Gerhart Hauptmann
Die Weber
Gerhart Hauptmann

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Erster Akt

Ein geräumiges, graugetünchtes Zimmer in Dreißigers Haus zu Peterswaldau. Der Raum, wo die Weber das fertige Gewebe abzuliefern haben. Linker Hand sind Fenster ohne Gardinen, in der Hinterwand eine Glastür, rechts eine ebensolche Glastür, durch welche fortwährend Weber, Weberfrauen und Kinder ab- und zugehen. Längs der rechten Wand, die wie die übrigen größtenteils von Holzgestellen für Parchent verdeckt wird, zieht sich eine Bank, auf der die angekommenen Weber ihre Ware ausgebreitet haben. In der Reihenfolge der Ankunft treten sie vor und bieten ihre Ware zur Musterung. Expedient Pfeifer steht hinter einem großen Tisch, auf welchen die zu musternde Ware vom Weber gelegt wird. Er bedient sich bei der Schau eines Zirkels und einer Lupe. Ist er zu Ende mit der Untersuchung, so legt der Weber den Parchent auf die Waage, wo ein Kontorlehrling sein Gewicht prüft. Die abgenommene Ware schiebt derselbe Lehrling ins Repositorium. Den zu zahlenden Lohnbetrag ruft Expedient Pfeifer dem an einem kleinen Tischchen sitzenden Kassierer Neumann jedesmal laut zu.

Es ist ein schwüler Tag gegen Ende Mai. Die Uhr zeigt zwölf. Die meisten der harrenden Webersleute gleichen Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über Tod und Leben zu erwarten haben. Hinwiederum haftet allen etwas Gedrücktes, dem Almosenempfänger Eigentümliches an, der, von Demütigung zu Demütigung schreitend, im Bewußtsein, nur geduldet zu sein, sich so klein als möglich zu machen gewohnt ist. Dazu kommt ein starrer Zug resultatlosen, bohrenden Grübelns in aller Mienen. Die Männer, einander ähnelnd, halb zwerghaft, halb schulmeisterlich, sind in der Mehrzahl flachbrüstige, hüstelnde, ärmliche Menschen mit schmutzigblasser Gesichtsfarbe: Geschöpfe des Webstuhls, deren Knie infolge vielen Sitzens gekrümmt sind. Ihre Weiber zeigen weniger Typisches auf den ersten Blick; sie sind aufgelöst, gehetzt, abgetrieben – während die Männer eine gewisse klägliche Gravität noch zur Schau tragen – und zerlumpt, wo die Männer geflickt sind. Die jungen Mädchen sind mitunter nicht ohne Reiz; wächserne Blässe, zarte Formen, große, hervorstehende, melancholische Augen sind ihnen dann eigen.

Kassierer Neumann, Geld aufzählend. Bleibt sechzehn Silbergroschen, zwei Pfennig.

Erste Weberfrau, dreißigjährig, sehr abgezehrt, streicht das Geld ein mit zitternden Fingern. Sind Se bedankt.

Neumann, als die Frau stehenbleibt. Nu? stimmt's etwa wieder nich?

Erste Weberfrau, bewegt, flehentlich. A paar Fenniche uf Vorschuß hätt' ich doch halt aso neetig.

Neumann. Ich hab' a paar hundert Taler neetig. Wenn's ufs Neetighaben ankäm' –! Schon mit Auszahlen an einen andern Weber beschäftigt, kurz. Ieber den Vorschuß hat Herr Dreißiger selbst zu bestimmen.

Erste Weberfrau. Kennt' ich da vielleicht amal mit'n Herrn Dreißiger selber red'n?

Expedient Pfeifer, ehemaliger Weber. Das Typische an ihm ist unverkennbar; nur ist er wohlgenährt, gepflegt gekleidet, glatt rasiert, auch ein starker Schnupfer. Er ruft barsch herüber. Da hätte Herr Dreißiger weeß Gott viel zu tun, wenn er sich um jede Kleenigkeit selber bekimmern sollte. Dazu sind wir da. Er zirkelt und untersucht mit der Lupe. Schwerenot! Das zieht. Er packt sich einen dicken Schal um den Hals. Macht de Tiere zu, wer reinkommt.

Der Lehrling, laut zu Pfeifer. Das is, wie wenn man mit Kletzen red'te.

Pfeifer. Abgemacht sela! – Waage! Der Weber legt das Webe auf die Waage. Wenn Ihr ock Eure Sache besser verstehn tät't. Trepp'n hat's wieder drinne . . . ich seh' gar nich hin. A guter Weber verschiebt's Aufbäumen nich wer weeß wie lange.

Bäcker ist gekommen. Ein junger, ausnahmsweise starker Weber, dessen Gebaren ungezwungen, fast frech ist. Pfeifer, Neumann und der Lehrling werfen sich bei seinem Eintritt Blicke des Einvernehmens zu. Schwerenot ja! Da soll eener wieder schwitz'n wie a Laugensack.

Erster Weber, halblaut. 's sticht gar sehr nach Regen.

Der alte Baumert drängt sich durch die Glastür rechts. Hinter der Tür gewahrt man die Schulter an Schulter gedrängt zusammengepfercht wartenden Webersleute. Der Alte ist nach vorn gehumpelt und hat sein Pack in der Nähe des Bäcker auf die Bank gelegt. Er setzt sich daneben und wischt sich den Schweiß. Hier is 'ne Ruh' verdient.

Bäcker. Ruhe is besser wie a Beehmen Geld.

Der alte Baumert. A Beehmen Geld mechte ooch sein. Gu'n Tag ooch, Bäcker!

Bäcker. Tag ooch, Vater Baumert! Ma muß wieder lauern wer weeß wie lange!

Erster Weber. Das kommt nich druf an. A Weber wart't an Stunde oder an'n Tag. A Weber is ock 'ne Sache.

Pfeifer. Gebt Ruhe dahinten! Man versteht ja sei eegenes Wort nich.

Bäcker, leise. A hat heute wieder sein'n tälsch'n Tag.

Pfeifer, zu dem vor ihm stehenden Weber. Wie oft hab' ich's Euch schonn gesagt! besser putzen sollt er. Was ist denn das für 'ne Schlauderei? Hier sind Klunkern drinne, so lang wie mei Finger, und Stroh und allerhand Dreck.

Weber Reimann. 's mecht' halt a neu Noppzängl sein.

Lehrling hat das Webe gewogen. 's fehlt auch am Gewicht.

Pfeifer. Eine Sorte Weber is hier so – schade fier jede Kette, die man ausgibt. O Jes's, zu meiner Zeit! Mir hätt's woll mei Meister angestrichen. Dazumal da war das noch a ander Ding um das Spinnwesen. Da mußte man noch sei Geschäfte verstehn. Heute da is das nich mehr neetig. – Reimann zehn Silbergroschen.

Weber Reimann. E Fund wird doch gerech'nt uf Abgang.

Pfeifer. Ich hab' keine Zeit. Abgemacht sela. Was bringt Ihr?

Weber Heiber legt sein Webe auf. Während Pfeifer untersucht, tritt er an ihn und redet halblaut und eifrig in ihn hinein. Se werden verzeihen, Herr Feifer, ich mechte Sie gittichst gebet'n hab'n, ob Se vielleicht und Se wollt'n so gnädig sein und wollt'n mir den Gefalln tun und ließen mir a Vorschuß dasmal nich abrech'n.

Pfeifer, zirkelnd und guckend, höhnt. Nu da! Das macht sich ja etwan. Hier is woll d'r halbe Einschuß wieder auf a Feifeln geblieb'n?

Weber Heiber, in seiner Weise fortfahrend. Ich wollt's ja gerne uf de neue Woche gleichemach'n. Vergangne Woche hatt' ich bloß zwee Howetage uf'n Dominium zu leist'n. Dabei liegt Meine krank derheeme . . .

Pfeifer, das Stück an die Waage gebend. Das is eben wieder 'ne richt'ge Schlauderarbeit. Schon wieder ein neues Webe in Augenschein nehmend. So ein Salband, bald breit, bald schmal. Emal hat's den Einschuß zusammengeriss'n wer weeß wie sehr, dann hat's wieder mal 's Sperrittl auseinandergezog'n. Und auf a Zoll kaum siebzig Faden Eintrag. wo is denn der iebriche? Wo bleibt da die Reelletät? Das war' so was!

Weber Heiber unterdrückt Tränen, steht gedemütigt und hilflos.

Bäcker, halblaut zu Baumert. Der Pakasche mecht' ma noch Garn d'rzunekoofen.

Erste Weberfrau, welche nur wenig vom Kassentisch zurückgetreten war und sich von Zeit zu Zeit mit starren Augen hilfesuchend umgesehen hat, ohne von der Stelle zu gehen, faßt sich ein Herz und wendet sich von neuem flehentlich an den Kassierer. Ich kann halt balde . . . ich weeß gar nich, wenn Se mir dasmal und geb'n mir keen'n Vorschuß . . . o Jesis, Jesis.

Pfeifer ruft herüber. Das is a Gejesere. Laßt bloß a Herr Jesus in Frieden. Ihr habt's ja sonst nich so ängstlich um a Herr Jesus. Paßt lieber auf Euern Mann uf, daß und man sieht'n nich aller Augenblicke hinterm Kretschamfenster sitz'n. Wir kenn kein'n Vorschuß geb'n. Wir miss'n Rechenschaft ablegen dahier. 's is auch nich unser Geld. Von uns wird's nachher verlangt. Wer fleißig is und seine Sache versteht und in der Furcht Gottes seine Arbeit verricht't, der braucht ieberhaupt nie keen'n Vorschuß nich. Abgemacht Seefe.

Neumann. Und wenn a Bielauer Weber 's vierfache Lohn kriegt, da verfumfeit er's vierfache und macht noch Schulden.

Erste Weberfrau, laut, gleichsam an das Gerechtigkeitsgefühl aller appellierend. Ich bin gewiß ni faul, aber ich kann ni mehr aso fort. Ich hab' halt doch zweemal an Iebergang gehabt. Und was de mei Mann is, der is ooch bloßich halb; a war beim Zerlauer Schäfer, aber der hat'n doch au nich kenn'n von sein'n Schad'n helf'n, und da . . . Zwing'n kann ma's doch nich . . . Mir arbeit'n gewiß, was wir ufbringen. Ich hab' schonn viele Woch'n keen'n Schlaf in a Aug'n gehabt, und's wird auch schonn wieder gehn, wenn ock ich und ich wer de Schwäche wieder a bissei rauskrieg'n aus a Knoch'n. Aber Se miss'n halt ooch a eenziges bissei a Einsehn hab'n. Inständig, schmeichlerisch flehend. Sind S'ock scheen gebet'n und bewilligen mer dasmal a paar Greschl.

Pfeifer, ohne sich stören zu lassen. Fiedler elf Silbergroschen.

Erste Weberfrau. Bloß a paar Greschl, daß m'r zu Brote komm'n. D'r Pauer borgt nischt mehr. Ma hat a Häufl Kinder . . .

Neumann, halblaut und mit komischem Ernst zum Lehrling.
    Die Leinweber haben alle Jahre ein Kind,
    alle walle, alle walle, puff, puff, puff.

Der Lehrling gibt ebenso zurück.
    Die Blitzkröte ist sechs Wochen blind,

Summt die Melodie zu Ende.

    alle walle, alle walle, puff, puff, puff.

Weber Reimann, das Geld nicht anrührend, das der Kassierer ihm aufgezählt hat. Mer hab'n doch jetzt immer dreizehntehalb Beehmen kriegt fer a Webe.

Pfeifer ruft herüber. Wenn's Euch nich paßt, Reimann, da braucht er bloß ein Wort sag'n. Weber hat's genug. Vollens solche, wie Ihr seid. Für'n volles Gewichte gibt's auch'n vollen Lohn.

Weber Reimann. Daß hier was fehln sollte an'n Gewichte . . .

Pfeifer. Bringt ein fehlerfreies Stick Parchent, da wird auch am Lohn nichts fehln.

Weber Reimann. Daß 's hier und sollte zu viel Placker drinnehab'n, das kann doch reen gar nich meeglich sein.

Pfeifer, im Untersuchen. Wer gut webt, der gut lebt.

Weber Heiber ist in der Nähe Pfeifers geblieben, um nochmals einen günstigen Augenblick abzupassen. Über Pfeifers Wortspiel hat er mitgelächelt, nun tritt er an ihn und redet ihm zu wie das erste Mal. Ich wollte Se gittichst gebeten hab'n, Herr Feifer, ob Se vielleicht und Se wollt'n aso barmherzich sein und rech't'n mir a Fimfbeehmer Vorschuß dasmal nich ab. Meine liegt schon seit d'r Fasnacht krumm im Bette. Se kann mer keen'n Schlag Arbeit nich verricht'n. Da muß ich a Spulmädel bezahln. Deshalb . . .

Pfeifer schnupft. Heiber, ich hab' nich bloß Euch alleene abzufertig'n. Die andern wolln auch drankommen.

Weber Reimann. So hab' ich de Werfte kriegt – aso hab' ich se uf gebäumt und wieder runtergenommen. A besser Garn, wie ich kriegt hab', kann ich nich zurickbringen.

Pfeifer. Paßt's Euch nich, da braucht er Euch bloß keene Werfte mehr abzuholn. Wir hab'n 'r genug, die sich's Leder von a Fießen dernach ablauf'n.

Neumann, zu Reimann. Wollt Ihr das Geld nich nehmen?

Weber Reimann. Ich kann mich durchaus aso nich zufrieden geben.

Neumann, ohne sich weiter um Reimann zu bekümmern. Heiber zehn Silbergroschen. Geht ab fünf Silbergroschen Vorschuß. Bleiben fünf Silbergroschen.

Weber Heiber tritt heran, sieht das Geld an, steht, schüttelt den Kopf, als könnte er etwas gar nicht glauben, und streicht das Geld langsam und umständlich ein. O meins, meins! – Seufzend. Nu, da da!

Der alte Baumert, Heibern ins Gesicht. Jaja, Franze! Da kann eens schon manchmal'n Seufzrich tun.

Weber Heiber, mühsam redend. Sieh ock, ich hab' a krank Mädel derheeme zu lieg'n. Da mecht' a Fläschl Medezin sein.

Der alte Baumert. Wo tutt's er'n fehlen?

Weber Heiber. Nu sieh ock, 's war halt von kleen uf a vermickertes Dingl. Ich weeß gar nich . . . na, dir kann ich's ja sag'n: se hat's mit uf de Welt gebracht. Aso 'ne Unreenichkeit ieber und ieber bricht'r halt durchs Geblitte.

Der alte Baumert. Ieberall hat's was. Wo eemal's Armutt is, da kommt ooch Unglicke ieber Unglicke. Da is o kee Halt und keene Rettung.

Weber Heiber. Was hast d'nn da eingepackt in dem Tiechl?

Der alte Baumert. Mir sein halt gar blank derheeme. Da hab' ich halt unser Hundl schlacht'n lassen. Viel is ni dran, a war o halb d'rhungert. 's war a klee, nettes Hundl. Selber abstechen mocht' ich'n nich. Ich könnt' mer eemal kee Herze nich fass'n.

Pfeifer hat Bäckers Webe untersucht, ruft. Bäcker dreizehntehalb Silbergroschen.

Bäcker. Das is a schäbiges Almosen, aber kee Lohn.

Pfeifer. Wer abgefertigt is, hat's Lokal zu verlassen. Wir kenn uns vorhero nich riehren.

Bäcker, zu den Umstehenden, ohne seine Stimme zu dämpfen. Das is a schäbiges Trinkgeld, weiter nischt. Da soll eens treten vom friehen Morg'n bis in die sinkende Nacht. Und wenn man achtz'n Tage ieberm Stuhle geleg'n hat, Abend fer Abend wie ausgewund'n, halb drehnig vor Staub und Gluthitze, da hat man sich glicklich dreiz'ntehalb Beehmen erschind't.

Pfeifer. Hier wird nich gemault!

Bäcker. Vo Ihn lass' ich mersch Maul noch lange nich verbiet'n.

Pfeifer springt mit dem Ausruf Das mecht' ich doch amal sehn! nach der Glastür und ruft ins Kontor. Herr Dreißicher, Herr Dreißicher, mechten Sie amal so freundlich sein!

Dreißiger kommt. Junger Vierziger. Fettleibig, asthmatisch. Mit strenger Miene. Was – gibt's denn, Pfeifer?

Pfeifer, glupsch. Bäcker will sich's Maul nich verbieten lassen.

Dreißiger gibt sich Haltung, wirft den Kopf zurück, fixiert Bäcker mit zuckenden Nasenflügeln. Ach so – Bäcker! – Zu Pfeifer. Is das der? Die Beamten nicken.

Bäcker, frech. Ja, ja, Herr Dreißicher! Auf sich zeigend. Das is der, – auf Dreißiger zeigend – und das is der.

Dreißiger, indigniert. Was erlaubt sich denn der Mensch!?

Pfeifer. Dem geht's zu gutt! Der geht aso lange aufs Eis tanzen, bis a's amal versehen hat.

Bäcker, brutal. O du Fennigmanndl, halt ock du deine Fresse. Deine Mutter mag sich woll ei a Neumonden beim Besenreit 'n am Luzifer versehn hab'n, daß aso a Teiwel aus dir geworn is.

Dreißiger, in ausbrechendem Jähzorn, brüllt. Maul halten! auf der Stelle Maul halten, sonst . . . Er zittert, tut ein paar Schritte vorwärts.

Bäcker, mit Entschlossenheit ihn erwartend. Ich bin nich taub. Ich heer' noch gut.

Dreißiger überwindet sich, fragt mit anscheinend geschäftsmäßiger Ruhe. Is der Bursche nicht auch dabeigewesen?

Pfeifer. Das is a Bielauer Weber. Die sind ieberall d'rbei, wo's 'n Unfug zu machen gibt.

Dreißiger, zitternd. Ich sag' euch also: passiert mir das noch einmal und zieht mir noch einmal so eine Rotte Halbbetrunkener, so eine Bande von grünen Lümmeln am Hause vorüber wie gestern abend – mit diesem niederträchtigen Liede . . .

Bäcker. 's »Bluttgericht« meenen Se woll?

Dreißiger. Er wird schon wissen, welches ich meine. Ich sag' euch also: hör' ich das noch einmal, dann lass' ich mir einen von euch rausholen, und – auf Ehre, ich spaße nicht – den übergebe ich dem Staatsanwalt. Und wenn ich rausbekomme, wer dies elende Machwerk von einem Liede . . .

Bäcker. Das is a schee Lied, das!

Dreißiger. Noch ein Wort, und ich schicke zur Polizei – augenblicklich. – Ich fackle nicht lange. – Mit euch Jungens wird man doch noch fertig werden. Ich bin doch schon mit ganz andren Leuten fertig geworden.

Bäcker. Nu das will ich gloob'n. Aso a richtiger Fabrikante, der wird mit zwee-, dreihundert Webern fertich, eh man sich umsieht. Da läßt a ooch noch ni a paar morsche Knoch'n iebrich. Aso eener der hat vier Mag'n wie 'ne Kuh und a Gebiß wie a Wolf. Nee nee, da hat's nischt!

Dreißiger, zu den Beamten. Der Mensch bekommt keinen Schlag Arbeit mehr bei uns.

Bäcker. Oh, ob ich am Webstuhle derhungere oder im Straßengrab'n, das is mir egal.

Dreißiger. Raus, auf der Stelle raus!

Bäcker, fest. Erst will ich mei Lohn hab'n.

Dreißiger. Was kriegt der Kerl, Neumann?

Neumann. Zwölf Silbergroschen, fünf Pfennige.

Dreißiger nimmt überhastig dem Kassierer das Geld ab und wirft es auf den Zahltisch, so daß einige Münzen auf die Diele rollen. Da! – hier! – und nu rasch – mir aus den Augen!

Bäcker. Erscht will ich mei Lohn hab'n.

Dreißiger. Da liegt Sein Lohn; und wenn Er nun nich macht, daß Er rauskommt . . . Es ist grade zwölf . . . Meine Färber machen gerade Mittag . . . !

Bäcker. Mei Lohn geheert in meine Hand. Hieher geheert mei Lohn. Er berührt mit den Fingern der rechten die Handfläche der linken Hand.

Dreißiger, zum Lehrling. Heben Sie's auf, Tilgner.

Der Lehrling tut es, legt das Geld in Bäckers Hand.

Bäcker. Das muß all's sein'n richt'chen Paß gehn. Er bringt, ohne sich zu beeilen, in einem alten Beutel das Geld unter.

Dreißiger. Nu? Als Bäcker sich noch immer nicht entfernt, ungeduldig. Soll ich nun nachhelfen?

Unter den dichtgedrängten Webern ist eine Bewegung entstanden. Jemand stößt einen langen, tiefen Seufzer aus. Darauf geschieht ein Fall. Alles Interesse wendet sich dem neuen Ereignis zu.

Dreißiger. Was gibt's denn da?

Verschiedene Weber und Weberfrauen. 's is eener hingeschlag'n. – 's is a klee hiprich Jungl. – Is 's etwa de Kränkte oder was?!

Dreißiger. Ja . . . wie denn? Hingeschlagen? Er geht näher.

Alter Weber. A liegt halt da.

Es wird Platz gemacht. Man sieht einen achtjährigen Jungen wie tot an der Erde liegen.

Dreißiger. Kennt jemand den Jungen?

Alter Weber. Aus unserm Dorfe is a nich.

Der alte Baumert. Der sieht ja bald aus wie Heinrichens. Er betrachtet ihn genauer. Ja, ja! Das is Heinrichens Gustavl.

Dreißiger. Wo wohnen denn die Leute?

Der alte Baumert. Nu, oben bei uns, in Kaschbach, Herr Dreißicher. Er geht Musicke machen, und am Tage da liegt a ieberm Stuhle. Se han neun Kinder, und's zehnte is unterwegens.

Verschiedene Weber und Weberfrauen. Den Leut'n geht's gar sehr kimmerlich. – Den regnet's in de Stube. – Das Weib hat keene zwee Hemdl fer die neun Burschen.

Der alte Baumert, den Jungen anfassend. Nu, Jungl, was hat's denn mit dir? Da wach ock uf!

Dreißiger. Faßt mal mit an, wir wollen ihn mal aufheben. Ein Unverstand ohnegleichen, so'n schwächliches Kind diesen langen Weg machen zu lassen. Bringen Sie mal etwas Wasser, Pfeifer!

Weberfrau, die ihn aufrichten hilft. Mach ock ni etwa Dinge und stirb, Jungl!

Dreißiger. Oder Kognak, Pfeifer, Kognak is besser.

Bäcker hat, von allen vergessen, beobachtend gestanden. Nun, die eine Hand an der Türklinke, ruft er laut und höhnisch herüber. Gebt'n ock was zu fressen, da wird a schonn zu sich kommen. Ab.

Dreißiger. Der Kerl nimmt kein gutes Ende. – Nehmen Sie ihn unterm Arm, Neumann. – Langsam . . . langsam . . . so . . . so . . . wir wollen ihn in mein Zimmer bringen. Was wollen Sie denn?

Neumann. Er hat was gesagt, Herr Dreißiger! Er bewegt die Lippen.

Dreißiger. Was – willst du denn, Jungl?

Der Junge haucht. Mich h . . . hungert!

Dreißiger wird bleich. Man versteht ihn nich.

Weberfrau. Ich gloobe, a meinte . . .

Dreißiger. Wir werden ja sehn. Nur ja nich aufhalten. – Er kann sich bei mir aufs Sofa legen. Wir werden ja hören, was der Doktor sagt.

Dreißiger, Neumann und die Weberfrau führen den Jungen ins Kontor. Unter den Webern entsteht eine Bewegung wie bei Schulkindern, wenn der Lehrer die Klasse verlassen hat. Man reckt und streckt sich, man flüstert, tritt von einem Fuß auf den andern, und in einigen Sekunden ist das Reden laut und allgemein.

Der alte Baumert. Ich gloob' immer, Bäcker hat recht.

Mehrere Weber und Weberfrauen. A sagte ja o aso was. – Das is hier nischt Neues, daß amal een'n d'r Hunger schmeißt. – Na, ieberhaupt, was de den Winter erscht wern soll, wenn das hie und's geht aso fort mit der Lohnzwackerei. – Und mit a Kartoffeln wird's das Jahr gar schlecht. – Hie wird's au nich anderscher, bis mer alle vollens uf'n Rick'n lieg'n.

Der alte Baumert. Am best'n, ma macht's wie d'r Nentwich Weber, ma legt sich a Schleefl um a Hals un knippt sich am Webstuhle uf. Da, nimm der 'ne Prise, ich war in Neurode, da arbeit mei Schwager in d'r Fabricke, wo s'n machen, a Schnupptabak. Der hat m'r a paar Kerndl gegeb'n dahier. Was trägst denn du in dem Tiechl Scheenes?

Alter Weber. 's is bloß a bissel Perlgraupe. D'r Wag'n vom Ullbrichmiller fuhr vor m'r her. Da war a Sack a bissel ufgeschlitzt. Das kommt mir gar sehr zupasse, kannst gloob'n.

Der alte Baumert. Zweiundzwanzich Miehlen sein in Peterschwalde, und fer unsereens fällt doch nischt ab.

Alter Weber. Ma muß ebens a Mut nich sink'n lass'n. 's kommt immer wieder was und hilft een a Stickl weiter.

Weber Heiber. Ma muß ebens, wenn d'r Hunger kommt, zu a Vierzehn Nothelfern beten, und wenn ma dadervon etwa ni satt wird, da muß ma an Steen ins Maul nehmen und dran lutschen. Gell, Baumert?

Dreißiger, Pfeifer sowie der Kassierer kommen zurück.

Dreißiger. Es war nichts von Bedeutung. Der Junge ist schon wieder ganz munter. Erregt und pustend umhergehend. Es bleibt aber immer eine Gewissenlosigkeit. Das Kind ist ja nur so'n Hälmchen zum Umblasen. Es ist rein unbegreiflich, wie Menschen . . . wie Eltern so unvernünftig sein können. Bürden ihm zwei Schock Parchent auf, gute anderthalb Meilen Wegs. Es ist wirklich kaum zum Glauben. Ich werde einfach müssen die Einrichtung treffen, daß Kindern überhaupt die Ware nicht mehr abgenommen wird. Er geht wiederum eine Weile stumm hin und her. Jedenfalls wünsche ich dringend, daß so etwas nicht mehr vorkommt. – Auf wem bleibt's denn schließlich sitzen? Natürlich doch auf uns Fabrikanten. Wir sind an allem schuld. Wenn so'n armes Kerlchen zur Winterszeit im Schnee steckenbleibt und einschläft, dann kommt so'n hergelaufener Skribent, und in zwei Tagen, da haben wir die Schauergeschichte in allen Zeitungen. Der Vater, die Eltern, die so'n Kind schicken . . . i bewahre, wo werden die denn schuld sein! Der Fabrikant muß ran, der Fabrikant is der Sündenbock. Der Weber wird immer gestreichelt, aber der Fabrikant wird immer geprügelt: das is'n Mensch ohne Herz, 'n Stein, 'n gefährlicher Kerl, den jeder Preßhund in die Waden beißen darf. Der lebt herrlich und in Freuden und gibt den armen Webern Hungerlöhne. – Daß so'n Mann auch Sorgen hat und schlaflose Nächte, daß er sein großes Risiko läuft, wovon der Arbeiter sich nichts träumen läßt, daß er manchmal vor lauter Dividieren, Addieren und Multiplizieren, Berechnen und wieder Berechnen nich weiß, wo ihm der Kopf steht, daß er hunderterlei bedenken und überlegen muß und immerfort sozusagen auf Tod und Leben kämpft und konkurriert, daß kein Tag vergeht ohne Ärger und Verlust: darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. Und was hängt nicht alles am Fabrikanten, was saugt nicht alles an ihm und will von ihm leben! Nee, nee! Ihr solltet nur manchmal in meiner Haut stecken, ihr würdet's bald genug satt kriegen. Nach einiger Sammlung. Wie hat sich dieser Kerl, dieser Bursche da, dieser Bäcker hier aufgeführt! Nun wird er gehen und ausposaunen, ich wäre wer weiß wie unbarmherzig. Ich setzte die Weber bei jeder Kleinigkeit mir nichts, dir nichts vor die Tür. Ist das wahr? Bin ich so unbarmherzig?

Viele Stimmen. Nee, Herr Dreißicher!

Dreißiger. Na, das scheint mir doch auch so. Und dabei ziehen diese Lümmels umher und singen gemeine Lieder auf uns Fabrikanten, wollen von Hunger reden und haben so viel übrig, um den Fusel quartweise konsumieren zu können. Sie sollten mal die Nase hübsch woanders neinstecken und sehen, wie's bei den Leinwandwebern aussieht. Die können von Not reden. Aber ihr hier, ihr Parchentweber, ihr steht noch so da, daß ihr nur Grund habt, Gott im stillen zu danken. Und ich frage die alten, fleißigen und tüchtigen Weber, die hier sind: kann ein Arbeiter, der seine Sachen zusammenhält, bei mir auskommen oder nicht?

Sehr viele Stimmen. Ja, Herr Dreißicher!

Dreißiger. Na, seht ihr! – So'n Kerl wie der Bäcker natürlich nicht. Aber ich rate euch, haltet diese Burschen im Zaume. Wird mir's zu bunt, dann quittiere ich. Dann löse ich das Geschäft auf, und dann könnt ihr sehn, wo ihr bleibt. Dann könnt ihr sehn, wo ihr Arbeit bekommt. Bei Ehren-Bäcker sicherlich nicht.

Erste Weberfrau hat sich an Dreißiger herangemacht, putzt mit kriechender Demut Staub von seinem Rock. Se hab'n sich a brinkel angestrichen, gnädicher Herr Dreißicher.

Dreißiger. Die Geschäfte gehen hundsmiserabel, das wißt ihr ja selbst. Ich setze zu, statt daß ich verdiene. Wenn ich trotzdem dafür sorge, daß meine Weber immer Arbeit haben, so setze ich voraus, daß das anerkannt wird. Die Ware liegt mir da in Tausenden von Schocken, und ich weiß heut noch nicht, ob ich sie jemals verkaufen werde. – Nun hab' ich gehört, daß sehr viele Weber hierum ganz ohne Arbeit sind, und da . . . na, Pfeifer mag euch das Weitre auseinandersetzen. – Die Sache ist nämlich die: damit ihr den guten Willen seht . . . ich kann natürlich keine Almosen austeilen, dazu bin ich nicht reich genug, aber ich kann bis zu einem gewissen Grade den Arbeitslosen Gelegenheit geben, wenigstens 'ne Kleinigkeit zu verdienen. Daß ich dabei ein immenses Risiko habe, ist ja meine Sache. – Ich denke mir halt: wenn sich ein Mensch täglich 'ne Quarkschnitte erarbeiten kann, so ist doch das immer besser, als wenn er überhaupt hungern muß. Hab' ich nicht recht?

Viele Stimmen. Ja, ja, Herr Dreißicher!

Dreißiger. Ich bin also gern bereit, noch zweihundert Webern Beschäftigung zu geben. Unter welchen Umständen, wird Pfeifer euch auseinandersetzen. Er will gehen.

Erste Weberfrau vertritt ihm den Weg, spricht überhastet, flehend und dringlich. Gnädijer Herr Dreißicher, ich wollte Sie halt recht freindlich gebet'n hab'n, wenn Se vielleicht . . . ich hab' halt zweimal an Iebergang gehabt.

Dreißiger, eilig. Sprecht mit Pfeifer, gute Frau, ich hab' mich so schon verspätet. Er läßt sie stehen.

Weber Reimann vertritt ihm ebenfalls den Weg. Im Tone der Kränkung und Anklage. Herr Dreißicher, ich muß mich wirklich beklag'n. Herr Feifer hat mer . . . Ich hab' doch fer mei Webe jetzt immer zwölftehalb Beehmen kriegt . . .

Dreißiger fällt ihm in die Rede. Dort sitzt der Expedient. Dorthin wendet Euch: das is die richtige Adresse.

Weber Heiber hält Dreißiger auf. Gnädiger Herr Dreißicher, – stotternd und mit wirrer Hast – ich wollte Se vielmals gittigst gebeten han, ob mir vielleicht und a kennde mer . . . ob mer d'r Herr Feifer vielleicht und a kennde . . . a kennde . . .

Dreißiger. Was wollt Ihr denn?

Weber Heiber. Da Vorschuß, dann ich's letztemal, ich meene, da ich . . .

Dreißiger. Ja, ich verstehe Euch wirklich nicht.

Weber Heiber. Ich war a brinkl sehr in Not, weil . . .

Dreißiger. Pfeifers Sache, Pfeifers Sache. Ich kann wirklich nicht . . . macht das mit Pfeifer aus. Er entweicht ins Kontor. Die Bittenden sehen sich hilflos an. Einer nach dem andern tritt seufzend zurück.

Pfeifer, die Untersuchung wieder aufnehmend. Na, Annl, was bringst du?

Der alte Baumert. Was soll's denn da setz'n fer a Webe, Herr Feifer?

Pfeifer. Fürs Webe zehn Silbergroschen.

Der alte Baumert. Nu das macht sich!

Bewegung unter den Webern, Flüstern und Murren.

 


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