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Alles wie im ersten Akt. Die Lampe brennt. Auf dem Gange schwaches Ampellicht.
Direktor Hassenreuter gibt seinen drei Schülern, Spitta, Dr. Kegel und Käferstein, dramatischen Unterricht. Er selbst sitzt am Tisch, öffnet fortgesetzt Briefe und schlägt skandierend mit dem Falzbein auf den Tisch. Vorn stehen auf der einen Seite Kegel und Käferstein, auf der anderen Spitta einander als beide Chöre der »Braut von Messina« gegenüber. Ihre Füße befinden sich innerhalb eines Schemas aufgestellt, das mit Kreide auf den Fußboden gezeichnet ist und diesen in die vierundsechzig Felder des Schachbretts einteilt. Auf dem Kontorbock am Stehpult sitzt Walburga, in ein großes Kontobuch eintragend. Im Hintergrund, wartend, steht der Vizewirt oder Hausmeister Quaquaro, ein vierzigjähriger, vierschrötiger Mensch, der Inhaber eines wandernden Zirkus und, als Athlet, Hauptmitglied desselben sein könnte. Seine Sprache ist tenorhaft guttural. Er trägt Schlafschuhe. Die Beinkleider durch einen gestickten Gürtel gehalten. Ein offenes Hemd, nicht unsauber, ein leichtes Jackett und die Mütze in der Hand.
Dr. Kegel und Käferstein, mit gewaltiger Pathetik.
Dich begrüß' ich in Ehrfurcht,
prangende Halle,
dich, meiner Herrscher
fürstliche Wiege,
säulengetragenes herrliches Dach.
Tief in der Scheide ...
Direktor Hassenreuter schreit wütend. Pause! Punkt! Punkt! Pause! Punkt! Sie drehen doch keinen Leierkasten! Der Chor aus der »Braut von Messina« ist doch kein Leierkastenstück! »Dich begrüß' ich in Ehrfurcht« noch mal von Anfang an, meine Herren! »Dich begrüß' ich in Ehrfurcht, prangende Halle!« Etwa so, meine Herren! »Tief in der Scheide ruhe das Schwert.« Punktum! »Herrliches Dach«, wollt' ich sagen: Punktum! Meinethalben fahren Sie fort.
Dr. Kegel und Käferstein.
Tief in der Scheide
ruhe das Schwert,
vor den Toren gefesselt
liege des Streits schlangenhaarigtes Scheusal.
Denn ...
Direktor Hassenreuter, wie vorher. Halt! Wissen Sie nicht, was ein Punkt bedeutet, meine Herren? Haben Sie denn keine Elementarkenntnisse? »Schlangenhaarigtes Scheusal.« Punkt! Denken Sie sich einen Pfahl eingerammt: halt! Punkt! Alles ist totenstille! als wenn Sie gar nicht mehr in der Welt wären, Käferstein! Und dann raus mit der Posaunenstimme aus der Brust! Halt! Um Gottes willen nicht lispeln! – »Denn ...« weiter! los!
Dr. Kegel und Käferstein.
Denn des gastlichen Hauses
unverletzliche Schwelle
hütet der Eid, der Erinnyen Sohn ...
Direktor Hassenreuter springt auf, brüllt, läuft umher. Eid, Eid, Eid, Eid!! Halt! Wissen Sie nicht, was ein Eid ist, Käferstein? »Hütet der Eid!! – der Erinnyen Sohn.« Der Eid ist der Erinnyen Sohn, Dr. Kegel! Stimme heben! Tot! Das Publikum, bis zum letzten Logenschließer, ist eine einzige Gänsehaut! Schauer durchrieselt alle Gebeine! Passen Sie auf: »Denn des Hauses Schwelle hütet der Eid!!! – der Erinnyen Sohn, der furchtbarste unter den Göttern der Hölle!« – – Nicht wiederholen, weiter im Text! Sie können sich aber jedenfalls merken, daß ein Eid und ein Münchner Bierrettich zwei verschiedene Dinge sind.
Spitta, deklamiert.
Zürnend ergrimmt mir das Herz im Busen ...
Direktor Hassenreuter. Halt! Er läuft zu Spitta und biegt an seinen Armen und Beinen herum, um eine gewünschte tragische Pose zu erzielen. Erstlich fehlt die statuarische Haltung, mein lieber Spitta. Die Würde einer tragischen Person ist bei Ihnen auf keine Weise ausgedrückt. Dann sind Sie nicht, wie ich ausdrücklich verlangt habe, von Feld I D mit dem rechten Fuß auf II C getreten! Endlich wartet Herr Quaquaro: unterbrechen wir einen Augenblick! Er wendet sich an Quaquaro. So, jetzt steh' ich zu Diensten, Herr Vizewirt! das heißt, ich habe Sie bitten lassen, weil mir leider, wie sich bei der Inventur herausstellt, mehrere Kisten mit Kostümen abhanden gekommen, mit andern Worten: gestohlen sind. Bevor ich nun meine Anzeige mache, wozu ich natürlich entschlossen bin, wollte ich erst mal Ihren Rat hören. Um so mehr, da sich auch sonst noch etwas, wie soll ich sagen, eine sonderbare Bescherung statt der verlornen Kleiderkisten in einem Winkel des Bodens angefunden hat: ein Fund, um Virchow zu benachrichtigen. Erstlich ein blaukariertes Plumeau, wahrhaft prähistorisch, und eine unaussprechliche Scherbe, deren Bestimmung im ganzen harmlos, aber ebenfalls unaussprechlich ist.
Quaquaro. Herr Direkter, ick kann ja ma oben steigen.
Direktor Hassenreuter. Tun Sie das. Sie finden oben Frau John, die durch den Fund eigentlich noch mehr wie ich selbst beunruhigt ist. Diese drei Herren, die meine Schüler sind, lassen es sich partout nicht ausreden, daß da oben etwas wie eine Mordgeschichte vorgefallen ist. Aber bitte: wir wollen keinen Skandal schlagen.
Käferstein. Wenn bei meiner Mutter in Schneidemühl im Laden irgend etwas abhanden kam, hieß es immer, das hätten die Ratten gefressen. Und wirklich, was man in diesem Hause von Ratten und Mäusen sieht – auf der Treppe hätt' ich beinahe eine totgetreten! – warum sollten Kisten und Theatergarderobe – Seide schmeckt süß – nicht ebenfalls von ihnen vertilgt worden sein?
Direktor Hassenreuter. Geschenkt, geschenkt! Alle weiteren Schnittwarenladen-Phantasien, ha ha ha ha! sind Ihnen geschenkt, bester Käferstein. Es fehlt nur noch, daß Sie uns Ihre Gespenstergeschichten nochmals auftischen, vom Kavalleristen Sorgenfrei, der sich nach Ihrer Behauptung seinerzeit, als das Haus noch Reiterkaserne war, mit Sporen und Schleppsäbel auf meinem Boden erhangen hat. Und daß Sie den noch in Verdacht nehmen.
Käferstein. Sie können den Nagel noch sehn, Herr Direktor.
Quaquaro. Det wird in janzen Hause rumerzählt von den Soldat, namens Sorjenfrei, der sich irgendwo hier oben in Dachstuhl mit 'ne Schlinge jeendigt hat.
Käferstein. Die Tischlersfrau auf dem Hof und eine Mäntelnäherin aus dem zweiten Stock haben ihn wiederholt bei hellichtem Tage aus dem Dachfenster nicken und militärisch stramm heruntergrüßen sehn.
Quaquaro. Een Unteroffizier hat dem Soldaten Sorjenfrei ja woll eene Dunstkiepe jenannt und 'n aus Fez eene rinjelangt. Det hat sich der Dämlack zu Herzen jenomm.
Direktor Hassenreuter. Ha ha ha! Militärmißhandlungen und Geistergeschichten! Diese Verquickung ist originell, aber zur Sache gehört sie nicht. Ich nehme an, der Diebstahl, oder was sonst in Frage kommt, ist während jener elf oder zwölf Tage vor sich gegangen, als ich in Geschäften im Elsaß gewesen bin. Also sehen Sie sich die Geschichte mal an, und bitte, Sie werden mir nachher Bescheid sagen! Der Direktor wendet sich seinen Schülern zu. Quaquaro steigt über die Bodentreppe und verschwindet in der Bodenluke. All right, bester Spitta: schießen Sie los.
Spitta rezitiert nur sinngemäß und ohne Pathos.
Zürnend ergrimmt mir das Herz im Busen,
zu dem Kampf ist die Faust geballt,
denn ich sehe das Haupt der Medusen,
meines Feindes verhaßte Gestalt.
Kaum gebiet' ich dem kochenden Blute.
Gönn' ich ihm die Ehre des Worts?
Oder gehorch' ich dem zürnenden Mute?
Aber mich schreckt die Eumenide,
die Beschirmerin dieses Orts,
und der waltende Gottesfriede.
Direktor Hassenreuter hat sich niedergelassen und lauscht, den Kopf in die Hand gestützt, voll Ergebenheit. Erst einige Sekunden, nachdem Spitta geendet hat, blickt er wie zu sich kommend auf. Sind Sie fertig, Spitta?! – Ich danke sehr! – Sehen Sie, lieber Spitta, ich bin nun Ihnen gegenüber wieder mal in die allerverzwickteste Lage geraten: entweder ich sage Ihnen frech ins Gesicht, daß ich Ihre Vortragsart schön finde – und dann habe ich mich der allerniederträchtigsten Lüge schuldig gemacht – oder ich sage, ich finde sie scheußlich, und dann haben wir wieder den schönsten Krach.
Spitta, erbleichend. Ja, alles Gestelzte, alles Rhetorische liegt mir nicht. Deshalb bin ich ja von der Theologie abgesprungen, weil mir der Predigerton zuwider ist.
Direktor Hassenreuter. Da wollen Sie wohl die tragischen Chöre wie der Gerichtsschreiber ein Gerichtsprotokoll oder wie der Kellner die Speisekarte herunterhaspeln?
Spitta. Ich liebe überhaupt den ganzen sonoren Bombast der »Braut von Messina« nicht.
Direktor Hassenreuter. Sagen Sie das noch mal, lieber Spitta.
Spitta. Es ist nicht zu ändern, Herr Direktor: unsre Begriffe von dramatischer Kunst divergieren in mancher Beziehung total.
Direktor Hassenreuter. Mensch, Ihr Gesicht in diesem Augenblick ist ja geradezu ein Monogramm des Größenwahns und der Dreistigkeit. Pardon! aber jetzt sind Sie mein Schüler und nicht mehr mein Hauslehrer! Ich! und Sie!? Sie blutiger Anfänger! Sie und Schiller! Friedrich Schiller! Ich habe Ihnen schon zehnmal gesagt, daß Ihr pueriles bißchen Kunstanschauung nichts weiter als eine Paraphrase des Willens zum Blödsinn ist.
Spitta. Das müßte mir erst bewiesen werden.
Direktor Hassenreuter. Sie beweisen es selbst, wenn Sie den Mund auftun! – Sie leugnen die Kunst des Sprechens, das Organ, und wollen die Kunst des organlosen Quäkens dafür einsetzen! Sie leugnen die Handlung im Drama und behaupten, daß sie ein wertloses Akzidens, eine Sache für Gründlinge ist. Sie negieren die poetische Gerechtigkeit, Schuld und Sühne, die Sie als pöbelhafte Erfindung bezeichnen: eine Tatsache, wodurch die sittliche Weltordnung durch Euer Hochwohlgeboren gelehrten und verkehrten Verstand aufgehoben ist. Von den Höhen der Menschheit wissen Sie nichts. Sie haben neulich behauptet, daß unter Umständen ein Barbier oder eine Reinmachefrau aus der Mulackstraße ebensogut ein Objekt der Tragödie sein könnte als Lady Macbeth und König Lear.
Spitta, bleich, putzt seine Brille. Vor der Kunst wie vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, Herr Direktor.
Direktor Hassenreuter. So? Ach!? Wo haben Sie diesen hübschen Gemeinplatz her?
Spitta, unbeirrt. Dieser Satz ist mir zur zweiten Natur geworden. Ich befinde mich dabei vielleicht mit Schiller und Gustav Freytag, aber keinesfalls mit Lessing und Diderot im Gegensatz. Ich habe die letzten zwei Semester mit dem Studium dieser wahrhaft großen Dramaturgen zugebracht, und der gestelzte französische Pseudoklassizismus bleibt mir durch sie endgültig totgeschlagen, sowohl in der Dichtkunst als in den grenzenlos läppischen späteren Goetheschen Schauspielervorschriften, die durch und durch mumifizierter Unsinn sind.
Direktor Hassenreuter. So!
Spitta. Und wenn sich das deutsche Theater erholen will, so muß es auf den jungen Schiller, den jungen Goethe des »Götz« und immer wieder auf Gotthold Ephraim Lessing zurückgreifen: dort stehen Sätze, die der Fülle der Kunst und dem Reichtum des Lebens angepaßt, die der Natur gewachsen sind.
Direktor Hassenreuter. Walburga! Ich glaube, Herr Spitta verwechselt mich. Herr Spitta, Sie wollen Privatstunden halten. Bitte, zieh dich doch mit Herrn Spitta zur Privatstunde in die Bibliothek zurück! – Wenn die menschliche Arroganz und besonders die der jungen Leute kristallisiert werden könnte, die Menschheit würde darunter wie eine Ameise unter den Granitmassen eines Urgebirges begraben sein.
Spitta. Ich würde dadurch aber nicht widerlegt werden.
Direktor Hassenreuter. Mensch! Ich habe nicht nur zwei Semester Königliche Bibliothek hinter mir, sondern ich bin ein ergrauter Praktiker, und ich sage Ihnen, daß der Goethesche Schauspielerkatechismus A und O meiner künstlerischen Überzeugung ist. Paßt Ihnen das nicht, so suchen Sie sich einen anderen Lehrmeister.
Spitta, unbeirrt. Goethe setzte sich mit seinen senilen Schauspielerregeln, meiner Ansicht nach, zu sich selbst und zu seiner eigenen Natur in kleinlichsten Gegensatz. Und was soll man sagen, wenn er dekretiert: jede spielende Person, gleichviel welchen Charakter sie darstellen soll – wörtlich! –, müsse etwas Menschenfresserartiges in der Physiognomie zeigen – wörtlich! –, wodurch man sogleich an ein hohes Trauerspiel erinnert werde.
Käferstein und Kegel versuchen Menschenfresserphysiognomien.
Direktor Hassenreuter. Ziehen Sie doch das Notizbuch, mein guter Spitta, und schreiben Sie, bitte, hinein, daß Direktor Hassenreuter ein Esel ist! Schiller ein Esel! Goethe ein Esel! natürlich auch Aristoteles – er fängt plötzlich wie toll zu lachen an – und, ha ha ha! ein gewisser Spitta ein Nachtwächter!
Spitta. Es freut mich, Herr Direktor, daß Sie doch wenigstens wieder bei guter Laune sind.
Direktor Hassenreuter. Nein, Teufel, ich bin bei sehr schlechter Laune! Sie sind ein Symptom. Also nehmen Sie sich nicht etwa wichtig! – Sie sind eine Ratte! aber diese Ratten fangen auf dem Gebiete der Politik – Rattenplage! – unser herrliches neues geeinigtes Deutsches Reich zu unterminieren an. Sie betrügen uns um den Lohn unserer Mühe! und im Garten der deutschen Kunst – Rattenplage! – fressen sie die Wurzeln des Baumes des Idealismus ab: sie wollen die Krone durchaus in den Dreck reißen. – In den Staub, in den Staub, in den Staub mit euch!
Käferstein und Dr. Kegel wollen ernst bleiben, brechen indessen bald in lautes Gelächter aus, in das der Direktor hineingerissen wird. Walburga macht große Augen. Spitta behält seinen Ernst.
Nun steigt Frau John über die Leiter vom Boden herunter, nach einiger Zeit folgt ihr Quaquaro, der Vizewirt.
Direktor Hassenreuter bemerkt Frau John, weist heftig mit beiden Armen auf sie, wie wenn er eine Entdeckung gemacht hätte. Da kommt Ihre tragische Muse, Spitta.
Frau John, die sich unter dem Gelächter des Direktors, Kegels und Käfersteins genähert hat, verdutzt. Wat ha ick denn an mir, Herr Direkter?
Direktor Hassenreuter. Alles Gute und Schöne, beste Frau John! Danken Sie Gott, wenn Ihr stilles, eingezogenes, friedliches Leben Sie zur tragischen Heldin ungeeignet macht. – Aber sagen Sie, haben Sie etwa Gespenster gesehen?
Frau John, mit unnatürlicher Blässe. I, weshalb denn nu det?
Direktor Hassenreuter. Etwa gar wieder den famosen Soldaten Sorgenfrei, der dort oben als Deserteur ins bessere Jenseits seine Militärkarriere beschlossen hat?
Frau John. I, wenn't 'n lebendijer Mensch wär', det kennte sind: vor tote Jeister furcht' ick mir nich.
Direktor Hassenreuter. Na, wie war's, Herr Quaquaro, unter den Bleidächern?
Quaquaro, der einen schwedischen Reiterstiefel mitbringt. Ick habe mir allens jut umjesehen un bin zur Ieberzeijung jekomm, det mindestens obdachloses Jesindel oben, durch wat for'n Zujang weeß ick noch nich, jenächtigt hat. Un denn hab' ick det hier in Stiefel jefunden. Er zieht aus dem Reiterstiefel ein Kinderfläschchen mit Gummipfropfen, halb mit Milch gefüllt.
Frau John. Det erklärt sich: ick ha oben zu'n Rechten jesehn und ha Adelbertchen bei mich jehat. – Ick bin an die janze Jeschichte unschuldig!
Direktor Hassenreuter. Das Gegenteil hat wohl auch niemand behauptet, Frau John.
Frau John. Wo Adelbertchen zur Welt kam ... wo Adelbertchen jestorben war ... der soll ma komm und soll mir sachen, wat eene richtije Mutter is ... aber nu muß ick fort, Herr Direkter ... Nu kann ick zweeer Tage, ooch drei nich oben komm. Atje! ick muß mich ma bißken mit Adelbertchen bei meine Schwäjern zeijen uff Sommerfrische. Sie trottet durch die Flurtür ab.
Direktor Hassenreuter. Was hat sie da durcheinandergefaselt?
Quaquaro. Schon wo se det erste Kindeken hatte, nu jar nachdem, wie et jestorben is, wa eene Schraube los bei die John. Seit se nu jar det zweete hat, wackeln zweee. Hinjejen, deswejen, rechnen kann se. Die hat manchen juten Jroschen bei scheene Prozente uff Fänder ausjeborcht.
Direktor Hassenreuter. Was soll ich nun als Bestohlener tun?
Quaquaro. Det kommt druff an, wo Verdacht hin is.
Direktor Hassenreuter. In diesem Hause? – Sagen Sie selbst, Herr Quaquaro ...
Quaquaro. Det is ja nu wahr, aber et is nu doch ooch so weit, det nächstens bißken jesäubert wird. De Witwe Knobbe mit ihren Anhang wird rausjeschmissen! Und denn is eene Blase uff Fliejel B, wo Schutzmann Schierke mir hat jesacht, det sich schwere Jungen mangmang befinden: wo de Polizei nächstens ausheben wird.
Direktor Hassenreuter. Irgendwo hier im Hause ist doch ein Gesangverein. Ich höre wenigstens manchmal wirklich hübsche Männerstimmen »Deutschland, Deutschland über alles«, »Wer hat dich, du schöner Wald«, »In einem kühlen Grunde« und dergleichen absingen.
Quaquaro. Det sind se! det sind se! die singen so jut wie de blaue Zwiebel! det sind se, jewiß! Wo man singt, da laß dir jeruhig nieder, heeßt et zwar, aber det wollt' ick keenen raten ... Ick wage mir ooch man bloß mit mein Prinz, wat meine Bulldogge is, mang die feine Jesellschaft rin. Immer anzeijen, anzeijen, Herr Direkter! Quaquaro geht ab.
Direktor Hassenreuter. Sein Auge blitzt Kaution. Sein Wort heischt Preußisch-Kurant. Seine Faust bedeutet Kündigung. Wer um Ultimo nicht von ihm träumt, kann von Glück sagen. Wer von ihm träumt, der brüllt nach Hilfe. Ein scheußlicher, schmalziger Kerl! aber ohne ihn bekämen die Pächter dieser Staatsbaracke die Miete nicht, und der Militärfiskus könnte die Pacht in den Rauchfang schreiben. Die Türschelle geht. Das ist Fräulein Alice Rütterbusch! die junge Naive, die ich leider bei dem Hangen und Bangen auf die Entscheidung der Straßburger Stadtväter mir noch immer kontraktlich nicht sichern kann. Nach meiner Ernennung, zu der Gott mir helfe, wird ihr Engagement meine erste direktoriale Handlung sein. – Walburga und Spitta, marsch auf den Oberboden! Zählt die sechs Kisten durch, wo der Vermerk »Journalisten« steht, daß wir im geeigneten Augenblick mit der Inventur fertig sind. Zu Käferstein und Dr. Kegel. Sie mögen derweil in die Bibliothek treten. Er geht, um die Flurtür zu öffnen. Walburga und Spitta verschwinden eilig und sehr bereitwillig auf den Oberboden. Käferstein und Kegel gehen in die Bibliothek. Direktor Hassenreuter im Hintergrund. Bitte, kommen Sie nur herein, meine Gnädige! Pardon! Bitte sehr um Pardon, mein Herr! Ich erwartete eine Dame ... ich erwartete eine junge Dame ... Aber bitte, treten Sie doch herein.
Der Direktor kommt mit Pastor Spitta wieder nach vorn. Pastor Spitta, sechzig Jahre alt, ist ein etwas verbauerter kleiner Landpfarrer. Man könnte ihn ebensogut für einen Feldmesser oder kleinen Gutsbesitzer nehmen. Er ist von kräftiger Erscheinung, kurznackig, wohlgenährt und hat ein etwas zusammengequetschtes, breites Luthergesicht. Er trägt Schlapphut, Brille, Stock, einen Lodenmantel überm Arm; ungeschlachte Stiefel und die Verfassung seiner übrigen Kleidung zeigen, daß sie an Wetter und Wind schon seit lange gewöhnt sind.
Pastor Spitta. Wissen Sie, wer ich bin, Herr Direktor?
Direktor Hassenreuter. Nicht durchaus bestimmt, aber ...
Pastor Spitta. Wagen Sie's nur daraufhin, Herr Direktor: nennen Sie mich bis auf weiteres Pastor Spitta aus Schwoiz in der Uckermark, dessen Sohn Erich Spitta, jawohl, in Ihrer Familie als Hauslehrer oder so ähnlich tätig gewesen ist. Erich Spitta: das ist mein Sohn. Das sag' ich mit schwerer Bekümmernis.
Direktor Hassenreuter. Zunächst freue ich mich, Sie begrüßen zu können. Ich möchte Sie aber im gleichen Atem bitten, Herr Pastor, des bewußten Seitensprunges wegen, den Ihr Sohn Erich sich leistet, nicht allzu bekümmert, nicht allzu besorgt zu sein.
Pastor Spitta. Oh, ich bin sehr besorgt. Ich bin sehr bekümmert! Er sieht sich mit großem Interesse, auf einem Stuhl sitzend, in dem seltsamen Raume um. Es ist schwer zu sagen, äußerst schwer begreiflich zu machen, bis zu welchem hohen Grade ich bekümmert bin. Aber verzeihen Sie eine Frage, Verehrtester: ich war im Zeughaus. Er berührt mit dem Stock einen der Pappenheimschen Kürassiere. Was sind das für Rüstungen?
Direktor Hassenreuter. Das sind Pappenheimsche Kürassiere.
Pastor Spitta. Ah, ah, ich stellte mir Schiller ganz anders vor! Sich sammelnd. O dieses Berlin! Es verwirrt mich ganz! Sie sehen in mir einen Mann, Herr Direktor, der nicht nur bekümmert, nicht nur durch dieses Sodom Berlin im Innersten aufgewühlt, sondern geradezu durch die Tat seines Sohnes gebrochen ist.
Direktor Hassenreuter. Eine Tat? Welche Tat?
Pastor Spitta. Das fragen Sie noch? Der Sohn eines redlichen Mannes und ... und ... Schauspieler.
Direktor Hassenreuter, gereckt, mit Haltung. Mein Herr ich billige den Entschluß Ihres Sohnes nicht. Aber ich selbst, der ich, honny soit qui mal y pense, der Sohn eines redlichen Mannes und selber, will ich hoffen, ein Mann vor Ehre bin, ich, wie ich hier stehe, ich war selbst Schauspieler und habe noch vor kaum sechs Wochen bei einen Lutherfestspiel in Merseburg – ich bin Kulturkämpfer! – nicht nur als Regisseur, sondern auch als Schauspieler meinen Fuß auf die weltbedeutenden Bretter gestellt. In bezug auf bürgerliche Ehre und vom Standpunkt der allgemeinen Ehrenhaftigkeit dürfte also, nach meinen Begriffen wenigstens, der Entschluß Ihres Herrn Sohnes nicht zu beanstanden sein. Aber es ist ein schwerer Beruf, und man muß auch außerdem dazu sehr viel Talent haben. Auch geb' ich zu: für schwache Charaktere ist es ein Beruf, der besonders gefährlich ist. Und schließlich habe ich selbst die ungeheure Mühsal meines Standes so bis auf die Nagelprobe kennengelernt, daß ich jeden davor behüten möchte. Deshalb gebe ich meinen Töchtern Ohrfeigen, sobald auch nur der leiseste Gedanke, zur Bühne zu gehen, sich geltend macht, und eh ich sie an einen Mimen verheiratete, würde ich jeder von ihnen einen Stein um den Hals hängen und sie ertränken im Meer, wo es am tiefsten ist.
Pastor Spitta. Ich wollte niemand zu nahe treten. Ich gebe auch zu, ich habe als schlichter Landpfarrer von alledem keine Vorstellung. Aber denken Sie sich einen Vater an, eben einen solchen armen Landpfarrer, der seine Pfennige mühsam zusammenkratzt, um seinem Sohne das Studium zu ermöglichen. Denken Sie, daß dieser Sohn kurz vor seinem Examen steht und daß Vater und Mutter – ich hab' eine kranke Frau zu Haus! – mit Schmerzen oder mit Sehnsucht, wie Sie wollen, auf den Augenblick warten, jawohl, wo er in irgendeiner Pfarre seiner Bestimmung von der Kanzel die Probepredigt halten wird. Und nun kommt dieser Brief! der Junge ist wahnsinnig.
Die Erregung des Pastors ist nicht gerade gespielt, aber beherrscht. Das Zittern, womit er nach seinem Briefe in die Brusttasche greift und ihn dem Direktor hinhält, ist nicht ganz überzeugend.
Direktor Hassenreuter. Junge Leute suchen. Allzusehr dürfen wir uns nicht wundern, wenn eine Krise im Leben eines jungen Mannes zuweilen nicht zu vermeiden ist.
Pastor Spitta. Nun, diese Krise war zu vermeiden. Sie werden aus diesem Briefe unschwer erkennen, wer verantwortlich für den verderblichen Umschwung in der Seele eines so jungen, braven und immer durchaus gehorsamen Menschen zu machen ist. Ich hätte ihn nie sollen nach Berlin schicken. Jawohl: die sogenannte wissenschaftliche Theologie, die mit allen heidnischen Philosophen liebäugelt und die uns den lieben Herrgott in Rauch, den Herrn und Heiland in Luft verwandeln will, die mache ich für den schweren Fehltritt meines Kindes verantwortlich. Und nun kommen dazu die anderen Verführungen: Herr Direktor, ich habe Dinge gesehen, wovon zu sprechen mir ganz unmöglich ist! Hier habe ich Zettel in allen Taschen: Elite-Ball! Fesche Damenbedienung! und so fort. Ich gehe halb ein Uhr nachts ganz ruhig durch die Passage zwischen Linden und Friedrichstraße, schmeißt sich ein scheußlicher Kerl an mich an, halbwüchsig, und fragt mit einer schmierigen, scheuen Dreistigkeit: ob der Herr vielleicht etwas Pikantes will? Und nun diese Schaufenster, wo neben den Bildern der hohen und allerhöchsten Herrschaften nackte Schauspielerinnen, Tänzerinnen, kurz die anstößigsten Nuditäten zu sehen sind! Und dann dieser Korso, dieser Korso! wo die geschminkte, aufgedonnerte Sünde die Bürgersfrau vom Bürgersteig auf die Straße drängt! Das ist einfach Weltuntergang, Herr Direktor!
Direktor Hassenreuter. Ach, Herr Pastor, die Welt! die geht nicht unter! nicht wegen der Nuditäten und ebensowenig der heimlichen Sünde wegen, die nachts durch die Straßen schleicht. Sie wird mich und wahrscheinlich das ganze skurrile Menschheitsintermezzo noch überleben.
Pastor Spitta. Was diese jungen Leute vom rechten Wege ablenkt, ist das böse Beispiel, ist die Gelegenheit.
Direktor Hassenreuter. Mit Erlaubnis, Herr Pastor: ich habe eigentlich eine Neigung zum Leichtsinn in Ihrem Sohne niemals bemerkt. Er hat einen Zug zur Literatur, und er ist nicht der erste Pastorensohn – Lessing, Herder et cetera –, der in den Weg der Literatur und Poeterei eingebogen ist. Möglicherweise hat er schon Stücke im Schubfach liegen. Allerdings muß ich sagen: die Ansichten, die Ihr Herr Sohn auch auf dem Felde der Literatur vertritt, sind selbst für mich mitunter beängstigend.
Pastor Spitta. Das ist ja furchtbar! das ist ja entsetzlich! und geht über meine schlimmsten Befürchtungen weit hinaus. Und so sind mir die Augen denn aufgegangen. – Mein Herr, ich habe acht Kinder gehabt, von denen Erich unsre schönste Hoffnung, seine nächstälteste Schwester unsre schwerste Prüfung von Gott bedeutete und die nun, dem Anschein nach, beide von der gleichen verruchten Stadt als Opfer gefordert worden sind. Das Mädchen war früh entwickelt, war schön! – doch ... Jetzt muß ich zu etwas anderem kommen. – Ich bin seit drei Tagen in Berlin und habe Erich noch nicht gesehen. Als ich ihn heute aufsuchen wollte, war er in seiner Wohnung nicht anwesend. Ich habe eine Weile gewartet und mich natürlich dabei in seiner Behausung umgesehen. Nun: betrachten Sie dieses Bild, Herr Direktor! Er hat eine kleine Photographie, indem er Erichs Brief zurücklegt, aus der Brieftasche genommen und hält sie dem Direktor unter die Augen.
Direktor Hassenreuter nimmt und betrachtet das Bild, bald wie ein Kurzsichtiger, bald wie ein Weitsichtiger, stutzt. Wieso?
Pastor Spitta. An dem albernen Lärvchen liegt weiter nichts. Aber lesen Sie bitte die Unterschrift.
Direktor Hassenreuter Wo?
Pastor Spitta liest. »Ihrem einzigen Liebsten, seine Walburga.«
Direktor Hassenreuter. Erlauben Sie mal! – Was heißt das, Herr Pastor?
Pastor Spitta. Irgendein Nähmädchen, heißt das! Wenn nicht gar irgendeine obskure Kellnerin!
Direktor Hassenreuter, sehr bleich. Hm. Steckt das Bild ein. Ich werde das Bild behalten, Herr Pastor.
Pastor Spitta. In solchem Schmutz wälzt sich dieser Sohn. Und nun denken Sie sich in meine Lage: mit welchen Gefühlen, mit welcher Stirn soll ich künftig vor meiner Gemeinde auf der Kanzel stehn ...?
Direktor Hassenreuter. Donnerwetter, was geht mich das an, Herr Pastor! Was habe ich mit Ihrem Sprengel, mit Ihren verlorenen Söhnen und Töchtern und dergleichen zu tun? Er zieht wieder die Photographie. Und übrigens, was dieses kernige, tüchtige Mädchen betrifft, »Kellnerin und dergleichen«, so irren Sie sich! Weiter sage ich nichts! Alles weitere wird sich finden, Herr Pastor. Adieu.
Pastor Spitta. Ich gestehe frei, ich begreife Sie nicht. Wahrscheinlich ist das der Ton, der in Ihren Kreisen der übliche ist. Ich gehe und werde Sie nicht mehr belästigen. Aber ich habe als Vater das Recht vor Gott, Sie, Herr Direktor, zu verpflichten: verweigern Sie künftig – oder ich werde Mittel und Wege zu finden wissen – meinem verblendeten Sohne diesen sogenannten dramatischen Unterricht!
Direktor Hassenreuter. Nicht nur das, Herr Pastor: sondern ich werde ihm ganz direkt den Stuhl vor die Tür setzen. Er geleitet den Pastor hinaus, schlägt die Tür zu und kommt ohne ihn wieder. Er schleudert die Arme in die Luft. Hier kann man nur sagen: Neandertaler! Er stürmt die Bodentreppe hinauf. Spitta, Walburga, kommt mal herab! Walburga und Spitta kommen. Direktor Hassenreuter zu Walburga, die ihn fragend ansieht. Geh auf deinen Kontorbock. Setz dich auf deinen humoristischen Körperteil! – Na, und Sie, lieber Spitta, was wollen Sie noch?
Spitta. Sie hatten gerufen, Herr Direktor.
Direktor Hassenreuter. Gut. Sehen Sie mir ins Angesicht!
Spitta. Bitte. Er tut es.
Direktor Hassenreuter. Ihr macht einen dumm! Aber mich sollt ihr nicht dumm machen! Still! – Kein Wort! Ich hätte mich von Ihnen eines anderen versehen als eines so exemplarischen Beweises von Undankbarkeit! – Still! – Im übrigen war ein Herr hier! er fürchtet sich! Vorwärts! Gehen Sie ihm nach! – Begleiten Sie ihn auf die Straße hinunter. Suchen Sie ihm begreiflich zu machen, daß ich nicht euer Schuhputzer bin. Spitta zuckt die Achseln, nimmt seinen Hut, geht ab. Direktor Hassenreuter schreitet energisch auf Walburga zu und zieht sie am Ohr. Und du, meine Liebe, du bekommst Ohrfeigen, wenn du mit diesem Schlingel von verkrachtem Theologen noch jemals ohne meine Erlaubnis zwei Worte sprichst.
Walburga. Au, au, Papa.
Direktor Hassenreuter. Dieser Wicht, der mit Vorliebe schafsdumme Gesichter macht, als ob er kein Wässerchen trüben könnte, und dem ich den Zutritt in mein Haus zu eröffnen so unvorsichtig war, ist leider ein Mensch, hinter dessen Maske die unverschämteste Frechheit lauert. Ich und mein Haus, wir dienen dem Geiste der Wohlanständigkeit. Willst du den Schild unserer Ehre beflecken, etwa wie die Schwester von diesem Burschen, die zur Schande ihrer Eltern, wie es scheint, in Gasse und Gosse geendigt ist?
Walburga. Über Erich bin ich nicht deiner Ansicht, Papa.
Direktor Hassenreuter. Was?! Nun, jedenfalls kennst du meine Ansicht! und weißt, einen Appell gegen meine Ansichten gibt es nicht! Du gibst ihm den Laufpaß oder siehst selber zu, wo du außerhalb deines Elternhauses mit deinem ehr- und pflichtvergessenen lockeren Lebenswandel durchkommen wirst! Dann fort mit dir! von solchen Töchtern mag ich nichts wissen!
Walburga, bleich, finster. Du sagst ja immer, Papa, du hast dir deinen Weg auch ohne deine Eltern selbständig suchen müssen.
Direktor Hassenreuter. Du bist kein Mann.
Walburga. Gewiß nicht. Aber denke doch mal an Alice Rütterbusch.
Vater und Tochter sehen einander fest in die Augen.
Direktor Hassenreuter. Wieso? – Bist du heiß? was? oder bist du irrsinnig? Er lenkt ab, merklich aus dem Konzept, und pocht an die Bibliothek. Kegel und Käferstein erscheinen. Wo blieben wir stehen? Setzen Sie ein.
Kegel, Käferstein deklamieren.
Weisere Fassung
ziemet dem Alter,
ich, der Vernünftige, grüße zuerst.
Geführt von Spitta, erscheint die Piperkarcka, straßenmäßig gekleidet, und Frau Kielbacke, die einen Säugling im Steckkissen trägt.
Direktor Hassenreuter. Was wollen Sie? Mit was für Weibsleuten überlaufen Sie mich?
Spitta. Es ist nicht meine Schuld, Herr Direktor, die Frauen wollten zu Ihnen hinein.
Frau Kielbacke. Nee. Wir wollen man bloß Frau Mauerpolier John sprechen.
Die Piperkarcka. Ist doch immer bei Sie hier oben Frau John?!
Direktor Hassenreuter. Ja! Aber ich fange an zu bedauern, daß das so ist, und wünschte jedenfalls, daß sie ihre privaten Empfänge nicht hier bei mir, sondern unten bei sich erledigt. Sonst richte ich nächstens vor der Tür Selbstschüsse oder Fußangeln ein. – Wo fehlt's Ihnen eigentlich, bester Spitta? Sie müssen jetzt schon die Gnade haben und diese Damen nach unten zurechtweisen.
Die Piperkarcka. Unten in ihre Wohnung war nich zu finden Frau John.
Direktor Hassenreuter. Hier oben bei uns ist sie auch nicht zu finden.
Frau Kielbacke. Det junge Freilein hat nämlich ihr Söhneken bei die Frau Mauerpolier John in Flege jehat.
Direktor Hassenreuter. Freut mich! Ohne Umstände los! Retten Sie mich, Käferstein.
Frau Kielbacke. Nun is'n Herr von de Stadt als wie vormundschaftswejen nachsehn jekomm: wie't steht mit det Kind und det jut versorcht und in Stande is. Und denn is er, denn sind wir bei Frau John mitsamt den Herrn sind wir rinjejang. Denn stand det Kind und 'n Zettel bei, det Frau John hier oben uff Arbeet is.
Direktor Hassenreuter. Wo ist das Kind in Pflege gewesen?
Frau Kielbacke. Bei de Frau Mauerpolier John.
Direktor Hassenreuter, ungeduldig. Das ist vollkommen blödsinnig! Das ist unrichtig! – Hätten Sie doch lieber den alten humorvollen Herrn begleitet, dem ich Sie nachgesendet habe, Spitta, statt mir diese Damen hier auf den Hals zu ziehn.
Spitta. Ich suchte den Herrn, aber er war schon verschwunden.
Direktor Hassenreuter. Die Damen scheinen mir nicht zu trauen. Sagen Sie ihnen doch, meine Herren, daß Frau John kein Kind in Pflege hat und daß sie also bezüglich des Namens im Irrtum sind!
Käferstein. Ich soll Ihnen sagen, meine Damen, daß Sie wahrscheinlich bezüglich des Namens im Irrtum sind.
Die Piperkarcka, heftig, verweint. Hat Kindchen in Fleje! Hat mein Kindchen in Fleje jehabt. Is Herr von die Stadt jekommen, hat jesacht, daß Kindchen in schlechte Hände, verwahrlost is. Hat mich mein Kindeken zujrunde jerichtet.
Direktor Hassenreuter. Sie müssen unbedingt, meine Damen, bezüglich des Namens der Frau, von der Sie reden, im Irrtum sein. Frau Maurerpolier John hat kein Kind in Pflege.
Die Piperkarcka. Hat mein Kindchen in Klauen jehabt, hat verhungern lassen, zujrunde jerichtet! Will sehn Frau John. Will auf Kopf draufsagen! Soll mich jesund machen kleinet Kind! Muß vor Jericht! Herr hat jesacht, müssen jehn an Jerichtstelle anzeijen.
Direktor Hassenreuter. Ich bitte Sie, sich nicht aufzuregen. Tatsache ist: Sie irren sich! Wie kommen Sie nur auf den Gedanken, meine Damen, daß Frau John ein Kindchen in Pflege hat?
Die Piperkarcka. Weil ick ihr selbst überjeben habe.
Direktor Hassenreuter. Frau John hat aber doch ihr eigenes Kind, mit dem sie, wie mir jetzt einfällt, auf Besuch zu der Schwester ihres Gatten zu gehen beabsichtigte.
Die Piperkarcka. Hat kein Kind. Janz und jar nich, Frau John. Ick jeh' unten auf Polizeibüro. Hat jelogen, betrogen. Hat kein Kind. Hat mich mein Aloischen zujrunde jerichtet.
Direktor Hassenreuter. Bei Gott, meine Damen, Sie irren sich.
Die Piperkarcka. Glaubt mich kein Mensch, daß ich Kindchen jehabt habe. Hat mich mein Bräutijam Brief jeschrieben, daß nich wahr is, daß schlechtes, verlogenes Frauenzimmer bin. Sie berührt das Tragbettchen. Is mein! will nachweisen vor Jericht! Will schwören bei heilige Mutter Jottes.
Direktor Hassenreuter. Decken Sie doch mal auf, das Kind. Es geschieht. Direktor Hassenreuter betrachtet den Säugling aufmerksam. Hm! Die Sache wird sich bald aufklären, sicherlich! – Erstens ... ich kenne Frau John! – hätte Frau John diesen Säugling in Pflege gehabt, er könnte ganz unmöglich so aussehn! ganz einfach, weil Frau John, soweit Kinder in Frage kommen, das Herz auf dem rechten Flecke hat.
Die Piperkarcka. Will sprechen Frau John. Weiter sagen nichts. Brauche mir nicht vor alle Welt aufdecken. Alles will haarklein vor Jericht will aussagen, Tag, Stunde, auch janz jenau Ort, wo jeboren is! Jlauben mir: sollten wohl Augen aufreißen.
Direktor Hassenreuter. Sie meinen also, mein Fräulein, wenn ich Sie recht verstehe, die Frau John besitze kein eigenes Kind, und das, was dafür gegolten hat, wäre das Ihre.
Die Piperkarcka. Schlag' Blitz mich nieder, wenn nich so is.
Direktor Hassenreuter. Und dies hier sei eben das strittige Kind? Gott möge Sie diesmal nicht beim Wort nehmen! – Nämlich, wie Sie mich sehen, ich bin der Direktor Hassenreuter, und ich habe persönlich das Kind meiner Aufwartefrau, der Frau John, drei- oder viermal in Händen gehabt. Ich hab' es sogar auf der Waage gewogen. Es wiegt über acht Pfund. Dieses arme Wurm hier dürfte noch nicht zwei Kilo wiegen. Auf Grund dieses Umstandes versichere ich Ihnen, dies hier ist in der Tat nicht das Kind der Frau John. Es mag richtig sein, daß es das Ihre ist. Ich könnte das schlechterdings nicht bezweifeln. Das Kind der Frau John aber kenne ich und bin sicher, daß es mit diesem durchaus nicht identisch ist.
Frau Kielbacke, respektvoll. Nee, nee, det muß wahr sind: et is nich identisch.
Die Piperkarcka. Det Kindken is janz jenug identisch, wenn ooch bißchen schlecht jenährt und schwächlich is. Det is janz richtig hier mit det Kind! Will Eid schwören, daß richtig identisch is.
Direktor Hassenreuter. Ich bin sprachlos. Zu den Schülern. Unser Unterricht steht heute unter einem feindlichen Stern, werte Jünglinge! Ich weiß nicht wieso, aber der Irrtum der Damen beschäftigt mich. Zu den Frauen. Sie werden sich in der Tür geirrt haben.
Frau Kielbacke. Ick ha selbst mit det Freilein und mit den Herrn von die Vormundschaft det Kindeken aus die Stube mit Schild »Frau Mauerpolier John« uff'n Hausflur jeholt. Frau John war nich da, und Mauerpolier John ist in Altona abwesend.
Schutzmann Schierke kommt, behäbig und gemütlich.
Direktor Hassenreuter. Ah, da ist ja Herr Schierke! Was wünschen Sie denn?
Schierke. Herr Direkter, ick habe erfahren, det zwee Frauensleute hier oben jeflichtet sind.
Direktor Hassenreuter. Zwei Frauen sind hier. Aber wieso denn geflüchtet?
Frau Kielbacke. Wir sind nich jeflichtet.
Direktor Hassenreuter. Sie fragten nach meiner Aufwärterin.
Schierke. Erlauben Se, det ich se ooch mal wat frache.
Direktor Hassenreuter. Bitte.
Die Piperkarcka. Laß er man frachen. Deswejen kann ruhig sind.
Schierke, zur Frau Kielbacke. Wie heißen Sie?
Frau Kielbacke. Ick bin Frau Kielbacke.
Schierke. Woll von det Landeskindererziehungsheim. Wo wohnen Sie?
Frau Kielbacke. In de Linienstraße neun.
Schierke. Ist das Ihr Kind, was Sie bei sich haben?
Frau Kielbacke. Det is Freilein von Piperkarcka ihr Kind.
Schierke, zur Piperkarcka. Ihr Name?
Die Piperkarcka. Paula von Piperkarcka aus Skorzenin.
Schierke. Die Frau will behaupten, das wäre Ihr Kind. Wollen Sie das also auch behaupten?
Die Piperkarcka. Herr Schutzmann, ick muß erjebenst um Schutz bitten, weil hier unrechtmäßigerweise verdächtige bin. Is Herr von die Stadt mit mich hier jewesen. Haben mein Kind aus Stube Frau John, wo in Flege jewesen, rausjeholt ...
Schierke, mit durchbohrendem Blick. Et kann ooch die Tiere jejenüber bei de Restaurateurswitwe Knobbe jewesen sind. Wer weeß, wat Sie mit det Kindeken vorhaben, wovon Sie abjesandt und bestochen sind, 'n jutes Jewissen haben Se nich. Jenommen un denn hier ruffjeschlichen, weil det die rechtmäßige Mutter, Witwe Knobbe, wo bestohlen is, Treppen und Jänge absucht und weil schräg jejenüber Polizeiwache is.
Die Piperkarcka. Is mich janz jleichgiltig Polizeiwache, bin ...
Direktor Hassenreuter. Sie sind widerlegt, meine beste Person! Wollen Sie denn das gar nicht begreifen? Sie sagen, unsere John hätte kein Kind. Sie sagen, wollen Sie bitte gefälligst aufpassen, Sie hätten Ihr Kind, das angeblich für das von Frau John gegolten habe, aus Frau Johns Zimmer herausgeholt! Nun also: wir alle hier kennen Frau Johns Kind, und das, was Sie da haben, ist ein anderes! Verstanden?! Was Sie behaupten also, kann, nach Adam Riese, unter gar keinen Umständen zutreffend sein! – Übrigens wär' mir's jetzt lieb, Herr Schierke, Sie nehmen die Damen mit sich fort und ich könnte hier meinen Unterricht fortsetzen.
Schierke. Ja, denn kommen wir bloß mang die Knobben mit ihren Anhang rin. Nämlich das Kind ist jestohlen worden.
Die Piperkarcka. Aber nich von mich. Is jeraubt von Frau John.
Schierke. Schon jut! Unbeirrt zum Direktor. Und es soll ja, wie't heeßt, von Vaters Seite blaublütig sind. Die Knobbe meent ja, et is'n Komplott von Feinde, weil man ihr die Rente un womeechlich Kadettenerziehung in 'ne jewisse Jejend nich jennen dut. Es wird mit Fäusten an die Tür geschlagen. Det is de Knobbe. Da is se schonn.
Direktor Hassenreuter. Herr Schierke, Sie sind mir verantwortlich: dringen die Leute bei mir ein und erleide ich eine Schädigung, so wende ich mich an den Polizeipräsidenten: ich bin mit Herrn Madai gut bekannt. Keine Furcht, liebe Kinder, ihr seid meine Kronzeugen.
Schierke, an der Tür. Draußen jeblieben! Hier rin kommen Se nich.
Ein kleiner Janhagel heult auf.
Die Piperkarcka. Soll schreien, was will, bloß mein Kindchen nich nah kommen.
Direktor Hassenreuter. Es ist besser so. Treten Sie einstweilen hier in die Bibliothek hinein. Er bringt die Piperkarcka, die Kielbacke und das Kind in die Bibliothek. Und jetzt, Herr Schierke, wollen wir meinethalben diese Megäre da draußen hereinlassen.
Schierke, der die Tür ein wenig öffnet. So! Aber bloß de Knobben! Komm Se mal rin.
Frau Sidonie Knobbe erscheint. Sie ist eine hohe, abgezehrte Erscheinung mit stark ramponierter modischer Sommertoilette. Ihr Gesicht trägt die Stigmata der Straße, zeugt aber übrigens nicht von schlechter Abkunft. Ihre Allüren sind merkwürdig damenhaft. Sie redet mit Affektation, ihre Augen deuten auf Alkohol und Morphium.
Frau Knobbe, indem sie hereingesegelt kommt. Es ist keine Ursache zur Besorgnis, Herr Direktor. Vorwiegend sind es kleine Jungens und kleine Mädchen, da ich kinderlieb bin, wie Sie wissen, die mit mir gekommen sind. Verzeihen Sie gütigst, wenn ich hier eindringe. Eines der Kinder sagte mir, es hätten sich zwei Frauen mit meinem Söhnchen zu Ihnen heraufgeschlichen. Ich suche mein Söhnchen, genannt Helfgott Gundofried, da es tatsächlich aus meiner Wohnung verschwunden ist. Ich möchte Sie aber nicht inkommodieren.
Schierke. Darum wollt' ick ooch janz jehorsamst bitten, verstehn Se mich.
Frau Knobbe, diese Worte mit hochmütiger Kopfbewegung übergehend. Ich habe unten im Hof zu meinem Leidwesen einen gewissen Lärm erregt. Man überblickt von da aus die Fenster, und ich habe mich bei den Leuten erkundigt, bei der armen Zigarrenarbeiterin im zweiten Stock, bei der kleinen schwindsüchtigen Näherin am Fenster im dritten Stock, ob meine Selma mit meinem Söhnchen etwa bei ihnen ist. Es liegt mir fern, Skandal zu erregen. – Sie müssen wissen, Herr Direktor – ich weiß sehr wohl, daß ich hier unter den Augen eines Mannes von Bedeutung, ja eines berühmten Mannes bin! –, Sie müssen wissen, ich bin, was Helfgott Gundofried angeht, gezwungen, auf meiner Hut zu sein! Mit schwankender Stimme, das Taschentuch zuweilen an die Augen führend. Ich bin eine arme, vom Schicksal verfolgte Frau, mein Herr, die gesunken ist und die bessere Tage gesehen hat. Aber ich will Sie damit nicht langweilen. Ich werde verfolgt! man will mir die letzte Hoffnung nun auch rauben.
Schierke. Sagen Se kurz, wat Se wünschen. Sputen Se sich.
Frau Knobbe, wie vorher. Nicht genug: man hat mich veranlaßt, hat mich gezwungen, meinen ehrlichen Namen abzulegen. Ich habe dann in Paris gelebt und schließlich einen brutalen Menschen geheiratet, den Pächter von einem süddeutschen Schützenhaus, weil ich den blöden Gedanken hatte, in meinen Angelegenheiten dadurch gebessert zu sein. O diese Schurken von Männern, Herr Direktor!!
Schierke. Det fiehrt zu weit. Menagieren Se sich.
Frau Knobbe. Es freut mich, daß ich Gelegenheit finde, endlich mal wieder einem Manne von Bildung und Geist in die Augen zu sehn. Mein Herr, ich könnte Ihnen eine Geschichte vortragen ... im Volksmund heiße ich hier die »Gräfin«, und Gott ist mein Zeuge, in meiner frühen Jugend war ich nicht weit entfernt davon! Eine Zeitlang war ich auch Schauspielerin! Wie sagte ich: eine Geschichte vortragen aus meinem Leben, aus meiner Vergangenheit, die den Vorzug hat, nicht erfunden zu sein.
Schierke. Na, wer weeß ooch.
Frau Knobbe, mit Emphase. Mein Elend ist nicht erfunden. Trotzdem es erfunden klingt, wenn ich sage, wie ich eines Nachts im tiefsten Abgrunde meiner Schande einen Vetter, einen Jugendgespielen, der jetzt Garderittmeister ist, nachts auf der Straße traf. Er lebt oberirdisch, ich unterirdisch, seit mich mein adelstolzer Herr Vater verstieß, nachdem ich als junges Ding einen Fall getan hatte. Oh, Sie ahnen nicht, welcher Stumpfsinn, welche Roheit, welche Gemeinheit in meinen Kreisen üblich ist. Ich bin ein zertretener Wurm, Herr Direktor, und doch, dorthin, nach diesem glänzenden Elend, sehne ich mich nicht eine Sekunde zurück.
Schierke. Nun wolln wir jefälligst zur Sache kommen.
Direktor Hassenreuter. Bitte, Herr Schierke, mich interessiert das! unterbrechen Sie zunächst mal die Dame nicht! Zur Knobbe. Sie hatten von Ihrem Vetter gesprochen. Sagten Sie nicht, daß er Garderittmeister ist?
Frau Knobbe. Er war in Zivil. Er ist Garderittmeister. Er erkannte mich, und wir feierten schmerzlich selige Stunden alter Erinnerung. In seiner Begleitung befand sich – ich nenne den Namen nicht! – ein blutjunger Leutnant. Kerlchen wie Milch und Blut, aber zart und schwermütig. Herr Direktor, ich habe die Scham verlernt! man hat mich neulich sogar aus einer Kirche herausgewiesen: warum soll eine so zertretene, entehrte, verlassene, mehrmals vorbestrafte Person vor Ihnen nicht offen bekennen, daß er der Vater meines Helfgott Gundofried geworden ist.
Direktor Hassenreuter. Des Kindes, das Ihnen entwendet wurde?
Frau Knobbe. Wie die Leute sagen. Es kann ja sein! ich selbst, obgleich meine Feinde mächtig sind und jedwedes Mittel in der Hand haben, ich bin noch nicht ganz überzeugt davon. Vielleicht ist es aber doch ein Komplott, von den Eltern des Vaters angezettelt, Menschen, die, Sie würden erstaunen, Träger eines der ältesten und berühmtesten Namens und Geschlechtes sind. Adieu! Herr Direktor, was Sie auch von mir hören sollten, denken Sie nicht, mein besseres Fühlen ist in dem Sumpfe total erstickt, in den ich mich stürzen muß. Ich brauche den Sumpf, wo ich gleich und gleich mit dem Abschaum der Menschheit bin. Da, hier! Sie weist ihren nackten Arm vor. Vergessen! Betäubung! Ich verschaffe es mir mittels Chloral, mittels Morphium! Ich finde es in den menschlichen Abgründen. Warum nicht? wem bin ich verantwortlich? Einst wurde meine geliebte Mama meinetwegen von meinem Vater heruntergemacht! Die Bonne bekam meinetwegen Krampfanfälle! Mademoiselle und eine englische Miß rissen sich, weil jede behauptete, daß ich sie mehr liebte, in der Wut gegenseitig die Chignons vom Kopf. Jetzt ...
Schierke. ... sage ick Ihnen, jetzt hören Se uff: wir kenn hier Leute nich Freiheit berauben. Er öffnet die Bibliothekstür. Jetzt sagen Se, ob det hier Ihr Kindeken is.
Zuerst tritt die Piperkarcka, mit haßerfüllten Augen Frau Knobbe anstarrend, aus der Tür. Die Kielbacke mit dem Kinde folgt. Schierke nimmt das Tuch von dem Kindchen.
Die Piperkarcka. Was wollen von mich? Was kommen mir nachsetzen? Bin ick Zijeuner? Sollen wohl Kinder stehlen in Häuser jehn? Was? Sind nich gescheit! Werden mich schön hüten! Hab' selber für mich und mein Kind kaum Essen jenug! Wer rumjehn, wer fremde Kinder auflesen und jroßfüttern, wo eijnes mir schon jenug Kummer und Ärjer macht.
Frau Knobbe glotzt, sieht sich fragend und hilfesuchend um. Holt dann schnell ein Flakon aus der Tasche und gießt den Inhalt auf ihr Schnupftuch. Das Schnupftuch führt sie dann an Mund und Nase und saugt den Duft des Parfüms, um nicht ohnmächtig zu werden. Hierauf glotzt sie wie vorher.
Direktor Hassenreuter. Ja, warum sprechen Sie nicht, Frau Knobbe? Das Mädchen behauptet, daß sie selbst und nicht Sie, Frau Knobbe, Mutter des kleinen Kindes ist.
Frau Knobbe erhebt den Schirm, um damit zu schlagen. Man fällt ihr in den Arm.
Schierke. Det jibt's nich! Det is hier nich Kindererziehung! Det machen Se, wenn Se unter sich in de Kinderstube alleene sind! – Die Hauptsache bleibt, wen jeheert hier det Kind? – Und nu ... und jetzt ... Frau verwitwete Knobbe, ieberlejen Se sich, det Se hier reenste Wahrheit sachen! So! Is et Ihret? oder'n fremdet Kind?
Frau Knobbe bricht los. Ich schwöre bei der heiligen Mutter Gottes, bei Jesus Christus, Vater, Sohn und Heiliger Geist, daß ich Mutter von diesem Kinde bin.
Die Piperkarcka. Und ick schwöre bei heilije Mutter Jottes ...
Direktor Hassenreuter. Halt, Fräulein, retten Sie Ihre Seele! – Es mag meinethalben ein Fall von den allerverwickeltsten Umständen sein! Sie schwören dabei vielleicht vollständig gutgläubig, aber Sie werden mir das gewiß zugeben: jede von Ihnen könnte zwar die Mutter von Zwillingen sein – ein Kind mit zwei Müttern ist nicht zu denken!
Walburga, die unverwandt und starr, gleich Frau Knobbe, aus der Nähe das Kind betrachtet. Papa! Papa! So sieh doch mal erst das Kind.
Frau Kielbacke, weinerlich, entsetzt. Ja, det Kindeken stirbt schon, jloob' ick, seit ick hier drin im Zimmer jewesen bin.
Schierke. Wat?
Direktor Hassenreuter. Wie? Er tritt energisch näher und betrachtet einige Zeit ebenfalls das Kind. Das Kindchen ist tot! Das ist ohne Frage! – Hier ist ohne Zweifel einer gewesen, unsichtbar, der über das unbeteiligte arme kleine Streitobjekt ein wahrhaft salomonisches Urteil gesprochen hat.
Die Piperkarcka versteht nicht, Wat jiebt denn?
Schierke. Ruhe! – Komm Sie mit.
Frau Knobbe scheint die Sprache verloren zu haben. Sie steckt ihr Taschentuch in den Mund. Tief in ihrer Brust röchelt es. Schierke, die Kielbacke mit dem toten Kinde, gefolgt von Frau Knobbe und der Piperkarcka, ab. Man hört Gemurmel auf dem Flur.
Der Direktor kommt wieder, nachdem er hinter den Abgehenden die Tür verschlossen hat.
Direktor Hassenreuter. Sic eunt fata hominum. Erfinden Sie so was mal, guter Spitta.