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VI.
Die Kehrseite eines großen Mannes

»Man hat Zeit, über allerlei nachzudenken, wenn man so im Schaffnercoupee steht und Jahr auf Jahr ein auf demselben Geleise durch dieselbe Gegend fährt, wo man schließlich jeden Strauch, jeden Busch, jeden Hügel und jeden Stein kennt; nicht wahr, Herr Blomdahl?«

»Ja freilich ›denkt‹ man, doch man muß sich in acht nehmen, nicht ›in Gedanken zu versinken‹, wie es heißt. Besonders der Lokomotivführer. Denn er kann nie sicher sein, daß keine Kühe ins Geleise kommen oder daß die Maschine nur bei den Bahnhöfen defekt wird, wo eine Reservelokomotive bereitstand.«

»Kommen Ihnen die Orte, an denen Sie vorbeifahren, nicht zuletzt langweilig vor?«

»Oh ja, für Leute mit unserm beschränkten Gesichtskreise giebt es selbst auf den großen Stationen selten etwas Aufsehenerregendes. Alle drei Monate steigt dort ein Prinz ein, alle sechs ein berüchtigter Dieb, alle zwanzig Jahre stirbt ein Bahnhofsinspektor oder ein Assistent und alle zehn Jahre kommt ein neuer Perrondiener. Manchmal brennt es da, und einige Inspektoren werden so fein, daß sie sich sogar eine Erzieherin für ihre Kinder anschaffen. Auch etwas ›Neues‹ sehen Sie!«

Ich lachte.

»Ja, und bisweilen ereignet sich auch etwas Außergewöhnliches, wie damals, als das Denkmal für den Bürgermeister in R. eingeweiht wurde und der Zug so besetzt war, daß der Landessekretär, der im letzten Augenblicke kam, im Gepäckwagen auf einem Koffer sitzen mußte.«

»Was war es für ein Bürgermeister?«

»Bürgermeister F–d, der an Wassersucht starb. Alle drei Wochen wurden ihm zwölf und ein halber Liter abgezapft, und das ist viel Wasser für einen Mann, dessen Hauptgetränk Burgunder gewesen ist. Er war ein bedeutender Mann gewesen, und die Stadt ließ ihm ein über fünf Ellen hohes Denkmal setzen.«

»Und das wurde feierlich eingeweiht?«

»Ja natürlich. Schon vierzehn Tage vorher war die ganze Stadt wie im Fieber. So wie ein Zug ankam, war der ganze Perron voller Leute, die von nichts anderem sprachen. – ›Wer hat versprochen, die Verse zu liefern?‹ – ›Ehrfurcht und Verlust auf dem Kranze der Abgeordneten soll mit gothischen Buchstaben gedruckt werden.‹ – ›Der Kellermeister ist doch wohl sicher, daß die Trüffeln kommen?‹ – ›Gottesfürchtig war sein Lebenswandel‹, an der Guirlande des Kirchenrates soll so groß sein, daß man es bis nach der Brennerei hin sehen kann.« – »Der Teufel soll den Sattler holen, wenn er den Vorhang nicht in dem Augenblicke bei Seite zieht, da der Präsident auf das Medaillon deutet und sagt: ›Seine geliebten Züge, die wir hier vor uns sehen‹.« –

Ein paar Tage vor dem Feste standen zwei Stadtverordnete auf dem Perron und plauderten von dem bevorstehenden Ereignisse.

»Es wird erzählt, daß der große Steinbär, den sie von Sparrsätza holen sollten, entzwei ging, als sie ihn darauf legten, um ihn nach dem Kirchhofe zu fahren.«

»Was, der Tausend, war er ein so dicker Kerl, daß er nicht in den neuen Leichenwagen hineinging?«

»Nein, zum Kuckuck, ich meine ja den Denkstein; begreifst Du denn nicht?«

Am Tage der Einweihung stand natürlich die ganze Stadt auf dem Kopfe. Der Regierungspräsident und viele Leute kamen aus der Hauptstadt der Provinz, die Witwe und der Sohn von Stockholm, und siebzehn große Kranzschachteln waren mit im Zuge. Und doch war der Mann schon fünf Jahre tot. Nun wohl, ein Kollege von mir fuhr im Juni 1866 auf der dritten Abteilung, als in Råshult an der südlichen Stammbahn Linné ein Denkstein gesetzt wurde. Das war akkurat ebenso und der Stein war noch höher. Alle Professoren von Lund waren mit dabei, und soviel ich weiß, ist Sinne doch weder Reichstagsabgeordneter gewesen, noch hat er eine Stadt regiert.

Alle Leute waren auf der Straße, und für Diebe, die sich aufs Einbrechen verstanden, wäre es heute ein gesegneter Tag gewesen. Unten auf dem Kirchhofe standen wohl zwanzig mit Laubguirlanden umwundene Kisten übereinander, und auf der obersten mündete eine mit einem Geländer versehene Treppe – für den Präsidenten. Das war die Rednerbühne. Und Fahnen und Standarten sah man überall. Auch die Schützenkompagnie und die Temperenzler und der Vorstand der neuen Brennereigesellschaft waren mit dabei.

»Gieb mir eine Zeitung von gestern!« sagte ich zu dem kleinen Zeitungsverkäufer, und als wir weiterfuhren, las ich das vorbereitende Festreferat.

Der Denkstein war ein Ausdruck der Ehrfurcht und Dankbarkeit und hatte mit Behauen, Inschrift und Portraitmedaillon 2011 Kronen 52 öre gekostet, wovon mehr als die Hälfte durch Subskription aufgebracht war. Den Rest hatte die Sparkasse in Übereinstimmung mit § 3 des Reglements, der »Anschläge zum besonderen Nutzen der Stadt oder des Ortes oder auch zu beherzigenswerten wohlthätigen Zwecken« erlaubte, bereitwillig vorgeschossen.

F–d war siebzehn Jahre Bürgermeister gewesen und hatte sich als Richter stets durch Milde ausgezeichnet. Bei einer besondern Gelegenheit vor elf Jahren hatte er mit Thränen in den Augen einer zur Erlegung von 10 kr. verurteilten Bonbonverkäuferin selbst das Geld geschenkt, womit sie ihre Strafe bezahlte. Er war vier Jahre hindurch Reichstagsabgeordneter gewesen und als solcher mit dem Vertrauensauftrage beehrt worden, als Mitglied einer Deputation Sr. Majestät um einen Wortführer zu bitten. Er hatte eine Motion, deren Zweck ein Anschlag zur Erweiterung des Hafens in R. war, angeregt, welche jedoch infolge der Intriguen politischer Widersacher und zum Teil auch wegen des Mangels an nötigem Wasser im Sande verlaufen war. Ein Waisenhaus für zwölf elternlose oder vernachlässigte Kinder hatte ihm in erster Reihe für seine Existenz zu danken, und er war Vorsitzender der Verschönerungsgesellschaft gewesen, die am See 193 Linden und an der Kirchhofspforte die beiden Ahornbäume gepflanzt hatte, woselbst ... ja, da fuhr der Zug in T. ein.

*

»Auf der Fahrt nach R. müßt Ihr ein paar Minuten ›einschustern‹, denn dort wird es heute länger dauern als sonst,« sagte der Bahnhofsinspektor zum Zugführer, als wir abends in T. abfuhren.

In R. herrschte, als wir zurückkamen, Leben und Bewegung. Der damalige Bürgermeister, ein verhältnismäßig junger, netter Mann, hielt auf dem Perron eine Rede an den Regierungspräsidenten. Er sah dabei aus, als drückte die Größe seines Vorgängers ihn zu Boden. Bei dem Ratsherrn saß der Knoten der weißen Halsbinde unter dem einen Ohre. Der Vorsitzende der Stadtverordneten hatte einen großen Saucenfleck auf dem linken Aufschlage seines Frackes, der genau die Stelle bezeichnete, wo der in sehr kleinen Städten oft ein wenig auf sich warten lassende Wasaorden zu strahlen pflegt. Und der Oberst des dort in Garnison liegenden Regimentes versuchte mit Kraft eine kleine Thür zu einem für Herren reservierten Gemache zu öffnen, wobei er energisch ausrief: »Hier will ich sitzen.« Die allgemeine Stimmung war derartig, daß man annehmen konnte, die fünfjährige Trauer um Bürgermeister F–d habe in der Ehre, die dem Gedanken des großen Mannes erwiesen worden war, einigen Trost gefunden und man habe sich nun entschlossen, den Verlust mit Resignation wie ein Mann zu ertragen. Ich verschaffte mir die Festnummer des Tages. – Mia, hole mir das große gelbe Couvert aus der obersten Kommodenschieblade! – ich machte hinter der Hälfte der fröhlichen Gesellschaft, die mitfahren sollte, die Thüren zu, ich suchte die ein wenig unsichern Beine der andern Hälfte von den Trittbrettern und den Schienen zu entfernen, und als der Zug dahinrollte, las ich beim Schein der Laterne:

»– – – der Mann, der für seine Tugenden den süßesten Lohn in den Armen der glücklichsten, liebevollsten Gattin und in einem traulichen Heim voll häuslichen Glückes fand, wo der reine Wandel des Hausvaters, vom Jünglingsalter an bis an seinen Tod, der aufwachsenden Generation ein gutes Beispiel gab.«

– Das war aus der Rede des Bischofs an die verwitwete Bürgermeisterin. Eine verteufelte Zeitung! Sie war gedruckt worden, während die Gesellschaft noch bei der Bowle saß.

»Wenn ein fleckenloses Leben, unermüdliche Arbeit im Dienste der Menschheit, ein Herz voll Nächstenliebe, ein tadelloser Charakter und eine Begabung, wie sie nur wenigen zu teil wird, hier in Schweden noch etwas bedeuten, so wird Bürgermeister F–d's Name auch dann noch geachtet und geehrt fortleben, wenn die Winde des Himmels die goldene Inschrift verdunkelt und der Sommerregen und der Winterschnee eines Jahrhunderts die in den Granit gegrabenen Züge eines der besten Söhne unseres Vaterlandes aus der Zeit, die wir die unsere nennen, verwischt haben.«

Sehen Sie, so begann die Einweihungsrede des Regierungspräsidenten, während der Sattlerbube mit der Leine in der Hand unter den Tannenzweigen lag, damit er den Vorhang bei Seite zöge, sowie der Stadtsyndikus sich niederbeugte und ihn ins Bein kniff.

»Und die Kinder der Sünde, die kleinen Armen,
Die Vater und Mutter grausam verlassen,
Erweckten in Deinem Herzen Erbarmen,
Du konntest ein solches Verbrechen nicht fassen.
Du schlossest ihnen die Krippe auf
Und Sonne fiel auf ihren Lebenslauf.«

Die Krippe war das von dem Bürgermeister gestiftete Waisenhaus, wo die armen Kleinen, von denen Papa und Mama nichts wissen wollten, ausgenommen wurden. Der Vers ist von einem Professor verfaßt, und die folgenden sind noch hochtrabender.

Ich ließ sie auf der Britsche liegen, und dort fand sie am nächsten Morgen unser Heizer, ein armer, verfrorener Teufel mit blauer Nase und aufgesprungenen Händen. Er las den Vers über »die Kinder der Sünde«.

»Pfui, Teufel!« rief er, die Zeitung wieder auf die Bank werfend.

»Schämen Sie sich denn gar nicht, Johansson? Wie können Sie sich so betragen!« sagte ich, der daneben gestanden hatte.

»Ja, Herr Schaffner, das kann ich mit Recht, denn ich bin sein leiblicher Sohn, und er ließ meine Mutter im Sjöbackaer Armenhause sterben, als ich kaum drei Wochen alt war.«


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