Friedrich Hebbel
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Friedrich Hebbel

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Ein Schloß und eine alte Familiengruft

Die Zeitungen meldeten vor einiger Zeit ein furchtbares Unglück. Auf einem Schloß in Steiermark, hart an der ungarischen Grenze gelegen, wird der Sonntagsgottesdienst abgehalten. Es ist ein wunderbar schöner Morgen, die Kapelle kann die Zahl der von allen Seiten heranströmenden Andächtigen nicht fassen, und der Geistliche muß sich, wie es in ähnlichen Fällen schon öfter geschah, zu einer Predigt im Freien entschließen. Der Schloßhof ist groß, die steirische und die ungarische Ritterschaft pflegte sich seiner in früheren Jahrhunderten zu den glänzendsten Turnieren zu bedienen, und die für den »reichen Kranz« der schönen Damen bestimmten Galerien spinnen sich noch jetzt in länglichem, weit gestrecktem Oval um ihn herum. Dort, vor einem halb verwitterten steinernen Kruzifix, wird die Kanzel aufgeschlagen, und das heilige Werk beginnt. Aber plötzlich türmen sich Regenwolken, der blaue Himmel verfinstert sich, und ein schreckliches Wetter kommt zu raschem Ausbruch. Die Menge stiebt auseinander. Einige finden Schutz unter den dichten, dunkeln Zweigen des riesigen Nußbaums, der in der Mitte steht, die meisten stürzen die Treppe hinauf, die zu den noch immer wohl bedachten Galerien führt. Aber diese, längst gewohnt, nur noch den Gutsherrn oder einen seiner Gäste auf einer späten Wanderung in der Abenddämmerung zu tragen, brechen zusammen unter der neuen Last, die vermorschten Balken geben nach, die Pfeiler wanken, und wie der entsetzte Menschenhaufe sich nach und nach aus dem Chaos der Stein- und Holztrümmer wieder loswickelt, bleibt mehr als einer liegen und wartet auf die Posaune des Jüngsten Gerichts.

Diese Zeitungsnachricht war für mich der letzte Strich an einem mir wohlbekannten Bilde, das in voller Farbenfrische wieder vor mir auftauchte, als sie mir vor die Augen kam, und ich rief unwillkürlich aus: »So mußte es kommen, wenn das Ganze einen Abschluß erhalten sollte, nun ist es endlich rund!« Ich war nämlich mit dem alten Schlosse so vertraut, wie eine der Mäuse, die auf seinen Böden oder in seinen Kellern hausen, denn ich war vor Jahren einmal drei Tage lang darin herumgeklettert und hätte es schon damals natürlich gefunden, wenn es eingestürzt wäre, so wie ich ihm wieder den Rücken gewandt hatte. Als nun bald darauf in den Blättern eine offenbar vom Gutsherrn selbst hervorgerufene Berichtigung erschien, die zu beweisen suchte, daß die Wunden eigentlich keine Wunden, die Toten keine Toten gewesen seien, da trat auch dieser mein Freund, 277 überall ein ernster, Ehrfurcht gebietender und erzwingender Mann, aber hier wider Wissen und Willen eine durchaus humoristische Erscheinung, in heller Beleuchtung wieder vor meine Seele hin, und mit ihm zugleich der seltsamste Kontrast, der vielleicht jemals zwischen der Natur eines Besitztums und der seines letzten Eigentümers bestanden hat. Wenn der Sarg Karls des Großen bei der neuesten Eröffnung des Grabes mit allen Resten durch irgendeinen der rätselhaften Zufälle, an denen die Weltgeschichte reich ist, in die Hände eines Trödlers, statt in die des ehrwürdigen Domkapitels geraten wäre, so hätte sein Schicksal nicht wunderlicher ausfallen können, wie das des alten Schlosses. Die Knochen würden durch sich selbst, als die eines Menschen und mutmaßlichen Christen, wenn auch nicht die eines Kaisers und unsterblichen Helden, vor Profanierung geschützt worden sein und ihr stilles Plätzchen innerhalb der Kirchhofsmauer neben der Asche eines ehrsamen Schuster- oder Schneidermeisters eingeräumt erhalten haben. Aber die Überbleibsel der byzantinischen Seide und des venezianischen Samts, die unzerstäubt gebliebenen Fetzen alter Pracht und Herrlichkeit, in die man sie eingeschlagen fand, hätten sich nur zu leicht in die Bude eines Puppenspielers verirrt, um den abgeschabten Purpurmantel König Davids zu ersetzen, und der Sarg, wenn er anders, was ich nicht weiß, was sich aber bei der langen Dauer doch mit Wahrscheinlichkeit annehmen läßt, nicht von Holz, sondern von Marmor oder von Blei war, hätte in dem einen Fall ohne Zweifel an die Stelle eines Brunnentroges treten, in dem andern in Dachrinnen- oder Kanonenkugelgestalt seine unfreiwillige Auferstehung feiern müssen. Nicht besser war das Los des alten Schlosses gewesen, nur mit dem Unterschied, daß mein Freund, weit entfernt, bei der Veränderung desselben durch den Vorteil bestimmt zu werden, im Gegenteil sein Geld mit beiden Händen aus dem Fenster warf, um das zu beseitigen, was er ein wüstes Durcheinander nannte, und was ihn in innerster Seele anwiderte. Er ging in der verfallenen Totenburg wie ein modernes Gespenst umher und hätte die Geister der Abgeschiedenen, wenn er ihnen sichtbar geworden wäre, gewiß mehr erschreckt, wie sie ihn.

Seltsame, phantastisch-eigentümliche Stunden, die mich märchenhaft zwischen zwei entgegengesetzten Welten schaukelten, soll ich euer Gedächtnis wieder heraufrufen? Es werde hier in flüchtigen Umrissen versucht. Ungern folgte ich der Einladung meines Freundes, so sehr die klaren, goldenen Herbsttage auch zu einem letzten Ausflug vor der nahen Wintersperre lockten, denn ich hatte mich schon tief in eine Arbeit eingesponnen, und 278 die künstlerische Produktion hat das mit dem Traum gemein, daß man sich auf sie ebensowenig vorbereiten, als sie, einmal unterbrochen, willkürlich wieder aufnehmen kann. Aber ich hatte ein Versprechen gegeben, wenn auch allerdings nur, wie in solchen Fällen gewöhnlich, in der sicheren Erwartung, daß ich an die Erfüllung nie gemahnt werden würde; ich wurde wider Erwarten daran erinnert, wie ein ehrlicher Schuldner an den Verfalltermin seines Wechsels, und mir blieb, da mein Freund kein Mann der Ausreden war und, wie ein spanischer Zahuri, unter dem üppigsten Gras- und Blumenwuchs noch die Toten in der Erde liegen sah, durchaus nichts weiter übrig, als alles beiseite zu werfen und das Gelübde abzulegen, künftighin vorsichtiger zu sein. Doch war es nicht ganz so; alte Schlösser, um die Leben und Tod miteinander zu ringen scheinen, haben von Jugend auf einen unendlichen Reiz für mich gehabt, und auch mit meinem Freunde verkehrte ich trotz des schneidenden Widerspruchs unserer Naturen von Zeit zu Zeit sehr gern, denn wir standen, die großen Verhältnisse beiseite gesetzt den Vatermord, sowie die Verschwörung von Brutus und Cassius abgerechnet, ungefähr so in der Welt zueinander, wie Hamlet und Julius Cäsar im Shakespeare, und es imponierte mir gewaltig, wenn er, von seinem ausgebreiteten amtlichen Wirkungskreise her an rasches Handeln gewöhnt, in viel kürzerer Frist tausend Pläne realisierte, als ich einen einzigen ersann, und das im Handumkehren vollbrachte, wozu ich eines monatelangen Anlaufs bedurft hätte, wogegen er meinen Träumen zuweilen auch nicht ungern ein geneigtes Ohr lieh. So ergab ich mich denn auch bald in mein Schicksal, und kaum war ich auf der Eisenbahn, als die alte Reiselust in mir mit voller Gewalt wieder erwachte und mich vorwärts trieb. In früher Morgenstunde, nach einer nächtlichen Fahrt, die durch ein interessantes Gespräch mit Unbekannten, wie ich es liebe, rasch genug verstrich, erwartete mich auf einer Hauptstation mein Freund mit seiner Equipage, und nun ging's ins Land hinein, tief und immer tiefer, an allen Raabfürsten vorbei, wie Kaiser Josef die breit über den ganzen Fluß gelagerten Müller nannte, bis das alte Schloß mit dem seltsamen steinernen Ausrufungszeichen, das seinen Turm vorstellte, aus dunkelm Waldesgrün vor uns auftauchte. »Das ist das einzige, was ich nicht verändern werde,« sagte mein Freund, indem er auf die phantastische Turmspitze deutete, »denn ich denke sie ganz abtragen zu lassen, wozu brauchen wir Türme, wenn keine Glocken darin hängen?« Wir kamen an einem Garten vorbei, aus dem uns eine Menge goldener Tafeln mit türkischen und persischen 279 Inschriften anblitzten; er gehörte dem größten Orientalisten unserer Tage und stach in seiner minutiösen Zierlichkeit höchst wunderlich gegen die Urzustände ab, die bei der Nähe von Ungarn schon auf unzweideutige Weise hereinzubrechen begannen. Bald erreichten wir unser Ziel, mußten aber auf der letzten Strecke, wo es etwas rasch in die Höhe ging, den Wagen verlassen, wenn wir den Hals nicht riskieren wollten, so sehr verschlechterte sich der Weg, an dessen Ausbesserung finster blickende und kaum grüßende Bauern langsam und widerwillig arbeiteten. Eine alte Fassade, dicht mit Weinlaub umsponnen und von ehrsamer Steinmetzenhand mit plumpen Figuren geschmückt, lud zum Eintritt ein; ein ungeheurer Hof, um den eine lange Reihe von Generationen im widersprechendsten Geschmack die grell voneinander abstechenden Gebäude zusammengeschoben hatte, empfing uns; ein unheimlicher Brunnen von schwindelerregender Tiefe, über den ein gewiß hundertjähriger Nußbaum seine düstern Zweige senkte, bildete den Mittelpunkt des Ganzen. Ich fühlte mich in eine ferne Vergangenheit entrückt und wäre dem Eindruck gern noch ruhig nachgehangen, aber mein Freund rief mir zu: »Stoßen Sie sich jetzt an nichts, das wird alles in ein paar Jahren ganz anders aussehen; die Fassade lasse ich einreißen, den Brunnen verschütten, und auch der Baum hat uns die längste Zeit hier die Schlafzimmer dunkel und feucht gemacht!« Ehe ich mich noch von dieser entsetzlichen Eröffnung erholt hatte, durchschritten wir schon die Säle, welche der verschönernden und umbildenden Hand meines Freundes bereits zum größten Teil erlegen waren. Kolossale Räumlichkeiten, durch längere oder kürzere Korridore miteinander verknüpft, breiteten sich labyrinthisch verschlungen vor mir aus; die Korridore waren noch unverändert, geputzte Mohrenkönige und -königinnen, seltsam grimassierend, grinsten aus verblichenen Goldrahmen von den Wänden auf mich herab, von geschwollenen allegorischen Gestalten, als da sind: Sommer und Winter, Liebe und Gerechtigkeit, fratzenhaft unterstützt; die Säle trugen schon den modernen Stempel. Sie waren an Schränke gewöhnt, in deren Schubladen ein Pariser Salle à manger Platz gehabt hätte, an Tische, die für das ganze Corps de ballet einer kleinen fürstlichen Residenz geräumig genug gewesen wären; das sah man an den Kaminen, die mit Bequemlichkeit einen mäßigen Eichbaum auf einmal in ihren Molochbauch aufnehmen konnten. Jetzt standen elegante Diwans und Stühle der neuesten Fasson umher, die hier früher ganz vortrefflich als Nippesachen zur Belustigung der Kinder hätten dienen können, und darüber hingen alte Familienbilder, worunter ein zornig dreinschauender Gaugraf 280 besonders hervortrat, der mit seinem Richterstab auf einen hinter ihm auflodernden Scheiterhaufen deutete, und dem gegenüber seine Gemahlin, eine gespreizte Dame mit stumpfblödem Gesicht, die einen scheußlichen Affen liebkoste, placiert war. Nur der Trinksaal war unverändert, und ein Loch in der Mauer, durch das er mit dem Keller in unmittelbarer Verbindung stand, so daß der Wein, in gewaltigen Krügen von Hand zu Hand gereicht, gleich vom Faß auf den Tisch wandern konnte, mahnte eindringlich an das goldene Alter der deutschesten aller Künste, der edlen Methologie oder, wie Lichtenberg will, Methyologie, an die fernen, fernen Tage, wo der »Stiefel« erfunden wurde, der auch den herzhaftesten Enkel noch jetzt mit Ehrfurcht und schaudernder Rührung erfüllt, wenn er ihm in einer Raritätenkammer, denn dahin ist er leider verbannt, einmal vor die Augen tritt; an die Heroenzeit, wo die Zecher sich gar nicht niedersetzten, als mit dem feierlichen Gelübde, vor Ablauf von vollen dreimal vierundzwanzig Stunden nicht wieder aufzustehen, und wo sie sich, selbst den Schwächen einer Urweltsnatur mißtrauend und bekannt mit den Verlockungen einer Streu im Winkel, gleich fest zusammenbanden, um sich das Halten des Schwurs gegenseitig zu erleichtern. Mit Staunen betrachtete ich mir dies Loch und überzeugte mich so recht, daß jede Generation Schöpfergeist genug besitzt, um das hervorzubringen, was ihr gerade am nötigsten ist, und daß darum keine auf die andere mit Hochmut und Dünkel herabschauen, die der Eisenbahnen und der Dampfschiffe z. B. in ihrer Aufgeblasenheit die bescheidene des »Trinkstiefels« nicht verachten soll, obgleich sie unleugbar rascher vorwärtskommt, wie diese, die sich mehr auf Sitzen- und Liegenbleiben eingerichtet hatte. Eine Wendeltreppe von nur drei weit auseinanderliegenden Stufen führte in den Keller hinunter, aber mit welcher Weisheit war sie erbaut, so eng nämlich, daß niemand seines benebelten Kopfes wegen umfallen konnte, der dahin gestellt wurde, um die Löschanstalt mit versehen zu helfen, was gewiß, wenn man die Verhältnisse in billige Erwägung zieht, ebensoviel Anerkennung verdient, wie die Konstruktion der so allgemein angestaunten künstlichen Achse, die unsere Lokomotive vor Stockungen bewahrt. Dieser mir so unerwartet aufgestoßene neue Beweis der ursprünglichen Tüchtigkeit und Solidität »Deutscher Nation«, die sich nicht einmal in dem verleugnet, was die Nachbarvölker unsere Laster zu nennen pflegen, brachte mich fast zum Schwärmen, und schon wollte ich, in immer höhere Gebiete aufsteigend, und nach Anleitung von Sturms Morgenandachten der heilsamen dreifachen Verwendbarkeit des menschlichen Mundes 281 gedenkend, mit Stolz ausrufen: mag der närrische Franzos den ersten Einfall gehabt und also auch aller Welt das erste Wort weggeschnappt, mag der Ur-Britannier die erste Langeweile verspürt und das erste mustergültige Gähnen zustande gebracht haben, sicher hat der Teutone den ersten Schluck getan. Da aber klopfte mein Freund mich auf die Schulter und sprach: »Das alles wäre schon im Frühling beseitigt worden, wenn nur Maurer zu bekommen gewesen wären, doch der Schnee soll nicht fallen, bevor nicht auch hier aufgeräumt ist.« Jetzt überließ er mich mir selbst, weil er mit Verwalter und Jäger zu verhandeln hatte, und ich konnte nach Lust und Laune herumsteigen und klettern. Ich traf überall dasselbe: versunkene Pracht und Herrlichkeit und notdürftige Restauration, kümmerliche Herstellung des Einzelnen durch mühsames Zusammenflicken ohne Sinn für das Ganze, ein Totengerippe, in Halskrause und Manschetten gesteckt, aber darum im Winde nicht weniger gräßlich klappernd. Die Dämmerung brach allmählich herein, und indem ich, die rasch durchstöberten Böden verlassend, meinen Entdeckungsgang beim letzten Licht des scheidenden Tages auf dem im Eingang geschilderten Galerien-Oval fortsetzte, geriet ich unversehens in ein neues Labyrinth von größeren und kleineren Gemächern hinein, welche ehemals die Pfarrwohnung vorgestellt haben mochten. Sie waren ganz leer, und ich wäre gleich wieder umgekehrt, wenn ich nicht eine menschliche Gestalt bemerkt hätte, die unheimlich an den Wänden dahinschlich und sich offenbar vor mir zu verbergen suchte. Ich schritt auf sie zu, sie wandte sich, als sie dies sah, augenblicklich um und bat mich, sie nicht zu verraten. Es war ein Mann, der dieses verdächtige Gesuch mit heiserer Stimme vorbrachte, und im höchsten Grade erstaunt, forderte ich ihn auf, mir aus der Halbfinsternis der dumpfen Räume auf die Galerie ins Freie zu folgen. Er gehorchte ungern, aber er tat's, und welch ein Jammerbild stand vor mir, als er in die roten Strahlen des verglühenden Abends hinaustrat. Ein bleiches Gesicht mit sanften Christusaugen blickte schüchtern zu mir auf, ein Rock, aus so vielen Fetzen und Lumpen zusammengestückt, daß er an Papagenos Federkittel erinnerte, und auch, wie dieser, vor dem leisesten Luftzug in flatternde Bewegung geriet, war um einen fast durchsichtigen Körper geschlungen, und die mageren Hände hielten ein halb verzehrtes Stück Schwarzbrot. Es war kein Missetäter, der sich vor mir zu verstecken gesucht hatte, es war der Schulmeister, der den Kindern der wenigen Dorfhütten, die in der Nähe herumlagen, den notdürftigsten Unterricht erteilte und der sein undankbares Handwerk, wie ein Verbrecher, 282 in einem Schlupfwinkel betrieb, zu dem sich seine Zöglinge selbst ängstlich hinaufstehlen mußten. Das hing, wie ich auf meine Fragen erfuhr, so zusammen. Das alte Schloß war nur als eine an sich wertlose, aber von dem übrigen Güterkomplex nicht zu trennende Beigabe neben den Äckern und Waldungen in den Besitz meines Freundes gekommen als ein Trümmer- und Steinhaufen, der höchstens die Materialien zu einem neuen Bau liefern konnte. Dezennienlang hatte es wüst und öde dagelegen, ja insoweit geradezu herrenlos, als niemand Eigentumsrechte geltend machte; durchstreifende Zigeunerbanden hatten darin ihr Quartier aufgeschlagen, versprengte Honveds ihr Asyl gefunden, kein Wunder, daß auch die Bauern sich dort eine wohlfeile Schulstube ausgesucht hatten. Das war nun alles anders geworden, und der arme Mensch, vom Verwalter nur halb und halb und auf Bedingung geduldet, fürchtete, daß er ausgejagt werden möchte, wie Vagabunden und Räuber, und mied darum das Auge des Gutsherrn. Darüber konnte ich ihn nun nicht nur beruhigen, sondern ihm auch bei dem Charakter meines Freundes, ohne das geringste zu wagen, eine gründliche Verbesserung seiner traurigen Existenz versprechen, und so wurde er für seinen Schreck durch eine Hoffnung belohnt, die gleich am nächsten Tage glänzend in Erfüllung ging. Die Nacht senkte sich, und mir wurde neben der Kapelle, in der sich zugleich die Gruft befand, mein Schlafgemach angewiesen; nur ein einziger Saal, von dem aus eine Treppe mit unverschlossener Tür hinunterführte, trennte mich von ihr, der Nußbaum klopfte mit seinen Zweigen, wenn ein Windhauch hindurchstrich, ab und zu an mein Fenster, zuweilen warf er auch, wie ich in der Stille an dem Plätschern des Wassers deutlich vernehmen konnte, eine seiner schweren Früchte in den Brunnen hinunter. Doch bekam ich die Ohren für dies alles erst später, als ich schlaflos in meinem Bette lag, denn ich und mein Freund blieben lange beisammen, und er teilte mir eine Menge Sagen mit, die sich an das Schloß knüpften. Besonders eine scheint mir erhaltungswert. Es steht im Hof ein steinerner Johannes, der sich dadurch von allen übrigen Standbildern des vielverehrten Heiligen unterscheidet, daß er bedeutungsvoll den Finger der rechten Hand auf den Mund gelegt hält; er war mir in seiner Nische, trotz des wilden Ahorns, der ihn zur Hälfte verdeckte, keineswegs entgangen. Dieser soll so zustande gekommen sein. Eine schöne junge Dame, vom Grafen heimgeführt, zieht als Gebieterin ein und waltet des Amts der Schlüssel etwas strenger, als dem Gesinde, das bis dahin sich selbst überlassen war, lieb 283 sein kann. Sie wird eines Abends ans Fenster gelockt, durch einen Brief, wie es heißt, den man mit dem roten Siegel gegen die Scheiben drückt, und den sie in Empfang nehmen will; wie sie aber näher tritt, fällt ein Schuß, und wohl getroffen sinkt sie ihrem rasch und bestürzt vom Familientisch herbeispringenden Gatten tot in die Arme. Der Verdacht haftet auf jedermann und darum auf keinem; viele Jahre später aber stirbt die Försterin, welche die Wirtschaft vor ihr geführt und nach ihr wieder übernommen hatte, und diese ordnet in ihrem Testament bei Strafe der Enterbung die Errichtung der rätselhaften Statue mit dem Attribut des Schweigens an, denn der heilige Johannes habe ihr sein Wort gehalten, und sie wolle ihm auch das ihrige nicht brechen. Bevor wir auseinander gingen, vertraute mein Freund mir noch, daß er mich aus einem ganz besonderen Grunde gerade jetzt auf sein Schloß zitiert habe, und holte mit geheimnisvollem Lächeln aus dem Hintergrund des Zimmers ein großes Bild hervor. Es war ein Familienstück und, wie man auf den ersten Blick erkannte, aus alter, alter Zeit; um einen ernsten, geharnischten Ritter und seine demütig aus steifer Halskrause hervorschauende Gemahlin gruppierte sich eine anmutige, zahlreiche Kinderschar. »Das sind die Grafen von L–,« sagte mein Freund, »als das Gut von der Familie kam, haben sie dies Bild behalten; jetzt ist die letzte Enkelin gestorben, und diese hat es mir unter der Bedingung vermacht, daß ich es in der Gruft aufhängen lasse. Das soll nun geschehen, und Sie werden nicht ungern dabei sein!« Damit verabschiedete er mich, folgte mir aber fast auf dem Fuß nach und legte ein Pistol neben mein Wasserglas. »Genieren Sie sich ja nicht, Gebrauch davon zu machen,« rief er mir zu, »wenn Sie ungebetenen Besuch erhalten sollten, der Gast wird sich auch nicht genieren. Drei Stunden von hier hat man zu Mittag eine ganze Tischgesellschaft überfallen und sich zum Andenken nicht bloß die silbernen Löffel, sondern auch einige Ohren mitgenommen, und ich habe einen Brief vom benachbarten Postamt vorgefunden, worin ich aufgefordert werde, eine für mich eingelaufene Summe Geldes in Person zu erheben, weil man das Risiko des Schickens nicht mehr übernehmen könne. Wir sind an der ungarischen Grenze.« Ich konnte nicht schlafen, doch nicht die Räuber des Bakonierwaldes störten mich in der Ruhe, sondern das Bild mit den frischen, rotwangigen Kindern, die auf der Tafel des Malers noch gaukelten, wie Schmetterlinge im Sonnenschein, und die doch seit Jahrhunderten schon Staub und Asche waren und in meiner nächsten Nähe schlummerten. Ich horchte auf Nußbaum 284 und Brunnen und ihr seltsames Zwiegespräch, ich dachte des humoristischen Fürsten S., der mir tausendmal auseinandersetzte, daß das Recht der Notwehr nach den neuesten Prinzipien der Juristen erst eintrete, wenn einem die Gedärme bereits um die Knie schlotterten und wenn man einen Zeugen darüber habe, aber nichts wollte helfen. Eine Beinkammer oder Schädelstätte hat nie etwas Schreckliches für mich gehabt; der dürre Knochen, der nackte Totenkopf stehen dem Stein schon viel zu nah, um mich noch lebhaft an den Menschen, dem sie einst angehörten, zu erinnern. Aber eine Gemäldegalerie, besonders wenn sie eine reiche Porträtsammlung hat, kann durch den auf der Leinwand festgehaltenen schalkhaften Augenstrahl und das mir von längst verblichenen Wangen entgegenflatternde Lächeln wahre Gespensterschauer in mir erwecken. Mit einer Waffe, deren ich nicht bedurfte, war ich versehen, aber an Schwefelhölzern fehlte es mir, und da man leider nicht Young zu sein braucht, um Nachtgedanken zu haben, und diese, je länger man sie gewähren läßt, um so finsterer zu werden pflegen, so entschloß ich mich zuletzt zu einem eigentümlichen Mittel, um mir wenigstens Licht zu verschaffen. Ich wußte, daß in der Kapelle die ewige Lampe brannte, und ich dachte, daß ich als Ketzer mich ihrer wohl im Notfall zu einem profanen Zweck bedienen dürfte, ich ergriff daher meine Kerze und tastete mich nach dem Zwischensaal hinüber. Von dort leitete mich der schwach durch die gebrochene Tür dringende Schimmer sicher zur Treppe, und bald stand ich vor dem Altar und entzündete meine weltliche Flamme an der heiligen, die dort der Mater dolorosa loderte und sie spärlich beleuchtete. Nun sah ich mich flüchtig um, denn ich hatte die Kapelle, da sie von außen verschlossen war, noch nicht betreten. Sie war klein und eng, vergitterte Schränke waren an den Wänden aufgestellt, aus denen staubige Marienkronen, zerfetzte Priestermützen, verbogene Kelche und ähnliche Reliquien vorschauten, zu meinen Füßen befand sich eine kolossale steinerne Falltüre, die fast ein Dritteil des gesamten Raumes einnahm und ohne Zweifel ins Gruftgewölbe hinabführte. Ich eilte in mein Bett zurück und schlief nun sehr bald ein, verkehrte aber im Traum mit lauter Toten, mit einem Spielgefährten der frühesten Kindheit, mit der ersten Jugendgeliebten usw. Der Morgen war wunderbar schön, mein Freund gab wegen der Eröffnung des Grabes die nötigen Befehle, dann setzten wir uns in den Wagen, um die Umgebung zu besehen. Welch eine Baum- und Wälderpracht, welches Farbenspiel, welche Luft! In der Nähe Römergräber, reich an Münzen aus der Kaiserzeit, 285 die Riegersburg, die man in ihrem Trotz architektonisch die unvergängliche nennen möchte, wie sie militärisch die unüberwindliche ist, Gleichenberg mit seiner Heilquelle usw. Erst spät kamen wir heim, und wie wir bei vortrefflichem Wein unsere fetten Rebhühner verzehrten, erfuhr ich von meinem in allen Gebieten bis aufs kleinste Detail unterrichteten Freunde einen neuen humanen Zug, durch den der Mensch seinen stummen Mitbrüdern auf gewohnte Art seine Liebe beweist; das Rebhuhn wird nämlich nicht abgestochen, sondern abgefedert, indem die Köchin ihm an einer bestimmten, durch die Tradition der Jahrhunderte ein für allemal festgesetzten Stelle eine starke Feder aus dem eigenen Leibe reißt und ihm mit dieser den Hals durchsticht. Aber welch eine Überraschung stand uns am nächsten, zum Aufhängen des Bildes anberaumten Morgen bevor! Die Eröffnung des Gruftgewölbes hatte während unserer Abwesenheit stattgefunden und war sogar viel leichter vor sich gegangen, als man zu hoffen gewagt hatte. Allein, was hatte man entdeckt! Statt der langen Reihe von kupfernen und bleiernen Särgen mit Silberschilden und Trophäen, wie sie im Laufe von wenigstens drei Jahrhunderten hinabgesenkt worden waren, einen wüsten Haufen von Totenschädeln und Gebeinen, unordentlicher herumgesäet, wie die ausgepflügten Überbleibsel der Tiere auf einem Ackerfelde. Ein schauerliches Verbrechen lag vor: Gräberschändung und Totenberaubung im scheußlichsten Grade, aber es konnte ebensogut vor fünfzig, wie vor fünf Jahren verübt sein, und nur dies stand fest, daß die Missetäter viel Zeit gehabt haben und vor Störung sehr sicher gewesen sein mußten. Wir gingen in die Kapelle und schauten in den Schlund hinab; es war ein grauenvoller Anblick. Mein Freund sagte: »Es tut mir leid um Sie, nun müssen wir uns, wenigstens einstweilen, begnügen, das Bild vor dem Altar aufzustellen. Später werde ich die entweihten Reste meiner Vorgänger noch einmal feierlich bestatten lassen und mein eigenes Lager über dem ihrigen aufschlagen.« Dabei lächelte er seltsam und reichte mir ein altes, vergilbtes, mit stolzen Siegeln versehenes Dokument. Es war die Stiftungsurkunde des Erbauers, des Ahnherrn, dem nun sein ganzes Geschlecht in die ewige Nacht gefolgt war, und der in so rührenden Worten die zuversichtliche Hoffnung aussprach, daß er »in diesem seinem lieben Schlafkämmerlein ruhig und ungestört schlummern werde bis an den jüngsten Tag«.

 


 


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