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Auf solche Weise nahm Roger Chillingworth, eine verwachsene alte Gestalt mit einem Gesicht, welches den Menschen länger im Gedächtnis spukte als ihnen angenehm war, von Esther Prynne Abschied, und ging, zur Erde gebückt, weiter. Er pflückte hier eine Pflanze oder grub dort eine Wurzel aus und steckte sie in den Korb, den er am Arme trug. Sein grauer Bart berührte fast den Boden, als er vorankroch.
Esther blickte ihm ein Weilchen mit einer halb phantastischen Neugier nach, um zu sehen, ob das zarte Frühlingsgras nicht unter seinen Tritten verwelken und vergilbt und braun die Spur seines schwankenden Ganges durch das heitere Grün zeigen würde. Sie hätte gern gewußt, welche Art von Kräutern der alte Mann so eifrig sammelte. Ob nicht die durch die Sympathie seines Auges zu schlimmen Zwecken befruchtete Erde ihm unter seinen Fingern aufwachsende giftige Sträucher von bisher unbekannten Arten bieten würde? Oder war es für ihn genügend, daß jeder heilsame Wuchs bei seiner Berührung in etwas Bösartiges und Schädliches verwandelt ward? Beschien ihn die Sonne, die alles andere so hell erleuchtete, wirklich? Oder befand sich dort, wie es vielmals schien, ein trüber Schattenkreis, der sich mit seiner verwachsenen Gestalt bewegte, wohin er sich auch wenden mochte? Und wohin ging er jetzt? Würde er nicht plötzlich in die Erde versinken und eine hohle verbrannte Stelle zurücklassen, wo im Verlauf der Zeit giftiger Nachtschatten, Schierling, Belladonna und was sonst das Klima von bösen Pflanzen hervorbringen konnte mit häßlicher Üppigkeit wuchern würde? Oder würde er Fledermausschwingen entfalten und hinwegfliegen und um so häßlicher aussehen, je höher er zum Himmel aufstieg?
»Gleichviel, ob es Sünde ist oder nicht«, sagte Esther Prynne bitter, indem sie ihm nachblickte, »ich hasse den Mann.«
Sie machte sich Vorwürfe über das Gefühl, konnte es aber weder besiegen noch verwinden. Sie dachte an die lang vergangenen Tage in einem fernen Lande, wo er des Abends aus seinem einsamen Studierzimmer kam und sich am Schimmer des Kaminfeuers ihrer Heimat und im Lichte ihres bräutlichen Lächelns niedersetzte. Er habe es nötig, sich an diesem Lächeln zu wärmen, wie er sagte, um die Kälte so vieler einsamer Stunden unter seinen Büchern vom Herzen abzutauen. Solches war ihr einst nicht anders als glücklich erschienen, jetzt aber, Wo sie es durch den Trauerflor ihres späteren Lebens sah, reihten sich diese Szenen unter ihre häßlichsten Erinnerungen. Sie wunderte sich, wie solches nur hatte sein können. Sie wunderte sich, wie sie sich je hatte bewegen lassen, ihn zu heiraten. Sie hielt es für ihr bereuenswertestes Verbrechen, daß sie je den lauen Druck seiner Hand erduldet und erwidert und das Lächeln ihrer Lippen und Augen sich mit dem seinen habe vermischen und verschmelzen lassen. Und es erschien ihr als ein schlimmeres, von Roger Chillingworth begangenes Vergehen, als irgendeine Kränkung, die ihm je zugefügt worden war, daß er sie zu der Zeit, wo ihr Herz es nicht besser wußte, überredet hatte, sich an seiner Seite für glücklich zu halten.
»Ja, ich hasse ihn!« wiederholte Esther bitterer noch als vorher, »er hat mich verraten! Er hat mir schlimmeres Unrecht zugefügt als ich ihm.«
Die Männer mögen sich hüten, die Hand eines Weibes zu gewinnen, wenn sie nicht damit zugleich die höchste Leidenschaft ihres Herzens erwerben, sonst kann es ihr unglückliches Schicksal werden, wie das Roger Chillingworths, wenn irgendeine mächtigere Berührung als die ihre alle ihre Gefühle erweckt hat, Vorwürfe selbst über die ruhige Zufriedenheit, das Marmorbild des Glückes zu erhalten, die sie ihr anstelle der warmen Wirklichkeit des Glückes gegeben haben. Aber Esther Prynne hätte längst schon über diese Ungerechtigkeit hinaus sein sollen. Was bewies sie? Hatten sieben lange Jahre unter der Folter des Scharlachbuchstabens ihr so viele Schmerzen auferlegt, ohne Reue hervorzubringen?
Die Empfindungen der kurzen Zeit, während welcher sie stand und der gekrümmten Gestalt des alten Roger Chillingworth nachblickte, warfen ein trübes Licht auf Esthers Zustand und enthüllten vieles, was sie sich sonst vielleicht nicht gestanden hätte.
Sobald er verschwunden war, rief sie ihr Kind zurück.
»Perle! Perlchen! Wo bist du?«
Dem Kinde, dessen Geistestätigkeit nie ermattete, hatte es, während seine Mutter mit dem alten Kräutersammler sprach, nicht an Unterhaltung gefehlt. Anfangs hatte Perle, wie schon berichtet, phantastisch mit ihrem eigenen Bilde in einer Wasserpfütze kokettierend, dem Phantome gewinkt herauszukommen und, da es dies nicht tat, sich selbst einen Durchgang in dessen Sphäre einer unerfaßbaren Erde und eines unerreichbaren Himmels gesucht. Da sie jedoch bald fand, daß es entweder ihr oder dem Bilde an Wirklichkeit mangelte, hatte sie sich anderwärts nach einem bessern Zeitvertreib umgesehen. Sie machte kleine Kähne aus Birkenrinde und befrachtete sie mit Schneckenhäusern und sandte mehr Fahrzeuge auf die See hinaus als irgendein Kaufmann in Neu-England, aber der größte Teil davon scheiterte nahe der Küste. Sie erfaßte eine lebende Krabbe am Schwänze und bemächtigte sich mehrerer Seesterne und legte eine Qualle zum Zerschmelzen an die warme Sonne. Dann nahm sie den weißen Schaum, welcher die Linie der herankommenden Flut säumte, warf ihn in den Wind und sprang ihm mit beflügelten Schritten nach, um die großen Schneeflocken einzuholen, ehe sie fielen. Als sie eine Gesellschaft von Strandläufern wahrnahm, die am Ufer hinliefen und ihre Nahrung suchten, sammelte das garstige Kind eine Schürze voll Kiesel, schlich den kleinen Seevögeln von einem Felsen zum andern nach und bewies eine große Geschicklichkeit im Werfen nach ihnen. Ein kleines graues Vögelchen mit weißer Brust war, wie Perle sicher glaubte, von einem Kiesel getroffen worden und flatterte mit gebrochenem Flügel davon. Dann aber seufzte das Elfenkind und gab seine Jagd auf, weil es ihm leid tat, einem kleinen Wesen Schmerz zugefügt zu haben, das ebenso wild war wie der Seewind oder wie Perle selbst.
Ihr letztes war, Seetang zu suchen und sich daraus eine Schärpe oder einen Mantel oder einen Kopfputz zu machen und auf diese Weise das Aussehen einer kleinen Seejungfer anzunehmen. Sie hatte die Gabe ihrer Mutter geerbt, Draperien und Kostüme zu erfinden. Als letzte Zutat zu ihrer Nereidenkleidung nahm Perle ein paar Riedgrashalme und ahmte, so gut sie konnte, auf ihrer Brust den Zierat nach, der ihr auf ihrer Mutter so vertraut war. Ein Buchstabe – der Buchstabe A –, aber frisch grün, statt scharlachrot! Das Kind legte sein Kinn auf die Brust und betrachtete die Anordnung mit seltsamem Interesse, als ob es nur darum in die Welt geschickt worden wäre, seine verborgene Bedeutung ausfindig zu machen.
›Ich bin gespannt, ob die Mutter mich fragen wird, was er bedeutet!‹ dachte Perle.
Gerade jetzt hörte sie die Stimme ihrer Mutter, flatterte so leicht dahin wie einer von den kleinen Seevögeln und erschien tanzend, lachend und mit dem Finger auf den Zierat an ihrer Brust deutend vor Esther Prynne.
»Mein Perlchen«, sagte Esther nach kurzem Schweigen, »der grüne Buchstabe hat keine Bedeutung auf deiner kindlichen Brust, aber weißt du, mein Kind, was der Buchstabe, welchen deine Mutter tragen muß, zu bedeuten hat?«
»Ja, Mutter«, sagte das Kind, »es ist der große Buchstabe A. Du hast ihn mir in der Fibel gezeigt.«
Esther blickte forschend in ihr kleines Gesicht; wiewohl aber dasselbe den eigentümlichen Ausdruck zeigte, welchen sie so oft in ihren schwarzen Augen bemerkt hatte, konnte sie doch nicht zur Gewißheit darüber kommen, ob Perle irgendeine Bedeutung mit dem Symbole verband. Sie fühlte einen krankhaften Wunsch, die Sache zu ermitteln.
»Weißt du, Kind, weshalb deine Mutter diesen Buchstaben trägt?«
»Freilich weiß ich das!« antwortete Perle und schaute lustig in das Gesicht ihrer Mutter; »aus demselben Grunde, aus dem der Pfarrer die Hand auf sein Herz hält.«
»Und was für ein Grund ist das?« fragte Esther mit einem halben Lächeln über die Ungereimtheit der kindlichen Beobachtung, über die sie jedoch allsogleich erbleichte. »Was hat der Buchstabe mit irgendeinem andern Herzen als dem meinen zu tun?«
»Aber Mutter, ich habe dir alles gesagt, was ich weiß«, sagte Perle ernsthafter, als sie sonst zu sprechen gewohnt war. »Frage den alten Mann, mit dem du soeben sprachst, vielleicht kann er es dir sagen. Aber sag, Mutter, was bedeutet der Scharlachbuchstabe? Und weshalb trägst du ihn auf deiner Brust? Weshalb hält der Prediger die Hand auf sein Herz?«
Sie nahm die Hand ihrer Mutter in ihre beiden Hände und blickte mit einer Innigkeit, welche bei ihrem wilden, launischen Charakter selten war, in ihre Augen. Esther glaubte, daß sich das Kind ihr wirklich mit kindlichem Zutrauen zu nähern suche und alles, was es könne, und so verständig als es ihm möglich war, tue, um einen gemeinsamen Bereich sympathetischen Gefühls zu finden. Dies zeigte das Kind in einem ungewohnten Lichte. Bisher hatte sich die Mutter, ihr Kind mit der Innigkeit eines einzigen Gefühles liebend, darein ergeben, fast keine andere Vergeltung zu hoffen, als die Kaprice eines Aprilwindes, der seine Zeit in lustiger Jagd hinbringt und seine Anfälle unerklärlichen Zornes hat und selbst in seiner besten Laune aufbrausend ist und einen öfter erkältet als liebkost, wenn man ihn an seine Brust nimmt, zur Vergeltung für diese Ungezogenheit aber zuweilen in seiner Laune die Wange mit zweideutiger Zärtlichkeit küßt und einem sanft mit dem Haar spielt und dann wieder seine eignen müßigen Wege geht und einem ein träumerisches Wohlgefühl im Herzen zurückläßt. Dies war das Urteil der Mutter über die Anlage des Kindes. Jeder andere Beobachter würde vielleicht wenige liebenswürdige Züge erblickt und den unliebenswürdigen eine weit dunklere Färbung gegeben haben. Jetzt aber trat der Gedanke lebendig vor Esthers Geist, daß sich Perle mit ihrer auffallenden Frühreife und ihrem Scharfsinne vielleicht schon dem Alter genähert haben möge, wo sie zu einer Freundin gemacht und ihr so viel von den Kümmernissen ihrer Mutter anvertraut werden könne, als sich ihr ohne peinliche Zudringlichkeit für das Kind wie für die Mutter mitteilen lasse. Von Anfang an konnte man aus dem kleinen Chaos des Charakters Perlens die Grundsätze eines unerschütterlichen Mutes, eines unbezähmbaren Willens, eines standhaften Stolzes, der zum Selbstrespekt geschult werden konnte – und einer bitteren Verachtung vieler Dinge, die bei näherer Untersuchung den Makel der Lüge an sich trugen, hervortreten sehen. Sie besaß Neigungen, liebevolle Neigungen, obgleich sie sich bisher noch scharf und unangenehm gezeigt hatten, wie die köstlichsten Früchte, solange sie unreif sind. ›Bei allen diesen trefflichen Eigenschaften‹, dachte Esther, ›muß das Böse, welches sie von ihrer Mutter geerbt hat, sehr groß sein, wenn dieses Elfenkind nicht zu einem edlen Weibe erwächst.‹
Perlens unvermeidliche Neigung, über das Rätsel des Scharlachbuchstabens Aufschluß zu verlangen, schien eine angeborene Eigenschaft ihres Wesens zu sein. Sie hatte dies von der frühesten Zeit ihres bewußten Lebens als die ihr zugewiesene Mission betrachtet. Esther hatte oft geglaubt, daß die Vorsehung, als sie das Kind mit dieser auffallenden Neigung begabte, einen Plan der Gerechtigkeit und Vergeltung gehabt haben müsse, aber bis jetzt noch nie daran gedacht zu fragen, ob nicht mit diesem Plan vielleicht auch eine gnädige und freundliche Absicht verbunden sein möge. Konnte es nicht, wenn Perlchen mit Glauben und Vertrauen als geistiger Bote sowohl wie als Erdenkind aufgenommen wurde, ihre Sendung sein, den Kummer zu verscheuchen, welcher kalt im Herzen ihrer Mutter lag und es in ein Grab verwandelte, und ihr in der Bewältigung der Leidenschaft beizustehen, die einst so glühend gewesen und selbst jetzt noch nicht verstorben oder eingeschlafen, sondern nur in diesem Herzensgrabmale eingekerkert war?
Solcher Art waren die Gedanken, welche sich jetzt mit einer Lebhaftigkeit, als ob sie ihr ins Ohr geflüstert worden wären, in Esthers Geiste regten, und die ganze Zeit über hielt Perlchen die Hand ihrer Mutter in ihren beiden eigenen und wandte ihr Gesicht empor, während sie ein-, zwei-, dreimal die forschenden Fragen stellte.
»Was bedeutet der Buchstabe, Mutter, und warum trägst du ihn? Warum hält der Prediger die Hand auf das Herz?«
›Was soll ich sagen?‹ dachte Esther. ›Nein, wenn dies der Preis der Teilnahme des Kindes ist, so kann ich ihn nicht zahlen.‹
Hierauf sagte sie:
»Törichte Perle, was sind das für Fragen? Es gibt viele Dinge in der Welt, nach denen ein Kind nicht fragen darf. Was weiß ich vom Herzen des Predigers? Und was den Scharlachbuchstaben betrifft, so trage ich ihn wegen seiner Goldfäden.«
Während der ganzen vergangenen sieben Jahre hatte Esther das Symbol auf ihrem Busen noch nie verleugnet. Vielleicht war es der Talisman eines strengen, aber doch schützenden Geistes, der sie jetzt verließ, als er erkannte, daß sich trotz seiner eifrigen Wache über ihr Herz ein neues Übel in dasselbe geschlichen hatte, oder ein altes nicht völlig aus ihm vertrieben war. Aus Perlchens Gesicht verschwand sofort der Ernst. Aber das Kind hielt es nicht für angemessen, die Sache fallen zu lassen. Noch zwei, drei Male, während es mit seiner Mutter heimwärts ging, und ebensooft beim Abendessen und als es von Esther zu Bett gebracht wurde, und einmal, nachdem sie schon eingeschlafen schien, blickte Perle mit neckisch strahlenden schwarzen Augen auf.
»Mutter«, sagte sie, »was hat der Scharlachbuchstabe zu bedeuten?«
Und den folgenden Morgen gab das Kind dadurch das erste Zeichen seines Erwachens, daß es den Kopf vom Kissen erhob und die andere Frage stellte, welche es so unerklärlich mit seinen Forschungen über den Scharlachbuchstaben verknüpft hatte:
»Mutter! Mutter! Warum hält der Prediger seine Hand auf sein Herz?«
»Halt deinen Mund, du ungezogenes Kind«, antwortete seine Mutter mit einer Rauheit, welche sie sich noch nie gestattet hatte, »plage mich nicht, sonst sperre ich dich in die finstere Kammer.«