General Diebitsch auf Yorck. Er hat den Raum, in dem soeben noch preußische Soldaten hausten, notdürftig säubern und ein anständiges Frühstück auf den Tisch stellen lassen. Die Herren haben einen längeren Ritt durch die Kälte hinter sich, da müssen sie sich ein wenig stärken. Es darf natürlich beileibe nicht nach einem Gelage aussehen, deshalb hat er es bei einer Flasche Wodka bewenden lassen. Aber einige andere verwahrt er im Hintergrund, um das Ereignis zu feiern.

Diebitsch ist ein großer, schwerer Mann, fühlt sich aber so feurig und ungeduldig wie ein Siebzehnjähriger vor seinem ersten Rendezvous.

Er hat kaum noch gehofft, diese glückliche Stunde zu erleben. Bei seinem ersten Zusammentreffen mit Yorck hat dessen Unnahbarkeit ihn so gelähmt, daß er von dem eigentlichen Zweck der Unterredung nichts zu äußern wagte. Und nun hat sich der stolze Mann doch erweichen lassen. Gleich werden sie sich umarmen und den Bruderkuß austauschen und morgen mit vereinten Kräften den Franzosen an die Rippen gehen.

Strahlend begrüßt er den eintretenden Clausewitz und meint, alles sei bereit, um das Väterchen würdig zu empfangen.

»Darf ich mir gehorsamst erlauben, dem Herrn General einen Rat zu geben?«

»Bitte!«

»Dann lassen Sie statt des Frühstücks Papier, Feder und Tinte auf den Tisch stellen.«

»Feder, Tinte und Papier!« wiederholt der General mit der ganzen Verachtung, die ein alter Soldat für derlei Dinge hat.

»Je geschäftsmäßiger der Empfang ist, desto besser.«

Sonderbare Menschen, diese Preußen, denkt Diebitsch unwillig, folgt aber doch dem Rat.

Die Zeit vergeht, und er hat hinreichend Muße, alle Ungeduldsqualen eines Verliebten durchzumachen. Seine Befürchtungen werden noch durch Clausewitz gesteigert, der es für gar nicht unmöglich hält, daß Yorck über Nacht andern Sinnes geworden sei.

Endlich aber tauchen aus dem Schneegestöber drei Reiter auf.

Clausewitz und Dohna setzen eilig ihre Mützen auf, um den General und sein Gefolge draußen zu begrüßen. Diebitsch aber, der es für richtiger hält, ihn hier zu erwarten, strafft die Haltung. Er hat den Ausbleibenden schon mit allen erdenklichen Flüchen und Verwünschungen bedacht, nun aber schlägt sein Grimm in desto strahlendere Freude um. Welch eine Stunde! Welch eine Genugtuung für sein Vaterland, für ihn selbst! Jetzt wird es nur noch Siege geben! Schon sieht er Paris brennen. Und welch ein Held dieser Yorck! Man muß ihn lieben, weil er so treu sein Wort hält. Freude und Rührung beginnen diese riesenhafte Gestalt zu erschüttern. Seine Augen werden feucht, seine Hände heben sich zur Umarmung.

Da schlägt ihm aus der geöffneten Tür eisige Zugluft entgegen, und angesichts des grauen Geierblicks, der sich schwer und mißtrauisch auf ihn legt, flattern seine hochgemuten Hoffnungen davon wie erschrockene Küchlein.

Es hilft nichts, daß Yorck sich offensichtlich bemüht, umgänglich und freundlich zu sein. Zu dem Lächeln seines Mundes spielen die Augen nicht mit, und die dunklen Falten der Stirn glätten sich nicht.

Man setzt sich um den Tisch und ist bald mitten in den Verhandlungen, die anfangs ganz glatt verlaufen, da Diebitsch allem zustimmt. Paragraphen! denkt er. Was sind das für Menschen, diese Preußen, mit ihren Paragraphen! In der Wirklichkeit geht ja doch alles anders. Er sieht dem, was die Adjutanten notieren, ohne jedes Interesse zu.

Erst als das Wort Neutralität fällt, begehrt er auf und versichert, davon sei nie die Rede gewesen.

Nur davon sei die Rede gewesen, entgegnet Yorck und verliest zum Beweis einen seiner Briefe.

Aber das versetzt den General erst recht in Zorn. Sind sie nicht übereingekommen, ein Bündnis zu schließen? Aus Feinden Freunde zu werden? Und nun plötzlich Neutralität! Was ist Neutralität? Nicht Fisch, nicht Fleisch, nicht Mann, nicht Weib. Für solche Kastratendinge ist er nicht zu haben.

Clausewitz legt sich ins Mittel. Die Neutralität des Korps erlaube immerhin den Truppen Wittgensteins, die Franzosen ungestört zu verfolgen.

Also die Russen sollen die Kastanien aus dem Feuer holen, damit die Preußen ihnen womöglich unversehens in den Rücken fallen. Das sieht sehr wenig nach ehrlicher Freundschaft aus.

Nun begehrt auch Yorck auf. Erregte Worte fliegen hin und her. Eine Zeitlang sieht es ganz so aus, als sollten die Verhandlungen abgebrochen werden. Erst die gemeinsamen Versicherungen Yorcks und der Adjutanten, daß dieser neutrale Zustand nur so lange dauern solle, wie die Nachricht von der Einwilligung des Königs ausstehe, können den cholerischen Mann allmählich beschwichtigen. Aber von nun an macht er bei jeder Kleinigkeit Opposition. Yorck wird mehr als einmal von seinen Herzkrämpfen befallen, daß er minutenlang nicht weitersprechen kann. Doch bleibt er in dem, was er für nötig hält, fest, verfolgt nur eine neue Taktik, indem er etwas übertriebene Bedingungen stellt, um dem Partner nachgeben zu können. So kommen sie endlich zu einem zufriedenstellenden Resultat.

Und nun gibt auch Yorck seiner Freude Ausdruck. Er schließt den ritterlichen General in seine Arme und besiegelt den Bund mit einem Kuß.

Als dann die Ordonnanz das Frühstück aufträgt, langt er heißhungrig zu. Aber den Schnaps verschmäht er und bittet statt dessen um eine Tasse Tee.

Tee! Es ist wie verhext mit diesen Preußen! Müssen sie bei solch einer feierlichen Gelegenheit Tee trinken! Zum Glück sitzen draußen die Soldaten bei ihrem Samowar, und der Wunsch des Generals läßt sich erfüllen.

Bald darauf reitet Yorck mit seinen Begleitern ab. Ein Gedanke regt sich in seinem Herzen, er hat ihn mitgebracht und trägt ihn auch wieder heim: wenn mein Kopf dafür bürgen könnte, daß es zu Preußens Heil geschah, dann legte ich ihn noch heute auf den Block. Aber niemand weiß, niemand kann ahnen, wie die Sache ausgeht. Das ist das Furchtbare.

Da bittet Seydlitz ihn, sich umzudrehn, und deutet zurück auf die Poscheruner Mühle. Als sie kamen, lag sie reglos und tot, ein altes Wrack im treibenden Schnee. Nun drehen sich ihre mächtigen Flügel durch die silbersonnige Morgenluft.

»Ein gutes Zeichen!« frohlockt Seydlitz.

Yorck ist nicht abergläubisch. Aber in solcher Stunde nimmt auch der Nüchterne ein gutes Zeichen dankbar hin.

Schweigend reiten die beiden weiter. Auf der Hauptstraße begegnen sie den Husaren, welche die Leiche ihres Rittmeisters nach der Stadt zurückgeleiten.

Als Yorck das Geschehene vernommen hat, steigt er bestürzt vom Pferde und schlägt die Zeltbahn beiseite, um den Toten noch einmal zu sehen. Das Gesicht zeigt einen schmerzlosen, feierlichen Ernst. Die Kugel muß ins Herz getroffen haben. Die Uniform ist nur wenig mit Blut getränkt. Aber einige Blutstropfen hängen an dem grünen Reis, das Marie ihm vor seinem Ausritt angesteckt hat.

Auf den fragenden Blick des Generals bestätigen die Husaren, daß sie ihrem Rittmeister nicht etwa nachträglich das Reis angeheftet haben, sondern es, rätselhafterweise, auf seiner Brust vorgefunden.

Während Yorck in tiefen Gedanken den Toten betrachtet, scheint er alles um sich her vergessen zu haben. Endlich nimmt er nach kurzem Streicheln der Stirn ihm den Zweig ab und steckt sich das Zeichen, das der Treueste der Treuen mit seinem Blute geheiligt hat, an die Brust.

 

Der Empörer, der sich königliches Recht anmaßte und eigenmächtig die Ketten zerbrach, die sein Volk an den schmieden, kehrt, kaum daß es geschehn, wieder in den Gehorsam des Untertanen zurück. Sobald die Konvention abgeschlossen, ist es Yorcks erste Sorge, den König davon in Kenntnis zu setzen.

Er schreibt:

»An Se. Majestät den König!

Tauroggen, den 30. Dezember 1812

Durch einen späteren Abmarsch wie der Marschall, durch die vorgeschriebene Marschdirektion von Mitau auf Tilsit, bloß um den Rückzug der siebenten Division zu decken, durch böse Wege und endlich durch ungünstige Witterung in eine höchst nachteilige Lage versetzt, habe ich mich genötigt gesehn, mit dem kaiserlich russischen Generalmajor v. Diebitsch die Konvention abzuschließen, welche ich Ew. Majestät hiermit alleruntertänigst zu Füßen lege. Die Konvention läßt Ew. Majestät in Höchst Ihren Entschließungen freien Willen; sie erhält aber Ew. Majestät ein Truppenkorps, was der alten oder einer etwaigen neuen Allianz Wert gibt und Allerhöchstdieselben nicht unter die Willkür Ihres Alliierten setzt, von dem Sie die Erhaltung oder Retablierung Ihrer Staaten als Geschenk annehmen müßten.

Ew. Majestät lege ich willig meinen Kopf zu Füßen, wenn ich gefehlt haben sollte; ich würde mit der freudigen Beruhigung sterben, wenigstens nicht als treuer Untertan und wahrer Preuße gefehlt zu haben. Jetzt oder nie ist der Zeitpunkt, wo Ew. Majestät sich von den übermütigen Forderungen eines Alliierten losreißen können, dessen Pläne mit Preußen in ein mit Recht Besorgnis erregendes Dunkel gehüllt waren, wenn das Glück ihm treu geblieben wäre. Diese Ansicht hat mich geleitet. Gebe Gott, daß sie zum Heile des Vaterlandes führt.

Yorck.«

Nach dem Ruhetag in Tauroggen wird weiter marschiert. Wieder heißt es, im Freien biwakieren. Als die Truppe am nächsten Tage die preußischen Grenzadler begrüßt, wollen die tausendstimmigen Hurras kein Ende nehmen. Stolz auf die Tat ihres Generals ziehen die Soldaten in ihr Vaterland, eine Elitetruppe, aber keine in Paradeuniform, sondern »ungewaschen, denn es gab nur Eis, unrasiert, vom Rauche geschwärzt, in Schafpelze gehüllt, die Ohren mit Pelzstreifen bedeckt«, – so schildert sie ein Augenzeuge; Pioniere der Freiheit und im Gewande der Freiheit.

Am Neujahrstage beziehen die Soldaten in und um Tilsit Kantonierungsquartiere und können einstweilen rasten.

Ihr General benutzt die Gelegenheit, dem Oberpräsidenten der Provinzen, von Auerswald, in einem längeren Schreiben auseinanderzusetzen, was der Augenblick verlangt: Gründung einer Landwehr, Einberufung der Stände. Aber ein Tag nach dem andern vergeht, ohne daß eine Antwort eintrifft.

Dann schreibt Yorck einen verzweifelten Brief an den Präsidenten von Schön und fordert ein paar tausend Taler an für die Retablierung des Korps. Gleichzeitig bittet er ihn dringend, zu einer persönlichen Rücksprache nach Tilsit zu kommen. Aber der Präsident hat im Augenblick Dringenderes zu tun. Immerhin verspricht er ihm, seinen Stellvertreter, einen Regierungsrat Schulz, zu schicken. Doch auch der scheint es nicht eilig zu haben.

Yorck hat seinem Adjutanten befohlen, daß man ihn nicht stören solle. Der Befehl wird so gewissenhaft ausgeführt, daß es ihn beinah ängstigen könnte. Es ist so still und verlassen um ihn – er kommt sich gradezu vor wie ein Kranker in einer Quarantänestation. Die Krankheit, deren er verdächtig ist, heißt königliche Ungnade.

Inzwischen hat er Zeit, seine Gedankenmühle zu drehn, und der alte Hypochonder macht ausgiebig Gebrauch davon.

Was geschieht, wenn die Franzosen vor der Zeit, ehe die Volkserhebung geglückt ist, von dem Plan erfahren, wenn die Truppen Augereaus, die Berlin besetzt halten, sich des Königs bemächtigen und die Bewegung im Keim ersticken? Dann hat er die Monarchie, die er retten wollte, vernichtet und die Knechtschaft des Vaterlandes verewigt. Wenn aber der König die Konvention verwirft und sich, was bei seinem ängstlichen und buchstabentreuen Charakter sehr zu befürchten ist, erst recht Napoleon in die Arme wirft: dann hat Yorck seinen Kopf verwirkt, und das Urteil, das im französischen Senat der Herzog von Bassano fällt: »Der General Yorck hat gleichzeitig seine Ehre, seinen Vorgesetzten und seinen König verraten, als er diesen perfiden Pakt mit dem Feinde schloß«, – dies Urteil wird das der Welt sein.

So bläst der Wind aus dem Westen. Doch dafür ist der aus dem Osten um so besser! Ist er's wirklich?

Freilich besitzt Yorck den eigenhändigen Brief des Zaren mit den erhebenden Versprechungen für Preußens Wohl. Aber kennt man nicht Alexanders unberechenbaren, wetterwendischen Sinn! Er will sich nur immer neu berauschen, und was seinen Untertanen der Wodka ist, sind ihm die Weltbeglückungsideen. Wer die ihm zurechtbraut, hat sein Ohr. Zur Zeit ist sein Busenfreund der Freiherr vom Stein. Wenn Yorck an diesen Wirrkopf denkt, wird ihm die Zunge gallenbitter. Und doch ist er immer noch besser als die moskowitischen Generale und Minister. Schon raunt man in den Gassen Tilsits, daß die Russen Preußen bis zur Weichsel annektieren wollen. Und der General Paulucci, der ölige Italiener, betrachtet Memel bereits als eroberte Stadt und hat erklärt, man denke nicht daran, es je wieder herauszugeben.

So drehen sich die Flügel der Mühle zu Poscherun weiter Tag und Nacht, und was aus ihren zerreibenden Mahlsteinen zum Vorschein kommt, ist wahrhaftig kein süßes Mehl. Es gehört die ganze nachtfinstere Hypochondrie Yorcks dazu, die Folgen sich so hoffnungslos auszumalen, es gehört sein ganzer eiserner Sinn dazu, um angesichts solcher Alternativen nicht den Mut zu verlieren.

Das Dringlichste scheint ihm zu sein, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie er mit den Russen steht. Deshalb sucht er den Grafen Wittgenstein, den Armeekommandeur, auf.

Im Vergleich zu Yorck ist Wittgenstein ein sehr großer Mann. Er hat vor noch nicht langer Zeit in einer dreitägigen Schlacht den Marschall Oudinot besiegt und die Franzosen vom Vormarsch gegen Petersburg zurückgedrängt. Die dortigen Kaufleute haben ihm denn auch mit einem Geschenk von 150 000 Rubel die gebührende Dankbarkeit erwiesen. Auch sonst hat er reichlich Lorbeeren geerntet. Kein Wunder, daß er den preußischen General zwar liebenswürdig, aber doch einigermaßen herablassend empfängt. Er sei wohl gekommen, um sich die nötigen Dispositionen zum Anschluß an die russischen Truppen zu holen? fragt er ihn.

Das nun eigentlich nicht, erwidert Yorck. Ihm scheine eine andere Frage wichtiger. Beim Abschluß der Konvention sei ihm die Lage so dargestellt worden, daß das Korps des Herzogs von Tarent unmittelbar vor der Vernichtung stehe. Ob die inzwischen vollzogen sei?

Der Fürst lacht etwas verlegen und erwidert, leider sei dem Führer der russischen Vorhut, dem General Schepeleff, ein kleines Mißverständnis passiert. Er habe sich mit den verdammten Karten nicht ausgekannt und sei in der falschen Richtung vorgerückt. Als er am nächsten Tag den Irrtum bemerkte, sei Macdonald ihm schon über Labiau und Königsberg entwischt.

»Dann ist er in Sicherheit!« sagt Yorck und wird vor Wut aschgrau.

»Ist das von so großer Wichtigkeit?« fragt Wittgenstein leichthin.

»Es ist insofern wichtig, als die Vernichtung des Korps dem König, dem ganzen Volk den Mut gestärkt und die Erhebung beschleunigt hätte. Mein Schicksal kommt hier ja nicht in Frage, sonst würde ich mir die Bemerkung erlauben, daß an der Vernichtung des Korps mein Kopf und meine Ehre hängt. Da sich der Herzog retten konnte, hätte ich's auch gekonnt. Und der König muß mich schuldig sprechen.«

»Sie sehen, mein lieber General«, bricht der Graf das fatale Schweigen, »das Klügste ist, daß Sie sich ganz in unsere Arme werfen. Dann hat Ihnen der König nichts mehr zu sagen … für den Fall, daß er hier überhaupt noch etwas zu sagen haben sollte.«

»Wie muß ich das verstehn?«

Der Graf lächelt, und aus seinen biederen deutschen Zügen bricht ein Zug sarmatischer Schlauheit.

»Halten Sie es für sehr wahrscheinlich, daß wir das eroberte Land wieder herausgeben?«

»Dafür bürgt mir des Zaren eigenhändiger Brief! Er wird als Ehrenmann doch sein Wort halten.«

»Still! Still!« mahnt der Graf mit gespielter Ängstlichkeit und lacht dabei wieder gutmütig verschmitzt. »Was für ein revolutionärer Ausdruck: ein Ehrenmann! Damit setzen Sie unsern erhabenen Herrscher ja einem Privatmann gleich. Was der Zar tut, sei's was es sei, das ist immer Ehre.«

Yorck fühlt, wie's an seinem Herzen ruckt. Aber er bezwingt sich. Wenn's so steht, denkt er, laß ich linksum kehrtmachen und schmeiße deine fünfzigtausend Schnapsbrüder mit meinen vierzehntausend zum Land hinaus.

»Euer Exzellenz belieben zu scherzen.«

»Nur halb!« erwidert der Graf. »Ich erwäge die Chancen. Belieben sich zu bedienen!« sagt er, als eine Ordonnanz Tee hereinbringt. Er nimmt dem Mann eine hübsch geformte, silberne Zuckerdose aus der Hand und zeigt sie Yorck. »Hat mir gestern eine alte Dame übersandt, in Verehrung dem Befreier Preußens. Zu liebe Menschen diese Deutschen! – Ich erwäge nur die verschiedenen Chancen. Natürlich kann ich die Absichten meines erhabenen Monarchen nicht ahnen. Vielleicht hält er sein Wort und gibt das Land heraus. Möglich ist alles. Mich persönlich würde es sehr freuen. Aber auf alle Fälle, lieber General, machen Sie doch ein Ende mit dieser verwünschten Neutralität und helfen Sie uns die Franzosen verfolgen.«

»Solange ich von meinem Souverän noch keinen Bescheid habe, kann ich mich nicht rühren.«

»Aber Ihr König ist nicht frei! Daß ein Zusammenwirken mit uns in seinem Interesse liegt, bedarf doch keiner Worte. Je tatkräftiger Ihre Hilfe ist, desto mehr erleichtern Sie dem Zaren seinen Entschluß, sich nur als den Befreier Ihres Landes zu betrachten.«

»Können Sie mir das versprechen, wenn ich mit meinem Korps Ihre Operationen unterstütze?«

»Versprechen kann ich nichts, ehe Seine Majestät sich nicht entschieden hat.«

»Einstweilen scheint er sich aber doch mit der Rolle eines Befreiers begnügen zu wollen. Darum würde es ganz seinen Absichten entsprechen, wenn Euer Exzellenz dem General Paulucci den Befehl gäben, Memel zu räumen.«

Wittgenstein überlegt.

»Ich werde dem General diesbezügliche Anweisungen geben und … hoffe, daß er sie auch befolgt.«

Yorck hat sich Bedenkzeit ausbedungen, aber er weiß, daß es im Grunde nicht mehr viel zu bedenken gibt. Das ist das Verhängnis großer Entschlüsse, daß sie einen über das selbstgewählte Ziel hinausführen. Er hatte sich mit Neutralität begnügen wollen, hatte gehofft, seine Tat mit dem Gehorsam gegen seinen König vereinigen zu können. Verhängnisvoller Irrtum! Durch das Abwarten auf dessen Entscheidung verscherzt er nur die Gunst der Stunde. Und selbst wenn die Entscheidung gegen ihn ausfällt, muß er vorwärts und die Operationen der Russen unterstützen. So zweideutig auch die neuen Freunde sind, sie sind immerhin besser als der geschworene Erbfeind.

Als Yorck zurückkommt, meldet sein Adjutant, daß die Gräfin Steenbock von ihm empfangen zu werden wünsche. Die Gräfin sei die Freundin des bei Tauroggen gefallenen Rittmeisters von Tungeln.

Yorck begibt sich gleich in das Zimmer, wo die beiden Frauen ihn erwarten.

Marie hat ihren schweren Pelz draußen gelassen. Das schwarze Taffetkleid, das ein Band unterhalb des Busens zusammenhält, fließt in weichen Längsfalten zu Boden. Ihre blühenden Farben sind verblichen; die Erschütterungen der letzten Zeit haben wie eine feilende Hand die Überfülle des Fleisches abgetragen und ihre Züge zarter und geistiger modelliert.

Die Spannung des Wartens hat den Ausdruck des Schmerzes auf ihren Zügen maskenhaft versteinert, so daß Yorck vor der dunklen Schmerzgestalt beinah erschrickt. Doch ist das nur der Eindruck des ersten Augenblicks, im nächsten steht er nur noch das eigentümliche Leuchten ihres Gesichts, das wie ein Kranz und abgestufter Abglanz um den aus den Augen strömenden Glanz liegt: um diesen brennenden Strom einer trauernden Liebe, die den ganzen Menschen durchdringt. Und einen Atemzug lang empfindet der einsam Gequälte etwas wie Neid auf den Toten, der so betrauert wird.

Er hat der Gräfin die Hand geküßt und auch Marlene von Rosen, die er für ihre Tochter hält, begrüßt.

Der Freiherr vom Stein, der auf der Reise von Petersburg nach Deutschland Mitau berührte, hat Marlene mitgenommen und unter den Schutz der Gräfin gestellt.

Yorck wendet sich wieder an Marie und spricht ihr sein Beileid aus, in herkömmlichen, militärisch knappen Worten. Sie greift die Bezeichnung »treuester Offizier« auf und sagt, daß sie ihm besonders danken müsse, weil er bestimmt habe, daß der Feldgeistliche als den Spruch bei seiner Bestattung das Wort wähle: »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens reichen.«

Dem Wesen des Gefallenen schien ihm kein anderer Spruch so gemäß wie dieser, erwidert Yorck, es sei ihm nur schmerzlich, daß der rasche Aufbruch des Korps ihn verhindert habe, an der Bestattung teilzunehmen.

Diese habe noch gar nicht stattgefunden, sagt die Gräfin und fügt auf Yorcks verwunderten Blick hinzu:

»Ich habe ja kein offizielles Recht an dem Rittmeister, kann mich nur auf meine Liebe berufen und auf meine Überzeugung, daß ich seine Wünsche kenne. Er sprach öfter mit mir vom Sterben. Damals fand ich nichts Merkwürdiges dabei, aber nachträglich ist es mir, als hätte der Gedanke daran wie eine Vorahnung in ihm gelegen. Er sagte immer, daß er sich nichts Schöneres wünschen könne, als den Tod auf dem Schlachtfeld. Aber einmal, als wir von seinem Heimatgut sprachen, sagte er, daß er dort begraben sein möchte. Er hing sehr an seiner Mutter, ihr Bild begleitete ihn auch im Felde, in ihrer Nähe wünschte er zu ruhn. Und weil ich glaubte, ihm diesen Wunsch erfüllen zu sollen, bin ich auf dem Wege, seine Leiche nach Ulrikenhof, in der Nähe von Königsberg, zu bringen.«

»Wenn ich Ihnen dabei irgendwie behilflich sein kann, bitte ich Sie, ganz über mich zu verfügen.«

»Ich habe einen Wunsch, Exzellenz.«

Marie zögert. Ihr kurzes Atemholen verrät ihre Erregung, aber nichts von jener furchtsamen Befangenheit, an die der General sonst bei seinen weiblichen Besuchern gewohnt ist, liegt in ihrem Wesen, und in seine nachdenkliche Teilnahme mischt sich ein seltsames Gefühl von Schicksalverflochtenheit.

»Sie wissen, daß Ihr Entschluß, sich von den Franzosen zu trennen, den Rittmeister in große Not gebracht hat und daß er in der letzten Zeit auch mit seinen Kameraden zerfallen war. Es wurde mir gesagt, das Gerücht ginge, er hätte absichtlich seinen Tod gesucht.«

»Davon habe ich nichts gehört«, murmelt Yorck stirnrunzelnd.

»Doch ja. Das Gerücht ging um. Aber es ist nicht wahr. Ich war in der letzten Nacht vor seinem Tode mit ihm zusammen. Sie haben ihn einen Ihrer treuesten Offiziere genannt. Das war er wirklich. Treu seinem Ideal!«

Ihre Stimme bricht ab. Einen Augenblick sieht es so aus, als wollte der Schmerz sie überwältigen. Aber mit einer Art zornigem Unwillen kämpft sie diese Schwäche nieder.

»Auch in Rußland kennen wir Treue und Gehorsam. Aber wir sind gewohnt, damit Demut und Knechtsinn zu verbinden. Aber er war ein so stolzer und eigenwilliger Mann, keinem hätte er sich gebeugt, als dem, dem er Gehorsam schuldig zu sein glaubte. Darum hat es ihn beinah das Leben gekostet, an dieser Treue zu rütteln. Aber dann hat er eingesehen, daß er um einer höheren Treue willen diesen Gehorsam brechen mußte. Er ist gefallen für die Freiheit Preußens. Sein letzter Gedanke war ein dankbares Gefühl gegen seinen General, der ihm das hohe Ziel gezeigt hat. Und weil er darin mit seinen Kameraden einig war, möchte ich Euer Exzellenz bitten, daß seine Kameraden und auch seine Schwadron an seinem Begräbnis teilnehmen.«

»Ich werde dafür sorgen«, erwidert Yorck, und seine kurzen Worte klingen noch rauher und schartiger als sonst.

Er hat die dargereichte Hand ergriffen und drückt sie zur Bekräftigung, aber während vor seinem sonst so trocken klaren Blick das Gesicht Maries in seinen Umrissen verfließt, sieht er auf einer grau sich verlierenden Landstraße unter schwerem Wintergewölk einen Mann vor sich stehn, der mit heiserer Flüsterstimme ihn anschreit, den er mit Mühe hindert, vor ihm zu knien, und der sich dann von ihm losreißt und mit der Hand nach seiner Pistole greift … Aber jetzt streckt sich die Hand ihm freiwillig entgegen, eine wunderbar beglückende Kraft geht von ihr aus, und etwas wie eine Geisterstimme weht ihn an: mag auch die ganze Welt dich diffamieren, du hast doch recht getan.

Einen Augenblick stehn alle drei in leichter Benommenheit. Dann wiederholt Yorck seine Worte und fügt hinzu, daß das Korps in den nächsten Tagen aufbrechen und wahrscheinlich noch vor der Bestattung in Königsberg sein werde. Wenn das der Fall ist, wird auch er gern der Feier beiwohnen. Und falls er der Gräfin sonst noch zu Diensten sein kann, soll sie ganz über ihn verfügen. Die Wege nach Rußland sind ja noch immer von Flüchtlingen verstopft. Es wird gut sein, wenn er den Damen auf der Rückreise eine Eskorte mitgibt.

»Sollte es nötig sein, werde ich gern Ihre Güte in Anspruch nehmen. Aber ich habe die Hoffnung, in Ulrikenhof zu bleiben. Wenn die Mutter des Rittmeisters so ist, wie er sie mir geschildert hat, wüßte ich auf der Welt keine bessere Zuflucht als bei ihr.«

»Und Sie, Komtesse, werden Sie –?«

Er vollendet den Satz nicht, da ein leises Kopfschütteln Marlenes ihn unterbrochen hat.

Auch sie hat sich für diesen Besuch dunkel gekleidet, aber wenn man einen Feldblumenstrauß mit Flor umhüllt, blüht er daraus nur desto lieblicher hervor.

»Sie können sich meiner nicht entsinnen, Exzellenz«, sagt sie. »Aber vielleicht erinnern Sie sich an meinen Bräutigam, Leutnant von Heydebrandt. Er hat in Mitau –«

Der Blick unter der beweglichen Stirn verrät ihr, daß ihm die Vorgänge gegenwärtig werden.

»Und vor dem Kriege war ich mit Ihrer Tochter befreundet und einige Male in Ihrem Haus.«

»Ich erinnere mich recht gut.«

Dabei liegt sein Blick freundlich aufgehellt auf dem hübschen Gesicht. Wie gut er sich an das langbeinige, magere Mädchen erinnert, das, die Tränen der Angst im Zorn verschluckend, so mutig auf ihn losfuhr. Den Baron vom Stein, ihren Onkel, hat sie verteidigt und ist schuld, daß in die unliebsame Erinnerung an diesen Mann wenigstens ein erfreulicher Farbton sich mischt. Und jetzt ist sie die Braut des Leutnants Heydebrandt – doppelt ihm verbunden also und eine bewährte Glücksbringerin. Er trägt ihr Grüße auf an ihren Bräutigam und spricht den Wunsch aus, daß sie in Königsberg einander begegnen.

Kaum haben die Damen sich verabschiedet, als der Regierungsrat Schulz sich melden läßt. Er überbringt die Grüße des Präsidenten von Schön, und es erweist sich, daß dieser wirklich in Gumbinnen unabkömmlich war, aber schon in den nächsten Tagen eintreffen wird. Er sowohl wie der Oberpräsident von Auerswald sehen in dem Unternehmen Yorcks den ersten Schritt der Befreiung und wollen sich mit allen Kräften ihm zur Verfügung stellen.

Die beiden Besuche haben den General seltsam froh und leicht gestimmt. Als einige Augenblicke später Seydlitz eintritt, steht er am Fenster und lauscht dem hohlen Brausen des Windes, das einen Witterungsumschlag anzeigt.

»Was meinen Sie, Seydlitz«, scherzt er, »ich denke, unsere alte Poscheruner Mühle wird doch noch ein ganz leidliches Mehl mahlen?«

»Ich bin überzeugt, sie wird bis zum Frühjahr Napoleon kurz und klein mahlen. Und kein Teufel soll mich in diesem Glauben wankenmachen. Auch nicht Seine Majestät, der … die Konvention verwirft.«

»Woher wissen Sie das?«

»Posten aus Berlin sind eingetroffen. Seine Majestät hat den Major von Natzmer abgeschickt, der Eure Exzellenz verhaften soll. Aber zum Glück haben die Russen ihm die Erlaubnis zur Weiterreise verweigert.«

Von Enttäuschung, Zorn und körperlichem Schmerz überwältigt, hat Yorck sich niedersetzen müssen. Er hat das Gefühl, verraten zu sein. Aus Treue gegen den König hat er die Schuld auf sich genommen, nun hat der König ihn im Stich gelassen. Einen Augenblick vergißt er sich und antwortet auf den furchtbaren Schmerz in seiner Herzgegend mit dumpfem Stöhnen. Aber selbst durch die körperliche Qual bricht die Wildheit seines unbeugsamen Willens. Er wird seinen Weg weitergehn, ohne den König, gegen den König!

Aber daß diese Nachricht ihn grade jetzt treffen muß! Es ist, als sollte ihm kein frohes Gefühl gegönnt, als sollte er ganz hart gehämmert werden zum Instrument des Schicksals.

*

Der urwüchsige Instinkt des Volkes ahnt die Gestaltung der Zukunft oft richtiger als seine im Mißtrauen geschulten Lenker. Die ausgesogenen Bauern, die verarmten Städter in Gumbinnen, Insterburg, Königsberg quälen sich nicht mit den Fragen, die Yorcks grübelndes Verantwortungsgefühl ihm auferlegen, sie glauben freudig an die Proklamationen, die der Zar überall anschlagen läßt, und begrüßen die Russen jubelnd als ihre Befreier.

Am Tage nach der Unterredung mit Yorck bricht Wittgenstein aus Tilsit auf. Sein Marsch gleicht einem Triumphzug. Seine buntscheckigen Reiterscharen werden bejubelt wie vom Himmel gesandte Streiter und angestaunt wie Zirkusreiter. Aber sind nicht auch die schnurrbärtigen Baschkiren mit Pfeil und Bogen ein herrlicher Augenschmaus? Und nun erst die wilden Kosaken, deren Lanzenschäfte mit französischen Trophäen behangen sind, auf deren zerfetzten Mänteln Ehrenlegionskreuze funkeln welche Begeisterung, wenn sie mit rauhem Schlachtgeschrei auf ihren Kleppern dahinbrausen! Die Kinder ahmen ihren Ruf nach und treiben damit die Unglücklichen zum Dorf hinaus, die als grauenerregende Gespenster der großen Armee noch durch die Straßen irren.

Wittgensteins Weg hätte ihn über Friedland auf Elbing geführt, aber in Wehlau empfängt ihn eine Abordnung der Königsberger, um ihn zum Besuch der Hauptstadt einzuladen.

Als er einrückt, begrüßen ihn in feierlichem Zuge die höchsten Autoritäten der Stadt und des Landes und geleiten ihn ins Königliche Schloß, wo eine Zimmerflucht für ihn hergerichtet ist. Am nächsten Tag gibt es im Theater eine Festvorstellung; mit nimmer endenden Vivats wird er in der Königsloge begrüßt. Den Höhepunkt der Feiern aber bildet der große Ball am nächsten Tag. Die ganze Stadt ist illuminiert; als er in seinem Wagen Platz nimmt, werden ihm die Pferde ausgespannt, unter dem Geleit von hundert Fackeln ziehen die Bürger ihn durch die Straßen. Die ganze Stadt hallt wider von Glockenläuten und Böllerschüssen, von Vivatrufen und Jauchzen, um den Befreier des Landes zu feiern.

An eben diesem Abend trifft auch Yorck mit fünfzig seiner Getreuen in Königsberg ein, ungeleitet und unbegrüßt, und ist froh, als er, durchfroren und hungrig, in einem bescheidenen Bürgerquartier Unterkommen findet. Der Einzug des legitimen Trägers der Befreiung gleicht einigermaßen der Rückkehr des verlorenen Sohnes. Aber was macht das aus! Wenn's weiter keine Kränkungen gäbe, diese verschmerzt er leicht. Und Vorschußlorbeeren einzuheimsen wie der russische Graf, käme dem mißtrauischen alten Fuchs ohnehin wie eine Herausforderung vor.

Immerhin empfängt auch er eine schöne öffentliche Huldigung, wenn auch nicht von den offiziellen Stadtvätern. Nachdem er ins Schloß übergesiedelt ist, ziehen dort, begleitet von einer unabsehbaren Menschenmenge, die Studenten der Albertina auf, um dem General ein Hoch darzubringen. Ihr Sprecher ist Hans von Auerswald, der Sohn des Oberpräsidenten.

Erfüllt von dem Gedanken, daß alles darauf ankomme, ein großes, schlagfertiges Heer zu schaffen, ehe die Konskribierten Napoleons über die Grenze gelangen, wirft Yorck sich mit Feuereifer auf die Bewaffnung der Provinz. Es gilt die Landwehr und den Landsturm zu organisieren.

Und nun zeigt es sich, daß der wackere Regierungsrat Schulz bei seinem Besuch nicht zuviel erzählt hat. Alle Männer von Rang und Ansehn, die Bürgermeister der großen und kleinen Städte, die Vertreter des Adels und der Freibauern, die Geistlichen stellen sich mit Begeisterung in den Dienst der Sache. Die wackeren Ostpreußen, die stolz sind auf ihre ererbten Rechte, haben nur den einen Gedanken, sich selbst und ihrem König die Freiheit zurückzuerobern, und es beschwert wenig ihr Herz, daß sie es ohne des Königs Befehl tun. Nicht einmal da werden sie irre, als die Berliner Zeitungen die Nachricht bringen, der König habe bei der unerwarteten Nachricht von der Kapitulation Yorcks den höchsten Unwillen empfunden und, seinem Bündnis mit Frankreich getreu, verfügt, daß der General Yorck seines Kommandos enthoben, verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt werden solle. Das Kommando über das Korps solle der König Murat übernehmen. Ihr gesunder Sinn sagt ihnen, daß man eines gebundenen Mannes Rede nicht wägen darf wie eines freien Mannes Rede.

Wenn so die Zivilbevölkerung die Bedeutung dieses Befehls auch richtig wertet, unter den Offizieren des Korps ruft er Unruhe und Bestürzung hervor. Sie sind gewillt, für die Freiheit des Vaterlandes zu kämpfen, aber, gewohnt, sich leiten zu lassen, haben sie nicht mit der Unerbittlichkeit ihres Generals den letzten Folgen ihres Tuns ins Angesicht gesehn. Jetzt schreckt sie der Gedanke an Aufruhr und Empörung. Soll sich das Drama Wallensteins wiederholen? Einzelne Obristen weigern sich, von Yorck noch Befehle entgegenzunehmen.

Um Schlimmstes zu verhüten, will Yorck das Kommando an Kleist übergeben. Der aber erklärt feierlich, daß er auf Gedeih und Verderb seinem Führer folgen und nimmermehr dessen Platz einnehmen wird.

Sehr viel hängt in diesem Augenblick davon ab, wie Bülow in Westpreußen sich verhalten wird. Yorck schreibt ihm einen flammenden Brief, um ihn auf seine Seite zu ziehn:

»Ist man in Berlin schon so tief gesunken, daß man es nicht wagen darf, die Sklavenketten zu zerbrechen? Jetzt oder niemals ist der Zeitpunkt gekommen, um Ehre und Freiheit wiederzuerlangen. Mit blutigem Herzen zerreiße ich die Bande des Gehorsams und führe den Krieg auf meine eigene Hand. Die Armee will den Krieg gegen Frankreich, das Volk will ihn, der König will ihn, aber der König hat keinen freien Willen. Die Armee muß ihm diesen Willen frei machen. Ich werde in kurzem mit 50 000 Mann bei Berlin und an der Elbe sein. Dort werde ich zum König sagen: Hier, Sire, ist Ihre Armee und hier ist mein alter Kopf. Dem König will ich diesen Kopf willig zu Füßen legen, aber durch einen Murat läßt sich Yorck nicht richten und verurteilen.

Die Generale und alle wahren Anhänger des Königs müssen jetzt handeln und kraftvoll auftreten. Erkämpfen, erwerben wollen wir unsere nationale Freiheit, sie als Geschenk annehmen heißt, die Nation an den Schandpfahl der Erbärmlichkeit stellen und sie der Verachtung der Mit- und Nachwelt preisgeben.

Handeln Sie, General, es ist absolut notwendig, sonst ist alles auf ewig verloren. Glauben Sie mir, die Sachen stehen hier sehr schlimm. Entferne ich mich von hier, so ist das Korps aufgelöst, und die Provinz in Insurrektion.

Yorck.«

Und wie Kleist stellt auch sein alter Gegner Bülow sich ohne Zögern auf seine Seite.

Da geht ein Aufatmen und förmlich ein Auflachen durch des alten Recken schwer bedrängte Brust, und etwas von übermütigem Humor funkelt aus der Erklärung, die er einige Tage später in der Königsberger Zeitung erläßt:

»Nach einigen Berliner Zeitungen soll der Major und Flügeladjutant von Natzmer an den Herrn Generalmajor von Kleist abgeschickt worden sein, um ihm den Befehl zu überbringen, mir das Kommando des Königlichen Armeekorps in Preußen ab- und dagegen es selbst zu übernehmen.

Der Herr von Natzmer ist jedoch weder zu dem Herrn Generalmajor von Kleist, noch zu mir gekommen, und ich werde daher um so unbedenklicher fortfahren, das Generalkommando des Korps ferner auszuüben, als bis jetzt noch kein preußischer General seine Verhaltungsbefehle durch die Zeitungen erhalten hat. Um jede Irrung zu verhüten, habe ich es für nötig erachtet, diese Erklärung öffentlich bekanntzumachen.

Königsberg, den 27. Januar 1813.

v. Yorck
Königlich Preußischer Generalleutnant
Generalgouverneur und Kommandierender General
des Armeekorps in Preußen.«

Auch die andere Frage, die ihm nicht minder schwere Sorgen macht, wie es sich mit den Plänen der Russen verhält, scheint jetzt endlich geklärt werden zu sollen.

Der alte Feldmarschall Kutusow schreibt ihm, daß in diesen Tagen der Fürst Dolgorukij, Flügeladjutant des Zaren, ihn aufsuchen werde. Yorck werde wohl »die Delikatesse des Prinzips zu würdigen wissen, die diese Sendung, sowie die Richtung der besonderen Instruktionen, die der Fürst erhalten, bestimmt hätten.«

Die Sendung, die unter dieser kostbaren Hülle liegt, macht zum mindesten das eine klar, daß der Zar den Wunsch hat, sich gut mit Yorck zu stellen und seine Sorgen zu zerstreuen. Als Yorck dem Fürsten seine Beschwerden über das eigenmächtige Auftreten Pauluccis in Memel mitteilt, erklärt er ihm, daß dies Auftreten durchaus den Absichten des Zaren zuwiderlaufe, und verspricht, sofort Abhilfe zu schaffen.

Auch gibt er dem Wunsch seines Herrn nach einer aktiven Hilfe des preußischen Korps die Form, daß Yorck als gleichgestellter General die Operationen Wittgensteins unterstützen möge. Von einer Unterordnung ist nicht die Rede.

Es ist schwierig, einem so liebenswürdigen Herrn mit allzu direkten Forderungen zu kommen. Deshalb wird die Frage nach dem zukünftigen Schicksal Ostpreußens nicht ganz geklärt. Aber nach allen Äußerungen des Fürsten darf Yorck den Eindruck haben, daß der Zar keine gewinnsüchtigen Hintergedanken hat.

Was den versteckten Drohungen Wittgensteins nicht gelang, bringt diese angenehme Unterredung zustande. Yorck gibt den Befehl zum allgemeinen Vorrücken, um Wittgensteins rechte Flanke gegen die Besatzung Danzigs zu decken. Parole, Losung und Feldgeschrei des Tages ist: Roßbach, Friedrich, frei!

 

Eine Stunde der Volksgunst, der jubelnden uneingeschränkten Zustimmung der Menge hat Yorck gehabt. Er hat sie nicht gesucht, ist ihr auch nicht aus dem Wege gegangen. Hat er sie genossen? Oder hat er mit seinem spähenden Grüblerblick, der nie den Augenblick als solchen, der ihn immer als Glied in der Kette sieht, schon jene andere Stunde vorausgeahnt, wo statt des Hosianna das Crucifige schallt? Jedenfalls ist es nach der Huldigung der Studenten wieder recht still um ihn geworden, und sein ganzes Auftreten, seine Wirksamkeit in der Öffentlichkeit ist geeignet, die Hoffnungen, die er so hoch entflammt hat, wieder zu verdunkeln. Er hat als erster das Franzosenjoch zerbrochen, jetzt oder niemals war seine Losung, nun erwartet man, daß mit ihm lawinengleich die Bewegung wächst und weiterrollt. Allgemeine Bewaffnung, Volkserhebung, Sturm auf Pillau und Danzig, Marsch der Hunderttausend gen Westen, die flüchtigen Franzosen wie eine Windsbraut vor sich hertreibend – zum mindesten erwartet man, daß er dies predigt, daß er feurige Aufrufe verfaßt, Versammlungen einberuft, Kundgebungen veranstaltet, um die Begeisterung nicht erkalten zu lassen.

Aber nichts dergleichen geschieht. Er ist militärischer Gouverneur der Provinz, und seine ganze Tätigkeit hält sich im Rahmen dieser Obliegenheiten. Seine oberste Pflicht sieht er darin, das zusammengeschmolzene Korps zu retablieren. Die aus dem Land herbeiströmenden Freiwilligen werden gemustert, uniformiert, gedrillt. Längst hat es seine ursprüngliche Stärke erreicht. Aber was ist das mehr als ein kümmerlicher Tropfen für den brennenden Freiheitsdurst! Und ebensowenig kann sich die Öffentlichkeit zufrieden geben mit dem, was sonst im Lande geschieht von ihm selbst und seinen Getreuen, den Auerswald, Schön, Dohna, Schulz und wie sie alle heißen. Wie sie überall mit Hilfe der Gutsbesitzer, Landräte, Pastoren und Bauern die ganze waffenfähige Jungmannschaft schon in der Hand haben, wie überall die versteckten Waffen wieder zum Vorschein kommen, wie in den Dörfern, auf den Gütern schon in tausend kleinen Trüpplein exerziert und geübt wird. Überall rührt es sich, nur merkt man in der großen Öffentlichkeit wenig davon. Man erwartet Fanale, Fanfarenklänge, den großen Orkan – aber der ihn entfesseln könnte, tut es nicht, er hält sich im Hintergrund, man sieht ihn kaum. Das allgemeine Urteil geht dahin, Yorck habe Angst vor seiner eigenen Courage bekommen und sei seiner Sache untreu geworden.

Aber Yorck ist, der er immer war: der kühnste Wager und der gemessenste Wäger.

Wenn er der stürmischen Brandung sich entgegenstellt, so tut er's in der Erwägung, daß einen Volkskrieg nach spanischer Art das weiträumige Land verbietet. Hier gibt es keine wild zerklüfteten Gebirge, die zu plötzlichen Überfällen wie zu ebenso schnellem Verschwinden geeignet sind. Und daß seine bedächtigen Landsleute keine heißblütigen Guerillas sind, die den Feind umschmeicheln, um ihn dann tigerhaft zu überfallen, hat der Rückzug der großen Armee gezeigt. Nicht mal an den ärgsten Blutsaugern und Schindern hat man Rache geübt. In Preußen kann Napoleon nur durch eine reguläre Armee in offner Feldschlacht besiegt werden. Und den Kern dieser Armee nicht nur, sondern auch die Hauptmasse müssen die Preußen bilden. Diese Überzeugung hat sich ihm aufgedrängt, nachdem er sich bei den Russen umgesehen. Von den Truppen Wittgensteins abgesehen, der ihre Zahl übrigens auch ziemlich schamlos übertrieben hat, sind die Russen durch die lange Verfolgung nur wenig besser in Futter und Montur als die französischen Reste der großen Armee.

Was zu einem einigermaßen aussichtsvollen Krieg not tut, ist eine Volkserhebung großen Stils, nicht eine Ost- und Westpreußens, sondern des ganzen Landes. Dies alles wird nur dann eintreten, wenn der König den Ruf dazu ergehen läßt. Welche Schwierigkeit es hat, ohne königliche Autorisation sich auch nur an der Spitze einer kriegsbewährten und anhänglichen Truppe zu halten, haben ihn die untergründigen Hemmungen in seinem Korps gelehrt. Darum hält er es aus nüchternem Kalkül für notwendig, das Anzünden der Minen, die schon überall gelegt sind, noch hinauszuschieben. Darum wartet er, nicht minder ungeduldig als im vergangenen Dezember, auf die Nachricht aus Berlin. Einmal muß doch die Botschaft kommen: der König hat sich aus der Umklammerung seiner Feinde frei gemacht und ist wieder Herr seiner Entschlüsse.

So sieht die Lage aus, eine echt preußische Lage übrigens, nach außen hin recht unscheinbar und wenig aussichtsvoll, aber im Innern aufs beste eingerichtet und mit stillen Kräften hochgeladen, als im letzten Drittel des Januar der Freiherr vom Stein nach Königsberg kommt.

Stein und Yorck können einander nicht verstehen; sie gleichen zwei Strömen, die sich nicht vermischen, auch wenn sie sich begegnen, weil, von den Quellen an, das Strombett des einen dem andern zu wesensungleich ist, weil zu verschiedene Himmel in ihrem Lauf sich gespiegelt haben, und zu verschiedene Sterne ihnen leuchten. Wenn sie dieselben Worte brauchen, so geben sie ihnen doch unwillkürlich einen andren Sinn, und selbst wenn ihre Meinungen zusammentreffen, so sind, wenigstens bei dem einen, die Antipathie und das Mißtrauen so tief eingefleischt, daß er eher seinen eigenen Gedanken mißtraut, als daß er dem andern recht gäbe.

Der Sohn des Kapitäns aus kleinem Adel, dessen Geschlecht hundert Jahre zurück sich schon im Dunkel verliert, ist Offizier, Royalist und Preuße durch und durch. Wenn er von Freiheit spricht, so meint er das kraftvoll wiederhergestellte alte Preußen in seiner Glanzzeit. Der friderizianische Beamten- und Militärstaat ist sein geistiges Erbe, für das er kämpft. Eine Welt ohne Preußen dünkte ihn kaum noch lebenswert, und Preußen ohne König scheint ihm nicht denkbar.

Des Freiherrn Lebensstrom beschreibt einen größeren Bogen. Seine Quellen entspringen ferneren Gründen, sein Lauf mündet in eine noch kaum geahnte Zukunft. In seinen Wellen spiegeln sich Burgen und Schlösser der alten Ritter, die gotischen Dome und schönen Giebelhäuser frühmittelalterlicher Städte und die Wohnsitze stolzer Bauerngeschlechter. Aber seine reichen Ufer wissen auch von modernen Fabriken, Bergwerken, Eisenhämmern, Webstühlen und Handelsunternehmungen. Wenn er das Wort Freiheit ausspricht, so sieht er Deutschland, ein Deutschland, das außer ihm niemand kennt, an dessen stolzem Bau die fernste Zukunft soviel teilhat wie die Vergangenheit.

Der Neuschöpfer, von dessen Ideen das ganze 19. Jahrhundert leben wird, ist ein Aufrührer und Umgestalter auf unendlich breiterer Grundlage und mit tieferem Spaten als Yorck, aber nie, auch nicht in seinen schwärzesten Stunden, hat er sich als Abtrünniger und Rebell gefühlt. Der Reichsfreiherr vom Stein, dessen Geschlecht einzig dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gehorsamt, sieht vielmehr in der ganzen Fürstensippe Ungehorsame und Verräter am Reich. Und da er ihre Macht als angemaßt betrachtet, würde er sie alle, wenn's not täte, den König von Preußen inbegriffen, ausstreichen, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen. Er hat viele Enttäuschungen erlebt, und mit die schmerzlichsten nicht ohne seine Schuld, durch seine Heftigkeit und Unvorsichtigkeit, aber alle bitteren Erfahrungen haben seine breit hinströmende Güte, sein Wohlwollen, seinen Optimismus, sein herzliches Menschengefühl nicht vergällen können. Er glaubt an die Zukunft der Deutschen, eine Begeisterung der Pflicht, die nicht von der Flamme der Hoffnung genährt würde, wäre für ihn unmöglich. Sein ganzes Tun und Wirken ist verklärt vom Schimmer der Poesie, und nicht zufällig ist sein treuester Mitarbeiter der Freiheitsdichter Ernst Moritz Arndt. Auch Stein hat einsamste Stunden und Zeiten der Verlassenheit durchlebt, wo er von allen Menschen, außer von Polizeispitzeln, gemieden war, aber jene tiefste Qual und Gewissensnot des prometheischen Verbrechers, die den Menschen mit einem Etwas seines Wesens für immer aus dem Kreis der Umwelt ausschließt, hat er nicht kennengelernt, er ist im Gegenteil seiner ganzen Natur nach ein geselliger und dionysischer Mensch, ein Anreger, Begeisterer, Berater, ein Seelenfänger und geborener Freund.

Unter seinen Großtaten für Deutschlands Heil ist nicht die kleinste seine Freundschaft mit dem Zaren Alexander. Er hat damit ein ebenso großes Verdienst für Rußland wie für sein Vaterland erworben. Seinen packenden Mahnreden ist es zu verdanken, daß der leicht verzagte Zar auf die Friedensangebote Napoleons nicht eingegangen ist. Und ebenso ist er es gewesen, der Alexander gelehrt hat, eine schönere Aufgabe als Ländergewinn sei es, der Befreier und Friedensbringer Europas zu werden.

Ausgerüstet mit der ganzen Autorität und Macht, auf die sich der Beauftragte des Zaren stützen kann, kommt er nach Königsberg. Der Jubel, mit dem man ihn aufnimmt, ist kaum geringer als der beim Empfang Wittgensteins. Und seine großartige Persönlichkeit scheint wie keine andere geeignet, die ihm entgegenströmende Begeisterung aufzufangen und zur heißen, zielbewußten Tat zu gestalten. Auch die Männer, die bis dahin diese Tat in der Stille vorbereiteten, sind durchaus bereit, sich seiner Führung unterzuordnen. Selbst Yorck stellt anfangs seine Bedenken zurück.

Aber dann ist es gerade seine diktatorische Vollmacht, derentwegen der erste Zwiespalt ausbricht. Sie stellt den Freiherrn im Namen des Zaren an die Spitze aller Behörden des Landes, gebietet ihm »die Kriegs- und Geldmittel der Regierung zur Unterstützung Unserer Unternehmungen gegen die französischen Heere in Tätigkeit zu setzen, sich derjenigen Agenten zu bedienen, welche die geeignetsten scheinen werden, um Unsere Absichten zu vollziehen, diejenigen, welche er für unfähig halten wird, zu entfernen, die Verdächtigen aber überwachen und verhaften zu lassen.«

Ein Schriftstück, notwendig, heilsam und durchaus lobenswert, wenn die Unterschrift Friedrich Wilhelms III darunterstände. Aber mit russischem Siegel und dem Namen des Zaren?

Am besten ließe man, um Ärgernis zu vermeiden, es möglichst in der juchtenledernen Tasche verschwinden. Aber das entspricht keineswegs Steins Meinung, er ist durchaus gewillt, die Anordnungen buchstäblich auszuführen und, wenn man ihm Widerstand leistet, auch von den zaristischen Machtmitteln, seinem Militär, Gebrauch zu machen.

Es ist wohl das Widrigste, was Yorck begegnen kann. Hat er darum im vorigen Jahr in einem monatelangen nervenzerrüttenden Kleinkrieg mit den französischen Generalen und Marschällen die Stellung seines Souveräns als eines unabhängigen und freiwilligen Bundesgenossen im Gegensatz zu den fürstlichen Vasallen des Rheinbundes behauptet, um sich jetzt dem Joch des Moskowiters zu beugen?

Zwischen ihm und dem Freiherrn kommt es zu einer Auseinandersetzung, bei der es nicht an zornigen und bitteren Worten fehlt. Aber die Größe und Lauterkeit des Mannes ist so unverkennbar, daß sie selbst Yorck beinah bezwingt. Stein tritt mit seiner Ehre dafür ein, daß die reinen Absichten des Zaren nicht von Eroberungsgelüsten befleckt sind. Das aber ist doch das einzig Wichtige, alles andere ist Form und Schein! Soll um einer elenden Kompetenzfrage willen das heilige Werk der Befreiung verzögert werden? Und es eilt! Es eilt! Wenn nicht schon in den nächsten Tagen lavagleich die vereinigten Heere gegen den Rhein fluten, dann wird der Imperator die Kräfte des vereinigten Europa wieder versammelt haben. Yorck, so groß, so kühn, so über alle Satzungen und Menschenbedenken erhaben – will jetzt in dieser Stunde der Drangsal sich wegen eines Stücks Papier, das zerrissen wird in der Stunde, wo es seinen Zweck erfüllt hat, seiner Aufgabe entziehen?

Es ist schwer, sich mit einer donnernden Brandung auseinanderzusetzen, und des Freiherrn zorniger wilder Überzeugungswille hat etwas von dieser Elementarkraft.

Gegen Einwände ist er gänzlich taub, Widerspruch steigert nur seinen Zorn. Yorck erwidert, daß er auf den Kampf nicht weniger begierig ist als Stein. Aber der muß doch einsehen, daß in der allgemeinen Erhebung gegen den Unterdrücker Preußens Freiheitswille, Preußens Stolz der ausschlaggebende Faktor ist. Und dieser Stolz will, daß Preußen den Kampf aus eigenem Antrieb, auf eigene Verantwortung unternimmt. Nie und nimmer darf es heißen, es folge dem Protektor Zar und kämpfe unter dem russischen Adler.

Was bedeuten Symbole und Fahnen, wenn nur der Kampf siegreich durchgeführt wird!

Hinter Symbolen verbergen sich Wirklichkeiten. Stein verbürgt sich mit seiner Ehre für die reinen Absichten des Zaren. Aber kann er sich auch für dessen Beständigkeit verbürgen? Wenn die andern Machthaber, wenn die öffentliche Meinung nach Gebietserweiterung verlangt, kann sich der Zar diesen Einflüssen entziehen? Solchen Gelüsten kann man nicht früh und stark genug entgegentreten.

Solche Gelüste seien nirgendwo vorhanden, behauptet Stein.

Und Paulucci in Memel? Und Kutusows letzter Befehl? Vor einer Woche war Dolgorukij bei Yorck. Man einigte sich dahin, daß Yorck als selbständiger General die Operationen Wittgensteins decken solle. Jetzt stellt Kutusow ihn einfach unter russischen Oberbefehl.

Bloße Formsache! Militärischer Rangstreit! versichert Stein, nennt Yorcks Bedenken Eigensinn und Eitelkeit.

»Wie Sie es zu nennen belieben, soll mir gleichgültig sein. Aber ich nehme von keinem anderen Befehle entgegen als von meinem König.«

»Der König mitsamt seinen Ratgebern und Ministern ist ein Haufe Unglück. Man darf sich um Berlin überhaupt nicht kümmern.«

»Des Königs Trübsinn und Pedanterie hindern seine Entschlußkraft. Aber im letzten Augenblick wird er sich schon ermannen.«

»Nie, wenn man ihn nicht zwingt! Ich habe das erprobt. Was ich je erreichte, habe ich dem König abgetrotzt, indem ich ihn in dauernder Furcht erhielt. Angst muß man ihm einjagen, wenn er Courage heucheln soll.«

Solche Worte empören den Offizier in Yorck. Er verbittet sie sich in drohendem Ton, worauf Stein ihn einen dienernden Höfling nennt.

Yorcks Gesicht ist ganz gefleckt vor Wut; an seinem Herzen reißt es mit Raubtierpranken und drosselt seine Kehle, daß er zu ersticken meint. Einen Moment lang sinkt er in sich zusammen, und in seiner gebeugten Haltung erinnert er wirklich an eine dienernde Höflingsgestalt. Aber das dauert kaum ein paar Sekunden lang, dann richtet er sich langsam auf, wächst über die breit gedrungene Figur des Freiherrn empor, überragt sie um Haupteslänge und sagt mit seiner grauen rauhen Stimme sehr ruhig und von oben herab:

Er gäbe zu, daß er stets ein gehorsamer Offizier seines obersten Kriegsherrn gewesen ist. Solange es irgend ging. Und selbst wenn er den Gehorsam brechen mußte, hat er noch die Formen des Untergebenen gewahrt. An großartigem und eigenmächtigem Auftreten kann er dem Herrn Baron nicht das Wasser reichen. Aber er erlaubt sich die Frage, was denn der ehemalige Herr Minister eigentlich erreicht habe? Furchtbare Verwirrung hat er angerichtet. Ehe er etwas vollenden konnte, ist er jedesmal gestolpert. Wie oft ist er schon aus dem Amt geflogen! Er ist gewiß ein genialer Mann, und seine guten Absichten in allen Ehren! Aber daß man ein großes Ziel nicht erreicht allein mit wildem Vorwärtsstürmen, mit Peitsche und Sporenhieben, daß man haargenau die schmale, gewundene Bahn innehalten und an den Fußangeln hier, den Fallgruben dort vorbeilenken muß, das zu bedenken hat dero freiherrlicher Strudelkopf sich nie die Mühe gegeben. Aber seine Erfolge sind auch danach!

Mit Not und Mühe finden die beiden schließlich noch einige Worte, die sie nicht gerade als erklärte Feinde auseinandergehen lassen. Aber in ihrem vulkanischen Zorn brüten sie verhängnisvolle Pläne gegeneinander. Yorck möchte den Freiherrn wegen seiner ehrenrührigen Ausdrücke fordern, und Stein geht mit der Absicht um, Yorck verhaften zu lassen.

Schlimm dieser Streit der Großen miteinander. Die heilige Sache der Befreiung leidet darunter. Und wie sollen die Kleineren sich verhalten? Die Zivilbehörden in Stadt und Land? Sie stecken, damit es wenigstens nicht zum offnen Aufruhr kommt, alle die ungerechten Vorwürfe des wetternden Freiherrn ein, aber unmöglich können sie manche Befehle, die gegen ihr Gewissen gehen, ausführen. Es ist eine stille Verabredung der Auerswald, Schön und Dohna untereinander, den großen Mann nach Möglichkeit zu unterstützen und nur seine handgreiflichen Übergriffe unausgeführt zu lassen. Aber das reibungslose Arbeiten der Maschine leidet darunter, die Verstimmung der Beamtenschaft steigert sich von Tag zu Tag. Immer bedrohlicher taucht die Frage auf, ob man von der französischen Säbelherrschaft nur freigekommen sei, um sie gegen die moskowitische Knute zu vertauschen?

Große Kreise der Bevölkerung, die nicht dienstlich mit ihm zu tun haben, sehen noch immer in der hinreißenden und begeisternden Persönlichkeit Steins den Morgenstern der Freiheit, aber gerade für die besten und klügsten Patrioten ist er, wie Yorck ihn bezeichnet hat: der Stein des Anstoßes.

 

Am Tage nach seiner Ankunft sitzt der Freiherr mit seinem Helfer und Hausgenossen Arndt in dessen Stube und läßt sich aus seinem deutschen Soldatenkatechismus vorlesen, als nach kurzem Anpochen, das eher von einer Stiefelspitze als einem Fingerknöchel herzurühren scheint, die Tür aufgerissen wird, und in der weiten Öffnung, gestützt auf seine Krücke, umhangen von einem kotbespritzten Pelz, ein junger Kosakenoffizier steht. Er ist kaum zwei, drei Schritte näher gehumpelt, als er den Pelz von der Schulter gleiten und mit Gekrach die Krücke fallen läßt und dazu im schönsten heimatlichen Platt lospoltert: »Je, den Düwel ook, wat mötst du ganz baben unnerm Dach wohnen? Dor kann ick mi de Fäut affpedden, ihr ick tau di herupperkamen bün«.

»Oll Fründ, kannst du nich de Döör taumaken? Glöwst du, dat ick Lust heww, mi kolle Fäut to halen? Un wer büst du denn?« fragt Arndt zurück, der diese aus Fremde und Heimat gemischte Erscheinung verwundert mustert.

»Awörst, Professor, kennst du mi denn gornich mihr? Hest mi oft naug Schacht gewen! Wat hest ümmer seggt? Unkraut vergeiht nich, sünst hättst du di all lang den Hals broken hätt!«

»Lieber alter Freund! Fritz!« ruft Arndt. »Du bist's, Barnekow!« und küßt den Kosaken aus die stoppelbärtigen Wangen. »Der Fritz vom Oberforstmeister Barnekow auf Leschwitz, mein alter Schüler«, sagt er erklärend und fügt zu seinem Freund gewandt gleichzeitig hinzu: »Der Freiherr vom Stein.«

»Freut mich! Freut mich!« dienert Barnekow kurz und wendet sich wieder an Arndt.

»Das war ja eine verfluchte Geschichte! Dieser besch… Hund von einem Iswostchek hat mich umgeschmissen, und ich mußte die drei Werst hierher zu Fuß humpeln. Ein Glück, daß ich dich treffe. Kein Aas wollte mich aufnehmen, denn ich bin so blank wie'n Weiber … Aber wie kommst du nur hierher?«

»Der Baron und ich kommen aus Petersburg. Der Baron war beim Zaren zu Gast.«

»Heiliges Donnerwetter, da wart ihr ja in seiner Gesellschaft! Aber habe ich nicht immer gesagt, wenn du so großartige Bierreden hieltest, aus dir wird noch mal was! – Auch ein Landsmann?«

»Der Staatsminister ist Rheinländer. Du kennst doch sicher den Freiherrn vom Stein!«

»Na selbstverständlich!« sagt Barnekow mit einer Nonchalance, die seine Versicherung Lügen straft. »Die Rheinländer sind alle nette Kerle. Nur saufen sie wie die Löcher. – Zipperlein?« fragt er teilnehmend.

Er hat in der Tat das Rechte getroffen. Wegen seines Podagras hat der Freiherr sich etwas mühsam und mit leisem Ächzen erhoben. Die ganze Zeit hat er mit zugekniffenen Augen die in einem recht vorgeschrittenen Stadium der Schäbigkeit befindliche Uniform des Ankömmlings studiert, die nur an einem Knopf noch hängenden Achselklappen, die verrosteten und beschmutzten Orden, unter deren einem er das Andreaskreuz erkennt, und fragt jetzt mit erregter, aber noch ungewiß zögernder Stimme: »Sagen Sie, bitte, habe ich recht gehört: Barnekow? Fritz von Barnekow? Sie sind doch nicht etwa der Kosakenobrist Barnekow?«

»Zu dienen, der bin ich.«

»Aber – das ist mir wirklich – eine herzliche Freude«, sagt Stein, vor freudiger Erregung ganz von Atem, und schüttelt des Obristen Rechte. »Ein schöneres Willkommen hätte mir Königsberg gar nicht bieten können. Immer habe ich mir gewünscht, den Helden von Borodino kennenzulernen.«

»Ach«, lacht Barnekow, »bei Borodino gab's viele Helden. Eigentlich waren wir alle Helden, 's blieb uns ja nischt weiter übrig.«

»Aber Sie, Herr Obrist, haben diesen Namen wirklich verdient. – Sie müssen wissen, Arndt, Obrist Barnekow ist der Abgott der Kosaken. Er hat die Kerle eine neue Gefechtsweise gelehrt und in der Borodinoer Schlacht Wunder vollbracht. Also das ist ja wirklich mal eine Herzensfreude!«

»Ganz auf meiner Seite! Ganz auf meiner Seite!« dienert Barnekow. »Wenn Sie übrigens gestatten, wäre die Freude noch größer, wenn Sie ein bißchen weniger an meinem Arm zögen. Der hängt nämlich nur noch an einem halben Knochen.«

»Blessiert?«

»Einigermaßen. Da 'n Säbelhieb und ein Schuß in der rechten Hüfte. Und sonst auch noch ein paar Löcher. Aber die sind nischt gegen das Loch in meinem Bauch. Mensch, Arndt, wenn du mich lieb hast, verschaffst du mir 'ne ordentliche Mettwurst oder ein Stück Schinken oder am besten beides. Und 'ne Buddel Schnaps dazu. Ich könnte, hol' mich der Teufel, direkt gen Himmel fahren, so windig ist es mir in den Kaldaunen.«

»Das werden wir gleich haben!« antwortet Arndt und läuft zur Klingel, um seinen Diener herbeizurufen.

»Gott sei's getrommelt und gepfiffen«, sagt Barnekow und läßt sich vorsichtig, indem er die Hände auf die Seitenlehnen stützt, in einen Stuhl sinken. »Autsch! Autsch! Autsch! Du verfluchtes Schindluder von einem Hüftgelenk! Da möchte man doch gleich aus der Hose fahren.«

»Aber Sie bluten ja!« sagt Stein erschrocken.

»So? Na, daran ist nur dieser blöde Hammel von Iswostchek schuld, der mich umgeworfen hat.«

»Haben Sie denn keinen Arzt gehabt?«

»Ach, dieser besch… Esel von einem Feldscher, was der schon gemacht hat, das hätte jeder Flickschuster besser gemacht. Oh«, sagt er gerührt, als Arndt ihm ein Glas voll wasserklaren Schnaps einschenkt. »Du bist ja ein Engel. Da kann's meinetwegen hinten bluten, so viel es will, wenn man nur vorn genügend Wodka nachfüllt. A votre santée, messieurs!«

Und mit einem Zuge hat er das große Glas geleert.

Stein hat keine Zeit länger zu bleiben. Als aber Arndt ihn aus der Tür begleitet hat, drückt er ihm rasch den Inhalt seiner Börse in die Hand und sagt, dies solle er dem Obristen übergeben. Er wird sofort seinen Wagen bestellen, und damit soll Arndt mit seinem Freund nach der Klosterstraße zu den Fräulein von Hagen fahren. Es sind zwei liebe gute alte Damen, die ein schönes Quartier frei haben. Und er soll sofort den besten Arzt und Feldscher kommen lassen, alles, was in Menschenkräften steht, muß für den Obristen getan werden, der einer der verdienstvollsten Offiziere der russischen Armee und überhaupt ein ganz prächtiger Kerl ist – von seinen greulichen Lästerreden abgesehen, fügt er ärgerlich lachend hinzu. Da scheine er ja das ganze kosakische und preußische Schimpflexikon zu beherrschen.

Die beiden Schwestern Ulrike und Klara von Hagen sind zwei herzensgute, weißhaarige Dämchen, die unter den Fittichen ihrer strengen Eltern gealtert und verblichen sind und vom Leben so viel wissen wie ein Kanarienvogel von der Freiheit. Sie sind, wie die ganze Stadt, natürlich voller Begeisterung für die preußisch-russischen Freiheitskämpfer, aber ihre Begeisterung ist doch mit heiliger Scheu vermischt, und am liebsten möchten sie sich in möglichst großer Entfernung von den Objekten ihrer Verehrung halten. Da sie in einer stillen Straße wohnen, ist ihnen das bisher auch ziemlich gelungen.

Aber nun haben sie vor einer Woche den Logierbesuch von ihrer Nichte, Marlene von Rosen, bekommen, und da Marlene verlobt ist, müssen sie schimpfshalber auch deren Bräutigam öfters einladen. Einesteils ist der Leutnant ein recht gern gesehener Gast, denn er kommt dem mageren Haushalt mit schönen Schinken und Würsten aus der Kantine zu Hilfe, andernteils aber müssen sie doch auch manches unter ihm leiden, denn eines so von allem Unkraut gereinigten Tons kann er sich überhaupt nicht befleißigen, um nicht gelegentlich bei ihnen anzuecken. Wenn ein duftigeres Wort ihm entschlüpft, fährt Ulrike zusammen und sagt: »Klärchen, sieh doch bitte mal nach dem Herd.«

Klärchen mit ihren fünfundfünfzig ist noch immer das Nesthäkchen. Neben dem Pfefferminztee für die Damen kommt beim Abendessen immer eine Flasche Rotwein für den Gast auf den Tisch, die aber regelmäßig nach dem zweiten Glas auf geheimnisvolle Weise verschwunden ist. Heydebrandt hat sich schon bei Marlene darüber beschwert, die ihm erklärt, daß es von selten der alten Damen nicht Geiz, sondern Familientradition sei. »Zwei Gläschen Wein zum Abend! Eins für gesunden Schlaf und eins für angenehme Träume«, hat der Herr Professor bei seinen Lebzeiten geäußert, und die braven Töchter haben sich das Wort wie ein Heiligtum gemerkt. Daß er daneben noch regelmäßig an seinen Stammtisch ging, haben sie wohl vergessen.

Trotz dieser kleinen Eigenheiten sind Marlene und ihr Bräutigam ihnen wegen ihrer rührenden Fürsorge von Herzen dankbar. Denn die alten Damen, die sonst mit den Hühnern zu Bett gehen, bleiben ihretwegen noch stundenlang auf. Wenn der Tisch abgetragen ist, laden sie die beiden in die gute Stube ein und bleiben selbst im Eßzimmer, wo sie alte Leinentücher zu Scharpie zerzupfen. Und während die beiden Liebesleute sich ihre uralten und ewig jungen Geheimnisse zuflüstern, hören sie manchmal von nebenan ein unterdrücktes klägliches Jaulen, das von dem krampfhaften Gähnen der alten Dämchen herrührt. Wenn aber die Uhr zehn schlägt, schlurft, vor Schlaftrunkenheit schon ganz taumlig, Ulrike herein und sagt:

»Laßt euch nur nicht stören, Kinder. Vor der Hochzeit hat man immer noch so viel zu besprechen.«

Dann weiß Heydebrandt, daß er sich verabschieden muß.

Und zu diesen beiden Unschuldslämmern hat der Freiherr vom Stein in seiner genialen Menschenunkenntnis den wilden Kosakenobrist ins Quartier geschickt.

Mit dem Wort, er hätte ihnen eine Laus in den Pelz gesetzt, ist das Unglück nur sehr unvollkommen bezeichnet. Denn daß der Obrist und sein Diener mit allen Sorten von Läusen, Kopf-, Kleider- und Pelzläusen, wie besät sind, versetzt die Damen zwar in nicht geringen Aufruhr, aber schließlich läßt sich der Schaden durch Bäder und das Räucherwerk eines tüchtigen Kammerjägers beseitigen. Aber das moralische Unheil! Der dauernde Verstoß gegen die Ruhe, Sittsamkeit und heilige Ordnung des Hauses!

Kaum ist der Gast eingezogen, da erscheinen bei ihm auch gleich die wildesten Sturmgesellen der beiden Armeen, der General Tettenborn, die Obristen von Horn und Hünerbein, der tolle Platen, die Kapitäne und Leutnants sind gar nicht zu zählen. Vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht hinein ist kein Ende mit Lärmen und Lachen, Pokulieren und Musizieren. Immerfort schallt es: » Passé, manqué, va banque, quitte à deux.« Wenn die Herren nicht die Karte biegen oder sich Wachtstubenwitze erzählen, ergötzen sie sich an musikalischen Darbietungen. Tettenborn hat aus Rußland einen Franzosenknirps mitgebracht, den er halb erfroren aus einem Marketenderwagen hervorholte. Diable hat er ihn getauft, und nie hat ein frecher kleiner Zigeuner, der je in einem grünen Wagen geboren wurde, diesen Namen redlicher verdient.

Er steckt so voller Unfug und dummer Streiche, daß man kaum begreift, wie ein einzelnes Hirn sie alle aushecken kann. Aber seine Mutter muß wohl eine Komödiantin gewesen sein, denn auch auf die Künste des Theaters versteht er sich wie ein ausgebildeter Sänger und Schauspieler.

Die beiden alten Damen sind natürlich für ihn wie geschaffen, um an ihnen seinen Schabernack zu üben.

Eines Tages kommt Tante Klärchen mit dem Mittagessen zu ihrem Quartiergast, der gerade das Zimmer verlassen hat. Sie will die Schüsseln auf den Tisch stellen, als dessen sonore Stimme sie anfährt:

»Heiliges Donnerwetter, was bringen Sie denn da für eine Schweinerei! Ich fresse doch kein Sauerkraut.«

»Das ist doch auch gar kein Sauerkraut«, erwidert Tantchen weinerlich und beginnt heftig zu zittern, bis das Gelächter der Herren sie belehrt, von wem die Stimme herrührt.

Zu Diables Ehre muß man sagen, daß er auch die Offiziere nicht mit seinen Frechheiten verschont. Selbst an Obrist Barnekow traut er sich heran. Bei dem muß er sich täglich zu kleinen Botengängen melden, und Barnekow hat sich schon mehrmals geärgert, daß der Junge die üblen Äußerungen seines Schnupfens grade in seiner Stube zum Vorschein bringt. Er hat ihm befohlen, daß er sich gefälligst draußen seine Rotznase putzen und ausniesen soll, was für Diable eine Aufforderung bedeutet, sich in einiger Entfernung vor dem Bett aufzustellen und dem fest Bandagierten möglichst kräftig ins Gesicht zu niesen. Barnekow knirscht vor Wut.

Als der Bengel eines Morgens wieder sein Konzert beginnen will, greift er unter die Bettdecke, und dem Losprustenden fliegt ein Kanonenstiefel ins Gesicht, worauf er mit Schmerzgeheul aus dem Zimmer stürzt. Nun würde er wohl Ruhe haben, hofft Barnekow, hält sich aber für alle Fälle gerüstet. Und richtig, kaum hat Diable wieder seine Aufträge in Empfang genommen, als er sich mit teuflischem Grinsen bis in die Reichweite der Hände heranschleicht und mit schmetterndem Hatschi den üblichen Sprühregen verbreitet. In dem Augenblick schwingt aber Barnekow auch schon die Waffe, doch noch rascher hat Diable sich auf den Boden fallen lasten, und der Stiefelknecht fliegt in den Glasschrank, wo er unter den Porzellantassen der Tanten unersetzlichen Schaden anrichtet.

Das ist Diable, eine Kreuzung von Satan und Äffchen.

Barnekow hat das Saus- und Brauseleben kaum eine Woche lang geführt, als seine Wunden plötzlich ein ganz übles Aussehen bekommen. An den Armen und Beinen bilden sich faustgroße Blasen. Der Kranke fiebert und liegt in halber Besinnungslosigkeit. Die Ärzte erklären, daß er sorgfältigster Pflege bedarf, wenn er durchkommen soll. Da entschließt Marlene sich, die Nachtwache bei ihm zu übernehmen.

Die Tanten beschwören sie, ganz abgesehen von der Gefahr einer Ansteckung, doch nicht ihren guten Ruf aufs Spiel zu setzen. Und im täglichen Beisammensein mit dem Obristen, der ein tapferer Held sei, aber auch ein gräßlicher Wüstling, würde ihr reines Kindergemüt Eindrücke erfahren, die sie ihr ganzes Leben nicht wieder loswürde.

Was das betrifft, meint Marlene, so hätte sich das Kindergemüt einer Soldatenbraut und Schwester von drei wilden Brüdern schon an manches gewöhnen müssen, und übrigens hoffe sie, in einigen Wochen mit ihrem Fritz getraut zu werden, der dann schon ihren guten Ruf verteidigen werde.

Die nassen Wickel und Umschläge scheinen von heilkräftiger Wirkung zu sein, vielleicht war die unheimliche Verschlimmerung auch nur ein Schreckschuß der Natur – jedenfalls, so plötzlich wie sie aufgetreten sind, verschwinden die Erscheinungen auch wieder, und Marlene kommt in den Ruf einer Wundertäterin.

Doch hat sie selbst nur halbe Freude an ihrem Pflegling, denn kaum ist er genesen, als sein Mundwerk wieder von Flüchen und abscheulichen Ausdrücken überfließt. Er ist gegen Marlene von rührender Dankbarkeit und folgsam wie ein Kind, aber mit seinen Reden legt er sich selbst in ihrer Gegenwart keinen Zwang auf. Er weiß offenbar schon gar nicht mehr, was ihm alles über die Zunge läuft.

Marlene sagt nichts, aber sie stellt ihre Besuche ein. Als Barnekow durch Heydebrandt den Grund erfährt, ist er außer sich und bittet flehentlich, Marlene möchte ihm wenigstens Gelegenheit geben, sie um Verzeihung zu bitten.

»Ich bin untröstlich, Marlene«, sagt er, und der schnurrbärtige Kosakenobrist liegt da wie ein zerknirschter Junge. »Ich hätte mir ja lieber die Zunge abgebissen, wenn ich geahnt hätte, daß Sie das verletzt. Aber ich schwöre Ihnen, so wahr mich der Teufel –«

»Ach, lassen Sie den Teufel nur in Ruhe, der wird Sie schon früh genug holen.«

»Nun dann bei meiner Seelen Seligkeit, obgleich darauf nicht viel Verlaß ist, ich schwöre Ihnen, es wird nicht wieder vorkommen. Wenigstens nicht absichtlich. Höchstens, daß ich mich verschnappe. Denn sehen Sie, das Zeug läuft mir einfach so wie Wasser herunter.«

»Das ist es ja! Sie sind ein so tapferer Held und werden für Deutschlands Ehre Ihr Blut verspritzen, aber Ihre deutsche Muttersprache so zu verunehren mit all dem Fluchen und Lästern –«

»Aber was soll man tun, Marlene, wenn man in Zorn gerät?«

»Still sein! Sich beherrschen! Sich auf die Zunge beißen!«

»Hol mich der – Sie kennen nicht meinen Zorn. Und wenn ich 'ne Ochsenzunge hätte, nach acht Tagen wäre nichts davon mehr übrig. Irgendwas sagen muß ich.«

»Dann sagen Sie – aber doch nicht so gräßliche Ausdrücke! Sagen Sie meinetwegen … beschneiter Hund oder … beschimmelter Kerl –«

»Oder … eckiges Astloch!« lacht Barnekow. »Haha, ich sehe schon meinen Burschen, wenn ich ihm einen beschimmelten Esel an den Kopf werfe. Der Kerl ist so akkurat, daß er imstande ist, mich zu korrigieren.«

Da Marlenes Mahnung auf günstigen Boden fällt, nämlich in ein durch die körperliche Schwäche gesänftigtes und folgsames Gemüt, so macht Barnekows moralische Läuterung die erfreulichsten Fortschritte. Aber nun tritt ein anderer Übelstand ein: je mehr seine Genesung fortschreitet, desto weniger kann er seine Pflegerin entbehren. Wenn Marlene länger mit ihrem Bräutigam zusammen oder bei anderen befreundeten Familien zu Besuch war, empfängt er sie jedesmal mit ungeduldigem Seufzen und Vorwürfen versteckter Eifersucht. Und eines Abends geschieht, was sie schon hat kommen sehen: ohne sich erst mit umständlichen Erklärungen abzugeben, fleht er sie an, seine Frau zu werden. Marlene kann dem schnurrbärtigen Kosaken, aus dessen Gesicht, von keinerlei Gewissensskrupel beeinträchtigt, nur das heiße Verlangen nach Erfüllung seines Wunsches spricht, nicht die zornige Antwort geben, wie sie eigentlich müßte. Aber sie hält es doch für notwendig, ihm ernst zu sagen, wie wenig ritterlich und fein gegen ihren Bräutigam sie diesen Antrag findet.

»Ach, mit Fritz werde ich gleich morgen sprechen, und ich bin überzeugt, er hat mich so gern, daß er mir zuliebe schon verzichten wird.«

»Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Er wird einen fürchterlichen Zorn bekommen und Sie vor die Pistole fordern.«

Indem Barnekow diesen Punkt ungeklärt läßt, fährt er fort:

»Ich muß ja zugeben, daß ich nicht gerade eine glänzende Partie bin. Augenblicklich bin ich so blank wie'n – ein Frauenantlitz. Aber die Fortuna kann sich jeden Tag wenden. In Wilna besaß ich noch dreißigtausend Rubel Beutegelder.«

»Und wenn Sie dreihunderttausend Rubel hätten, sie könnten mich nicht locken.«

»Auch nicht, daß ich bald General werde?«

»Ich und Frau Generalin!« lacht Marlene. »Wie würde ich mich da wohl ausnehmen?«

»Machen Sie sich denn gar nicht ein bißchen aus mir?« fragt er betrübt.

»Sie sind ein prächtiger Kerl, Barnekow – aber heiraten? – Lieber setzte ich mich auf ein Pulverfaß. Sie passen zum Heiraten so gut wie'n Igel zum Kopfkissen.«

»Dann geben Sie mir wenigstens einen Kuß!«

Nun wird Marlene wirklich böse und sagt kurz: »Gute Nacht!«

Da fährt er hoch und schreit sie an:

»Sie wollen mir nicht mal den Gefallen tun, Sie herzloses Frauenzimmer! Nun soll mich aber der Teufel frikassieren, wenn ich nicht mein altes Luderleben wieder anfange. Von Morgen an wird gesoffen und –«

»Bitte, bitte, Herr Oberst«, schreit Marlene wütend zurück. »Saufen Sie sich nur so rasch wie möglich unter die Erde. Was Besseres haben Sie ja auch gar nicht zu tun. Es gibt ja auch gar keinen Napoleon und keine Franzosen, die Sie besiegen sollen. Deutschland braucht ja den letzten Mann, nur keinen Liederjan wie Sie!«

»O Marlene, Marlene!« fleht der Oberst ängstlich. »Seien Sie nicht so unmenschlich grausam. Sie zerreißen mir das Herz.«

»Ich bin gar nicht grausam. Aber Sie haben einfach zu viel Mucken im Kopf. – Ich mache Ihnen jetzt ein Glas Pfefferminztee. Danach werden Sie fein schlafen. Und im Traum erbeuten Sie zehnmal schönere Frauen als mich.«

Er schüttelt protestierend den Kopf, aber wenigstens trinkt er gehorsam den Pfefferminztee. Dann legt sie ihm noch die Hauspostille hin und wünscht ihm endgültig gute Nacht, nachdem sie ihm versprochen hat, daß sie, und niemand anders ihm das Frühstück bringen wird.

Im stillen aber nimmt sie sich vor, ihn in Zukunft mehr der Pflege seines Burschen zu überlassen. Doch als am nächsten Tag sie und ihr Bräutigam ihn besuchen, ist er wieder so reizend, daß sie sich ganz mit ihm aussöhnt.

Er nimmt seines Freundes Hand und sagt:

»Bruderherz, ich muß dir was gestehn. Gestern habe ich deiner Liebsten einen Antrag gemacht.« Und als Heydebrandt hoch fährt: »Brauchst gar nicht so die Augen zu rollen. Sie hat mich abfahren lassen und heruntergemacht, ich kam mir vor wie ein beschneiter Pudel. Du kannst wahrhaftig stolz auf sie sein. Sie ist – wie stand's noch in der Postille? – gleich einer Lilie im Tal, aber wenn man sie reizt, wird sie zur Pardelkatze. Übrigens stell die alte Scharteke lieber wieder aufs Bücherbrett. Das Lesen bringt einen nur auf dumme Gedanken.«

 

Eines Morgens marschiert Barnekow aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab, klopft mit seiner Reitgerte wütend gegen seine knarrenden Stiefel, wirft einen ungeduldigen Blick auf die Wanduhr und murmelt Unverständliches zwischen den Zähnen, wobei er manchmal höhnisch auflacht. Was er murmelt, sind Flüche, Flüche neumodischer Art. Er hat sich heilig zugeschworen, nur noch gesittet zu fluchen. Aber sie befriedigen ihn keineswegs.

An diesem Morgen hat der Arzt ihm den ersten Ausgang erlaubt. Marlene wollte ihn abholen. Um halb elf wollte sie dasein. Wenn diese verfl … verliebte … Braut wollte ich sagen … Ach Gott, ach Gott, man wird ganz verrückt von diesen Zimperlichkeiten!

Er bleibt stehn, holt Atem und nimmt seufzend vom Bücherbord ein Buch, einen Band Goethischer Gedichte. Marlene hat ihm empfohlen, wenn der Zorn ihn wieder packt, darin zu lesen. Es gäbe nichts Beruhigenderes als Goethes Gedichte.

Er schlägt das Bändchen auf und liest: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut …« Schön! denkt er, aber schwer! Ich sollte das mal meinen Kosaken erzählen. Edel sei der Mensch, pünktlich und, nein, hilfreich, aber pünktlich sollte er auch sein. Aber eine Frau und Pünktlichkeit! Nun schlägt die Uhr schon elf.

In diesem Augenblick öffnet sich die Tür, und Marlene fragt etwas ungeduldig:

»Ja, Barnekow, wo bleiben Sie denn nur?«

Da fällt es dem wie Schuppen von den Augen, daß sich die Verabredung ja ganz anders verhielt: nicht Marlene wollte ihn abholen, sondern er sollte sie bei ihrem Bräutigam treffen. Grade will er sich entschuldigen, als Marlene das Buch bemerkt.

»Oh, Sie haben Goethes Gedichte gelesen?« fragt sie strahlend. »Ja, darüber kann man leicht die Zeit vergessen. Was haben Sie denn gelesen?«

»Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!«

»Herrlich, nicht wahr?«

»Ja, wunderschön. Aber mehr etwas für Damen, zur Laute zu singen. Für einen Soldaten ist Edelmut überflüssiges Gepäck. Dem wird der Mut manchmal schon verdammt schwer. – Was gibt's denn da draußen?«

Das Gejohle rührt von einem Volkshaufen her, der eine kleine Schar Heimkehrer der großen Armee verfolgt. Es sind die oft gesehenen Jammergestalten, mit ausgehöhlten, feuerroten oder rauchgeschwärzten Gesichtern. Kaum ein Uniformfetzen an ihnen verrät, daß sie vor kurzem noch der glänzendsten Armee der Welt angehörten. Die meisten tragen dicke Lappen an den Füßen und statt Säbel und Gewehr einen Knotenstock, an dem sie tiefgebeugt dahinwanken. Aber einige, denen ein ewiges Grinsen das Gesicht verzerrt, halten den Kopf hoch und blicken, ohne zu zwinkern, in die Sonne. Ihnen haben die furchtbaren Strapazen den Verstand geraubt. »Moskauer Simpel« nennt sie der Volksmund.

Es ist nichts Auffälliges an dieser Schar, außer ihrem Führer. Und der wirkt allerdings auf eine unheimliche Weise ergreifend, komisch und schaurig zugleich, halb wie ein Prinz, halb wie ein heruntergekommener Komödiant. Nicht grade daß er tänzelt, aber in seinen zerflederten Lackstiefeln hat er einen unleugbar eleganten Gang, und nicht weniger elegant und zierlich ist die Art, wie die Linke den Säbel trägt. Sein nur lose umgehängter Pelz zeigt den weißen Uniformrock der Gardekarabiniers. Sein Gesicht ist nicht viel mehr als Haut und Knochen, aber es ist rasiert, und auf dem Kopf trägt er den römischen Helm mit rotem Roßschweif.

Ist es diese an den ehemaligen Glanz gemahnende Ausrüstung, ist es der hochmütig angewiderte Ausdruck des Offiziers, der die Menge in Wut versetzt? Gewöhnlich läßt man diese Armen ungeschoren vorüberziehn, höchstens die Kinder treiben ihren Spott mit ihnen. Aber dieser Trupp wird von einem dichten Pöbelhaufen verfolgt, und grade auf den Offizier haben die Leute es abgesehn. Weiber schütteln mit Beschimpfungen die Faust nach ihm, Kinder springen ihn an, so daß er manchmal taumelt. Aber wenn er sich erhoben hat, geht er unbekümmert weiter, als wären alle diese drohenden und johlenden Gestalten nur nebelhafte Schemen, und sein Schritt ist so leicht und zierlich, wie wenn nicht halb aufgetauter Schneemorast unter ihm läge, sondern der weiche Teppich eines Salons. Diese Haltung wirkt um so unheimlicher, weil man sich unwillkürlich vorstellt, daß er in eben diesem Schritt auch den Weg durch das brennende Moskau, über die mit Leichen besäten Schneefelder Rußlands und durch das apokalyptische Menschengewühl der Beresinabrücke zurückgelegt hat.

Marlene kann sich von der Erscheinung nicht losreißen, als sie zu ihrem Schrecken bemerkt, daß durch den Menschenhaufen ein roh aussehender Mensch in Metzgerbluse stürzt. Schon hat er den Offizier am Arm gepackt und sein Messer geschwungen, als – Marlene schreit vor Entsetzen laut auf – der eben mit Not und Mühe zusammengeflickte Barnekow aus dem Fenster springt, mit seiner Reitgerte die Kinder auseinandertreibt und dem Metzgerburschen seine Faust dermaßen ins Schielauge schmettert, daß der zurücktaumelt. Während er den Umstehenden seine fürchterlichsten Flüche ins Gesicht brüllt, hat er den Offizier in den Arm genommen und schreit, da sich das Pfeifen und Johlen noch lauter erhebt:

»Ihr dürft ihm nichts tun! Er ist ein braver Mann, der mir das Leben gerettet hat.«

» Oh mon camarade! Mon cher camarade!« murmelt der Karabiniermajor.

»Kommen Sie! Kommen Sie!« drängt Barnekow.

Während die Gespensterschar still weiterwankt, bleibt die Menge noch eine Weile verwundert und zwischen Geschimpfe und beifälligen Äußerungen vor der Haustür stehn.

Sobald Barnekow seinen Schützling ins Haus geführt und ihn Marlene als den Vicomte de Rougé vorgestellt hat, erlebt sie das gerührte Wiedersehn der beiden Krieger, und aus der Art, wie der wildherzige Kosak den Vicomte streichelt, ihm immer wieder die Hand schüttelt und vor Freude ganz außer sich ist, gewinnt sie den Eindruck, daß an seinem Glück, das Vergnügen, eine Dankesschuld abtragen zu können, keinen geringen Anteil habe, während es sich doch, wie sie später erfährt, grade umgekehrt verhält.

Aber zuerst muß sie für ein gutes Frühstück sorgen, denn der arme Vicomte ist so verhungert, daß er sich kaum auf den Beinen halten kann, und als Marlene ihn fragt, was er zuletzt gegessen habe, weigert er sich, in ihrer Gegenwart von diesen Scheußlichkeiten zu sprechen. Als dann aber der Diener allerlei gute Dinge aufträgt, verrät kaum ein verstohlener Seitenblick, wie ihm der Mund wässert. Mit der ganzen Courtoisie des ancien régime legt er Marlene die besten Stücke auf den Teller und versichert, der treffliche Burgunder würde sein Aroma verlieren, wenn sie nicht geruhe, mitzutrinken. Das mehr reichlich als wählerisch zusammengestellte Frühstück wird durch sein Arrangement zu einem kunstvollen kleinen Diner, und Marlene glaubt sich in Gegenwart der beiden Herren in die glückliche Vorkriegszeit bei sich zu Hause zurückversetzt, obwohl das, was sie hört, sehr wenig den süßholzraspelnden Gesprächen von einst ähnelt.

Der Vicomte ist mit zwölf anderen Versprengten von einem Kosakenpulk, die ein Parteigänger führte, überfallen und in den Hof eines Gasthauses verschleppt worden. Dort hat sich der Parteigänger unter die im Saal mit liederlichen Mädchen tanzenden Kosaken gemischt, hat gesoffen, gelärmt, getanzt und ist von Zeit zu Zeit herausgekommen, um mit seiner von Trunkenheit unsicheren Hand auf einen der Franzosen zu zielen. Immer nur einen hat er erschossen, unter dem Jubelgeheul der von ihrem sexuellen und alkoholischen Rausch zu wahnsinniger Grausamkeit angestachelten Schar, dann sind die meisten in den Saal zurückgekehrt, so daß die Todeserwartung der Überlebenden viele Stunden dauerte, bis plötzlich wie ein rächender Gott der Obrist Barnekow unter die Rotte gefahren ist. Kaum hat er von den drei Überlebenden den Sachverhalt erfahren, als er den Parteigänger über den Haufen geschossen und die Kosaken mit seinem Säbel auseinandergejagt hat. Statt nun die Geretteten nach Kriegsbrauch in Gefangenschaft abzuführen, hat er sie mit Lebensmitteln versehen und bis auf Schußweite zu dem Truppenteil, von dem sie abgeirrt, begleitet.

» Oh mademoiselle, je ne peux que vous dire, que c'est un brave homme votre ami, c'est plus q'un brave homme, c'est un noble coeur.«

Aber nun ist es an Barnekow, zu erzählen, woher die Sympathie für den ihm bis dahin unbekannten Offizier gekommen ist. So ganz unbekannt sei er ihm nämlich nicht gewesen, sondern, während er mit seinen Kosaken die auf dem Rückzug befindliche Division umschwärmte und gelegentlich überfiel, hätte er den Major schon tagelang beobachtet, aus der gebührenden Entfernung natürlich, denn damals hätten die Franzosen noch ihre Gewehre gehabt und verflucht gut gezielt. Aber durchs Fernglas hätte er Morgen für Morgen beobachtet, wie der zierliche Herr, während die andern noch unter ihren Pelzen schliefen, sich trotz der grimmigen Kälte bis auf die Haut entkleidet und sein Hemd nach Läuschen untersucht und sich dann tüchtig mit Schnee abgerieben hätte. Darauf hätte sein Diener ihn mit dem am Lagerfeuer gewärmten Wasser einseifen und rasieren und ihm zur Vollendung der Frisur den Spiegelscherben halten müssen. Danach hätte aber das Herr- und Dienerverhältnis ein Ende gehabt, und aus demselben Napf, der vorhin das Rasierwasser enthalten, hätten sie brüderlich ihre Mehlpampe gelöffelt und ihr Pferdefleisch geteilt.

Ja, fügt der Vicomte hinzu, damals sei die Stunde nicht mehr fern gewesen, wo alle Rangunterschiede aufhörten, wo es weder Generale noch Gemeine, sondern nur noch Unglückliche gab. Seinen Diener hätte er kurz vor Wilna verloren. Eng umschlungen hätten sie die Nacht im Schnee zugebracht, und als er morgens erwachte, hätte er einen Erfrorenen im Arm gehalten.

Bis jetzt hat der Vicomte seiner eleganten Haltung eines petit maître nichts vergeben, jetzt aber fällt er sichtlich zusammen, und als Barnekow ihm vorschlägt, er solle sich in sein Bett legen, sträubt er sich zwar, aber man merkt, wie dankbar er für das Anerbieten ist.

Auch Marlene hat das Bedürfnis, allein zu sein. In Gegenwart der beiden Helden, die von den furchtbarsten Dingen mit Gleichmut und heiterer Ironie sprechen, hätte sie sich geschämt, rührselig zu erscheinen. Aber nun sie draußen ist, macht sie von ihrem Taschentuch eifrigen Gebrauch. Doch das salzige Naß allein tut's nicht. Während sie sich schneuzt und zwischen Tränen und Lachen in den Himmel sieht, findet sie für ihr Gefühl keinen anderen Ausdruck als das Goethewort: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.«

*

Des Obristen Lage ist einigermaßen prekär, da er in Wilna sein letztes Geld verspielt hat und die Kriegskasse mit dem Sold im Rückstand bleibt. Sein größter Kummer besteht darin, daß er dadurch nicht die Möglichkeit hat, eine Bank aufzulegen, nach seiner Überzeugung das sicherste Mittel, um seinen traurigen Vermögensverhältnissen aufzuhelfen. Im übrigen macht er sich weiter keine Sorgen, da er des sicheren Glaubens lebt, daß die Fortuna schon eines Tages den Weg zu ihm finden werde.

Und sie findet ihn in der Tat. Grade kommt er von einem Spaziergang mit seinem neuen Freund, dem Vicomte de Rougé, heim, als er in seiner Stube seinen alten Präzeptor Arndt vorfindet, der ihn mit einem Auftrag von dem Freiherrn vom Stein aufgesucht hat.

Begeisterte Damen in Petersburg, Moskau, Twer und andern Orten hatten eine bedeutende Summe – viertausend Taler ungefähr an Wert – gesammelt und sie dem Freiherrn »seiner Wundersamlichkeit wegen« zu beliebigem Gebrauch überreicht. Stein weiß keine bessere Verwendung dafür, als sie dem ruhmvollen Obristen weiterzuschenken, was in seinem Auftrag Arndt denn auch tut, indem er eine kleine wohlmeinende Ermahnung damit verbindet, von der Gabe auch den rechten Gebrauch zu machen.

»Das wollen wir«, erwidert der Obrist höchlichst erfreut, aber durchaus nicht übermäßig überrascht, »ein paar schöne Pferde, eine neue Ausrüstung, das Übrige in den Beutel für frohes Leben.«

Wenn Barnekow auch alle Unarten eines ungezogenen Jungen an sich hat, so besitzt er doch wenigstens die eine Tugend, daß er sich wie ein Kind freuen kann. Als wenig später Marlene und ihr Bräutigam ihn besuchen, umhalst und küßt er die beiden, und während er ihnen von dem Glücksgeschenk berichtet, stopft er Heydebrandt gleich eine Handvoll Hunderttalerscheine in die Tasche. Er schwört, daß er sie behalten müsse, wenn ihm an seiner Freundschaft gelegen sei. Da Heydebrandt sich trotzdem weigert, gibt es einen lauten Wortwechsel, bis Marlene dem immer aufgeregteren Hinundherschieben der Talerscheine ein Ende macht, indem sie die Hälfte ihrem Bräutigam gibt. Die andere Hälfte aber müsse Barnekow unbedingt als Notpfennig behalten, denn die Viertausend würden schon, ehe er sich's versehen, in alle vier Winde verflogen sein.

»Aber wo einen Aufbewahrungsort finden für dieses Sieb?« fragt Heydebrandt.

Da kommt Marlene auf eine Idee.

»Wir legen sie in die Hauspostille. Wenn irgendwo, sind sie dort sicher. Passen Sie auf, Barnekow: Seite 179, wo geschrieben steht: Erkennet doch, wie der Herr seine Heiligen wunderbar führet.«

»Ich glaube die Wege zu kennen, die der Herr diesen Heiligen heute abend führen wird«, sagt Heydebrandt.

»Schäm dich!« erwidert Barnekow. »Ich habe mir vorgenommen, das Geld auf eine ebenso schnelle wie edle Weise unter die Leute zu bringen. Und ihr müßt mir mit gutem Rat zur Seite stehn, wie das zu machen ist.«

Es stellt sich heraus, daß es den beiden Männern gänzlich an Phantasie gebricht. Sie können weiter nichts, als die Viertausend in Champagner und Wodka umrechnen. Wieder hat Marlene den rettenden Gedanken. Sie schlägt vor, Barnekow solle einen Ball geben.

 

In diesen ersten Tagen des Februar, wo die Saaläcker noch in weißen Schnee und die Menschen in dicke Pelze vermummt waren und wo mit tauendem Tropfenfall und brausendem Meerwind doch schon der kommende Frühling sich ahnen ließ, in diesen Tagen lag über der ehrwürdigen Ordensstadt ein Morgenrot der Freiheit, das die altersgrauen Häuser verklärte und die Menschen verjüngte. Denn Freiheit war in diesen Zeitläuften ja keine blasse Phrase, sondern besaß den allerwirklichsten und vielfältigsten Inhalt. Freiheit bedeutete, daß man nicht mehr vor den verhaßten fremden Offizieren den Hut ziehn mußte, daß einen nicht mehr die Kolbenstöße nächtlicher Einquartierungen gegen die Haustür oder das wilde Gebrüll betrunkener Marodeure: » Mangeons, buvons, jouons, brûlons toutes les maisons« … aus dem Schlaf trieben, daß man Frau und Töchter und die paar geretteten Laubtaler nicht mehr zu verstecken brauchte, Freiheit bedeutete Erlösung von der Spionenfurcht, den Bruch der Kontinentalsperre und die Belebung des Handels. Aber Freiheit bedeutete unendlich viel mehr: einen neuen Stolz und kühne Hoffnungen auf das wieder erstarkende Preußen, ja, viele träumten schon von einem großen einigen Deutschland von der Memel bis zum Rhein und der Donau unter der Schirmherrschaft des Kaisers in Wien.

Aber die Erfüllung dieser Hoffnungen war an heroische Anstrengungen geknüpft, an Opfer von Gut und Blut. Jeder wußte das, und beinah jeder handelte danach. Die Menschen, die jahrelang sich zähneknirschend hatten berauben lassen, waren jetzt von Opferrausch ergriffen und gaben im Hinblick auf bessere Lage ihr Letztes her.

Man hatte soeben den ungeheuersten Zusammenbruch und etwas wie Weltuntergang erlebt, mit hundert Zeichen kündete ein neues Zeitalter sich an, so wuchs denn aus Grauen und Tod durchaus eine Verjüngungs- und Auserstehungsstimmung. Und dieser Stimmung tat es keinen Abbruch, daß der Tod grade jetzt mit seinen Seuchen in der Stadt wütete und Soldaten wie Einwohner wegraffte. Lange genug hatte man unter der Herrschaft des Leides, der Demütigungen und der Trauer gestanden. Nun wollte man diesen finsteren Mächten sich nicht länger preisgeben, ein unersättlicher Durst nach Leben, nach drängender Tätigkeit, nach Freude und buntem Glanz und dem Rausch der Gemeinschaft hatte die Menschen ergriffen. Den Toten ihre Ehre und wehmütiges Gedenken, aber nach dem Schweigen der Trauer, das ihnen gebührte, brauste wieder vielstimmig das Lebenslied.

Es leidet die Menschen nicht in ihren Häusern, sie müssen auf die Straße, um zu hören, was vorgeht, und wenn's auch nur Bröselchen von Gerüchten, und noch dazu falsche sind, die sie aufpicken, ihr Heißhunger muß sich irgendwie befriedigen. Wie wird sich der König entscheiden? Ist er noch immer in Berlin? Ist es wahr, daß er den Kronprinzen mit einer französischen Prinzessin verheiraten will? Und wie steht's mit Yorck? Kommt er nun vors Kriegsgericht? Und der Freiherr vom Stein? Ist er noch immer Oberbefehlshaber? Er persönlich ist sehr beliebt, aber russisch werden möchten die Leute darum doch beileibe nicht.

Alle diese Gerüchte, zweifelhaften Fragen, noch zweifelhafteren Antworten treten zurück, verlieren für einige Tage das brennende Interesse, da ein neuer Gesprächsstoff auftaucht: Barnekows Ball. »Bist du auch zu Barnekows Ball eingeladen?« fragt jedes hübsche Mädchen ihre Freundin. Und die Herren Offiziere verabschieden sich: »Wir sehen uns doch aus Barnekows Ball?« Da ist kein schmucker Leutnant, der nicht geladen wäre. Und die hübschen Mädchen sind es durch die Bank – und die es etwa nicht ist, behauptet keck das Gegenteil.

Als Marlene die Idee ausbrachte, hat ihr etwas wie ein Ball zu Hause vorgeschwebt: mit ausgeräumtem »Saal«, Holunderwein, vielen Schnäpsen, unzähligen Butterbroten und Tantchens Musik dazu. Barnekow hat den Plan begeistert aufgegriffen, aber bei ihm nimmt er gleich großartigere Ausmaße an. Ein halbes Hundert Gäste wird er schon einladen müssen, seine Kameraden, und dann hat er von seiner Garnisonzeit her noch viele Freundinnen. Wenn er mit Marlene spazierengeht, muß er alle Augenblicke stehenbleiben, um eine alte Bekanntschaft zu begrüßen, und der Schluß ist immer: »Sie machen mir doch die Freude, auf meinen Ball zu kommen, meine Teuerste? Und bringen Sie, bitte, noch einige nette Fräuleins mit.«

Marlene lacht: »O Barnekow, wenn ich so leichtsinnig gewesen wäre und Ihren Antrag angenommen hätte, ich wäre ja meines Lebens nicht mehr sicher. Aber wenn's so weitergeht, dann reicht der Saal im ›Schwarzen Adler‹ nicht aus, dann müssen Sie den in der ›Ressource‹ nehmen.«

Was sie als Scherz meinte, wird ein paar Tage später Ernst. Im vornehmsten Etablissement der Stadt, in der »Ressource«, wird der Ball stattfinden.

Und Marlene schmiedet kühne Pläne. Marlene will sich in die hohe Politik einmischen. Hat sie nicht schon einmal etwas Ähnliches unternommen? Aber worauf sie jetzt ausgeht, das dünkt sie noch viel verwegener. Sie hat nichts Geringeres vor, als eine Versöhnung zwischen Stein und Yorck herbeizuführen.

Denn der tiefe Zwiespalt dieser beiden Großen ist nachgerade zu einer Kalamität geworden, die das Befreiungswerk aufzuhalten und zu verwirren, ja, unter Umständen, gradezu scheitern zu machen droht.

Endlich hat sich der König gerührt. Aus Berlin ist ein Kurier, der Major v. Thile, bei Yorck eingetroffen, mit der Nachricht, daß auf Grund geheimer Beobachtungen in der Nacht vom 17. zum 18. ein französischer Überfall auf die königliche Residenz in Potsdam erwartet worden sei, daß der dortige General seine Truppe habe ausrücken lassen, um einen Gewaltstreich gegen den König abzuwehren, und daß Seine Majestät sich daraufhin entschlossen habe, unverzüglich von Potsdam nach Breslau abzureisen.

Sonst hat der Bote keinen Befehl, keine Entscheidung, keine Antwort auf alle verzweifelten Fragen und Mahnrufe. Aber wer den König kennt, weiß, was die eine Tatsache, daß der Kurier an Yorck geschickt ist und nicht an Kleist, bedeutet: nichts Geringeres, als daß die Kabinettsorder, von der die Zeitungen berichteten, widerrufen, daß sie null und nichtig ist.

Nun ist die Bahn frei für Yorck. Nun kann er seine Minen springen lassen und die in der Verborgenheit zurückgehaltenen Kräfte auf offnem Plan versammeln. Nun darf er mit Fug und Recht sagen, er handle in des Königs Namen. Aber von diesem Augenblick an ist auch kein Platz mehr in des Königs Land für den Beauftragten des Zaren. Stein muß von der Bühne abtreten. Seine Sendung ist erfüllt.

Das ist die Überzeugung aller Einsichtigen, auch der treuesten Anhänger des Freiherrn, nur dieser selbst will's nicht einsehn. Gegen die sooft erlebte Tragik seines Lebens, daß er begonnenes Werk vor der Vollendung aus der Hand legen mußte, lehnt er sich mit seiner ganzen trotzigen Leidenschaft auf. Diesmal will und muß er sich behaupten. Grade dieses Mal, wo nicht widrige Schicksalsmacht, wo die Sache selbst, für die er kämpft, seinen Verzicht verlangt.

Soeben hat er für das russische Papiergeld einen Zwangskurs eingeführt, nun ruft er im Namen des Zaren einen Generallandtag ein.

Es hätte die treuen Herren Stände schon keinen leichten Kampf gekostet, aus eigener Machtvollkommenheit, ohne königliche Berufung, zusammenzutreten. Aber gar auf das Geheiß einer fremden Macht? Maßte der angeblich uneigennützige Befreier sich damit nicht Herrenrechte an? Verbarg sich dahinter nicht die Absicht, die vorübergehende Okkupation zu einer dauernden Besitzergreifung zu verewigen?

Einige der Herren Stände weigerten sich, der moskowitischen Einladung zu folgen, verschiedene Städte verboten ihren Vertretern, auf dem Landtag zu erscheinen. Es herrschte große Unsicherheit und Erregung. Stein schien dieser Sturmzeichen nicht zu achten. Jemand mußte mit ihm reden, ein Mann von genügender Autorität und Energie, um den steinernen Trotz zu erschüttern. Aber der einzige, der das Zeug dazu gehabt hätte, wollte nicht. Yorck vermied peinlich und selbst unter Aufgabe wichtiger Interessen jedes Zusammentreffen mit dem Freiherrn.

In dieser Not war Marlene von der schönen und klugen Frau des Präsidenten von Auerswald, der ihr nahes Verhältnis zu den beiden Großen nicht unbekannt war, gebeten worden, das zerrissene Band wieder neu zu knüpfen. Der Ball mit seiner Menge von geladenen Gästen bot die beste Gelegenheit dazu.

Nach einer stillen Kriegstrauung im Dom war Marlene seit einigen Tagen Frau von Heydebrandt. Sie hatte sich darauf gefreut, das Fest mit ihrem jungen Gemahl recht aus dem Herzensgrund und von Sorgen unbeschwert zu genießen. Nun sollte sie eine schwierige Aufgabe übernehmen.

Die Zusage der beiden hohen Herren zu erreichen, lag Barnekow ob und gelang ihm ohne Schwierigkeiten. Aber wie die beiden an einen Tisch bringen und wie es bewerkstelligen, daß nicht der eine beim Anblick des andern sofort aufstand und sich grollend verzog?

Marlene sah sich um Hilfe bei ihrer Kusine Steenbock um und fuhr mit Frau von Auerswald nach Ulrikenhof hinaus, wo die Gräfin noch weilte. Zuerst lehnte Marie die Bitte, den Ball zu besuchen, mit Befremdung ab. Aber jenes Gefühl, das damals alle Herzen erfüllte und die Menschen so ganz in den Dienst des Lebens stellte, veranlaßte sie schließlich, halb und halb eine Zusage zu geben.

Wenn Barnekow noch eine Viertelstunde vor Eröffnung des Balles besorgt gewesen war, daß die Räume für die erscheinenden Gäste allzu großartig sein würden, so mußte er eine Stunde später sich fragen, ob auch alle Platz finden würden.

Die Polonäse, die von der schönen Frau von Auerswald am Arm des eisernen Yorck angeführt wurde, nahm einen glänzenden Verlauf. Danach folgten die Rundtänze einander ohne Ende.

Der Veranstalter des Festes war von einem dichten Schwarm reizender Weiblichkeit umgeben und strahlte wie Gott inmitten seiner Engelscharen. Fühlt ihr euch auch wohl? Habt ihr auch was zu trinken? Geht doch ans Büfett und laßt euch Champagner geben. Ach, meine lieben Kinder, wie freut es mich, wenn ihr alle glücklich seid!«

Daß die Hälfte der lieben Kinder ihm unbekannt war, beeinträchtigte seine Freude nicht.

Da der Freiherr noch nicht erschienen war, konnte Marlene sich sorglos dem Vergnügen hingeben. Sie tanzte grade eine Quadrille, als ihr Auge auf einen Offizier in der Uniform des Kasanschen Kürassierregiments fiel, bei dessen Anblick sie ein jähes Warnungszeichen spürte. An eine Säule gelehnt, schien der Offizier, nach seinem ausdruckslos müden Gesicht zu urteilen, sich einfach zu langweilen, während doch der stechende Glanz seiner unter den halb geschlossenen Lidern unruhig gleitenden Augen aufmerksames Beobachten verriet. An wen erinnerte sie dieses Gesicht nur, das etwas wie eine Maske trug? Und plötzlich glaubte sie unter dem entstellenden Vollbart den Leutnant de Clavé zu erkennen.

Marlene teilte ihre Beobachtung ihrem Mann mit, indem sie ihn gleichzeitig bat, sich nicht etwa auffällig umzudrehn, was er natürlich sofort tat. Jedoch bemerkte er:

»Eine Galgenphysiognomie wie die Clavés gibt's nur einmal auf der Welt. Der Russe ähnelt ihm, aber er ist es nicht.«

Als er ihn aber später genauer musterte, wurde ihm die Doppelgängergestalt immer unheimlicher. Er bat einen Kameraden, sich in einiger Entfernung hinter dem russischen Offizier aufzustellen und halblaut Monsieur de Clavé zu rufen.

Als dies geschah, fuhr der Angerufene erschrocken zusammen und machte eine Viertelswendung. Sofort trat Heydebrandt auf ihn zu und forderte ihn auf, mitzukommen, er habe unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Der Offizier zuckte mit unwilliger Verwunderung die Achseln und erwiderte einige Worte auf russisch.

»Ich rate Ihnen in Ihrem eigenen Interesse, mir zu folgen. Wenn Sie Schwierigkeiten machen, lasse ich Sie auf der Stelle verhaften«, erwiderte Heydebrandt und bat gleichzeitig seinen Kameraden, Barnekow herbeizuholen.

Als dieser kam, sagte Heydebrandt:

»Ich habe alle Ursache, den Herrn hier für einen verkleideten französischen Spion zu halten. Laß dir doch, bitte, mal seine Einladungskarte geben. Frage ihn aber auf russisch danach.«

Das tat Barnekow jedoch nicht, aus dem einfachen Grunde, weil er außer etlichen Flüchen und Kommandos kaum ein paar Brocken Russisch kannte. Als Heydebrandt seine Bitte dringlicher wiederholte, stellte sich heraus, daß der Kapitän Owsjannikow immerhin ebensoviel Russisch wußte wie Barnekow. Da auch die Einladungskarte, die der Kapitän durch die Gräfin Dohna bekommen haben wollte, in Ordnung war, stand Barnekow ziemlich ratlos da und wollte sich schon mit einer Entschuldigung verabschieden. Aber Heydebrandt bestand daraus, daß der verdächtige Gast sich noch näher ausweisen müsse. Die drei begaben sich nun in eins der leeren Nebenzimmer, und auf dem Wege dahin nahm Heydebrandt einen Kameraden Barnekows, einen Graf Woronzoff mit, der als geborener Russe am besten geeignet schien, die Frage nach der Nationalität zu entscheiden.

Barnekow, der den Ernst der Angelegenheit noch immer nicht einsehn wollte, sondern sie als Gastgeber nur peinlich fand, ließ eine Flasche Champagner kommen, und die Herren stießen kameradschaftlich miteinander an, worauf er sich wegen dieses Verhörs bei seinem Gast entschuldigte, der aber einsehn werde, daß bei den obwaltenden kriegerischen Umständen einige Vorsicht geboten sei. Eine kurze Unterhaltung mit dem Grafen Woronzoff würde ja am besten jeden Verdacht zerstreuen. Da stellte sich nun allerdings heraus, daß der angebliche Russe seine Muttersprache genau so wenig beherrschte wie Barnekow die seines Adoptivvaterlandes. Das war verdächtig, wenn auch kein schlagender Beweis, und Owsjannikow suchte sich mit großer Zungengeläufigkeit auch gleich durch die Erklärung aus der Schlinge zu ziehn, daß er zwar in Rußland geboren, aber in Deutschland aufgewachsen sei, das er erst kurz vor seinem Dienstantritt verlassen habe.

»Darf ich fragen, in welcher Stadt Deutschlands Sie aufgewachsen sind?«

»In Augsburg.«

»Da brauchen wir ja nur den Major von Gumppenberg zu fragen, der ein geborener Augsburger ist.«

Während ein Kellner forteilte, um den Major zu holen, der wahrscheinlich an der langen Tafel, welcher der General von Tettenborn präsidierte, zu finden sein würde, forderte Barnekow seinen Freund ein wenig unwirsch auf, den Kameraden nun mal etwas näher auseinanderzusetzen, worauf er seinen Verdacht gründe.

Heydebrandt berichtete, wie seine Frau im November vorigen Jahres die Entdeckung gemacht habe, daß ihre Kusine, Wera von Tuschkewitsch, sich von dem damaligen kaiserlichen Dragonerleutnant de Clavé hatte mißbrauchen lassen, Yorck einen gefälschten Brief zu überbringen, der das Werkzeug zur Verhaftung des Generals durch den Marschall Macdonald werden sollte. Er, Heydebrandt selbst, habe Yorck im letzten Augenblick warnen und das Komplott vereiteln können. Die Kusine seiner Frau sei, wie aus später aufgefundenen Briefen hervorgegangen, durch ein Liebesverhältnis mit Clavé zu ihrer schändlichen Rolle verführt worden. In ihrer Verzweiflung hätte sie sich nach dem Abzug der Franzosen die Pulsadern aufgeschnitten.

Es war charakteristisch, daß diese Geschichte auf alle Zuhörer einen peinlicheren Eindruck machte als auf den, der ihr unrühmlicher Held war. Er leerte in raschem Zuge sein Glas und sagte verächtlich:

»Welche Lächerlichkeit! Um die Zeit, als dies Abenteuer spielte, kämpfte ich an der Beresina gegen die Franzosen und hatte verdammt was anderes im Kopfe als Weibergeschichten.«

»Immerhin, Herr Kapitän«, – zum erstenmal redete Barnekow seinen Gast nicht mehr mit Kamerad an – »werden Sie verstehn, wenn wir Ihre Angaben nicht mehr so ohne weiteres glauben. Da kommt ja der Herr von Gumppenberg.«

Mit dem Erscheinen des dicken, gemütlichen Bayern erhellten sich sogleich die ziemlich ernst gewordenen Gesichter.

»No, meine Herren, wo fehlt's Ihna denn? Was habn S' denn für an Kummer?«

»Der Herr Major sind doch geborener Augsburger?«

»Jo, was moane S' denn! I bin a geborner Münchner. Bei Augschburg fangt für uns Altboarn schon's Ausland an.«

»Aber Augsburg ist Ihnen doch bekannt, Herr Major?« fragte Heydebrandt etwas enttäuscht weiter.

»No freili, wie mei Gilettascherl.«

»Der Herr Kapitän Owsjannikow behauptet nämlich, in Augsburg ausgewachsen zu sein und die Stadt ebenfalls wie seine Westentasche zu kennen. Da werden die Herren doch gewiß gern ihre Erinnerungen austauschen und sich von den Stätten, an die sie mit besonderes Vergnügen zurückdenken, unterhalten. Zum Beispiel, wo's in Augsburg das beste Bier gibt.«

»No, dös gibt's doch –«

»Nein, nein, ich hätte gern, daß der Herr Kapitän es Ihnen erzählt.«

»Da muß ich zu meinem Bedauern meine Inkompetenz erklären«, sagte der Russe mit etwas blassem Lächeln. »Ich habe vor dem Krieg nie Bier getrunken.«

»Dös macht nix. Doselbst gibt's auch den besten Wein.«

»Ja, wirklich, auf dem Gebiet der spirituösen Genüsse bin ich vollkommen unerfahren.«

»A, genga S', wenn Sie den Storchenwirt net kenna, nacha san S' a ka Augschburger. Den kennt do a jed's Kind.«

Als weitere Fragen ein ebenso negatives Resultat hatten und als der Kapitän schließlich behauptete, Augsburg läge an der Donau, fragte der gemütliche Bayer, ob da vielleicht eine Verwechslung mit Regensburg vorläge?

»Das ist ja auch äußerst wahrscheinlich«, sagte Barnekow, »daß einer zwanzig Jahre in Regensburg wohnt und sich einbildet, er wohne in Augsburg. – Aber wir wollen Sie Ihren Freunden nicht länger entziehn, verehrter Herr Major. Seien Sie herzlichst bedankt und versichert, daß, wenn einen von uns der Weg nach Augsburg führt, unser erstes Ziel der Storchenwirt sein wird.«

»Nacha freut's mi, wenn i die Herren dahin begleiten kann, und Sie werd'n schaun, daß es Ihna da g'fällt.«

Sobald der Major sich verabschiedet hatte, wandte Barnekow sich barsch an den Kapitän:

»Legitimieren Sie sich, oder ich lasse Sie abführen.«

»Ich habe Ihnen gesagt«, erwiderte der angebliche Owsjannikow in heiserer Erregung, »daß ich keine Legitimationspapiere bei mir habe. Es ist bei uns in …« – das Stocken währte kaum den Bruchteil einer Sekunde, aber es hinterließ die feuchte Blässe eines tödlichen Schreckens auf dem Gesicht des Kapitäns – »Rußland nicht Brauch, daß man sich für einen Ball ausrüstet wie für den Besuch bei einem Notar.«

»Dann zeigen Sie uns das, was Sie in Ihrer Brusttasche haben«, sagte Heydebrandt.

»Ich verbitte mir diesen Ton gegen einen ranghöheren Kameraden!«

»Aufknöpfen!« befahl Barnekow drohend.

Der Kapitän gehorchte und warf den Inhalt der beiden Innentaschen, ein juchtenledernes Portefeuille und etliche Briefe, auf den Tisch. Die Brieftasche enthielt außer einem größeren Geldbetrag in russischen und preußischen Scheinen einen Paß und etliche Visitenkarten auf den Namen Owsjannikow, capitaine du régiment des cuirassiers de Kasan.

»Sie sehen, meine Herren, ich wußte nicht mal, daß ich einen Paß bei mir habe. Ich denke, nun hat diese lächerliche Komödie ein Ende.«

Während die beiden andern Herren die Papiere und Briefe prüften, hatte Heydebrandt die juchtenlederne Tasche selbst an sich genommen, aus deren einer Innenseite in kleinsten Glasperlen ein Vergißmeinnichtstrauß aus weißem Grunde gestickt war.

»Lassen Sie mir die Tasche«, sagte er. »Ich möchte sie meiner Frau zeigen. Ich glaube, mich bestimmt zu erinnern, daß ihre Kusine Wera die Stickerei in unserer Gegenwart angefertigt hat.«

»Geben Sie sie gefälligst her!« erwiderte Owsjannikow zornig. »Wo soll ich denn meine Papiere lassen?«

»Schneide das Ding doch heraus!« sagte Barnekow und hatte auch schon mit ein paar Schnitten seines Taschenmessers die Stickerei aus der Ledertasche getrennt.

Darunter kam, zur Überraschung der drei andern Herren und wahrscheinlich auch der des Besitzers selbst, ein winziges Paket oder vielmehr ein kunstvoll zusammengelegtes Stück Papier zum Vorschein, das eine rote Oblate verschloß. Es mochte einen geheimen Talisman oder dergleichen enthalten. Jedenfalls löste Barnekow mit seinem Messer die Oblate ab, und die Herren sahen einen verschlungenen Doppelkranz von schwarzen und braunen Haaren. In einem stand der Name Wera, in dem andern der Name Alexandre. Als Umkränzung des Ganzen aber stand in seiner Mädchenhandschrift der Satz: »Da wir durch eine stärkere Macht als Liebe aneinander geknüpft sind, soll auch der Tod unser Bündnis nicht lösen.«

»Hieß nicht die Kusine deiner Frau Wera?« fragte Barnekow.

»Allerdings.«

»Sie schnitt sich die Pulsadern auf?« sagte der Graf Woronzoff.

»Ein böses Omen für Sie!« wandte Barnekow sich an den Kapitän, der blaß, aber mit hochmütig verächtlichem Ausdruck sich gegen seinen Stuhl lehnte.

»Ich verlange, daß man den General Lanskoi herbeiruft. Er wird schon dafür sorgen, daß diese unwürdige Behandlung ein Ende nimmt.«

»Morgen, mein Herr. Morgen wird alles nach den Regeln des Kriegsgerichts erledigt werden. Heute bleiben Sie unser Gefangener. – Warten Sie, bitte, einen Augenblick hier, meine Herren.«

Barnekow begab sich zum Wirt. Da er von diesem erfuhr, daß die Nachtronde vor kurzem dagewesen war und wohl erst gegen Morgen wieder erscheinen würde, bat er um ein unbenutztes Zimmer, in das aber nicht jeden Augenblick ein Gast hineinliefe. Er wolle dort für einige Stunden einen verdächtigen Franzosen unterbringen.

Der Wirt meinte, das beste sei, eine leere Kammer im obersten Stock zu nehmen. Außerdem wünschte Barnekow noch einen sicheren Mann zur Bewachung.

»Da kann ich Ihnen keinen besseren als Schielekarl empfehlen«, sagte der Wirt. »Der läßt keinen Franzosen entwischen. Darf ich den Herrn Obristen bitten, mir in die Küche zu folgen. – He, Schielekarl!«

Aus einer Ecke der Küche, wo er auf einer Fleischerbank gerade ein Ochsenviertel zerlegte, kam ein riesenhafter Fleischergeselle, steckte das Messer in seinen Gürtel und reichte Barnekow, nachdem er sie in seiner Schürze oberflächlich abgewischt hatte, die noch immer ziemlich blutige Rechte.

»'n Abend, Herr Obrist.«

»Kerl!« sagte Barnekow, »dich kenne ich doch. Wo haben wir uns nur gesehn?«

Der Fleischer wischte sich aus seinem schielenden und dazu noch entzündlich verquollenen Auge eine Träne und sagte grinsend:

»Der Herr Obrist haben mir doch damals eine gelangt. Die war ja nicht von schlechten Eltern.«

»Ach, du bist der Kerl, der es auf den Major Rougé abgesehn hatte. Was haben dir denn die Franzosen getan, daß du solchen Wutkoller gegen sie hast?«

»Die haben in Tilsit unser Haus angesteckt und meine Alten verbrannt. Seitdem murkse ich jeden Franzmann ab, den ich zu fassen kriege.«

»Wieviel hast du denn schon abgemurkst?«

Der Fleischergeselle zögerte und wurde noch röter im Gesicht, worauf einige der Küchenmädchen kicherten und eine bemerkte:

»Das Dutzend wird wohl bald voll sein, was, Schielekarl?«

»Jedenfalls hast du guten Willen, mein Junge. Also gib acht. Du sollst einen verkleideten französischen Offizier bewachen.«

»Einen Spion?«

»Das wissen wir noch nicht. Jedenfalls werde ich dafür sorgen, daß der Kerl nach Sibirien kommt. Daß du ihn mir nicht entwischen läßt!«

»Solange ich nicht selbst abgekratzt bin, nicht.«

Die ganze Gesellschaft stieg in Begleitung des Gefangenen zum obersten Stock hinauf, und der Kapitän wurde in eine Kammer gesperrt, deren einziges Fenster aus den Hof hinaussah. Das Licht nahm Barnekow aus Sicherheitsgründen, einen zweiten Stuhl zur Bequemlichkeit des Wärters mit hinaus. Diesem wurde nochmals die äußerste Wachsamkeit eingeschärft, und der Wirt versprach noch, ihm das Nötige gegen Hunger und Durst hinaufzuschicken.

Der Fleischergeselle verlor sich in brütende Schwermut, weil er sich schämte, daß die Mädchen ihn ausgelacht hatten. An eine von ihnen hatte er nämlich sein Herz verloren, und grade sie hatte die boshafte Bemerkung gemacht. Erst als ein Küchenjunge ihm einen Teller voll Rindfleisch mit Kartoffelsalat nebst einem Krug Bier brachte, erhellte sich sein Gemüt. Nachdem er seinen Hunger gestillt und Brocken verschluckt hatte, an denen ein Tiger erstickt wäre, wischte er seine feuchten Hände in seinem Haar ab und zog sich dann mit Hilfe eines Kammes, der noch einige Zinken besaß, einen neuen Scheitel.

*

Im Ballsaal war unterdes der Freiherr vom Stein mit Arndt und einigen Getreuen erschienen, und Marlene befand sich in großer Aufregung. Barnekow, der ihr versprochen hatte, sich des Ehrengastes anzunehmen und dafür zu sorgen, daß er nicht etwa vorzeitig mit Yorck zusammentraf, war ebenso wie ihr Mann spurlos verschwunden. Zum Glück kam der General Tettenborn ihr zu Hilfe und bat Stein, das Präsidium an der »Russentafel« zu übernehmen.

Es war eine bunte Gesellschaft von Offizieren aller Nationen, die dort saß, wenn auch die russische überwog. Aber auch Barnekows Schützling, der Vicomte de Rougé, der in seinem billigen Zivilanzug der gleiche Elegant geblieben war wie in seiner Uniform, hatte dort Platz gefunden. Die lebhafte und laute Unterhaltung der Herren, die schon fleißig dem Wein zugesprochen hatten, speiste sich hauptsächlich aus Kriegserlebnissen und wurde durch die Ankunft der neuen Gäste noch befeuert. Stein sowohl wie Arndt hatten, von Petersburg kommend, einen Teil der großen Armee in Kurland getroffen und waren begierig, Einzelheiten über die Katastrophe an der Beresina zu hören. Vieles, was man ihnen erzählt hatte, klang so nach Schauermärchen, daß sie es nicht glauben wollten. Aber die anwesenden Augenzeugen konnten ihnen auch die unwahrscheinlichsten Gerüchte nur bestätigen.

Yorck hatte eine Zeitlang im Nebensaal der Roulette zugesehn, doch ohne daß der rollenden Kugel die leiseste Regung seines Blutes geantwortet hätte. In jungen Jahren war er ein verwegener Spieler gewesen und hatte in den Kasinos von Amsterdam und Paris manchen Louisdor gelassen. Heute aber machte er die Erfahrung, daß diese Leidenschaft völlig in ihm erloschen war. Hatte der größere Einsatz, um den er in der letzten Zeit gewürfelt, sie in seinem Herzen ausgebrannt? War er alt geworden? Nachdem durch eine Nachricht, die er erhalten, die Spannung der letzten Zeit sich gelöst hatte, war er heute abend in besonders weicher Stimmung. Wenn er ehrlich sein wollte, sehnte er sich nach Ruhe und träumte davon, friedlich beim Kerzenschein zu Hause zu sitzen und dem Vorlesen seiner Frau zuzuhören oder auf dem Anstand in den verdämmernden Abend zu blicken.

Nach einiger Zeit kehrte er an den Tisch der Frau von Auerswald zurück. Aber auch die Unterhaltung der klugen und liebenswürdigen Frau konnte ihn nicht recht fesseln. Und doch entsprach sie eigentlich ganz dem Bild, das er sich in seiner Jugend von einer begehrenswerten Frau gemacht hatte: elegant, geistvoll, heiter und dabei von jener gesellschaftlichen Sicherheit, die man nicht lernen kann. Seine eigene Frau mit ihrer »nichts hermachenden Bescheidenheit« und duldenden Güte, dazu noch mit dem ewigen Unglück der Kinder, hatte ihn eigentlich ziemlich enttäuscht, und doch kehrten seine Gedanken seit einiger Zeit, halb abbittend, halb sehnsüchtig immer wieder zu ihr zurück.

Sein Interesse an dem Gespräch wurde erst lebhafter, als Frau von Auerswald von ihrem Besuch aus Ulrikenhof erzählte. Die Gräfin Marie, die anfangs ihr Erscheinen auf dem Ball zugesagt, hatte sich im letzten Augenblick doch nicht entschließen können.

»Ich finde es so schade«, sagte Frau von Auerswald, »daß sie sich ganz in ihren Schmerz vergräbt. Dazu ist sie doch noch zu jung. Und ihre Natur selbst steht mit ihrer Absicht im Widerspruch. Jetzt hinterher fällt mir eigentlich erst auf, wie wenig sie den Eindruck einer Trauernden machte. Man könnte beinah denken, sie lebe im Vorgefühl einer kommenden Freude. Aber das ist eben die Zeit, die alle Herzen beschwingt, und der sich auch die Einsamsten nicht entziehn können.«

»Warum glauben Sie, daß die, die mit ihren Toten leben, unglücklich sind?« fragte Yorck. »Die Toten sind unsere zuverlässigsten Freunde.«

»Aber sie entziehn uns doch den Ansprüchen des Lebens!«

»Nur wenn sie stärker sind als wir. Wenn wir sie aber zu uns hinaufheben, dann wird unser Leben reicher und ruhiger, die widrigen Launen des Geschicks können uns weniger anhaben. Der Schritt des Menschen ist milder, wenn er lebendige Gräber unter sich fühlt. Ich habe das an meiner Frau erlebt. Von sieben Kindern sind uns fünf gestorben. Mir sind sie wirklich tot, ich habe nur an den zuletzt gestorbenen Jungen noch einige Erinnerungen, die andern waren zu klein, als sie von uns gingen. Aber für meine Frau sind sie nicht gestorben, sie haben mit ihr weiter gelebt, sind größer und erwachsener geworden, und der Unterschied ist nur der, daß sie die Tugenden der Lebenden besitzen, aber nicht ihre Fehler. Nein, die Menschen, die mit ihren Toten leben, sind eher glücklich. Sie gleichen den Poeten, die ihre Schatten mit ihrem Blut nähren und liebenswürdigere Gestalten hervorbringen als das wirkliche Leben.«

»Aber wird die Liebe, die Ihre Frau Gemahlin ihren toten Kindern spendet, nicht ihren lebenden entzogen?«

»Eine Zeitlang vielleicht, aber später wurde sie doppelt ersetzt. Ich glaube, meine Kinder könnten sich keine bessere Mutter wünschen. Und selbst an Fernerstehende gibt sie von ihrer Liebe noch ab. Ich habe manchmal zu ihr gesagt: ›Zu dir kommen alle lahmen Hunde gelaufen.‹ Aber im Ernst: alle gedrückten Herzen wollen von ihr getröstet sein. Ich kann mich solchen Zulaufs nicht rühmen.« Er lachte, eine gemilderte Ausgabe seines alten grimmigen Lachens. »Ich könnte mir auch schlecht vorstellen, daß jemand auf die Idee käme, in seinem Kummer bei mir Trost zu suchen.«

»Sie sind eben vom Schicksal für eine andere Aufgabe bestimmt worden. Sie haben Ihren Namen ins ewige Buch der Geschichte geschrieben.«

»Daß Gott erbarm!« Nun lachte er wirklich grimmig. »Damit in fünfzig Jahren die Kadetten über mich ihr Urteil abgeben, ob ich ein Rebell bin oder nicht. Das heißt, einstweilen muß ich mich vor einem regulären preußischen Kriegsgericht verantworten.«

»Was? Ist das wahr, Exzellenz? Will der König Sie wirklich vor ein Kriegsgericht stellen?«

»Nur der Form halber. Ich soll meiner Tat ein harmloses Gesicht geben und beweisen, daß ich aus militärischem Zwang tun mußte, was ich um der Befreiung Preußens willen getan habe.«

»Der König ist wirklich ein zu großer Pedant.«

»Er ist ein sehr gewissenhafter Herr. Wie man mir glaubwürdig mitteilte, hat er nicht nur aus Gründen der Sicherheit mit dem Bruch der Allianz so lange gezögert, sondern auch, um abzuwarten, daß sich Napoleon zuerst ins Unrecht setzt. Dies Zögern kostet viel gutes Blut, aber der König hat den Ruhm, daß er den Fetzen Papier nicht zuerst zerrissen hat.«

»Ob auch das ins Buch der Geschichte kommt?«

*

Der Fleischergeselle hatte sich unterdes die Zeit damit vertrieben, mit Hilfe seines langen Messers seine Nägel zu reinigen. Doch ohne rechten Erfolg. Darauf begann er, eine der Zinken seiner eisernen Gabel in seine hohlen Zähne zu bohren, was eine ebenso unerwartete wie unerwünschte Wirkung hatte. Äußerst verdrießlich rückte er seinen Stuhl an das Treppengeländer und versuchte, etwas von den Geräuschen in der Tiefe aufzufangen, als er ein Pochen gegen die Kammertür vernahm. Wahrscheinlich hatte der Franzmann Angst, ein Gedanke, der seine Stimmung etwas aufheiterte.

Da ihm eine Unterhaltung mit seinem Gefangenen nicht verboten war, fragte er, was es gäbe? Er konnte nicht alles verstehn, hörte aber doch, daß da drinnen von Louisdoren gesprochen wurde, ein Wort, das selbst im Herzen dieses Naturkindes auf Verständnis stieß.

Nachdem er nochmals seinen Scheitel erneuert hatte, wobei er seine Tolle fest mit Spucke gegen die Stirn pappte, verbarg er sein Messer unter seiner Schürze und öffnete die Tür, schloß sie aber gleich wieder hinter sich und steckte den Schlüssel zu sich.

Der Kapitän hielt ihm in seiner flachen Rechten fünf Goldstücke hin und verlangte aufgeregt, er solle ihn hinauslassen. Der Fleischergeselle schüttelte den Kopf. Unten stand ein Doppelposten vor der Tür. Dann durch die Hintertür! Auch die war bewacht. Dann sollte er ihm Weiberkleider besorgen! Aus irgend einer Kammer konnte er doch welche nehmen!

Der Geselle schüttelte nur immer wieder den Kopf und sagte:

»Der Herr Obrist hat gesagt, er schlägt mich tot, wenn ich Sie auskratzen lasse. Und das ist ein Mann, sage ich Ihnen, der haut mit einem Hieb einem Ochsen den Kopf ab.«

»Mein Freund, ich verspreche Ihnen zehn Louisdors.«

»Und wenn Sie mir hundert böten; was nützt mir Ihr Geld, wenn ich nachher meine Knochen in einem Kräbsch nach Hause schleppen kann!«

»Befreien Sie mich! Aber schnell! Schnell! Es muß doch irgendwo ein Strick aufzutreiben sein.«

Als der Fleischergeselle wieder den Kopf schüttelte, drehte der Kapitän seine Brieftasche um und breitete den ganzen Haufen von Taler- und Rubelscheinen auf den Tisch aus, tastete das Innenfutter seiner Uniform ab und brachte noch zehn Louisdors zum Vorschein. Würde er es dafür tun?

Dem Fleischergesellen schwellen die Adern auf der niedrigen Stirn, er steht gebückt und keucht, als trüge er einen halben Ochsen auf seinem Rücken. Etwas Undeutliches knurrend, geht er hinaus. Die Augen des Gefangenen glimmen ihm nach wie brennender Schwefel.

Fünfzehn Louisdors, vierzig Taler, hundertdreißig Rubel, denkt Schielekarl. Und nebenan auf dem Boden liegen genug feste Stricke, die man zum Aufwinden von Fässern und Säcken benutzt. Aber wenn man den Strick in der Kammer findet, schlägt der Kapitän ihn tot.

Was nutzt ihm dann das Geld?

Er setzt sich wieder an das Treppengeländer. Als nach einiger Zeit aus dem Saal die Melodie »Schöne Minka, ich muß scheiden« heraufklingt, fühlt er, wie es weich in ihm aufsteigt.

Das Lied hat damals alle Herzen erobert; die Damen in den Salons, die Köchinnen an den Spülsteinen und auch der Fleischergeselle vergießen darüber Tränen.

Er denkt an Annchen. Wie würde die ihn liebhaben, wenn er ihr das Geld zeigte. Die würde rein närrisch werden vor Glück.

Und den Strick könnte ich ja wieder losmachen und auf den Boden zurückbringen und sagen, der Franzmann hätte sich an der Regenröhre heruntergelassen.

Aber dann bin ich ein Lump. Ich hab's dem Herrn Obristen doch versprochen, daß ich ihn nicht auskratzen lasse. Puh!

Er ist schwere Arbeit gewohnt, aber solch eine Last hat man ihm in seinem Leben noch nicht aufgepackt. Sie drückt ihm reineweg den Schädel auseinander.

Da sieht er unten auf der Treppe das Annchen und ruft ihr leise zu, heraufzukommen. Sie folgt etwas unwillig der Aufforderung, obwohl die Neugierde und der Wunsch, sich den Kapitän anzusehen, sie hergelockt haben.

Der Geselle erlaubt ihr, durchs Schlüsselloch zu spähen, aber sie kann die Gestalt kaum erkennen, da die Kammer vom Mondschein nur matt erhellt ist. Der Geselle meint, wenn man dem Kapitän ein Licht ließe, wäre er imstand, das ganze Haus anzustecken.

Während sie sich unterhalten, pocht es ungeduldig an der Tür.

»Siehst du, was er für Angst hat! Der weiß, was mit ihm geschieht, der Schuft!«

Und er erzählt dem Annchen, welches Angebot der Kapitän ihm gemacht hat. Fünfzehn Louisdors, vierzig Taler und hundertdreißig Rubel, wenn er ihn freiläßt! Aber er wird nicht so dumm sein. Es würde ihm die Wruke kosten. Der Obrist Barnekow ist ein Mann, der nicht mit sich spaßen läßt.

»Er braucht's ja nicht zu merken. Du trägst den Strick einfach auf den Boden zurück«, sagt Annchen sofort.

Sie sieht den Gesellen aufmerksam und nicht ohne eine gewisse Anerkennung an. Für sie ist er plötzlich nicht mehr der dumme Schielekarl, sondern ein Mann mit Geld, der sich einen Metzgerstand kaufen und ein eigenes Geschäft gründen kann. Sie lächelt ein leises, wohlwollendes, unbestimmt versprechendes Lächeln. Aber Schielekarl möchte Hilfe in seinem Gewissenskampf von ihr haben. Seine Stirn ist voller Wülste und Falten, und er schielt heimtückischer als je.

»Ich tu's aber doch nicht!« sagt er nach einer Weile. »Wenn ich ihn auskratzen ließe, das wäre eine Lumperei.«

»Recht hast du«, pflichtet sie ihm bei und nickt. Aber das Lämpchen von Anerkennung in ihren Augen erlischt. Er ist wieder der uninteressante Schielekarl.

»Gib mir einen Kuß!« bittet er.

»Warum?«

»Ich möchte ja bloß mal einen Kuß haben«, bettelt er.

Sie mißt ihn mit abweisenden Augen und schickt sich zum Gehen an. Aber vorher wirft sie noch einen Blick durchs Schlüsselloch und wundert sich, daß die Gestalt trotz allem Suchen nicht mehr zu sehen ist.

Sofort schließt Schielekarl auf und dringt in die Kammer. Sie ist leer, aber am Fensterkreuz hängt, aus einem zerschnittenen Laken zusammengedreht, eine Leine, die er aus Leibeskräften hinaufzuziehn beginnt. Plötzlich jedoch stürzt er mit großem Gepolter gleich bis zur Tür zurück und hätte das Annchen beinah mit zu Boden gerissen.

Nun bleibt den beiden nichts übrig, als die Treppe hinunterzueilen. Auf dem Flur erzählt Schielekarl gleich den herumstehenden Soldaten, was geschehen ist. Mit Hilft einiger Windlichter wird der Abgestürzte bald auf dem Hof gefunden. Er hat sich das Genick gebrochen und gibt kein Lebenszeichen mehr von sich.

Unter die Soldaten hat sich auch der Geheimpolizist Keller gemischt. Er nimmt den vor Aufregung sturen Schielekarl gleich in ein scharfes Verhör, teils aus Diensteifer, teils auch, um sich vor der hübschen Mariell ein bißchen aufzuspielen.

Obwohl das Geld bei dem Toten gefunden wird, muß der Geselle seine Taschen umkehren und sich untersuchen lassen. Und warum hat er nicht sogleich Meldung erstattet, als der Gefangene den Bestechungsversuch machte? Dann wäre die Schweinerei nicht passiert. Man hätte aus dem Gefangenen sicher noch wichtige Nachrichten herausgekriegt. Was kann der Geselle zu seiner Rechtfertigung sagen?

Der steht da wie ein entlarvter Verbrecher und kann gar nichts sagen. Vielleicht hofft er, daß Annchen ihm zu Hilfe kommt, aber Annchen kümmert sich nicht um ihn, sondern ist nur damit beschäftigt, die schmunzelnden Blicke, die der Gendarm ihr spendet, zu quittieren und verstohlen zu erwidern.

Erst das Erscheinen Barnekows rettet den Gesellen aus dem allgemeinen Unwillen. Der Obrist klopft ihm auf die Schulter und meint, Schielekarl solle sich die Sache nicht weiter zu Herzen nehmen. Die Hauptsache sei, daß der Schuft tot sei und niemandem mehr schaden könne.

Während die Leute sich zerstreuen, steht der Geselle noch immer ganz benommen und versucht vergeblich, sich in seinen Gefühlen zurechtzufinden.

»Ja, Schielekarl, so geht's!« lächelt Annchen ihm mitleidig spöttisch zu und flitzt in ihre Küche zurück.

Da nichts das Herz so freudig stimmt wie das Gedenken vergangener Leiden, gingen die Wogen der Unterhaltung an der »Russentafel« bald so hoch, daß alle durcheinander redeten. Tettenborn hielt den Augenblick für gekommen, durch einige musische Darbietungen seines Zöglings Diable der befeuerten Stimmung einesteils den rechten Ausdruck zu geben und sie andernteils zu besänftigen. Diable, der schon lange darauf gewartet hatte, seine Kunst zu zeigen, sprang sofort auf den Tisch, machte vor dem Freiherrn und Arndt seinen Kratzfuß und begann mit schmetterndem Elan patriotische Gedichte vorzutragen, wie diese:

» Tremblez, ennemis de la France,
Rois ivres de sang et d'orgueil!
Le peuple souverain s'avance,
Tyrans, descendez au cercueil!
«

Wenn auch nicht alle der Sprache so kundig waren wie Stein, der mehr französisch korrespondierte als deutsch, so verstanden doch viele genug, um den Sinn der Verse zu erfassen. Aber nur Stein und Arndt, von den tapferen Kriegern spürte nicht einer den peinlichen Widerspruch, daß sie, vom Haß gegen Napoleon und vom heiligen Willen, seine Heere zu schlagen, beseelt, sich gleichzeitig von einem kleinen Pariser Gassenjungen zurufen ließen: »Zittert, ihr Feinde Frankreichs!«

»Wenn ich nur wüßte, wie es in den Köpfen unserer jungen Helden aussieht«, wandte Arndt sich an den Freiherrn. »Es ist, als hätten sie noch gar nicht begriffen, daß auch die Sprache und die Poesie der Wesensausdruck eines Volkes sind, sondern als meinten sie, die schwebten in einer niemandem und der ganzen Welt gehörenden Atmosphäre.«

Stein machte dem Unfug ein Ende, indem er sich an Tettenborn wandte: es sei nun wohl genug der blutrünstigen Könige und der edlen Republikaner. Ob der kleine Akteur nicht etwas Heiteres zum besten geben könne?

Das war nun grade Diables eigentliches Repertoire. Sogleich rundete er den Arm, tat, als wenn er auf einer Laute klimperte, und begann mit zarter Stimme:

»Im süßen Duft der Rosen
Lag Schäfer Collinet
Und pflückte seiner losen
Geliebten ein Bukett.«

Dann fuhr er mit schämischen Gebärden und listigem Augenzwinkern fort:

»Und etwas anderes noch,
Ich wag' es nicht zu sagen.
Und etwas anderes noch,
Wer wird nach allem fragen?«

Das leichtfertige Lied war der Ausdruck einer Zeit, die in den Blutströmen der Revolution ertränkt und im Geschützfeuer der Napoleonischen Kriege niederkartätscht war. Daß aber von ihrem Geist auch in dieser Generation noch etwas lebendig war, verriet die Begeisterung, mit der alle mitsangen. Als aber diesem Lied, das seine Frechheit unter Grazie verbarg, andere, plumpere folgten, deren Zweideutigkeit gar nicht mißzuverstehn war und durch die Mimik Diables noch anstößiger wurde, wandte der Freiherr sich wieder an Tettenborn:

»Ich wollte, Ihr hättet diesen Schlingel in seinem Marketenderwagen erfrieren lassen. Das wäre für sein Seelenheil besser gewesen. Was soll nur aus ihm werden?«

»Nun«, meinte Tettenborn gutmütig, »unterwegs wird sich wohl irgendein gutherziger Pastor oder Küster finden, der sich seiner annimmt.«

Nach einiger Zeit erhob Stein sich mißmutig und schlenderte durch den Säulengang, um zu seiner Loge zu gelangen. Aber er war noch nicht weit gekommen, als Marlene ihn begrüßte, die auf diesen Augenblick schon lange gewartet hatte. Sie fragte, wie es ihm hier gefiele, und er klagte ihr sogleich den Grund seiner Verstimmung.

»Wie ist es nur möglich«, sagte er, »daß so treffliche Männer wie unsere jungen Helden zugleich so frivol und leichtsinnig sind! Sie sollten sich wirklich ihrer hohen Aufgabe mehr bewußt sein.«

Marlene wußte nicht recht, was sie antworten sollte. Sollte sie sich schuldig bekennen und gestehn, daß auch sie schon mehr als einmal an den Künsten Diables ihr Vergnügen gehabt hatte? Das würde ihren Onkel nur noch mehr verstimmen. Sollte sie mit ihm ins gleiche Horn blasen und seinen Zorn dadurch vielleicht noch schüren?

In ihrer Verlegenheit schwieg sie. Als er aber immer grimmiger wetterte, meinte sie schließlich, man müsse mit den armen Männern nicht gar zu streng ins Gericht gehn. Sie seien nun mal so: bald leichtsinnig und frivol, aber dann auch wieder von Herzen gut und fromm, bald donnerten sie, daß man sich vor Angst verkriechen möchte, bald könne man sie um den Finger wickeln.

Da lachte Stein ein bißchen und meinte, sie verstände es wohl ganz gut, mit dem ihrigen fertig zu werden. Aber wo steckte er? Es wunderte ihn, daß er sein junges Weibchen so lange allein ließ.

Ja, wo blieb er nur? Er sowohl wie Barnekow hatten sie schnöde im Stich gelassen. Seit mindestens einer Stunde suchte sie die beiden vergeblich.

In diesem Augenblick nickte ihr Frau von Auerswald, die mit Yorck am Arm in einiger Entfernung vorbeiging, bedeutsam zu, zum Zeichen, daß sie im Begriff stand, ihren Begleiter in das verabredete Zimmer zu führen.

Marlene schickte ein Angstgebet zum lieben Gott, er möge ihr einen guten Einfall senden, damit auch sie ihren Onkel geschickt zu demselben Ziel geleite. Aber all ihre Munterkeit und Unterhaltungsgabe ließen sie im Stich. Zum Überfluß kam nach einiger Zeit auch noch ein Regimentskamerad ihres Mannes, sie um einen Tanz zu bitten.

Sie erteilte ihm beinah unfreundlich einen Korb.

»Kind, warum tanzt du nicht lieber mit dem schmucken Leutnant, statt dich mit mir altem Mann abzuplagen? Ich muß mich ohnehin bald verabschieden, denn es gibt noch verschiedenes zu erledigen.«

»Aber nein, Onkel, das werden Sie mir nicht antun! Ich hatte mich so auf eine Unterhaltung mit Ihnen gefreut.«

»Nun, ein Viertelstündchen will ich dir zuliebe noch bleiben«, meinte er mit einem Blick auf seine Uhr, »wenn ich auch herzlich müde bin. Ich komme keinen Abend vor Mitternacht ins Bett.«

Einen Gedanken! Einen Gedanken! flehte Marlene aufgeregt. Dabei warf sie ihrem Onkel einen verstohlenen Blick zu. Er sah wirklich sehr abgespannt aus. Die sonst so funkelnden Augen blickten matt, und von der spitz vorspringenden Nase zog sich eine tiefe Bahn zu den dünnen Lippen. Nun unterdrückte er auch noch ein Gähnen. Wortlos ging sie an seiner Seite und spürte in ihrem Leib ein so heftiges Schneiden, daß sie sich am liebsten gekrümmt hätte. Kein Gedanke! Kein Gedanke! Nicht der leiseste Schimmer eines Gedankens!

Stein, der von seinem Ärger nicht loskommen konnte, nahm das Gespräch von vorhin wieder auf und sagte: er gönne den jungen Leuten ja von Herzen ihre Fröhlichkeit. Aber warum mußten sie die mit gallischen Obszönitäten bestreiten? Gab es doch deutsche Poeten genug, deren Gedichte sich zum Vortrag im geselligen Kreise eigneten: Klopstock, Schiller, um von dem großen Goethe gar nicht zu reden.

Goethe! dachte Marlene entzückt. Goethe, du bist mein Retter! Und rasch erzählte sie ihrem Onkel ihr Erlebnis mit Barnekow, der den Edelmut für überflüssiges Soldatengepäck erklärt und beinah im selben Atemzug die Mahnung: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! so herrlich befolgt hatte.

Diese Geschichte schien ihrem Onkel recht von Herzen zu gefallen.

»Ja, der Barnekow ist ein trefflicher Mann!« lobte er. »Und was für ein großmütiger Gedanke, uns alle zu diesem Ball einzuladen. Ehe ich gehe, möchte ich ihn gern noch sehn, um mich bei ihm zu bedanken. Wenn ich nur wüßte, wo er steckt.«

»Ich glaube, ich kann Sie hinführen«, sagte Marlene. »Ich hoffe wenigstens.«

Ihre Knie zitterten vor Aufregung, und sie hatte gräßliche Leibschmerzen. Aber wie gern ertrug sie die, wenn nur alles gut ablief!

Sie stolperte ein wenig, während sie die Stufe, die zu dem kleinen Raum führte, hinaufstieg, aber dann gewann sie gleich ihre Geistesgegenwart wieder und spielte mit großer Geschicklichkeit die Überraschte. Während Frau von Auerswald hurtig den Freiherrn in Liebenswürdigkeiten einwickelte, attackierte Marlene den strengen General mit so herausfordernder Koketterie, daß der überrascht und abweisend die Stirn runzelte. Ehe die beiden Herren noch recht begriffen, was eigentlich mit ihnen geschehen war, hatte Frau von Auerswald ihnen klargemacht, daß sie gewiß wichtige Dinge zu besprechen und den Wunsch hätten, allein gelassen zu werden.

»Kind, daraus können wir wirklich stolz sein«, sagte Frau von Auerswald zu Marlene, als sie draußen waren. »Jetzt haben auch wir auf dem Schachbrett der Politik unsern Zug getan.«

»Wenn nur alles gut geht! Ich habe solche Angst.«

»Es wird schon. Kommen Sie nur. Sie sind ja ganz blaß und müssen sich durch einen Schluck Champagner stärken.«

»Nein«, versetzte Marlene. »Ich bleibe hier, als Schildwache, damit niemand die beiden stört.«

Hin und wieder kam ein Bekannter auf sie zu, um sie zu einem Tanz zu engagieren. Aber sie winkte jedem ab, und wenn er nicht gleich gehn wollte, flüsterte sie ihm aufgeregt zu:

»Still! Still! Da drinnen sitzen Yorck und Stein.«

Und jeder, auch der kleinste Leutnant, begriff, was das zu bedeuten hatte.

Nach einer Weile kamen Barnekow und ihr Mann, entschuldigten sich wegen ihres langen Ausbleibens und berichteten zu ihrer Rechtfertigung ihr Erlebnis mit dem angeblichen russischen Kapitän.

Aber Marlene hatte im Augenblick wenig Interesse für diesen Vorfall und bat Barnekow nur, etwas leiser zu sprechen, indem sie darauf hinwies, wer sich augenblicklich in dem Zimmer befand.

»Sind sie schon lange da?« fragte ihr Mann. Er legte sein Ohr an die Tür. »Man hört nichts von ihnen. Da geht's bei unsern Auseinandersetzungen lebhafter zu«, sagte er lächelnd zu Barnekow.

»Ja, ihr macht's mit Lungenkraft, die aber machen's mit Geisteskraft. Nun geht nur. Ich treffe euch später. Ihr seid doch am Russentisch.«

Eine Viertelstunde nach der andern verstrich, und nichts regte sich da drinnen. Wieder ergriff sie ihre alte Angst und ihr nervöser Magenschmerz. Konnte es sein, daß alles fehlgeschlagen war? Daß die Gegnerschaft der beiden sich durch dies Gespräch noch heilloser vertiefte?

In ihrer Aufregung wagte sie durchs Schlüsselloch zu sehn. Es war nur ein flüchtig tastender Blick, der ihr die beiden zeigte, wie sie in stummen, schweren Gedanken einander gegenübersaßen. Dann fuhr sie zurück, als hätte sie ein Sakrileg begangen, und berührt von dem tragischen Atem der Entschlüsse, die dort drinnen zur Entscheidung standen, war sie so erschüttert, daß sich ihr die Tränen in die Augen drängten. So klein, so nichtig kam sie sich mit ihrer Existenz vor! Auch sie hatte ihre Sorgen, auch sie brachte Opfer, lebte in Ängsten und Hoffnungen und kämpfte für Ziele. Aber wie leicht, wie mühelos war ihr Lebensflug gegenüber der Schicksalsbürde der beiden!

Endlich, endlich öffnete sich die Tür. Stein trat als erster heraus und ging gesenkten Hauptes, ohne Marlene zu bemerken, vorbei. Yorck aber blieb bei ihr stehn, und nachdem er ihr mit stummem Dank die Hand gedrückt hatte, strich er ihr leise übers Haar, indem er sagte:

»Ihr Onkel ist ein großer Mensch. Was ich nie ganz gekonnt habe, hat er vermocht: er hat sich selbst bezwungen.«

Als er Stein erreicht hatte, schob er, wie zum Ausdruck des neuen Bundes, seinen Arm unter den des andern. Die beiden hatten die Absicht, sich in die Loge der Frau von Auerswald zu begeben, hatten aber kaum einige Schritte durch den Saal getan, als die Gäste auf sie aufmerksam wurden und stutzten. Das Staunen und Raunen, das Kopfwenden und heimliche Fingerzeigen dauerte vielleicht einige Minuten – dann kam der Menge auf einmal zum Bewußtsein, was diese Erscheinung bedeutete: daß der alte Hader geschlichtet und die Einigung vollzogen war. Es war, als sei mit machtvollem Klang das Tor der deutschen Freiheit aufgesprungen, und auf der Kampfbahn schritten ihre ersten Streiter dem neuen helleren Morgen entgegen.

Aus schüchternen »Seht doch!« und »Sollte man's glauben?«, aus vereinzelten Hoch- und Vivatrufen, aus Hurra und Händeklatschen schwoll ein durch den ganzen Saal brandender Jubel empor. Die beiden wollten sich in den Hintergrund ihrer Loge zurückziehen, aber sie mußten sich immer wieder, vom Augenblick selbst ergriffen, der ergriffenen Menge zeigen.

Dies war der Höhepunkt und das festliche Ende von Barnekows berühmtem Ball. Als die Loge der Frau von Auerswald sich leerte, fand bald danach ein allgemeiner Aufbruch statt. Es war, als wollte jeder den einen großen Eindruck rein und als seinen letzten mit nach Hause nehmen.

 

Am Morgen nach dem Ball sitzt Barnekow in seinem Zimmer, wie ein junges Mädchen: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Sein Ball – Barnekows Ball, wie er bis ans Ende aller Tage heißen wird – ist über alle Maßen glänzend verlaufen, ist der schönste Tag seines Lebens gewesen. Aber dafür befindet er sich jetzt auch in einer Klemme, wie sein schlimmster Feind sie nicht boshafter hätte ausdenken können.

Er hat den Befehl bekommen, morgen mit seinen Kosaken auszurücken, und kein Pferd! Eine prachtvolle Equipierung hat er sich erstanden, aber einen Gaul zu kaufen, in seiner Freude ganz vergessen. Dabei steht draußen ein Roßkamm und bietet ihm für dreihundert Taler den schönsten Rappen an.

Aber würde er auch nur ebenso viele Groschen verlangen, Barnekow könnte ihn doch nicht kaufen, denn er ist, wie er sagt, so blank, daß ein Frauenantlitz ein Tintenfaß dagegen ist.

Er hat schon den Diener zu allen seinen Freunden herumgeschickt, und überall mit demselben trostlosen Resultat. Sein Intimus Tettenborn ist gleich selbst erschienen, um sich zu erkundigen, ob vielleicht ein Aderlaß angebracht sei? Zu glauben, er, Tettenborn, hätte nach diesem Ball noch einen roten Heller! Ja, wenn's noch etwas Zeit hätte, bis wieder Krieg ist.

»Ach, Schei…benstand«, sagt Barnekow, »wenn erst wieder Krieg ist, mache ich in vier Wochen so dicke Beute, daß ich ganz Königsberg aufkaufe. Da soll doch gleich das heilige –«

»Was ist dir?« fragt Tettenborn. »Bist du blödsinnig geworden?«

»Still!« flüstert Barnekow und verharrt wohl eine Minute lang, wie vom Blitz zugleich getroffen und erleuchtet, bis er erschöpft in einen Stuhl sinkt.

»Das war 'ne Anstrengung!«

»Was hast du denn gemacht?«

»Nachgedacht. Aber ich habe auch was entdeckt. In einem von diesen sau … ledergebundenen Schwarten muß es drin stecken.«

Er sucht, findet die Postille und schlägt sie auf.

»Weißt du, was da steht?«

»Donnerwetter, dreihundert Taler.«

»Nein, sondern: Merket auf, wie wunderbar der Herr seine Heiligen führet. – Tettenborn, nächsten Sonntag gehe ich in die Kirche. Es ist ja'ne Schande, was für ein Heidenleben man führt.«

»Dann bete für mich mit!«

»Ich habe schon für mich genug zu beten. – Aber nun komm! Der Kerl muß uns den Gaul für hundert lassen.«

Während die Kleinen sich mit ihren persönlichen Sorgen plagen, macht Yorck dem Freiherrn seine Aufwartung und findet ihn schon vor halb gepackten Koffern sitzen.

Stein leidet an einem so heftigen Anfall von Podagra, daß er sich kaum von seinem Stuhl erheben kann. Aber um nichts in der Welt hätte er von Yorck die Aufforderung hören wollen, er möge seiner Krankheit wegen seine Abreise noch hinausschieben. So verbeißt er seine Schmerzen, und die beiden Herren führen, da alles Wichtige schon den Abend vorher besprochen ist, mit heiterer Miene eine leichte Unterhaltung.

Zum Abschied meint Yorck, da der Freiherr nach Breslau reise, wo sich zur Zeit der Hof befindet, werde er unter den dortigen Herren gewiß manchen alten Bekannten wiedersehn.

Als hätte Stein ein Vorgefühl davon, wie man ihn dort »als mißliebiges Subjekt« schneiden und meiden werde, meint er:

»Die Hofschranzen werden mich wohl kaum wiederkennen, aber bestimmt meine alten Freunde, die Aufpasser und Spione. Die werden schon dafür sorgen, daß ich nicht unter Einsamkeit leide.«

*

Nach dem Verzicht Steins ist jeder Schatten fremder Einwirkung von dem Befreiungswerk verschwunden. Wenn auch der Vorsitzende bei der Eröffnung des Landtages verkündet, daß die Versammlung auf Veranlassung des kaiserlich russischen Bevollmächtigten einberufen sei: was die Herren Stände besprechen und beschließen, entspringt ihrer eigenen Initiative.

Ihr erstes ist, vor der Gründung der Landwehr und des Landsturms, die sie planen, eine Deputation an Yorck zu senden, damit er ihnen seine Vorschläge bekannt gebe. Sie geben ihm damit eine Genugtuung, die er in ihrem ganzen stolzen Glanz empfindet. Die besten, angesehensten Männer des Landes rufen ihn. Es macht sie nicht einen Augenblick irre, daß die förmliche Absetzung und des Königs höchster Unwille noch immer auf ihm lasten, so fest ist ihr Glaube an sein gutes Recht und ihre Überzeugung, daß er der echte Bannerträger der Befreiung ist.

Yorck folgt der Aufforderung auf der Stelle. Als Generalgouverneur Preußens und als treuester Untertan des Königs trete er in ihre Mitte, spricht er zu der Versammlung, um sie aufzufordern, seine Vorschläge zur Bewaffnung des Landes und zur Verstärkung der Armee auf das kräftigste zu unterstützen.

Die Stände nehmen ohne Feilschen, nach kurzer Beratung, seine Entwürfe an. »Wenn man bedenkt«, schreibt später der Präsident von Schön an den Staatskanzler, »was diese Provinz vor allen andern gelitten hat, Greuel, die keine andere erfuhr, Verluste, die keine andere erlitt, und daß keine besoldete Autorität diesen Eifer weckte oder anregte, sondern Bürger die Sache anfingen und mit heiligem Eifer betrieben, so muß man sich freuen, zu einem so braven und treuen Volke zu gehören.«

Während Yorck fortfährt, für den König und die Sache der Freiheit zu wirken, ist er selbst noch immer in Ungewißheit, ob die öffentliche Brandmarkung durch die Zeitungen zu Recht besteht oder nicht. Fast zwei Monate dauert dieser Zustand.

Am 19. Februar bricht er aus Königsberg auf und folgt seinem Korps auf dem Marsch nach dem Westen. Da endlich, kurz vor den Toren Berlins, bekommt er eine Königliche Kabinettsorder. Er versammelt seine Truppen, die alle das grüne Reis der Befreiung an ihren Mützen tragen, um ihnen des Königs Armeebefehl bekanntzugeben:

»Nachdem Ich durch die vom Generalleutnant v. Yorck eingereichte Rechtfertigung der mit dem Russisch-Kaiserlichen General v. Diebitsch in Tauroggen abgeschlossenen Konvention und durch das Urteil der zur Untersuchung dieser Sache ernannten Kommission Mich überzeugt habe, daß der General v. Yorck wegen jener Konvention in jeder Beziehung ganz vorwurfsfrei und zu ihrer Annahme nur durch die Umstände, welche den verspäteten Abmarsch des zehnten Armeekorps aus seiner Stellung vor Riga veranlaßten, durch die gänzliche Trennung des zehnten Armeekorps in sich und durch die in jener Lage sehr vorteilhaften Bedingungen der ihm angetragenen Konvention bewogen worden ist, so mache Ich solches der Armee hierdurch bekannt, mit dem Beifügen, daß Ich den Generalleutnant v. Yorck solchem nach nicht nur in dem Kommando des ihm untergebenen Korps bestätige, sondern ihm zum Beweis Meiner Allerhöchsten Zufriedenheit und Meines ungeteilten Vertrauens auch noch den Oberbefehl über die Truppen des Generalmajors v. Bülow übertragen habe.

Breslau, den 11. März 1813.«

Yorck ist nicht gewohnt, von seinen Truppen Sympathiekundgebungen entgegenzunehmen; ihm genügt es, wenn sie seinen Befehlen gehorchen. Als aber nach Verlesung dieses Befehls der Jubel so spontan und stürmisch aus dem Grund aller Herzen hervorbricht, als immer neue herzhaft derbe Zurufe nach Soldatenart ihm beweisen, wie seine Leute an ihm hängen und seinen Freispruch und Triumph als ihren empfinden: da dringt diese Kundgebung doch wie milder Glockenklang an sein eisernes Herz.

Er tritt in den Kreis und dankt seinem Korps für das Vertrauen, das es ihm sowohl während des Feldzugs als auch in einer späteren ungewissen Zeit mit steter Zuversicht bewiesen habe. »Diese Zuversicht erwarte ich von euch auch jetzt, wo wir einem heiligen Kampf entgegengehn. Denn es gilt die Unabhängigkeit des Vaterlandes, es gilt, ob wir Preußen bleiben oder die schmählichen Fesseln eines wütenden Eroberers tragen sollen.«

Statt nun aber, wie es bei solchen Anlässen üblich ist, die Soldaten zu Tapferkeit und Zuversicht zu entflammen, fährt er fort, während die stete Todesbereitschaft, in der er seit Monaten gelebt hat, aus ihm hervorbricht:

»Von diesem Augenblick an gehört keinem von uns mehr sein Leben; keiner muß darauf rechnen, das Ende des Kampfes erleben zu wollen; er sei freudig bereit, sein Leben dahinzugeben für das Vaterland und den König.«

Dann nach der Seite sich hinwendend, wo der Kommandierende des Leibregiments steht, der Obrist v. Horn, ruft er:

»Soldaten, jetzt geht's in den Kampf! Ihr sollt mich an eurer Spitze sehn, tut eure Pflicht! Ich schwöre euch, mich sieht ein unglückliches Vaterland nicht wieder.«

Der alte Horn aber, der tapfere Bayard des Korps, wie einst Macdonald ihn getauft hat, wird von diesen Worten so ergriffen, daß er aller militärischen Disziplin zuwider Yorck in die Arme stürzt und ruft:

»Ich und das Leibregiment und alle werden dem Beispiel des Generals folgen.«

»Das soll ein Wort sein!« ruft ein Soldat.

»Das soll ein Wort sein!« hallt es vieltausendfach aus der ganzen Schar.

Nachdem das Korps sich wieder in Marsch gesetzt hat, kommt ihm eine glänzende Kavalkade entgegengeritten. Voran der Prinz Heinrich von Preußen, vom Grafen Wittgenstein, dem russischen Gouverneur, Fürsten Repnin, und vielen russischen und preußischen Generalen begleitet. Nach dem kurzen Halt der Begrüßung geht es mit klingendem Spiel dem Königstor zu. Unabsehbar wogt die Menge durch die Straßen, alle Fenster und Balkone, die Dächer selbst sind mit Menschen besäumt, die dem General zujubeln.

Der aber verläßt, kaum daß man das Tor passiert hat, die bunte Ehrengarde und setzt sich an die Spitze seines Korps. Mit seinen Offizieren und Soldaten, die mit ihm alles Schwere dieses Feldzuges geteilt haben, will er auch den Triumph dieses festlichen Einzuges teilen. Ihnen fühlt er sich verbunden.

Aber mit seinen letzten Wesensgründen, die ein eisernes Schicksal geformt hat und die selbst in dieser freudigen Stunde seine Züge so streng und unnahbar erscheinen lassen, gehört er da wirklich zu seinem Korps? Gehört er zu irgendeinem Korps der Welt? Haben die Winternächte Mitaus mit ihren Gewissenskämpfen und dunklen Verzweiflungen ihn nicht in solche Einsamkeit verbannt, daß er nie wieder wie andere Menschen sich harmlos des Sonnenlichts freuen kann? Zu tief weiß er um das schicksalhafte Alleinsein dessen, der Bahnbrecher ist. Niemand kann ihm in seinen Kämpfen beistehn, niemand seine Bürde erleichtern. Die Menge sieht den Erfolg und weiß nicht, um welchen Preis er erkauft ist. Die Menge lebt mit dem Tag und der Stunde, jubelt im Glück, weint, wenn das Geschick sich ihr widrig zeigt. Er aber weiß, daß es kein Aufhören des Ringens gibt. Siege sind nur Atempausen. Durch das Tor des Erfolges schreitest du zu noch härteren Proben. Von Gott erkoren, heißt zu ewigem Kampf geboren sein.

* * *


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