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Erstes Buch

Jugendtage in Paris

Reifenwerd, im Frühling 1879.

Die Schmerzen und Nöte der Lehrerprüfung am Seminar sind vorüber. Nach dem richtigen Lauf der Dinge hätte ich nun schon als Vikar oder Verweser an einer Schule unterkommen sollen. Es herrscht aber im Kanton ein ziemlicher Überschuß an Lehrkräften, und mit anderen muß ich warten, bis sich mir irgend ein bescheidener Posten erschließt. Mißvergnügt blickt der Vater, Mechaniker und Werkstättenchef einer großen Maschinenfabrik, auf meine erzwungene Muße und meine vergeblichen Versuche, vorübergehend als Schreiber ein Stück Brot zu verdienen.

Gestern brach sein Zorn los: »Du weißt, ich habe es nie leiden mögen, daß du dich dem Lehrerstande zugewandt hast, und dein jetziges Herumsitzen und Nichtstun ertrage ich nicht mehr. Es ist eine Schande vor den Nachbarn und dem Dorf. Nun habe ich mich für dich auf einen Ausweg besonnen: du reisest übermorgen nach Paris, suchst dir dort ein Stück Brot und wartest ab, bis dich das Erziehungsamt ins Land zurückruft. Da hast du hundert Franken für die Reise und das erste Einleben, und im übrigen hoffe ich, gehe dein Aufenthalt ohne Zuschüsse von mir ab. Du wirst dich an das Sprichwort halten müssen: ›Friß Vogel oder stirb!‹ Reicht dir aber doch einmal das Wasser ans Kinn, so erinnere dich, daß es in der Stadt einen Telegraphen und eine Schweizer Gesandtschaft gibt – die werden mich finden!«

So hart nun die Rede des Vaters in mein Herz geklungen hatte, in der Nacht empfand ich mein neunzehnjähriges Glück: Mir erschließt sich die Welt! Ich darf reisen wie der Vater selber, wie sein junger Bruder Johannes, die beide als Maschinenbauer die Weite der Länder gesehen und mir genug von ihrer Schönheit erzählt haben.

 

Und nun schreibe ich mein Tagebuch schon in Paris!

Der Abschied vom Elternhaus gab sich leichter, als ich mir gedacht hatte. Die Mutter mit den warmen Braunaugen sagte einfach: »Bub, tue Recht, und wenn eine Versuchung an dich herantritt, denke an mich, wie ich dich liebe und für dich bete!« Je näher die Reisestunde heranrückte, umso milder wurde der Vater. Er begleitete mich nach St. Jakob, besorgte noch einige Anschaffungen für mich und löste mir sogar die Fahrkarte, ohne meinen Hunderter zu beanspruchen. »Möge dir also Paris die Augen öffnen, und vergiß nie, daß du einen ehrlichen Namen trägst. Darauf gibst du mir jetzt einen herzhaften Kuß!«

Ein unerhörtes Erlebnis, daß der Vater und ich uns küßten! Ich erholte mich aus meiner Verwirrung erst, als der Zug aus den Schluchten des Jura hervorglitt, bei Delle das Vaterland verließ und die Sonne als ein feuersprühendes Rad in den Ebenen Burgunds versank. In der Nacht nagte ich an einem Schinkenbein, das mir die Mutter als Wegzehrung mitgegeben hatte. Der Gedanke, der mich auf der Fahrt am stärksten bewegte, war: Um Gottes willen, wenn Paris gegen mich nur so barmherzig ist, daß ich den Vater nie um eine Unterstützung bitten muß! – Hungern? – Ja, vielleicht! Nur nicht um Geld nach Hause schreiben!

In unermeßlicher Spannung trat ich frühmorgens in das Leben der Stadt. Ich hatte schon als Seminarist so viele Schilderungen ihrer Straßen und Plätze, ihres Lebens und Treibens gelesen, daß mich ihr Lärm und Staub, die Fülle und strömende Gewalt der Bilder nicht sonderlich überraschte; ich spürte nur den mächtigen Nervenreiz, die ungemeine Lebensbejahung, die dem Neuling daraus entgegenströmen. Erst um Mittag sollte ich einen Bekannten treffen, Doktor August Ulrich aus Stein am Rhein, der es übernommen hatte, mir im Quartier Latin Wohnung zu bereiten. Was nun tun den langen Vormittag? Ich erkletterte das Dach eines Pferdebahnwagens und ließ mich im Genuß der Stadt da- und dorthin führen. Dabei erlebte ich aber eine niederschlagende Überraschung. Ich verstand den Schaffner nicht, ebensowenig die Nachbarn, die ich in ihrem Geplauder belauschen wollte, am wenigsten die paar, die mit mir selber eine Unterhaltung anzuknüpfen versuchten. Zu meinem Französisch schüttelten sie den Kopf: »Es muß eine merkwürdige Provinz sein, aus der Sie kommen!«

In der Nähe der Tuilerien beendigte ich meine Fahrten, setzte mich im Garten auf eine Bank und grübelte in einer ersten Anwandlung des Heimwehs über das Rätsel: Sieben Jahre Unterricht im Französischen, und jedes Buch liesest du sicher; aber im lebendigen Alltag stehst du da wie der Hirtenknabe vom Berge. Dir fehlen alle Kleinmünzen des tatsächlichen Lebens. Und ich soll in der Stadt ein Stück Brot verdienen, rasch, wenn möglich schon morgen!

Da gesellte sich ein alter Herr zu mir und begann ein Geplauder über die Morgenstimmung der Bäume, Blumen und Vögel. Diesen Mann verstand ich, und als er mich fragte: »Woher? – wozu?«, legte ich ihm freimütig meine Gedanken von vorhin dar. »Getrost, junger Herr!« lächelte er unter silbernem Schnurrbart hervor. »Jeder Franzose spürt doch, daß Sie es mit der Grammatik ernst genommen haben. Sie kommen unter uns schon vorwärts.« Mit einem höflichen Wort verabschiedete er sich, um seinen Spaziergang fortzusetzen; sein Gespräch war mir aber in meinem Verzweiflungsanfall eine Wohltat gewesen.

Nach und nach belebte sich der Park immer mehr mit Lustwandelnden, namentlich Erzieherinnen, die ihre Schützlinge zum Spiel ins Grüne führten. Gegen elf Uhr stieg plötzlich ein Fesselballon aus den blühenden Baumkronen gegen den blauen Himmel empor, schwebte eine Weile als graugoldige Kugel über der weiten Umgebung und wurde an einer Leine wieder zur Erde gezogen. Das Schauspiel weckte meine Neugier. Ich trat in die Einfriedigung des Luftschiffplatzes, sah, wie sich ein Strauß blühender, jubelnder Jugend emportragen ließ, und als der Ballon zum dritten Male stieg, war ich selber Gast im Korb. Wir erreichten eine Höhe, welche die Aussicht über die weite, bläulich erschimmernde Stadt freigab, über die silbernen Windungen der Seine, die Züge der Boulevards und die Menge der Quartiere. Die Fahrt erschien mir aber recht kurz, am liebsten hätte ich gleich beim folgenden Ausstieg wieder mitgetan. Ich war wohl leichtsinnig! Wie durfte ein Mensch, der vielleicht schon in ein paar Tagen nicht weiß, woher sein Brot nehmen, Ballon fahren?

Um die Mittagszeit wandte ich mich über die lehmfarbene, doch hübsch mit Schiffen belebte Seine ins Quartier Latin hinüber und suchte dort nach Verabredung meinen Heimatbekannten in einem großen Eßhaus am Boulevard Saint Michel. Ich fand ihn nicht, aber ein anderer Herr meldete mir, Doktor Ulrich habe sich gerade heute als Lehrer einer Privatschule an einem Ausflug der Zöglinge nach Saint Cloud beteiligen müssen; in Sachen meines Zimmers sei ich in einem Hotel garni beim Pantheon angemeldet. Der Herr, der mir diesen Bericht erstattete, stellte sich mir als Deutscher vor: Doktor Hans Böten aus Leipzig, Assistenzarzt irgend eines großen Hospitals. Der Blondling mit den scharfen blauen Augen unter kristallenen Brillengläsern führte mich in die Sprachgeheimnisse der französischen Küche ein. Wir speisten vortrefflich und mancherlei; ich mit dem Gedanken: So gut wirst du in Paris nur dies einzige Mal essen können. Zum Abschied sagte mir der Arzt überlegenen Tones: »Ich lade Sie ein, daß wir uns morgen Schlag neun – Sie hören: Schlag neun – an der nächsten Haltestelle der Pferdebahn treffen. Dann will ich Ihnen ein Bild aus dem Leben der Stadt zeigen, das für Sie einmal wichtig werden kann!« Was für ein Geheimnis mag sich hinter diesem Angebot verbergen? –

Die Unterkunft im Hotel garni gab sich. Ich habe im achten Stockwerk des alten Baues ein hübsches Zimmer bezogen. Bin ich die endlosen, rot angestrichenen Treppen hinaufgestiegen, und sehe ich von den wurmstichigen Möbeln und verblaßten Teppichen ab, so kann es als ein recht heimeliges Stübchen gelten. Auf seiner kleinen Vorzinne erscheine ich mir wie der Turmwart des Pantheons. Ameisenhaft wuseln die Menschen in der Tiefe über den hellen Platz hin. Nur gedämpft dringt der Lärm des Tages zu mir herauf. Meine Nachbarn sind die Schwalben des Himmels. Der Blick fliegt an der gewaltigen Kuppel des Pantheons vorbei über das Dächermeer der Stadt bis zu der geschichtlichen Windmühle auf dem Montmartre und folgt dem gewundenen Lauf der Seine, bis sie sich in fernen flimmernden Bändern verliert, und der heutige Sonnenuntergang über dämmernden Fernen war wohl einer der stärksten Eindrücke meines ersten Tages in Paris.

Nun wohnen aber auch schon die Sorgen in meinem hohen Quartier. Nachdem ich der schnurrbärtigen Wirtin die Miete auf einen Monat im voraus bezahlt hatte, erkannte ich mit Schrecken, daß meine Barschaft schon über die Hälfte hinuntergesunken war, und sagte mir: »Tobias, zu Abend gibt es Wasser und Brot!«

Ich stieg nun noch einmal in die Straßen hinunter, suchte einen Bäckerladen und fand ihn an der Rue Soufflet, die den Platz des Pantheons mit dem nahen Jardin du Luxembourg verbindet. »Jacques Vebeur« las ich und dachte: Da hat sich doch sicher ein deutscher Jakob Weber verfranzösiert. Zwei strohhaarige, sommersprossige Mädchen in blitzblanken Schürzen bedienten die Kunden, ergötzten sich an meinem ungelenken Ausdruck und sagten beim Zuwägen und Bezahlen des Brotes: »Wo kommen Sie denn her?« – »Aus der Gegend von Wülfenberg in der Schweiz,« war meine Antwort. – »Das müssen wir unserem Vater melden,« sagten sie, »er ist Elsässer, kennt aber Ihre Heimat!« Richtig, nach ein paar Augenblicken kam der behäbige Bäcker. »Ja, ja, in den ersten Monaten 1871 war ich interniert in der Schweiz und habe in Wülfenberg bei einem Bäcker Streuli manche Mulde Brot geknetet – gern: es gab dort einen Wein, der hieß Solbacher!« Jacques Vebeur schnalzte und zwinkerte wie in erfreulichem Nachgenuß, die ebenso liebenswürdigen wie häßlichen Töchter belustigten sich an ihrem Vater, fügten ein paar Kipfel zu meinem Brot – und ich weiß also, wo ich künftig in Paris meine Abendmahlzeit einzukaufen habe.

Das mein erster Tagebucheintrag aus der großen Stadt. Wie werden die folgenden lauten?

 

Heute morgen traf ich nach Verabredung meinen Tischbekannten von gestern. Eine lange Fahrt mit der Pferdebahn führte uns vor das Tor eines gewaltigen Hospitals, und nachdem sich der Arzt in einen weißen Kittel geworfen hatte, geleitete er mich in etliche Säle der Männer- und Frauenabteilung der Geschlechtsleidenden.

Mir bot sich ein Bild aus der Hölle, das ich nicht beschreiben will. An jungen Männern, schön wie Ganymed, und an Greisen mit verfaulten Gesichtern, an Mädchen wie Madonnen und an verhutzelten alten Weibern lernte ich die schrecklichen Zerstörungen der Lustseuche kennen: Nasen und Brüste, aus denen der Eiter floß, und grüne, rote und blaue Haut Skrofulöser, einen Mann mit einem Krebshorn aus dem Hals, das den Kopf überragte – vieles – vieles! – Und der Ausdruck in den Hunderten von Gesichtern? – Hier stoische Ruhe, dort Trostlosigkeit neben gottergebener Frömmigkeit; eine lasterhafte Gemeinheit, besonders der Weiber, die uns, wo wir gingen, ihre Witze und Flüche nachriefen. Etwas Entsetzlicheres als diese Verworfenen gibt es nicht. Als das Erbarmungswürdigste an diesem Ort des Grauens erschienen mir aber die Abteilungen der Säuglinge und Kinder, die ihre furchtbare Krankheit schon im Mutterleib ererbt hatten. »Genug, Herr Doktor,« wandte ich mich an meinen Führer, »lassen Sie mich um Gottes willen wieder ins Freie!« Er lächelte befriedigt, blickte mich durchdringend an und sagte: »Das ist der Dienst, den ich jedem jungen Deutschen oder Schweizer erweise, der mir wie Sie als Neuling in die Hände läuft. Wenn der Leichtsinn und die Versuchungen der Großstadt Sie anwandeln, denken Sie an die Bilder in unserem Hospital. Und nun guten Weg!«

Seltsam! Nie konnte ich Doktor Hans Böten für den mir erwiesenen Dienst herzlich dankbar sein; mir war, die blühende Frühlingswiese des Lebens sei vor mir zertreten und mit Unrat übersät worden, und als ich ins Quartier Latin zurückschlenderte, war ich überzeugt, die Sonne scheine nach meinem Besuch im Krankenhaus nicht mehr so hell wie früher, und ich mußte jeden Vorübergehenden darauf ansehen, ob er nicht auch schon die Spuren der Seuche trage.

In meinem Stübchen erwartete mich ein Gast: Doktor August Ulrich, der an meinem Tisch ruhig einen Stoß Hefte korrigierte. Er freute sich, daß mir mein Quartier gefiel, und fragte mich, was er bei seiner schmal zugemessenen Zeit weiter für mich tun könne. »Wenn Sie mir raten wollten, Herr Doktor, wie möglichst rasch ein Stück Brot zu verdienen!« erwiderte ich. Nach einem Augenblick des Besinnens lachte der schwarze und kurzbärtige Mann: »Nehmen Sie das Leben am gleichen Zipfel wie ich vor etlichen Jahren. Ich führe Sie gegen Abend auf eine Übersetzungsanstalt, in der aus französischen Zeitungen Nachrichten für die deutsche Presse hergestellt werden. Ein blödes Geschäft. Sie verdienen aber bei der Abschreiberei in der Stunde einen Franken – und es ist nun so,« fügte er sarkastisch hinzu, »in der Not frißt der Teufel Fliegen!« –

Mitten im alten rechtsufrigen Paris traten wir durch einen Hof in ein Hintergebäude, und in einem engen Schreibzimmer stellte er mich einer Dame vor. Sie maß mich mit ihrem Spitzmausgesicht und sagte: »Gut, diesen Abend schon können Sie bei uns eintreten. Wir beschäftigen unsere Leute von fünf bis sechs, tüchtige Kräfte auch bis sieben, der Lohn wird sofort nach der Arbeit bezahlt, wir verpflichten uns aber nicht, jemand, der uns heute gedient hat, morgen wieder einzustellen.« Mein Begleiter verabschiedete sich, und mir war, der Vielbeschäftigte sei froh, meiner ledig geworden zu sein. Ich aber sah einen kleinen, doch merkwürdigen Ausschnitt deutschen Proletarierlebens in Paris. In dem Hof sammelte sich ein Rudel von Menschen, dreißig, vierzig, vor der verschlossenen Türe des Zeitungsinstitutes: Jugend, Alter, Männer, Frauen, von deren Gesichtern Hunger, Not, Entbehrungen aller Art abzulesen waren. Überflüssige einer Millionenstadt! Ihre Unterhaltung war nicht rege, jedermann spannte nur auf die Eröffnung der Tür. Da schloß die säuerliche Dame von innen auf, stellte sich wie die Karikatur eines Erzengels unter den Eingang, ließ die einen an sich vorbei, wies die anderen mit eiserner Härte zurück und erklärte zuletzt: »Genug, was noch draußen ist, mag gehen; nur jener Herr dort mag noch eintreten.« Damit winkte sie mir.

Der furchtbar kahle und öde Schreiberaum glich mit seinen Pulten und einem davorstehenden hohen Katheder einer Schulstube. An jenen richteten wir Schreiber uns ein, auf diesen stieg ein kauziges Männchen mit großer blauer Brille und dem Vollmond einer Glatze zwischen einem schmalen Kranz von Haaren. Sein Aussehen erschien mir umso merkwürdiger, als er in der einen Hand einen mächtigen Stoß Zeitungen trug, in der anderen aber eine lange Fischerrute, deren Zweck ich vorerst nicht einsah. Wie eine Polizistin ging die Dame unter uns auf und ab, und eine Ruhe wie in einer Kirche entstand.

Das komische Männchen auf dem Katheder entfaltete seine Blätter, in denen es wohl schon die Stellen angestrichen hatte, die es für die deutsche Presse als mitteilenswert erachtete, und diktierte uns mit nicht lauter, aber in ihrer Schärfe ohrendurchbohrender Stimme die ausgewählten kleinen Artikel, leider in deutscher, nicht in französischer Sprache, was unserer Arbeit doch einen gewissen Lernwert gegeben hätte. War eine der Wiedergaben erledigt, so sammelte die Dame mit rasch prüfendem Blick die beschriebenen Bogen ein. Als diese Pause wieder einmal kam, spürte ich plötzlich die Angelrute und die Schnur des Kathedermannes über meinem Kopf, und der stumpfe Angelhaken senkte sich mir vor das Gesicht. Ich verstand die Bewegung nicht. Hielt er mich für eine große Forelle, die anbeißen sollte? Da steckte mein Nachbar das von mir beschriebene Blatt an die Angel und erklärte mir, der Herr wünschte es selber zu sehen. Mit gleich geschicktem Schwung, wie die Rute auf mich herniedergestiegen war, wanderte der Bogen hinauf zu dem Halbgott mit der blauen Brille und wieder herab zu mir. Ein kleines Bleistiftzeichen war darauf gesetzt, und die Dame erklärte mir, ich sei auch für die zweite Stunde angestellt. Leidvoll flüsterte mir ein blasses Mädchen zu: »Sie Glücklicher! Ihnen geht es besser als mir!«

In der Tat! Die Dame lud mich sogar ein, morgen wieder vorzusprechen, und auf dem Heimweg sagte ich mir: Tobias! Schon am ersten Tage nach deiner Ankunft hast du in Paris ein Zweifrankenstück verdient – das erste im Leben –, vielleicht gibt es doch ein Durchkommen in der fremden Stadt!

 

Gestern hatte ich einen ereignisreichen Tag. Ich glaube wirklich, ich finde mich in Paris zurecht.

Am Morgen stellte sich mir auf der Treppe unseres Hotel garni der Zimmerbursche entgegen und wollte mir irgend etwas auseinandersetzen. Ich verstand von seiner Mundart, die wie Spanisch klang, kein Wort. Da kam zufällig eine Dame heruntergestiegen, horchte einen Augenblick und erklärte mir auf deutsch: »Der Garçon hat Ihnen zur Schonung der Treppen einige Nägel aus den Schuhen ziehen lassen; nun verlangt er dafür zehn Sous. Schenken Sie doch dem armen, überanstrengten Kerl ein Fränklein,« und scherzend fügte sie hinzu: »Tragen Sie denn in Paris Ihre Schweizer Bergschuhe?«

Die Dame, eine Straßburgerin von rasch erkennbarer Weltleichtigkeit, hatte offenbar so viel freie Zeit wie ich. Mit einer raschen Wortwendung schloß sie sich mir zu einem Spaziergang im Jardin du Luxembourg an und fragte mich nach meinen Umständen und Plänen, »Ich kenne einen Professor Albarel,« sagte sie, »Mitglied der französischen Akademie; gewiß könnte Sie niemand besser beraten als er, und keiner täte es lieber. Wenn wir um die Mittagszeit in das Restaurant gingen, in dem er zu speisen pflegt, und ihn begrüßten?«

Mir gefiel der Vorschlag, und ich lernte in Professor Albarel einen äußerst gediegenen Mann kennen. Mit seinen angrauenden dunkeln Locken, dem wellig weichen Bart und dem Sprühfeuer in den Augen machte er mir eher den Eindruck eines Künstlers als den eines Gelehrten. Freundlich schenkte er meiner Anwältin Gehör, prüfte plaudernd etwas meine Kenntnisse und sagte: »Kommen Sie doch in den nächsten Tagen immer zum Essen hierher; ich hoffe für Sie eine kleine Stelle zu finden.« Meine Führerin verließ uns sehr befriedigt über ihren Erfolg. Der Professor aber lächelte mir hinter ihr zu: »Lassen Sie sich nicht zu tief mit der Dame ein; sie ist nicht ganz die Pariserin, wie sie sein soll!« – Sonderbar! Und doch hatte mich schon mein eigenes Gefühl leise vor ihr gewarnt.

Albarel beriet mich auch in Sachen der Freikurse an der Sorbonne, die ich zu besuchen wünschte; auf gut Glück hin wohnte ich am Nachmittag gleich zwei Vorlesungen bei, der einen über Cervantes, der anderen über Lord Byron. Selbstverständlich muß aber Ordnung in meine Lektionen kommen.

Das wichtigste Ereignis brachte mir erst der Abend. Nach der unwürdigen Arbeit auf der Diktierstube schlenderte ich durch die Ströme von Menschen auf den taghell erleuchteten großen Boulevards. Da tönte Schweizerdeutsch an mein Ohr, nein, unmittelbarste Mundart aus engster Heimat: »Z'Beereberg under der Schloßlinde werdet jetzt d'Knabe und d'Maidli eis singe.« Die Worte kamen von zwei jungen Männern, die neben mir gingen. Ich machte mich grüßend an sie heran, und gegenseitig freuten wir uns der unerwarteten Begegnung. »Ei ja,« lachte der ältere der beiden Mechaniker. »Sie sind Lehrer Tobias Heider, der Sohn des Werkstättenchefs Heider, unter dessen Führung ich Lehrjunge war. Ich heiße Jakob Steffen.« Und er sprach mit großer Liebe und Achtung von meinem Vater. Wir feierten nun das unerwartete Zusammentreffen in einem Schweizer Restaurant, erzählten einander unsere Lebensumstände, und nach einer Stunde fragten die jungen Leute, denen sich noch zwei gleichaltrige Heimatgenossen zugesellt hatten, ob ich ihnen Unterricht im Französischen geben würde. Das Nötige für den Alltag besäßen sie zwar, aber etwas Grammatik wäre für sie eine wünschbare Nachhilfe. Ich sagte selbstverständlich zu.

So habe ich also begründete Aussicht auf Schüler und Brot. Schon diesen Abend soll ich den Mechanikern die erste Stunde erteilen.

 

Es geht mir mit den Sprachstunden gut. Die Zahl meiner Zöglinge hat sich rasch auf acht vermehrt, und ich unterrichte nun in zwei Abteilungen, von Tag zu Tag wechselnd, bald die einen, bald die anderen. Sie besuchten mich zuerst in meiner Dachstube, aber schon als die zweite Gruppe einrückte, bekam die Wirtin wegen der Abnützung der Treppen Händel mit mir. Ich entschloß mich, den Unterricht in die entlegenen Viertel Belleville und Saint Mandé zu verlegen, in denen die Mechaniker wohnen, und damit hat auch meine Tätigkeit auf dem Korrespondenzbüro ein Ende; oft aber muß ich noch der Unglücklichen gedenken, die vor seiner Tür um etwas Arbeit und einen Franken zittern.

In einer Kammer meiner Heimatgenossen spielen sich nun meine beiden kleinen Schulen ab. Ich, als Lehrer, habe das Recht auf den einzigen Stuhl, der im Zimmer steht. Die Zöglinge, alle etwas älter als ich, lehnen, die Bücher vor sich, an den Bettrand oder die Wand. Auf jedem Gesicht liegt unverbrüchlicher Eifer, der nur etwa durch ein Scherzwort unterbrochen wird, und ich darf mich an meinen Zöglingen herzlich freuen, an den bedächtigeren wie an den lebhaftern. Sie beweisen meiner jungen Kraft ihre Achtung. Als tüchtige Arbeiter, die täglich ihr Zwanzigfrankstück verdienen, bezahlen sie mir die Stunden überraschend gut, und immer nach dem Unterricht laden sie mich zum Abendbrot ein. Es ist ein Bild, an dem gewiß auch mein Vater seine Freude hätte. –

Das Mittagessen nehme ich immer in der Garküche Gauthier ein, in der ich Professor Albarel kennengelernt habe. Sie liegt an einer Hintergasse der Rue Soufflet in einem Viertel, dessen alte, niedrige Häuser mich an Stadtbilder der Heimat erinnern. Die immerhin geräumige Eßstube ist von größter Einfachheit, der Boden mit Sägespänen bestreut, und um die sehr sauberen Marmortische stehen schlichte Strohstühle. Die einzige Sehenswürdigkeit des Restaurants ist die offene Küche, die von Kupfer und Zinn glänzt. Am Herde schalten Mann und Weib, er ein Hüne, der mit seinen Fünfzigern jeden Morgen einen Viertelsochsen auf eigener Schulter von den Hallen ins Quartier Latin hinaufträgt, die Frau klein und dick, doch von wunderbarer Gewandtheit in ihren Hantierungen, und beide sind gaillards, fröhliche Leute, die bei aller emsigen Arbeit immer einen witzigen Zuruf an die Gäste bereit halten. An den Tischen bedienen ein paar Mädchen aus der Familie.

Wo wäre ich zum Mittagsbrot besser aufgehoben als in dieser Küche! Man bekommt darin für einen Franken oder wenig mehr ein stattliches Stück Weißbrot, ein Glas Wein, Fleischbrühe mit Ei, ein mit Schnittlauch bestreutes Beefsteak, auf dem eine Messerspitze frischer Butter schwimmt, Erdäpfel, Spinat und ein Stückchen Käse, jedes Gericht von ausgezeichneter Güte.

Selbst in der Schweiz habe ich nie in einem Restaurant ein so demokratisches Bild von Gästen gesehen wie bei Vater Gauthier: Herren in Zylinder und Glacéhandschuhen, das rote Bändchen im Knopfloch wie Professor Albarel, Rechtsanwälte, Kaufleute, daneben Studenten, viele Arbeiter in Ballonmützen und mancherlei Damen aus der Halbwelt des Viertels. Reich und arm also, gebildet und ungebildet speisen darin, alle in Verträglichkeit und mit guten Manieren.

Meistens genieße ich für eine halbe Stunde die liebenswürdige Gesellschaft Professor Albarels, der sich gern meine Eindrücke aus dem Leben der Stadt schildern läßt und oft meinen schweizerisch jugendlichen Auffassungen mit einem innigen Lächeln begegnet. Nun hat er mir auch den kleinen Posten verschafft, den er mir in Aussicht gestellt hatte: ich habe jeden Morgen eine Stunde Deutschunterricht in einer Privatschule zu erteilen, deren Besitzer er wohl selber ist, die aber unter der Leitung seiner Schwester steht.

In dem Institut, das jenseits des Jardin du Luxembourg gelegen ist, erhalte ich ein kleines Frühstück, und jede Lektion wird mir mit zwei Franken bezahlt. Lästig aber empfinde ich an dieser Lehrtätigkeit, daß ich, der Sitte entsprechend, als professeur im schwarzen Kleid und Zylinderhut vor den Zöglingen zu erscheinen habe, die ihrerseits, schon die kleinsten, eine Uniform tragen. Wie eine Zwangsjacke sitzt während der Stunden der Konfirmationsrock auf mir. Noch eine andere Schwierigkeit! Das Französische der Schüler verstehe ich leidlich, aber von ihrem Deutsch, das sie bis dahin von einem einheimischen Lehrer empfangen haben, kein Wort. Meine Muttersprache? Wenn die Schüler lesen oder sich in einem Satz versuchen, kann ich ebenso leicht glauben, es rede mich jemand polnisch oder japanisch an, und ich entdecke, daß diejenigen, die etwas Deutsch zu beherrschen scheinen, ihr Auswendiggelerntes so verständnislos daherplappern wie der Papagei seine Sprüche.

Die Vorsteherin, Fräulein Albarel, eine sehr würdige Erscheinung mit zartfeinem Gesicht und schneeweißem Haar, wohnte schon zweimal meinen Stunden bei und äußerte sich mit Anerkennung über unsere Schweizer Unterrichtsmethode. Als ich aber bei ihrem zweiten Besuch einen Stoß wohlkorrigierter Hefte in die Klasse zurückgab, lächelte sie mitleidig: »Das sind ja wahre Schlachtfelder! Vergeuden Sie doch an den Heften nicht Ihre schöne Zeit! Aus Gründen, die ich Ihnen nicht auseinanderzusetzen brauche, ist das Deutsche für uns doch nur ein Dekorationsfach, das wir nur der Vollständigkeit des Lehrplanes wegen am Institut mitführen.« Ja, wie sehr das Deutsche in diesem Schulbetrieb nur Dekorationsfach ist, spüre ich jeden Tag an der Faulheit und dem schlechten Willen der Zöglinge, und daß ich mich mit den Sprachheften nicht so sehr zu beschäftigen brauche, ist mir eine Wohltat.

Meine Tage sind nun reichlich mit Arbeit ausgefüllt. Ich nehme an manchen Freikursen der Sorbonne teil, an Vorträgen über französische, englische und italienische Literatur. Sie sind aber weniger von Männern als jungen Damen besucht, die von irgendwelchen Beschützerinnen wie von Hofhunden bewacht werden, und merkbar auf die junge Weiblichkeit eingestellt. Sie haben den Vorzug, daß man darin ein herrlich abgeklärtes Französisch hört, aber den Nachteil, daß sie in einem rhetorischen Sprühfeuerwerk verlaufen, in einer causerie, aus der ich beim Nachschreiben nur einen kleinen Kern wirklicher Literaturkenntnis ziehen kann. Nur die Vorlesungen eines der Professoren fesseln mich tiefer, diejenigen des alten Christian Blanc, der uns mit dem Feuereifer eines Jungen in die Geheimnisse und Schönheiten des Goethischen »Faust« einführt, oft mit Proben eigener Übertragungskunst.

Albarel hat mich vor ein paar Tagen um meine Eindrücke an der Sorbonne befragt. Ich pries das entzückende Französisch der Lehrer. Da lachte er: »Die lebendige Sprache werden Sie aber auch von ihnen nicht lernen; machen Sie sich doch unser Restaurant Gauthier zur Universität, unterhalten Sie sich mit den Arbeitern und Grisetten, die hier speisen, mit den Damen namentlich. Dann lernen Sie Französisch!« Er trat nun an ein paar der Tische und sagte den Gästen leichthin: »Mein Nachbar ist ein junger Schweizer, der den eifrigen Wunsch hat, unsere Sprache gut zu erlernen. Ziehen Sie ihn etwa in ein Gespräch.« Die paar Worte genügten, daß ich nun in dem nur von Einheimischen besuchten Restaurant unter dem Namen Le Suisse einer der bekanntesten Gäste bin.

Namentlich eine Gruppe Schaufensterputzer nimmt sich meiner freundlich an. Jedesmal, wenn sie mich einsam sehen, winken sie mich zu sich herüber; gesunde, stämmige Leute, immer zu Geplauder und Scherz aufgelegt, mitunter leidenschaftliche Politiker, in meiner Gesellschaft neugierig nach den staatlichen Einrichtungen unseres Landes, von dem sie übrigens nichts wissen, als daß es die älteste Republik der Welt sei, oder, wie einer sagte, der sich über seine geographischen Kenntnisse ausweisen wollte: »N'est-ce pas, la Suisse c'est près d'Intrelacques?«

In der Gesellschaft der Grisetten habe ich mir manche Vorurteile abzugewöhnen, die daheim auf der freien Liebe liegen. In unserem Restaurant sehe ich nur ihre Wohlanständigkeit, und wenn sie einmal von ihrer Welt sprechen, geschieht es mit der Naivität einer Jugend, die von Mutter und Großmutter her zur Liebschaft mit Studenten erzogen ist. Immer berufen sie sich auf ihre Ehrlichkeit und sprechen mit Verachtung von den Kokotten, die an den Boulevards dem Fremdenfang obliegen. Aus dem Umgang mit ihren jungen Freunden besitzen manche eine ziemliche Bildung. Jedes neuerschienene Buch eines Schriftstellers liegt zuerst in ihren Händen, und bereitwillig leihen sie es mir. Ich weiß nicht, wie ich ihnen als zwanzigjähriger Fremdling erscheine, für meine Zurückhaltung aber haben sie ein liebenswürdiges Lächeln und bleiben immer artig zu mir; ja, diejenige, die mir am besten gefällt, ist wahrhaft meine Freundin.

Sie heißt allgemein Manon Lafayette und gilt als Urenkelin des Generals. Sie selber lachte zu mir darüber und wies mir ihre Papiere. Nach diesen lautet ihr Name Charlotte Roux mit dem Beisatz » enfant trouvé à Paris«. »Glauben Sie, in unserer Gesellschaft ist nicht ein Name echt, aber ich finde keine Unehre darin, daß mir derjenige eines so berühmten Mannes beigelegt worden ist.« Was sich die Gesellschaft von ihr erzählt, mag Legende sein; das Antlitz des Mädchens trägt jedoch so vornehme Züge, daß sie für jedermann hervorgehoben ist aus der bloßen Jugendhübschheit, der gesellschaftlichen Gewandtheit und Liebenswürdigkeit, die nun einmal zum Bild der Grisette gehören. Auch Albarel schätzt sie. »Winken wir ihr herüber! – Haben Sie je eine Dame gesehen, die eine Frucht so schön zu zerteilen, anzubieten und selber zu essen weiß wie die Lafayette?« Zwanglos geht sie nach dem Mittagessen mit mir hundert Schritte und verabschiedet sich dann mit einem Händedruck: » Au revoir demain

Nur eine Verlegenheit gibt es für mich: wenn die Straßburgerin, die mich zu Albarel geführt hat, gelegentlich in das Restaurant Gauthier tritt und mich in guter Unterhaltung mit der Lafayette sieht. Die beiden sind einander gründlich feind, wohl nicht meinetwegen, sondern schon von früher her. Die Lafayette kann bei diesen Begegnungen sehr scharf gegen mich werden. »Nein, ich dulde es nicht, daß Sie dieses Weib grüßen.« Dann lache ich sie aber aus: »Ohne die Elsässerin hätte ich weder das Restaurant Gauthier noch Sie kennengelernt!« Ich weiß nicht, warum diese Person auf die Abneigung der gesamten übrigen Halbwelt stößt; vielleicht liegt es doch nur an ihrem schon etwas ältlichen und stark gepuderten Gesicht.

Die Manon hat entschieden Vorzüge: immer betreibt sie den Gedanken, sie sollte für mich eine bessere Stelle finden als die im Institut Albarel, und machte mich deshalb mit etlichen gebildeten Herren bekannt, darunter Ernest Legrand, Redakteur des » XIX. Siècle«. Als ich ihm ein paar Kleinschilderungen aus der Stadt zeigte, faßte er tieferen Anteil an mir. »Die Dingerchen sind hübsch; haben Sie sich noch mehr in den Geist unserer Stadt eingelebt, kommen Sie wieder zu mir, und ich veröffentliche die Skizzen, sofern Sie mir gestatten, daß ich etwas Gauloiserie dareinstreue, auf die sich ein Fremder eben doch nie verstehen wird.«

Von jeher hat mich der Journalismus angezogen, und das Wort Legrands ist mir ein kräftiger Ansporn, so rasch wie möglich mündlich und schriftlich ein gutes Französisch zu lernen, wobei ich aber spüre, daß mein Talent eher im Schriftlichen als im Sprechen liegt.

Nun freue ich mich, daß ich mein Tagebuch wieder einmal nachgetragen habe. Es wäre doch schade um die vielen Bilder, die ich erlebe, wenn ich sie nicht festhalten würde!

 

Ich habe also mein Leben so geteilt, daß es tagsüber den Franzosen und am Abend meinen Freunden aus der Heimat gehört, den Mechanikern, meinen Schülern.

Ich befinde mich unter ihnen immer wohl. Sie lassen mich als den Gebildeteren gelten. Meistens übernachte ich am Samstag bei ihnen draußen in der Belleville oder in Saint Mandé, und wir verbringen miteinander die Sonntage auf schönen Ausflügen in die Umgebung der Stadt. Mit Vergnügen beobachte ich, wie die jungen Männer darauf bedacht sind, überall den guten Ruf unseres Schweizernamens zu wahren, namentlich den Franzosen, die so empfindlich gegen jeden deutschen Laut sind, unsere Heimatsprache nicht aufzudrängen. Hin und wieder wird sie aber doch an uns bemerkt. In einem Garten bei Versailles erhob sich wütend ein Alter: » Taisez-vous, Messieurs, votre langue nous fait mal aux oreilles!« Kürzlich aber erlebten wir durch unser Schweizerdeutsch eine artige Sonntagmorgenstunde.

Schon um sieben Uhr fuhren wir mit der Bahn nach Saint Germain-les-Prés, einem Städtchen über dem Ufer der Seine, dessen Schmuck ein gallo-römisches Museum ist. Außer uns saß im Wagen um noch ein Jesuiten-Pater, gekennzeichnet durch die vierzipflige Mütze und das dunkelviolette Kleid seines Ordens. Der hagere geistliche Herr schien in sein Brevier vertieft, und in einiger Entfernung von ihm unterhielten wir uns in der heimatlichen Mundart. Nach einer Weile erhob er sich aber, kam auf uns zu und sagte höflich: »Meine Herren, darf ich mich erkundigen, was für eine Sprache Sie reden? Rate ich richtig, ist es ein altes flämisches Idiom? Es geht mir sonderbar; ich glaubte alle Sprachen Europas zu kennen, aber die Ihre ist mir fremd!«

»Die unsere ist Schweizer Mundart,« gab ich ihm Aufschluß, »im wesentlichen ein gutes Mittelhochdeutsch, das im vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert stehen geblieben ist und bei der Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache nicht mehr mitgetan hat.« Der Pater unterhielt sich nun mit uns in fließendem Schriftdeutsch, wünschte von unserer Mundart immer mehr zu erfahren, stieg mit uns in Saint Germain aus und begleitete uns in das Museum. Ich sprach ihm nun manches Schweizerdeutsche vor: Kinderreime, Sprichwörter, Volkslieder, und er bat: »Schreiben Sie mir diese Stücke doch in mein Taschenbuch.« Nach einer Stunde aber verabschiedete er sich von uns mit dem Bedauern, daß ihn seine Amtspflicht auf den folgenden Zug rufe. Als wir eine Weile später selber aus den Sammlungen traten, kam ein Piccolo des nahen Hotels auf uns zu: »Das Gabelfrühstück steht im Garten bereit.« – »Sie müssen sich irren,« erwiderten wir, »wir haben keines bestellt!« – »Nein, aber für Sie der hohe geistliche Herr!« –

So kamen wir mit unserem Schweizerdeutsch, das sich leider nicht so angenehm in fremde Ohren schmeichelt wie manche andere Mundarten deutscher Sprache, unversehens einmal zu Ehren. Im übrigen, das merke ich in Paris, hat es für uns gewiß den Wert, daß es unter uns Deutschschweizern das untrüglichste Erkennungszeichen gemeinsamer Heimat ist.

Ich möchte aber ja nicht alles am Schweizerwesen rühmen, das ich unter der Führung meiner Freunde in der Stadt zu beobachten Gelegenheit finde. Ich begegnete den todblassen Gesichtern junger Männer, die schon wie Greise zitterten. » La Noce«, der Absinth, die Ronde! Die letztere ist der namentlich unter den Arbeitern verbreitete Brauch, sich in einer Stehwirtschaft gegenseitig mit stark geistigen Getränken zu bewirten. Dabei trinkt jeder so viel Gläser, wie die Gesellschaft Teilnehmer zählt.

Mit meinen Mechanikern nahm ich auch einmal an einem Gartenfest der vereinigten Schweizervereine von Paris teil und sah dabei unseren hochverehrten Gesandten, Minister Kern, mit dem von einem grauen Kurzbart umrahmten väterlichen Gesicht, leitende Herren mit Zylinderhüten und farbigen Schärpen, eine Menge Leute, denen es in Paris gut geht, hörte hohe Reden, Heimatlieder und wohnte Turn- und Älplerspielen bei. Am stärksten aber hingen meine Blicke an den einfachsten und ärmsten unserer Landsleute, den alten Männern, die die Heimatsprache fast vergessen, aber das Französische nur brockenhaft gelernt haben, den Müttern, die den Heimatlaut treu behalten, aber ihre Kinder nicht verstehen, weil diese in fremder Sprache aufgewachsen sind. Sie suchten an dem rauschenden Fest wohl die Schweiz, fanden sie aber nicht und spürten nicht den Herzschlag der heimischen Volksseele auf der von den Vätern ererbten Erde. Das Fest war ihnen eher ein Sinnbild dessen, was sie durch ihre Auswanderung aus dem Vaterland verloren haben, und ich bin sicher: ihnen blieb von der glänzenden Veranstaltung nur das schluchzende Heimweh nach dem wirklichen Boden ihrer Jugend,

Ein trübes Bild, diese Menge entwurzelten Volkes! Mir ist, ich sollte es der Heimat erzählen, wie viel innere Not gerade in den ärmeren Schichten unserer Landsleute in der Fremde herrscht. Da träumen die Männer und Frauen immer von Besuch im Vaterland, sparen daraufhin lange Jahre, aber Krankheit kommt in die Familie oder sonst ein Unvorhergesehenes, – nie wieder finden sie den Weg ins ersehnte Land zurück, und kein Fest kann ihnen helfen. Wer in der Fremde nicht ins Gedeihen kommt, hat sie zu teuer erkauft! –

Leider haben fünf meiner Schüler bereits den Heimweg gefunden! Vor vierzehn Tagen saßen wir am Samstagabend in der Belleville plaudernd beisammen. Auf der Straße erhob sich gewaltiger Feuerlärm. In unserer Nähe stand eine große Maschinenfabrik, in der ein paar der jungen Mechaniker beschäftigt waren, in Flammen. Sie eilten auf die Brandstätte, ich mit ihnen. Wir hatten den großen Feuerplatz kaum erreicht, als er von der Gendarmerie abgesperrt wurde. Wer außerhalb der Seile stand, blieb draußen, wer sich wie wir innerhalb der Ketten befand, blieb drinnen. Wir erlebten eine schreckliche Nacht. Die Pompiers zwangen unser Häuflein Zivilisten zu mancherlei Dienstleistungen und ließen hie und da einen Wasserstrahl sich auf uns verirren. Erst morgens um zehn Uhr erlaubte uns die Polizei den Abzug aus dem Bereich der immer noch glimmenden und rauchenden Ruinen, und wir wußten nun, daß es nicht Sache Fremder sei, die Nase zuvorderst zu stecken, wenn in einer Stadt ein Auflauf entsteht.

Die Heimatgenossen, die durch den Brand arbeitslos geworden waren, ärgerten sich so sehr über unsere Mißhandlung durch die Feuerwehrleute, daß sie beschlossen, in Paris keine neue Stellung mehr zu suchen. Die Heimat biete ihnen Verdienst genug, und sie sprachen plötzlich von Mädchen, die dort sehnsüchtig auf sie warteten, und rissen andere in ihre Heimkehrpläne hinein. Wir, unser etliche, begleiteten nun die Gruppe auf die Bahn und gaben ihr unsere Grüße in die Schweiz mit.

Mir bleiben für meine Stunden plötzlich nur noch drei Getreue; neue Schüler finden sich nicht. Die Sorge schaut in meine friedlich arbeitsamen Tage, und der heranrückende Sommer mit seinen Ferien im Institut Albarel läßt sie nicht kleiner werden!

 

Ja, anfangs Juli schloß die Schule, an der ich die bescheidene Sprachlehrerstellung bekleidet hatte, bis auf weiteres ihre Tore. In einem festlich geschmückten Raum wurde eine stimmungsvolle Feier des Semesterendes veranstaltet. Die Zöglinge erhielten goldene, silberne oder grüne Kränze, eine Opernsängerin trillerte ihre Arien in alle Höhen, ein Schäferspiel kam zur Darstellung, und ein älterer Schüler, den ich auf Wunsch der Vorsteherin eingeübt hatte, trug mit Begeisterung das Selbstgespräch Wilhelm Tells in der hohlen Gasse vor. Der bunte Schütze mit der meterlangen roten Feder auf dem Hut wurde beklatscht, geherzt, geküßt; ich aber hatte die Überzeugung, daß auch kein deutschkundiger Anwesender irgend eines seiner Worte verstanden hatte und es ein Geheimnis zwischen ihm und mir geblieben ist, was Tell auf der Lauer nach dem Landvogt vor sich hingesprochen hat. Fräulein Albarel dankte in einer Ansprache uns Lehrern, reichte auch mir vor der Festversammlung die Hand und lud mich ein, mich nach den Ferien, Anfang Oktober, wieder als Deutschlehrer im Institut zu melden. Um Gottes willen nicht, dachte ich, nur nicht wieder in ein innerlich so undankbares Amt hinein!

Um diese Zeit schloß auch die Sorbonne ihre Kurse; mit einigen Bekannten wechselte ich gute Wünsche für die Ferien, zuletzt mit einer jungen Dame, Flore Havé, die in den Kollegien Blancs meine Nachbarin gewesen war. Mit dem Fräulein verband mich nichts, als daß ich ihr zur Brücke über ein paar versäumte Stunden mein Vortragsheft geliehen hatte, und die gegenseitige Achtung für den Ernst unserer Studien. Nun lud sie mich aber doch ein, sie einmal während der Ferien in Nogent sur Marne zu besuchen, wo ihr Onkel wohlhabender Gartenbesitzer sei. Er erwarte mich, er kenne die Schweiz, besonders das Berner Oberland, und würde mit mir gern aus seinen Erinnerungen plaudern.

Zeit für diesen Ausflug stände mir jetzt mehr als nötig zur Verfügung, aber Gott weiß, ich komme nicht fort. Ist es meine Scheu vor dem Eintritt in ein fremdes Haus, oder fesselt mich Fräulein Havé, in deren geistvollem Gesicht hübsche und häßliche Züge durcheinander gehen, doch nicht genug, – ich komme nicht hin!

Die Sommerhitze brütet unter grauem Himmel über der Stadt, der trockene Staub in der Luft quält jedermann, die Bäume an den Boulevards werfen, wie daheim im Herbst, ihre Blätter ab, meine Stube unter dem Dach ist ein Glühofen, in den erst der Morgenwind etwas Kühlung bringt. Tag um Tag laufe ich mehr als eine halbe Stunde weit zu einer jener »Fontaines Wallace«, die mit schmalem Strahl trinkbares Wasser führt. Sie ist umlagert von durstigem Volk, unter Aufsicht eines Sergeant de Ville stehen wir in Scharen vor dem Brunnen Queue, um uns die Lippen netzen zu können. O, ihr weißschäumenden Bäche meines Heimatlandes!

Fast alle meine Bekannten sind auf das Land hinausgeflogen. Am stärksten vermisse ich Professor Albarel; ein Gruß aus den Pyrenäen gab mir Auskunft über seine Ferientage. Im Restaurant Gauthier spricht von wissenschaftlichen Anstalten niemand mehr vor, nur die Arbeiter und Halbweltlerinnen erscheinen noch. Die sonst immer fröhlichen Mädchen aber trauern den Studenten nach oder philosophieren, es liege doch auch ein eigener Reiz in der erzwungenen Genügsamkeit. Die Straßburgerin sehe ich nie mehr, aber die Lafayette. Mich nimmt wunder, wovon die Manon lebt; ich bin ihr noch nie auf die Spur gekommen, mit wem sie eigentlich geht, und finde, sie behandle die Männer – etwa mich ausgenommen – eher schlecht als gut.

Ich habe nun Muße genug, an die Heimat zu denken. Vom ersten Tag meines Aufenthaltes an schrieb ich meinen Eltern ziemlich lange und ausführliche Briefe aus meinem Pariser Erfahrungskreis, bekannte ihnen aber aus Trotz gegen die Herbigkeit, mit der mir der Vater etwa begegnet war, nie recht, wie ich meinen Unterhalt bestreite. Meinen aufgeräumten Zeilen antwortete sorgenvoll die Mutter: »Der Vater und ich begreifen nicht, wie Du bei Deiner Wesensart in Paris durchkommen kannst. Mir träumt jede Nacht, Du seiest in schlechte Gesellschaft geraten und kämest in Unehren heim. Nur das nicht, mein lieber Ältester, mein Kummerbub. Das wäre ja mein Tod. Bedenke, wie viel ich für das Wegrecht Deiner Jugend gekämpft habe! Brich doch Deinen harten Kopf und schreibe dem Vater um Geld; er schickt Dir sicherlich!« Ich brach den Trotz nicht, daß aber die innere Unruhe um mich die Mutter nie verließ, spürte ich aus einem kleinen Vorfall. Sie sandte mir ein Paket Sommerkleider, denen ein neues Hemd beigelegt war. Als ich es das erste Mal trug, spürte ich darin etwas Hartes, untersuchte und fand im Zwickel eingenäht ein goldenes Zehnfrankenstück! – Muttertreue! –

Jetzt sind daheim keine Sorgen mehr um mich. Zwei von den heimgereisten fünf Mechanikern haben den Eltern Besuch gemacht und offenbar viel Liebes und Gutes von mir erzählt. Die Mutter schrieb mir darüber einen glückseligen Brief, und auch der Vater bekam eine weiche Anwandlung. Auf meinen Geburtstag – Mitte Juli – überraschte er mich aus eigenem Antrieb mit einem Wertbrief von hundert Franken und fügte seinen Glückwunsch nach seiner derben Art hinzu: »Wenn es Dir aber in Paris so gut geht, daß Du keine Verwendung für das Geld hast, sende es zurück; wir wissen schon wohin damit!« Du kannst warten, Vater, dachte ich, riß die Note für die Feier des Tages an, an dem ich zwanzig Jahre alt wurde, und verbrauchte ein paar Franken gewiß nicht im Sinne meiner Eltern, aber so, daß er der schönste Geburtstag meiner Jugend wurde. Auf den Abend lud ich Manon Lafayette ins Restaurant Gauthier ein, und sie brachte mir in die von anderen Gästen schon leer gewordene Eßstube eine wundervolle Teerose mit. »Ich wollte Ihnen eigentlich eine dunkelrote La France schenken, aber« – lächelte sie, schwieg und legte den Zeigfinger schelmisch an die Lippen.

Ein sonderbares Geschöpf! Sie ist schön, das schönste an ihr ist die große, gewölbte, wie aus Elfenbein geschnittene Stirn unter weichem, hellem Braunhaar, dazu gesellen sich der edle Schnitt der Züge und die ruhigen Blauaugen, die aber im Gespräch aufzuleuchten vermögen. Sie ist das feinste Musikinstrument, sie kann übermütig lachen, scharf sein, doch auch ernst, weich, ja tieftraurig, in jedem Augenblick eine andere, immer mit dem Ausdruck geistiger Vornehmheit.

Ich plauderte von meinen Eltern. Da sagte sie eifrig: »Ja, erzählen Sie mir von Ihrer Mutter, jener Frau im fernen Schweizerland, die ich nicht kenne, aber verehre, weil Sie Ihnen das Leben gegeben hat.« Wir kamen so weit, daß ich ihr Stellen aus den Mutterbriefen übersetzte. Sie nahm die Blätter mit der wenig geübten deutschen Schrift aus meiner Hand und bedeckte sie mit ihren Küssen. »O diese heilige Mutter! – und ich Ärmste habe die meine nie gekannt.« Wie sonderbar: eine Pariser Halbweltlerin küßt die Briefe einer einfachen Schweizerfrau! Das Ehepaar Gauthier, das uns zuliebe noch nicht seinen frühen Feierabend erklärt hatte, trat herzu, der gutmütige Wirt mit der bestaubtesten Flasche »Grünwein«, die er im Keller hatte, und wir erhoben die Gläser auf das Wohl meiner Eltern. Nachher wagte er einen schlechten Witz auf die Nacht. Da fuhr ihn die Lafayette an, daß der Hüne erschrak: Père Gauthier, es gibt Dinge in der Welt, von denen Sie nichts verstehen!« –

Die Manon und ich trennten uns auf der Straße mit einem freundschaftlichen Kuß. –

Der Geburtstag blieb für mich lange das einzige schöne Erlebnis.

Die steigende Hitze entmutigte die Stadt, und meine paar übriggebliebenen Heimatfreunde und Schüler erklärten, sie wünschten für ein paar Wochen die Grammatikstunden auszusetzen. Bange, was nun aus mir werden solle, meldete ich mich wieder auf der Zeitungsschreibstube, aber die Dame mit dem Spitzmausgesicht erwiderte, die schmalen Schultern zuckend: » Saison morte – kommen Sie im Oktober einmal wieder.« Ich geriet durch den Sommer in eine Verlassenheit und Einsamkeit hinein, die ich mir nach meinen hoffnungsreichen Anfängen in Paris nie hatte träumen lassen. Um nicht der Schwermut zu verfallen, arbeitete ich mich durch die drei Geschichtsbände Taines » La France contemporaine« und las nebenbei die Romane der » Revue des deux mondes«, von der ich um weniges Geld Stöße alter Hefte in den fliegenden Buchhandlungen an der Seine zusammengekauft hatte. Auch schriftstellerte ich. Um die Zeit totzuschlagen, schrieb ich kleine Schilderungen aus dem Leben von Paris und schickte sie aufs Geratewohl an Schweizer Blätter, hatte aber mit diesen Versuchen keinen rechten Erfolg. Manche Redaktionen antworteten mir gar nicht, andere schickten mir die unerbetenen Beiträge zurück, eine quittierte mir die Schilderung des Totenhauses » La Morgue« damit, daß sie mir ihr Blättchen regelmäßig zugehen ließ, und weiß Gott: in diesen öden Tagen schätzte ich es wie einen guten Kameraden. Einmal aber erhielt ich von einer Schaffhauser Zeitung doch ein Honorar von zwanzig Franken für die Schilderung eines »Spaziergangs im Jardin des plantes«, und damit waren wenigstens die Postauslagen für die Sendungen gedeckt.

Nun aber drohten mir die Sous auszugehen und überhaupt der Zusammenhang mit der Welt. Nicht einmal die Lafayette sah ich mehr, und das war mir eben recht; ich hätte mich vor ihr meiner Armut geschämt. Schon eine Weile speiste ich nicht mehr in der freundlichen Garküche Gauthier, der tägliche Franken ging über mein Können. Als menschlichen Anhalt hatte ich nur noch die häßlichen, doch unendlich gutmütigen flachsblonden Töchter des Bäckermeisters Vebeur, mit denen mich vom ersten Tage an eine Art Freundschaft verbunden hatte, so sehr, daß sie etwa lachten: »Waren Sie denn krank, Herr aus der Schweiz? Wir haben Sie ja ein paar Abende nicht gesehen!« Auch jetzt maßen sie mir das Brot so reichlich zu, daß ich wenigstens daran und an den von ihnen freiwillig beigefügten knusperigen Kipfeln nie Mangel litt. Gewiß wären sie mir mit der gleichen Zuvorkommenheit begegnet, wenn ich einmal ohne Sous in den Laden getreten wäre, mit ihnen der Alte, der in einem Hintergemach immer eine Flasche versteckt hatte. »Auf ein Gläschen! Nachher geht das Brot leichter hinunter.« Was für eine Wohltat war mir in meiner Verlassenheit die Freundlichkeit der paar Menschen!

Das Mahl hielt ich im Jardin du Luxembourg, dem prächtigen Park mit den wundervollen Baumgruppen, Weihern, Wasserspielen und edlen Werken der Bildhauerei, und fühlte mich bei meinem trockenen Brot nicht einmal unglücklich. Die Bänke waren von hundert und hundert Speisenden belagert, namentlich von Arbeiterfamilien, und ich hatte Gelegenheit, Lebensbilder die Menge zu belauschen, namentlich die unendliche Zärtlichkeit der Väter und Mütter zu ihren Kindern, die mich an herbe Schweizerart Gewöhnten fast äffisch anmutete. Bei den stillen Mahlzeiten ließ ich mich aber doch von der Frage hin- und herbewegen, ob ich meine Not nicht in einem Briefe dem Vater gestehen und ihn um Geld bitten sollte. Daran hinderte mich nur der Gedanke, das Gesuch könnte ihm das gute Bild, das ihm die heimgekehrten Mechaniker von meinem Leben in Paris entworfen hatten, wieder zerstören.

Als ich einmal tief und lange darüber sann, hielt mir jemand von hinten mit weichen Fingern die Augen zu, und eine Stimme fragte: »Wer bin ich?« – »Natürlich sind Sie die Lafayette!« rief ich. Sie lachte mich herzinnig an, ich sie mit der Schamröte des Ertappten. »Ja, so geht's,« schmälte sie freudig über unser Sichwiederfinden. »Wenn man zu wenig Zutrauen zu seinen Freunden hat, muß man trockenes Brot essen. Sie dürfen versichert sein, ich hätte meine Mahlzeit mit Ihnen geteilt, wenn ich um Ihre Verlegenheit gewußt hätte. Ich vernahm aber erst, daß Sie im Freien speisen, als Sie von den Fensterreinigern beobachtet worden waren. Und nun komme ich halb aus eigenem Antrieb, halb im Auftrag dieser Gesellschaft, die Ihre Unterhaltung vermißt, mit der Bitte zu Ihnen, Sie möchten doch gleich an unseren Mittagstisch zurückkehren. Nein, keine Einwände! Wir alle wissen doch, wie das Leben spielen kann! Im übrigen hätte ich längst nach Ihnen gesehen, wenn ich gewußt hätte, wo Sie wohnen. Jetzt seien Sie kein großes Kind!« Nie sah ich die Augen der Lafayette strahlender als bei dieser Wiederbegegnung.

In der Küche Gauthier wurde ich aufgenommen wie der verlorene Sohn im Gleichnis. » Le voilà, notre Suisse!« Die stämmigen, doch beweglichen Gestalten der Schaufensterputzer öffneten ihren Kreis, damit ich mich zwischen sie setze, und erhoben ähnlich wie die Lafayette ihre freundschaftlichen Vorwürfe über mein Wegbleiben. »Wegen etwas Geldmangel! Da ist Abhilfe leicht! Treten Sie, wenn es Ihnen Ihre Bildung gestattet, unserer Gilde bei und kommen Sie mit uns zur Arbeit!« Auf meine Widerrede, ich hätte in meinem Leben noch nie Schaufenster gereinigt und verstände nichts von ihrem Beruf, lachten sie hellauf: »Wir werden Ihnen auch nicht gleich die kostbarsten Scheiben anvertrauen. Wenn Sie aber mit uns halten wollen, treffen Sie uns morgen um drei Uhr an unserem Sammelort vor dem Portal der Notre-Dame. Nicht wahr, wir sind sehr früh? Das Mittagessen bei Gauthier bedeutet aber auch unseren Feierabend.«

Nun laufe ich mit ihnen und bereue es nicht!

 

Was für sonderbare Bilder: Paris im letzten Sternenschein! In den totenstillen Gassen hört man noch etwa ein fernes Kutschenrollen, da und dort lehnt noch ein Nachtschwärmer oder Philosoph an einem Laternenpfahl, huscht eine Obdachlose um die Ecke, liegt ein Häuflein menschlichen Unglücks am Boden. Mit den Fensterreinigern sind auch schon die Straßenkehrer wach. Von den Stadtpforten her knattern die mächtigen zweiräderigen Gemüsefuhrwerke, denen gewaltige Normannenpferde vorgespannt sind, und im ersten jungen Tag erwacht die Arbeit immer lebhafter, jede Viertelstunde in einem besonderen Bild, bis sich gegen sieben Uhr der Pulsschlag der Stadt zu jenem unbegreiflichen Lebenslied erhebt, dessen Fiebertöne erst wieder hinter der nächsten Mitternacht etwas einschlafen.

Einer meiner jetzigen Freunde und Kollegen hat mir eine Ballonmütze und eine lange dunkle Bluse geliehen, so daß sich mein Aussehen nicht von dem ihrigen unterscheidet. Ich bewundere ihre Arbeitsamkeit, Geschicklichkeit und gute Laune, vor allem aber das Vertrauen, das sie in der Kaufmannschaft genießen. Ihre Schlüssel öffnen ihnen die reichsten Läden, ich staune in manchen von diesen über die Vorräte, und wie wenig sogar Juweliere am Abend ihre Schätze verschließen. Der widrigste Laden ist mir ein Magazin mit silber- und goldbeschlagenen Särgen und Sarkophagen.

Schnell, sicher, gewissenhaft läuft die Arbeit im grellen Schein der hellerleuchteten Räume. Rasch geht es mit den Geräten um die nächste Ecke. Ich fühle mich aber bei meiner neuen Anstellung insofern etwas unglücklich, als ich doch nur die Rolle eines Mitläufers spiele, ungefähr die eines blinden Passagiers auf der Bahn, und froh sein muß, wenn ich einen Schwamm in eine Kufe reines Wasser tauchen oder eine Leiter schieben darf. Immer erlebe ich einen Augenblick der Scham, wenn ich für meine geringen Dienste den stattlichen Lohn in Empfang nehme; aber woher sollte ich sonst in diesen Tagen leben? –

Noch ein Bild aus unserer Arbeit, die sich um den Boulevard Sébastopol bewegt. Gegen sechs Uhr rückt unsere Abteilung, nur eine von vielen, in die Nähe der schon ungemein belebten Hallen, besorgt dort selber die Einkäufe und hält daraus in irgend einem Restaurant Frühstück, herrlichste Mahlzeiten aus den feinsten Ernten des Landes und des Meeres. Ich lernte dabei Austern, Hummer, Kaviar und ähnliche mir früher fremde Leckerbissen kennen; die andern lachten dazu: »Ja, das Frühaufstehen hat auch seine Vorzüge; wir haben an den Kaufständen doch stets die erste Wahl!«

 

Gestern nachmittag streckte die Lafayette den Kopf in mein hochgelegenes Zimmer. Sie leitete sich das Recht dafür wohl von der Tatsache ab, daß sie mich im Jardin du Luxembourg aus meiner Einsamkeit geholt und zu den Menschen zurückgeführt hat.

»Was, Sie haben kein Bild Ihrer Mutter?« tadelte sie mich. »Welche Schande für Sie! Ich kann also die Züge der Bäuerin nicht sehen, die Ihnen so schöne Briefe schreibt!« Immer spielen ihre Gedanken um meine Mutter. Unter einem Lachen zwischen Schalkheit und Schwermut sagte sie: »Was würde sie wohl sagen, wenn sie mich, das nutzlose Geschöpf, bei Ihnen sähe? – ›Mein Sohn, wozu dieses Lausemädchen von Paris?‹ – Ich aber würde ihr die Fußspitzen küssen.« Dann fuhr sie fort: »Warum ich Sie aufsuche? Sie können noch genug Stubenhocken, ich wünsche jetzt mit Ihnen über die großen Boulevards zu gehen!«

Ich lachte: »Aha, deswegen haben Sie sich schön angezogen!« Sie trug nämlich ein graues verwaschenes Kleid wie einen Sack, als wäre sie das ärmste Kind aus dem Volke. Übermütig lachte sie mit: »Sagen Sie ehrlich: bin ich eine, die besondere Toiletten notwendig hat?«

»Nein!« erwiderte ich. »Wie einst dem Alcibiades schimmert Ihnen die Eitelkeit aus allen Löchern des Kleides!« Die Antwort gefiel ihr so gut, daß sie mich leicht an den Ohren nahm und fröhlich ausrief: »Es wachsen doch auch draußen in der Provinz gescheite Männer!«

Auf unserem Spaziergang führte sie mich vor das Reiterstandbild ihres angeblichen Ahnherrn, des Generals Lafayette, und ließ es mich von allen Seiten betrachten. »Und jetzt?« fragte sie mit einem spannungsvollen Lächeln. »Stehe es um Ihren Stammbaum, wie es wolle,« gab ich ihr zur Antwort, »das war sicher ein Kenner von Gesichtern und Gestalten, der für Sie das erste Mal den Namen Lafayette aufgebracht hat.« – »Ich werde Ihnen gelegentlich erzählen, wer es war,« entgegnete sie glücklich und schritt in ihrer kräftigen Schlankheit noch einmal so stolz an meiner Seite denn sonst.

An den Boulevards sahen wir Victor Hugo mit seinen zwei wunderschönen Enkelinnen von siebzehn und neunzehn Jahren. Wie vor einer Prozession stellten sich die Menschen vor dem Dichter mit gezogenem Hut in Reih' und Glied: »Vive Victor Hugo!« Der Greis, mit kurz geschorenem, schneeweißem Bart, nickte automatisch nach allen Seiten; mir tat er in meinem herben Schweizersinn fast leid: Was soll nun der alte Mann mit diesen Ehren? – Das Merkwürdigste an dem Erlebnis war mir aber nicht der Romancier selber, der in seinen hohen Siebzigen mit kurzen Schritten, doch männlich kraftvoll an uns vorüberging, sondern am meisten fesselte mich die Haltung meiner Begleiterin. Wie eine demütig Betende, an der das Allerheiligste vorbeigetragen wird, stand sie auf dem Randstein, und als sich das Bild der dem Dichter huldigenden Bevölkerung aufgelöst hatte, wandte sie sich ergriffen zu mir: »Wir fahren nach der Notre-Dame in den Gottesdienst der Gloire und danken miteinander dem Ewigen, daß wir Victor Hugo gesehen haben. Gott schütze Frankreich, der Himmel schenke ihm immer die Männer, die seine Ehre sind!« – Wie doch auch ein Findelkind sein Vaterland wunderbar lieben kann! –

Die gewaltige Rosette der Kathedrale glühte im farbenherrlichen Abendlicht. Unentdeckbar woher sang ein Knabenchor sein » Salut«, das wie von Engelstimmen klang. Die Lafayette zog mich leise zu sich nieder, Hand in Hand knieten wir auf der Fußbank, und sie flüsterte mir ins Ohr: »Nie werden wir diese Stunde vergessen!«

Nein, ich am allerwenigsten das Mädchen selbst in seiner Begeisterungsfreude für alles, was den Alltag überragt!

 

Manon besucht mich nun hin und wieder in meinem bei den Dachschwalben gelegenen Zimmer, doch hat das auch unangenehme Folgen. Die schnurrbärtige Wirtin hat die Gelegenheit benützt, mir den Mietzins um zehn Franken zu steigern, und die Straßburgerin, die nach etlichen Wochen Abwesenheit wieder im Hotel wohnt, begegnet der Lafayette mit einem Neid, der mich empört. Allerdings habe ich ihr für die wertvolle Bekanntschaft mit Professor Albarel zu danken. Ich habe mich aber damit doch nicht an sie verkauft! Sonderbar, wie sich große Weltbegebenheiten im kleinen wiederholen, wenn auch eine Hotelstiege nicht die Domtreppe von Worms ist, auf der sich Chriemhild und Brunhild stritten.

Die Eifersucht der beiden Damen hat nun von selber zwischen Manon und mir, nachdem wir lange nur gute Freunde gewesen waren, zu einem Gespräch über Liebesdinge geführt, und auf einem Spaziergang vor die Stadt, bei dem sie den Arm stärker als bisher in den meinen hängte, sagte sie mir in der Dämmerung: »Gern hätte ich Sie Ihrer Mutter so brav zurückgegeben, wie Sie nach Paris gekommen sind. Unmöglich, wegen des verfluchten Weibes, das Ihnen nachstellt! Ich gönne Sie nur mir selber. Sie haben aber auch keine treuere Seele in Paris als mich!«

Sie hatte ein zu feines Ohr, um nicht mein leises inneres Erschrecken über ihre Worte zu spüren. Ich glaube, es war am Rand eines Exerzierfeldes. Da sagte sie in überraschender Weichheit der Stimmung: »Setzen wir uns auf diese Bank, und ich will Ihnen mein Leben erzählen. In einer Viertelstunde wissen Sie von mir alles. Das gefundene Kind wurde mit einer Schar anderer Waisenmädchen von Ordensschwestern in einer Vorortsanstalt erzogen, – sagen wir recht und schlecht, wie es an solchen Stätten ist. Als ich nun ins sechzehnte Jahr ging, kam ich aus Gründen, um die ich nicht weiß, zu mir unbekannten Pflegeeltern; vielleicht hat man mich ihnen verkauft. Die Frau sprach mir nun immer von den Reizen der Liebe, und eines Tages erschien ein älterer Herr – nein, das erlassen Sie mir –, der Rohling wußte mir nichts als Kleider zu schenken, daher meine Abneigung gegen schöne Toiletten. O, wie habe ich ihn gehaßt! – ich glaube, ich weiß besser, wie ein Mädchen haßt, als wie es liebt!«

In diesem Augenblicke sah die Lafayette fast aus wie eine Mänade: die Stirne verfinstert, einen gräßlich verächtlichen Zug um den Mund. Sie fuhr aber fort: »Ich lief meinen Pflegeeltern davon und hatte das Glück, einen sehr rechtschaffenen Studenten kennenzulernen, Fabrikantensohn aus Lyon, und jetzt seit einem halben Jahr dort Anwalt in Handelssachen. Haben wir uns geliebt? Er mich wohl mehr als ich ihn. Er war es, der für mich den Namen Lafayette aufbrachte, der dann von den Studenten auf meine anderen Bekannten überging. Jedenfalls war er nie so hart gegen mich wie ich gegen ihn; er ist es heute noch, der für meinen Unterhalt sorgt, wohl in der Hoffnung, seine Berufsgeschäfte führen ihn wieder einmal nach Paris oder er könne hier Monate als Deputierter verleben, und dann sei ich, wenn er sich verheiratet haben wird, seine Nebenfrau. Irgendein Treueversprechen haben wir uns nie gegeben. Ich bin frei, und wenn ich seit seiner Abreise mit keinem Mann gegangen bin, so lag das nur an meinem Naturell. Sie wissen ja nicht, wie ich die Männer verachte, – nur Sie nicht – Sie nicht im Ernst Ihrer frischen Jugend. – Das ist meine Beichte. O, wenn es die Welt nur wüßte, wie auch uns das Gefühl der Verkäuflichkeit mit Scham und Ekel vor uns selber erfüllt und wie auch wir nach einer ehrlichen Liebe brennen!« Wir hielten beide die erröteten Köpfe gesenkt. Ein kurzer Kampf! Dann wurden Manon und ich doch Liebesleute. Mit der Freude darüber verbindet sich mir aber das Leid. Ich hatte ja die Leidenschaft der Manon für mich schon einige Zeit geahnt, aber den Edelmut ihrer Zurückhaltung fast feiner als jetzt ihre Liebe empfunden. Und ich bin innerlich unruhig: das Gewissen gegen die Eltern ist erwacht. Mahnend und strafend sehe ich immer die braunen Augen der Mutter über mir; deutlicher als je spüre ich, was für ein schweres Blut in meinen Adern rollt. Land und Volk der Heimat erscheinen mir auf einmal in unbegreiflicher Verklärung; selbst die Gestalten ihrer Mädchen, die vor der hochgesinnten Französin gewiß keinen Vorzug haben als den ihrer Bürgerlichkeit. Oft ist mir, ich sollte von Paris fliehen, damit ich mich nicht völlig in einer Torheit begrabe.

Manon spürt jedes Schwanken meiner Stimmung. »Ich weiß so gut wie du,« spricht sie, »daß unsere Liebe aussichtslos ist und an dem Tage sterben muß, an dem du in dein Land zurückkehrst. Mit den innigsten Wünschen für dein Wohlergehen überlasse ich dich dann deinem Jugendboden, und kein Andenken an mich soll dein weiteres Leben stören. Nur jetzt fasse es, daß auch einmal ein Kind der Straße eine wahrhaftige Liebe sucht!« Und mit aufgebäumtem Stolz knirscht sie: »Nein, ich bettle nicht, – du sollst dir auch nicht einbilden, daß du ein hübscher Junge seiest.« Und dann wird sie weich: »Mais je t'aime à cause de tes yeux lugubres de pensées!«

So lieben wir uns in Aufrichtigkeit und Schmerzen, und beide wissen, daß der Tag gegenseitigen Verzichtes kommen wird!

 

Gottlob, der Sommer mit seinen heißen Tagen und Nächten ist vorüber; wir stehen im Anfang des Septembers, und wenigstens die Abende und Morgen sind erträglich.

Unversehens erhielt ich Besuch aus der Heimat. In mein hochgelegenes Stübchen trat Albert Guyer, ein dem Vater befreundeter Maschineningenieur. Ich saß gerade eifrig über Taine, und der Mann war gebildet genug für die Einsicht, daß ich ein schwer zu bewältigendes Werk vor mir habe. Er erklärte mir: »Ich bin geschäftlich auf der Durchreise nach England und erfülle einen Auftrag Ihres Vaters, wenn ich nach Ihnen und Ihrer Lage sehe. Ich soll ihm darüber genau schreiben. Nun freut es mich, daß ich bei Ihnen alles so schön treffe, Ihre Arbeit, Ihr Zimmer, Ihre vielen Bücher, und Sie selber so frisch und gesund!« Ich verschwieg dem Ingenieur, daß ich bloß durch die freundschaftliche Hilfe einer Fensterputzergesellschaft über den Sommer hinweggekommen sei, und wir verabredeten miteinander einen Spaziergang durch die Stadt.

Gleich vor der Haustür begegnete uns die Lafayette. Was geschieht nun? überwallte mir das Herz. Freundlich neugierig trat sie an uns heran und plauderte mit dem Ingenieur: »Ihr junger Heimatgenosse und ich speisen im gleichen Restaurant. Da sind wir Freunde geworden, mit mir andere Gäste, die den Ernst seiner Studien bewundern!« Sie begleitete uns hundert Schritte und ging wieder so zwanglos von uns, wie sie sich zu uns gesellt hatte. »Spitz- und Lausbub« dachte ich; der Ingenieur aber versetzte begeistert: »Das ist einmal ein schönes und liebes Mädchen! Da möchte man ja selber noch einmal jung und ledig sein! Auch darüber muß ich Ihrem Vater schreiben. Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist.« Bei dem Lob der Manon fiel mir ein Stein vom Herzen.

Wir durchwanderten die Stadt, und ich begleitete Herrn Guyer zu dem nach Le Havre fahrenden Abendzug. »Eine Kleinigkeit bleibt noch zwischen uns zu ordnen,« sagte er. »Ihr Vater hat mich beauftragt, Ihnen, wenn es Ihre Lage erheische, hundert Franken auszurichten. Nun steht bei Ihnen alles so hübsch, daß ich die unmittelbare Notwendigkeit nicht einsehe; aber ich freue mich so herzlich, ihm Gutes von Ihnen berichten zu können, daß ich Ihnen die paar Goldstücke doch einhändigen will!« – Dankbar blickte ich dem verständigen Mann und dem Zuge nach, der im Feuer und Qualm der Nacht verschwand. Nachher sah ich noch die Lafayette und gestand ihr meine Angst bei ihrem Gespräch mit dem Ingenieur. Da ließ sie ihre Augen halb zornig, halb lachend aufleuchten: »Du bist nun doch der erste, der mich für dumm hält!« Und wir verbrachten miteinander eine schöne Stunde.

So oft sie mir versichert, von ihr aus sei ich jederzeit frei, habe ich sie im Verdacht, daß sie mich gern in den französischen Journalismus hineintriebe. Unermüdlich zeigt sie mir auf unseren gemeinsamen Wanderungen durch die Stadt Winkel, Dinge und Lebensstücke, die sonst einem Fremden schwer zugänglich sind. Wir besuchten miteinander die Katakomben aus der Frühzeit der Stadt, die riesigen Kloaken und die tausendjährigen Steinbrüche auf der Südseite mit den furchtbaren Sagen, wie viele deutsche Vorposten im Kriege 1870 darin geheimnisvoll verschwunden seien. Jetzt pflegen Schwammzüchter in den weiten Höhlen ihre Champignonbeete. Häufig gingen wir in die Kunstsammlungen. Wir kamen auch ins Irrenhaus Charenton, auf einen volkstümlichen Ball in der Grenelle, kurz, Manon vernachlässigte nichts, was für meine Feder von Wert sein könnte.

Wir erlebten miteinander sogar ein Spielhöllenabenteuer in einem Raum dicht beim Palais Royal, den ich von mir aus nie hätte entdecken können. Wir waren nur Zuschauer, um uns aber saßen etwa hundert von Geldgier verzehrte Menschen, Herren und Damen, und wechselten bei Haufen Goldes, heiser von Leidenschaft, ihre abgebrochenen Worte. Da – es war schon über Mitternacht – wurde im Saal das Gaslicht abgedreht. Man saß im Halbdunkeln, kein Laut war vernehmbar als das Knacken einer Anzahl Revolver. Die Freundin nahm meine Hand und flüsterte mir ins Ohr: »Um Gottes willen, rühr dich nicht, sonst sind wir des Todes!« Eine lange, bange Viertelstunde und drückendes Schweigen! Plötzlich wurde das Licht wieder angedreht, und bald darauf verließen wir den Spielraum, ohne erfahren zu haben, was der Grund des finsteren Zwischenspieles gewesen war.

Die Lafayette drängt, daß ich über alles, was wir miteinander sehen und erleben, kleine Feuilletons schreibe. Sie selber prüft meinen Stil, und erscheint ihr meine Arbeit rund, so läuft sie auf die Redaktionen, um die Blätter anzubieten. So gestern; aber sie kam von ihrem Gang mit wunden Füßen und entmutigt zurück, warf sich erschöpft auf einen Stuhl, biß sich in die Knöchel des Zeigefingers und zürnte mit blitzenden Augen: »O, die Zeitungen sind grausam!« – »Manon,« erwiderte ich, »du darfst dir auch nicht einbilden, daß sie nun eigens auf einen jungen Deutschschweizer gewartet haben, damit er ihnen die Spalten fülle!« Und aus der dumpfen Enttäuschung kamen wir in ein tolles Lachen hinein.

Heute begrüßte sie mich vor der Tür Gauthier fast übermütig: » Bonjour, Monsieur Martin!« »Martin?« fragte ich verwundert, »seit wann heiße ich Martin?« – Sie zog die neueste Nummer des »XIX. Siècle« hervor. Darin hatte der mir wohlgesinnte Redakteur Legrand, eine meiner Skizzen abgedruckt: » La ville en aube«, »Das Morgengrauen in der Stadt«, ein Stimmungsbild von meinen Gängen mit den Schaufensterreinigern. Offenbar aber hatte ihm mein Name für die Leser zu deutsch geklungen, und er war deswegen darauf gekommen, ihn durch das Pseudonym Martin zu ersetzen. Die Lafayette und ich freuten uns aber doch wie Kinder an dem kleinen Erfolg.

 

Gottlob, wir haben Tag- und Nachtgleiche. Der furchtbare Sommer ist vorbei, mein Leben regelt sich wieder. Die Mechaniker haben ihre Stunden wieder aufgenommen, ein vierter Schüler ist zu ihnen gestoßen. Den Schaufensterputzern habe ich gesagt, daß ich ihres so lieben Entgegenkommens nicht mehr bedürfe, das Gewissen verbiete mir, mich ohne Not für eine Arbeit entlohnen zu lassen, die ich nicht verrichtet habe. Sie aber legen mir den Rücktritt von ihrer Gesellschaft als Bildungshochmut aus. Der Berufsstolz ist unter den dunklen Blusen erwacht, und es bedarf meiner großen Aufmerksamkeit gegen sie, damit die gute Freundschaft in früherer Herzlichkeit aufrecht bleibt.

Professor Albarel ist aus den Ferien zurückgekehrt; er ist überrascht, daß ich den deutschen Unterricht im Institut seiner Schwester nicht wieder aufnehmen will. »Geht es Ihnen denn so gut?« fragte er. – »Gewiß,« gab ich zur Antwort, »ich bin als Lehrer mit genügender Stundenzahl im Schweizer Kaufmännischen Verein der Stadt bestimmt in Aussicht genommen.« – »Und Sie rechnen bei Ihren Landsleuten auf dankbarere Schüler als in unserem Institut,« lächelte er, »das verstehe ich.« Die Lafayette speiste mit uns, und niemand kann so reizend Äpfel schälen wie sie.

 

Seither hatte ich einen Entscheid zu treffen, der mir nicht leicht fiel. Das kantonale Erziehungssekretariat in St. Jakob meldete mir, daß nun eine Lehrstelle für mich frei sei. Folge ich dem Ruf nicht, so nehme es an, daß ich überhaupt auf eine Anstellung im heimatlichen Schuldienst verzichte. Nach langem Besinnen schrieb ich dem Amt, es möchte mir bis zum Frühling noch Urlaub für meine französischen Studien gewähren, ohne daß ich für immer von der Kandidatenliste gestrichen werde. »Bewilligt!« war die kurze Antwort. In der Tat, wäre ich nicht ein Tor, wenn ich nach dem harten Sommer unter den jetzigen schönen Umständen Paris verließe?

Und ich kann mich auf einen prächtigen Herbstausflug freuen. In den neueröffneten Kursen der Sorbonne begegnete ich wieder Fräulein Flore Havé aus Nogent sur Marne. Sie machte mir leise Vorwürfe, daß ich meinen versprochenen Besuch bei ihr und ihrem Onkel nicht ausgeführt habe; sie hätte mich noch einmal schriftlich eingeladen, wenn sie meine Wohnung gewußt hätte. »Wir schwammen in einem Überfluß köstlicher Früchte,« erzählte sie, »und ich hätte Sie dabei gerne mitgenießen lassen. Nun, Trauben würden Sie bei uns jetzt noch finden, wenn Sie kommen wollten.« Ich spürte nun die Ernsthaftigkeit der Einladung, die ich vorher bloß für eine Höflichkeit gehalten hatte, und vermutete, sie würde jetzt noch mein Erscheinen wie eine Rechtfertigung vor dem Onkel empfinden. Ich sagte mich auf den Sonntag zu, und mit einem Lächeln der Befriedigung erwiderte sie: »Ich werde Sie selber mit einem Wagen an der Tour Saint Jacques abholen.«

Als ich der Lafayette von meiner Verabredung sprach, sagte sie: »Gewiß, du hast Recht, daß du die Einladung angenommen hast. Das gibt ein schönes Feuilleton!«

 

Und nun schreibe ich in Paris unerwartet den letzten Eintrag in dieses Buch. Ist daran die Flore Havé schuld? – Ja. – Ein wenig auch Manon. – Und am meisten ein Brief der Mutter! –

Die Havé und ich trafen uns also am Sonntagmorgen an der Tour Saint Jacques. Unter ihrer geschickten Führung ging die Fahrt auf dem hohen, leichten Zweiräderwagen durch das Bois de Vincennes und durch die Porte Saint Mandé aus der Stadt hinaus in die Landschaft. Vor uns lag in Sonne und Herbstfarben das Tal der Marne als ungemein sanftes, stimmungsvolles Bild: ein blaues, vielgewundenes Flußband, an seinen Ufern Dörfer und Städtchen und dahinter breite Hügelschwaden. Über eine uralte Steinbogenbrücke, die man für ein Werk der Römer halten könnte, langten wir in Nogent an, hielten vor einer Mauer, in deren Kranz, nicht eben vertrauenswürdig, zerbrochene Flaschen und andere Scherben eingesetzt waren, und traten in einen geräumigen und behaglichen Hof.

Ein jovialer Fünfziger erschien und empfing mich mit einer Herzlichkeit, als hätten wir uns früher schon oft gesehen. »Meine Nichte«, sagte er, »hat mir sehr Gutes von Ihrem Lerneifer erzählt. Ich kenne auch ein wenig Ihr Land und darf also hoffen, daß Sie sich bei uns nicht fremd fühlen.« Damit geleitete er mich ins Haus und hinab in die stattlichen Keller, an die Lager auserlesenen Obstes, das sie schwer durchduftete, und in die Geschosse, in denen der Wein lag, Fässer und Flaschen. Aus einem kleinen silbernen Becher bot er mir Kostproben an und in einem unterirdischen Stübchen ein Gabelfrühstück. Mir schien das Leben des Alten in drei Worten zu bestehen: »Meine Nichte, unser Obst, unser Wein,« und über jedes ließ er beim Sprechen einen Ton der Liebkosung gleiten.

Er machte dann mit mir einen Spaziergang durch das Städtchen und rings herum und wies mir die Bilder der hochentwickelten Gartenkultur, die man in der Umgebung von Paris findet. »Sehen Sie dieses kleine Besitztum,« versetzte er. »Der Garten mag nicht über hundert Quadratmeter groß sein; davon lebt aber eine stattliche Familie. Unter der Ausnützung aller Vorteile des Bodens hat sie immer einiges auf dem Markt von Paris abzugeben und ist auf dem kleinen Grundstück wohlhabend geworden. Das sind unsere Gärtner!«

Das vortreffliche, langgedehnte Mittagessen war gewürzt durch eine rege Unterhaltung. Da warf meine Studiennachbarin das Wort hin: »Seht die flutende Sonne! Das ist ja der wunderbarste Herbsttag, den man erleben kann! Und wir sitzen hier im Hause! Ein Unrecht! Gehen wir doch ins Freie!« Der Onkel entschuldigte sich, er erwarte einen alten Freund auf Besuch, und wir jungen Leute traten allein hinaus in die Natur.

Am blauen Band der Marne, in das die Wiesen der Ufer hineinzufließen schienen, hatten sich eine Menge Pariser Ausflügler niedergelassen, Familien, Gruppen und Gesellschaften. Mit ihren Angelruten warteten Hunderte von Gelegenheitsfischern auf einen Fang, zärtliche Väter gondelten ihre Kinder, Rudersportvereine übten sich, und einige heißblütige Spaziergänger badeten noch. Fräulein Havé und ich setzten uns in ziemlicher Entfernung vom Städtchen in eine einsame, verfalbende Wiese, und im Lauf unseres lebhaften Gesprächs, das sich um Bildungsfragen bewegte, zog ich ein schmales Bändchen hervor, in das ich während der stillen Sommerwochen eine Anzahl französische Gedichte geschrieben hatte. Ich bot es ihr. Langsam und ernsthaft las sie in dem Heft, und als sie mit den Strophen zu Ende gekommen war, wiederholte sie ein paar der Gedichte laut. Ich freute mich darüber unendlich, im Wohlklang ihrer tiefen und biegsamen Stimme erschienen sie mir wie Schmetterlinge, die aus dem Schatten hervor in die Sonne flattern und nun durch sie den Glanz der Farben erhalten.

Sie schloß das Heft, sann eine Weile und sprach kein Wort. »Aufrichtig, mein liebes Fräulein, was denken Sie jetzt?« bat ich.

»Ich darf es Ihnen kaum gestehen,« erwiderte sie, »aber wir Franzosen haben ein Sprichwort: La plus grande politesse c'est la vérité! Gewiß sind Sie Dichter, und es rührt mich, wie Sie sich um unsere Sprache bemühen; nur empfinde ich den Gegensatz schmerzlich, der zwischen Ihrer schriftlichen Entwicklung und Ihrer mündlichen besteht.« Sie wollte sich nicht weiter äußern, ich drang aber in sie; da sagte sie wie aus innerer Qual: »Gut, die volle Wahrheit! Mir scheint, daß Ihr Gehör nicht scharf und Ihr Kehlkopf nicht bildsam genug ist für das gesprochene Wort. Ich denke, daß man den echten gallischen Akzent auch nur erlernen kann, wenn man als Kind darin aufwächst. Sie aber werden, fürchte ich, bei aller Bildung, sich nie ein mündliches Französisch erwerben, das Sie uns nicht sofort als Fremden verrät. Wie schwer, es Ihnen zu gestehen, aber vielleicht hilft es Ihnen selber zur inneren Klarheit! Jedenfalls denken Sie, eine Freundin, die Sie hoch achtet, habe Ihnen dieses Bekenntnis abgelegt.« Damit reichte sie mir in heftiger Gemütsbewegung die Hand.

Wir beide blieben nachdenklich, doch nicht so, daß der alte Herr etwas von unserer ernsten Unterhaltung gemerkt hätte. Herzlich lud er mich auf ein Wiederkommen ein. An der Seite meiner Gastfreundin fuhr ich mit dem Zweiräder wieder nach Paris hinein. Wir wurden immer stiller, und als wir vor meinem Hotel hielten, sagte Fräulein Havé zum Abschied: »Ich bin so traurig; ich habe Dinge gesprochen, die ich klüger für mich behalten hätte!«

Der schöne Tag schloß für uns in tiefer Beklemmung. Ich konnte mich der Selbsteinsicht nicht verschließen, daß die junge Dame mir mit ihrem Bekenntnis nur eine Wahrheit dargelegt hatte, die ich mir selber zu gestehen nie mutig genug gewesen war. In der Nacht quälte mich der Gedanke: Abgeschlagen von einer Sprache, um die ich wie um eine Geliebte gerungen habe! – Dazu kam am Morgen ein herzbewegender Brief der Mutter, der die Lafayette betraf.

Sobald es die Stunde erlaubte, holte ich Manon zu einem Spaziergang ab. Frisch und froh wie ein ausgeschlafenes Kind sagte sie mir guten Tag. »Wie war es denn bei der gebildeten Gärtnerin?« lachte sie. »Bitte, erzähle!« Als ich ihr nun das Gespräch, das Fräulein Havé und ich am Fluß geführt hatten, beichtete, verlangsamte sie ihren munteren Schritt, wurde ernst und nachdenklich. »Ich muß der Dame ein bißchen Recht geben,« sagte sie, »du leidest an einer ganz kleinen, aber immerhin merkbaren Schwerfälligkeit der Aussprache. Wozu aber es wichtig nehmen? Da läßt sich mit etwas täglicher Sprachübung viel helfen, und ich glaube, ich bin darin keine ungeschickte Lehrerin. Darf ich mich dir als solche anbieten? – Komm, wir treten in den Jardin du Luxembourg, der jetzt so still und menschenleer daliegt, und ich gebe dir die erste Stunde Unterricht!«

Im milden Herbstsonnenschein und in einer lauschigen Ecke begannen wir das Zungen- und Kehlkopfturnen; aber bald erhob sich meine Freundin ärgerlich: »Du bist ja nicht bei der Sache! Steckt dir das Fräulein von Nogent im Kopf?« – »Nein, mich quält ein Brief der Mutter,« gestand ich ihr. Schon wieder zufrieden, setzte sie sich aufs neue zu mir und bettelte mit süßen Worten: »Übersetze mir den Brief! Du weißt, daß niemand in der Welt deine Mutter so innig verehrt wie ich!« – »Ich kann dir den Brief nicht vorlesen,« erwiderte ich dumpf, und sie mir bitter: »Ist das unsere Liebe?« – In die Enge getrieben, sagte ich: »Warum ich dir das Schreiben nicht übersetzen kann? Es handelt von dir. Du erinnerst dich an den Besuch des Schweizer Ingenieurs.« – Sie hörte aber nicht recht auf meine Worte, sie sagte bloß: »Der Brief spricht von mir – ich flehe dich an: lies! Und was darin stehen mag, bei meiner Achtung für dich, unterschlage mir kein Wort.«

Ich wich ihrer zwingenden Gebärde und las ihr mit bebender Stimme vor: »Mein innigst geliebter Tobias! – Was uns Herr Albert Guyer von seinem Besuch bei Dir geschrieben hat und jetzt nach seiner Rückkehr aus England mündlich erzählt, freut den Vater und mich bis ins tiefste Herz. Es geht Dir also gut in der großen Stadt! Nun nimm mir aber eine mächtige Muttersorge nicht übel. Herr Guyer hat uns erzählt, wie ihr einem jungen Frauenwesen begegnet seid, das Deine Freundin sei. Nicht genug kann er ihre Anmut, Schönheit und Gescheitheit rühmen, und der Vater, der in diesen Dingen nicht so ernst denkt wie ich, lacht dazu: ›Es ist ihm in Paris doch ein Knopf aufgegangen.‹ Mich aber legt die Sorge um Dich schlaflos. Wenn ein bestandener und ernster Mann wie Herr Guyer für ein Fräulein so schwärmen kann, daß es einen fast geniert, wie geht es dann Dir mit Deinem zwanzigjährigen Blut? Das ist, was mich so bekümmert! Niemand weiß so gut wie ich um Deine rechtschaffene, redliche Gesinnung, und es sei ferne von mir, auf jenes Fräulein, das ich nicht kenne, einen Verdacht zu werfen. Ich habe aber doch schon Geschichten von den verführerisch schönen Frauen in Paris gelesen und weiß als Lebenserfahrene, wie rasch die Jugend ist. Finde ich eigentlich den Bogen zu dem, was ich sagen will? Ich möchte Dich inniglich bitten, daß Du aus Güte zu mir und zur Ruhe meiner Seele heimkehrest.«

»Oh!« stöhnte die Lafayette und hielt die Hände über das Gesicht geschlagen. Als ich aber den Brief einstecken wollte, bat sie mich leise, ihn fertigzulesen.

»Lieber Bub!« schrieb die Mutter, »Du kennst wohl die Gedichte unseres berühmten Staatsschreibers Gottfried Keller besser als ich einfache Frau, aber das weiß ich: er hat einmal geschrieben:

›Bleib treu dem Vaterlande,
So bleibst dir selber treu!‹

Das ist ein köstliches Wort! Wie mancher ist schon wegen eines Weibes in der Fremde hängen geblieben und blieb ein Fremder dort und wurde einer daheim. Das laß mich an Dir, mein Tobias, nicht erleben, den ich unter Schmerzen, doch auch in Freuden geboren habe. Beherzige auch das Lied:

›Wenn weit in den Landen wir zogen umher, Wie die Heimat so fanden kein Plätzchen wir mehr‹

und bereite mir nicht das Herzeleid, daß Du in der Fremde verharrst, bis es zur Heimkehr zu spät ist! Nun weiß ich nichts mehr. In unwandelbarer Liebe und Treue

Deine Mutter Elisabeth Heider.«

Manon war in sich zusammengesunken, die Wangen tödlich erblaßt. Mit zitternden Fingern zog sie den Brief aus meiner Hand, küßte ihn, und schwankend raffte sie sich empor. Mir war schon, sie gehe ohne ein Wort über den Mutterbrief davon; sie lief aber nur zum nächsten Baum. Das Gesicht von mir abgekehrt, umarmte sie ihn und blieb eine Weile in der Haltung einer Gebrochenen, dann aber kam sie wieder zu mir, streckte mir beide Hände entgegen und schluchzte: »Deiner Mutter widersprechen wir nicht. Du mußt selbstverständlich heimgehen!« – –

 

Dieses Kapitel »Abschied und Heimkehr« schreibe ich schon wieder in Reifenwerd. Wie rasch ließ ich in Paris die Würfel des Entscheides über meine Zukunft fallen!

In den kurzen, schweren Tagen vor der Abreise gewährte es mir einigen Trost, daß Manon mit mir darin herzeinig ging, meine Heimkehr sei eine Notwendigkeit. Sie hielt mich mit keinem Wort zurück; nie habe ich aber das vornehme Mädchen auch mehr verehrt als in den Stunden des Sichlossagens für immer. Zugleich beherrschte mich doch das Gefühl: »Die Mutter hat Recht, du bist einen gefährlichen Weg gegangen!« Ich betrieb die Vorbereitungen der Heimkehr so überstürzt, daß ich nicht einmal die Zeit fand, die Eltern davon zu verständigen. Es war doch ein ziemliches Trüpplein Menschen, von denen ich mich zu verabschieden hatte.

Fräulein Flore Havé sagte mir tief erschreckt: »Wie bereue ich mein ungeschicktes Wort vom Sonntag! Ich weiß es, ich bin an Ihrer Abreise schuld.« Mit der Halbwahrheit meiner Berufung an eine Heimatschule erleichterte ich ihr das Gewissen. Obgleich zwischen uns nicht die kleinste Liebschaft, sondern nur eine gegenseitige Wertschätzung bestand, trennten wir uns leidvoll. Professor Albarel und die Schaufensterputzer nahmen angesichts meines amtlichen Schriftstückes meine Heimkehr als etwas Selbstverständliches hin, nur Ernst Legrand, der Redakteur, nicht. Gründlich besprach er sich mit mir. »Ach, Ihre mangelhaften Fortschritte im mündlichen Französisch! Ihre Suppe haben Sie aber doch immer bestellen können und nähren wohl den Ehrgeiz nicht, Volksredner auf den Plätzen von Paris zu werden. Na, begraben Sie meinetwegen Ihr schönes schriftstellerisches Talent und unterrichten Sie die Bauerntölpel Ihres Vaterlandes!« Damit gab er mir ein halb Dutzend kleiner Schilderungen zurück, die er schon für sein Blatt angenommen hatte, und ließ mir das Honorar für die einzige ausrichten, die er von mir veröffentlicht hatte. Es überhob mich der Sorge, woher eigentlich das Geld für die Heimfahrt nehmen. An der nächsten Straßenecke wartete die Lafayette auf mich, und ich schenkte ihr die Manuskripte zum Andenken.

Der Abend der Trennung war da. In jenem grauen, abgetragenen Kleid, in dem sie so recht wie ein Kind des Volkes aussah, begleitete sie mich an den Bahnhof. Unser Gespräch ging ernst und weh. »Also, Manon, du weigerst dich, mir Nachrichten von dir zu geben?« – »Ja, wozu sollte ich?« erwiderte sie fest und bitter. »Nur eins: Deiner Mutter sage nie ein böses Wort über mich, sondern daß ich ihr in Gedanken den Saum des Kleides küsse, der Mutter, die dich geboren hat, denn dich habe ich geliebt! Wenn du jetzt in meine Seele blicken könntest, du erschräkest! Was sähest du darin? – Abscheu – Abscheu vor der Welt, den Menschen, vor mir selber und vor allem, was Leben heißt. Ich werfe mich wohl eines Tages in die Seine, die hat schon vielen den Frieden gegeben!«

– Plötzlich raffte sie sich zusammen und lächelte schmerzvoll: »Nein, in der letzten Viertelstunde wollen wir Liebes und Schönes plaudern.« Sie blieb bei mir, bis ich die Fahrkarte nach der Schweiz gelöst hatte, dann sagte sie: »Dort stehen ja deine Heimatfreunde, die Mechaniker!« – Ein Kuß, ein leiser Schrei, und sie verschwand in der Menge der Menschen. – Das Ende einer Liebe! –

Die Schweizer spendeten mir noch einen Abendtrunk und einen Imbiß für die Fahrt. Sie fragten mich vorsorglich: »Hast du wirklich genug Geld für die Heimreise, oder sollen wir noch einiges leihen?« – »Nein, nein, ich komme durch!« gab ich leichtsinnig Bescheid. Und sie unter Händeschütteln: »Also, auf Wiedersehen in der Heimat. Wir werden in Paris auch nicht alt!«

Der Zug lief gut durch die Nacht, verlangsamte aber am Morgen die Fahrt, hielt an vielen Dutzend Bahnhöfchen und erreichte Basel erst im tiefen Nachmittag. Mich klemmte die Sorge. Unterwegs hatte ich entdeckt, daß mein letztes Fünffrankenstück falsch war. Der verfluchte Gepäckträger hatte offenbar die Gelegenheit meiner lebhaften Unterhaltung mit der Lafayette benützt, mir das schlechte Stück zuzustecken. Ich wandte mich an den Schalterbeamten: »Diese Münze ist wohl falsch?« Da lachte er mir hell und spöttisch ins Gesicht: »Das sieht ja ein Blinder!«.Und nun beging ich noch eine Torheit. Statt mein Gepäck einfach zu Lasten der Empfänger an die Eltern zu senden, bezahlte ich dafür den Schein. Ich fand, es sei vornehmer.

Ohne Abendbrot nahm ich nun den Weg in die Heimat unter die Füße, ließ mich irgendwo vom spätesten Zug einholen, fuhr mit meinem letzten Rappen zwei Stationen weit, wanderte wieder hinein in die trübe, sternenlose Nacht und lief und lief, bis aus einem Dorf die Mitternachtsschläge zu mir herüberdrangen. Da warf ich mich, von meiner unrühmlichen Heimkehr bedrückt und tief ermattet, an einen feuchten Wiesenrand und dachte in Zerknirschung: Was bist du für ein Narr, daß du von Paris gegangen bist! – Eine Stunde Rast, und ich lief wieder, je näher ich jedoch meiner Jugendstätte kam, umso langsamer. Im Dorf brannten die ersten Lichter, das Vaterhaus aber lag noch im Dunkeln. Ich trat in den Garten und rief sachte: »Mutter – Mutter!« Tief erschreckt erwidert sie mir aus dem Fenster: »Tobias, bist du es wirklich oder nur dein Geist? Um's Himmels willen, was ist geschehen, daß du unangemeldet zu einer so außergewöhnlichen Stunde heimkehrst?« Sie schloß mir die Türe auf, und ich fand nur noch das Wort: »Mutter – Brot!«

Mit ihr freute sich der Vater meiner Heimkehr. Als ich mich ausgeschlafen hatte, ließ er mich manches aus Paris erzählen, fragte dann aber, wie es gekommen sei, daß ich von Basel habe heimlaufen müssen. Da wies ich ihm das falsche Fünffrankenstück vor. Er wurde blaß vor Zorn, holte einen Hammer, zerschlug es auf der Steinschwelle des Hauses und reichte mir den Klumpen. »Wirf das Ärgernis in den Fluß! Wir hatten von dir und anderen so freundlichen Bericht über dein Gedeihen in Paris, daß ich schon wieder auf dich zählte. Was soll man aber von einem Zwanzigjährigen halten, der einen bleiernen Fünflivre nicht von einem silbernen unterscheiden kann. Das ist ja wahrhaft ein Unglück!« Und als jener Ingenieur Albert Guyer nach mir sehen kam, der mich in meiner Dachstube am Pantheon mit seinem Besuch überrascht hatte, sagte der Vater: »Ein verlorenes Halbjahr. Auf Tobias gilt das Wort: Nichts gelernt und nichts vergessen!«

Ich bin nun freilich anderer Ansicht. In Manon Lafayette habe ich doch ein bedeutendes und vornehmes Menschenkind geliebt, besitze einen Maßstab für das Weibliche und werde nicht, wie es manchmal Lehrern geschieht, auf das erste beste Dorflärvchen hineinfallen. Den Spott des Vaters wegen der schlechten Münze muß ich nun über mir dulden. Umso sonniger lachen die großen braunen Augen der Mutter. »Mir ist doch ein mächtiger Stein vom Herzen gefallen, daß du wieder da bist,« sagte sie. »Als uns Herr Guyer von deiner Freundin berichtet hatte, schlief ich aus Sorge um dich keine Nacht mehr!« Ich wollte ihr nun von Manon Lafayette erzählen, aber ihre Gebärde und Handbewegung wehrten ab. »Lieber Bub! Das behalte fein für dich!«

Gestern fuhr ich nach St. Jakob und bewarb mich auf dem Erziehungsamt um eine Lehrstelle. Der Sekretär, unter dem Namen »der kleine Grob« bekannt, fast ein Zwerg, doch mit wunderbar ausdrucksvollem Kopf, stellte sich vor mir auf die Zehenspitzen und kapitelte auf mich ein: »Seminardirektor Doktor Wetzer hat Recht, Sie sind ein unergründlich komischer Mensch. Sie haben im Seminar die Lehrer mit Ihren Querköpfigkeiten verärgert, und uns schrieben Sie vor vierzehn Tagen, Sie blieben bis zum Frühling in Paris. Nun stehen Sie da und begehren eine Stelle. Ja, junger Schnaufer, glauben Sie denn, die Behörden lassen mit sich spielen? In Anbetracht, daß Sie immerhin ein fähiger Kopf sind, wollten wir Sie vor Ihrer Zuschrift in ein schönes Dorf an unserem See setzen. Die Stelle ist aber jetzt vergeben, und wir haben Ihnen nichts anzubieten als ein kleines Vikariat für den alten gebrechlichen Lehrer Leber in Aagrüt!«

Mir selber zur Überraschung kroch ich in die Stelle unter. Was hätte ich sonst tun sollen? – Selbst wenn ich singen könnte, sänge ich nicht: »Liebe Heimat, teure Heimat!«, eher schrie ich in die Welt: »Gebt mir Paris und seine Lebensmöglichkeiten wieder!«


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