Gerhart Hauptmann
Hamlet in Wittenberg
Gerhart Hauptmann

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Erster Akt

Erste Szene

Im Wirtshaus Zum Pilgerstab, einsam an der Landstraße gelegen.

Die Schenkstube: verräucherte Spelunke mit Talgfunsen und brennenden Kienspänen. Einige Fenster gehen auf den Hof, von dort Schattenhaft beleuchtet.

Sommernacht.

Don Pedro, ein Spanier, elegante Reitererscheinung mit Degen und Sporen, an einem der Tische. Im Hintergrunde der fette Penneboß. An den Tischen würfelt lichtscheues Gesindel. Pierre stellt eine silberne Kanne mit Wein vor Don Pedro hin.

Don Pedro. Bub, du hast meine Mundkanne mitgebracht, dank' dir. Er wendet sich nachlässig nach rückwärts. Penneboß!

Penneboß. Was wünscht Euer Gnaden?

Don Pedro trommelt ungeduldig auf den Tisch. Nichts.

Penneboß. Es hilft nichts, wir müssen noch eine Weile Geduld haben, Euer Gnaden. Ich. habe dem Lumpenpack nur um Euretwillen den Hof eingeräumt. Es ist geglückt, Sasteresko hält hier den Gerichtstag ab. Ich habe Euch durch die Adelheid Nachricht zukommen lassen, wie ich Euch schuldig bin und wie sich's gehört. Sie werden Lischka nicht töten, der, ich kann's nicht ändern, mit Hamida den Sohn des Hauptmanns betrogen hat. Er war Sastereskos Lieblingskind und ist mit Hamida versprochen gewesen. Statt Lischka zu hängen, hat sich der Junge selbst stranguliert: Aber, wie gesagt, Lischka wird mit dem Leben davonkommen. Man schneidet ihm höchstens ein Ohr ab und zerschlägt ihm ein Ellenbogengelenk. Ihr werdet ihn nicht mehr zu fürchten haben.

Don Pedro. Sic volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas! Ich habe mir nun einmal diese Mandragore in den Kopf gesetzt! Es muß heute alles richtig werden zwischen Euch und mir und ihr und mir, sonst, geschworen bei der Reinheit der Gottesmutter, hetze ich offen oder geheim alle meine Hunde auf dich!

Penneboß. Was geschehen hat können, Euer Gnaden, ist geschehn. Jetzt müssen wir warten, bis das Allotria im Hofe zu Ende ist. Zigeuner verstehen keinen Spaß. Stört man sie, gibt's eine Stecherei.

Don Pedro wegwerfend. Man jagt ihrer fünfzig davon mit einem Fußlappen.

Penneboß. Ihr seid ja sehr happig auf diesen Giftbissen!

Don Pedro. Biete mir Isabella von Portugal, sie ist die schönste Frau unserer Zeit, ich will's auf die Hostie beschwören, aber ich würde für drei ihresgleichen diesen Stechapfel nicht hergeben.

Vom Hof ertönt ein jäher Schrei.

Penneboß. Halt! Laßt mich einmal zum Rechten sehn. Er blickt durchs Fenster. Richtig! das war die Exekution. Wollt Ihr sehn, wie Euer Rival auf dem Rücken liegt?

Don Pedro wegwerfend. Rival? Ein verlauster Betteljunge? Er zieht Handschuhe an. Ich verzichte auf deine Hilfe, Boß. Unsre Klepper sind frisch. Meine Haudegen haben ihr Lehrgeld nicht umsonst bezahlt. Es macht ihnen nichts, einen kaiserlichen Rat oder einen Erzbischof mitsamt seinen Kurtisanen aufzuheben, geschweige eine Bettlerin.

Gewitter, Wolkenbruch.

Penneboß. Augenblicklich strömt es vom Himmelsthrone. Geduldet Euch! Ein solcher Wolkenbruch muß ja das hitzigste Liebesfieber auslöschen. Es wird heftig an der Haustür gepocht. Was ist? Wer ist da?

Don Pedro. Es sind Berittene: spielst du ein doppeltes Spiel, weh deiner Glatze, alter Gaunervater! Bub, geh hinaus, heiß die Knechte aufsitzen!

Pierre. Wenn der Regen vorüber ist?

Don Pedro. Aufsitzen, Bursch! Im Augenblick!

Der Penneboß ab mit Pierre. Don Pedro geht unruhig auf und ab. Das würfelspielende Gesindel drückt sich eilig. Don Pedro bleibt stehen und gießt Wein herunter.

Ha, Tropfen in einen lodernden Höllenschlund.

Der Penneboß erscheint wieder, gefolgt von durchnäßten und vermummten Reitergestalten: Hamlet, Horatio, Wilhelm, Rosenkranz, Güldenstern und Balthasar von Fachus.

Don Pedro will gehen, stutzt, starrt die Eindringlinge an, überlegt und läßt sich provokant auf einen Stuhl fallen, wobei er den Degen über die Knie legt.

Hamlet. Wie weit ist es von hier bis Wittenberg?

Penneboß. Nicht weiter als von dort in die Hölle.

Wilhelm. Also meinst du von dort bis hierher? Wie weit ist es also hierher von Wittenberg?

Fachus. Kann man in deiner Hölle zu Nacht bleiben?

Güldenstern. Ja, in deiner Wanzen- und Flohhölle?

Wilhelm. Ach was, wir sind Schnapphähne, höllische Feuerhähne; Ungeziefer fürchten wir nicht. Melde uns bei des Teufels Großmutter, sie soll uns Glühwein und Warmbier zurechtmachen. Wir haben keinen trockenen Faden am Leib.

Fachus. Und schütte uns womöglich einige Dutzend höllischer Bratwürste auf den Tisch, Penneboß!

Penneboß. Ihr Herren, hier ist kein Gasthaus für Teufelsgelichter.

Fachus. Dann sind wir wohl nicht im Wirtshaus Zum Pilgerstab, der ärgsten Diebsspelunke von ganz Kursachsen?

Penneboß. Im Hof sind Zigeuner, sie haben einen krepierten Hammel gebraten, wenn ihr essen wollt.

Fachus schlägt mit dem Degen knallend auf den Tisch. Eins, zwei, drei – in drei Minuten ist angerichtet! Aber du gewärtigst Galgen und Rad für auch nur einen Bissen Hammelfleisch!

Der Penneboß geht ab.

Rosenkranz. Hier stehen Bierneigen, schmutzige Teller und Würfelbecher. Es haben hier Leute gesessen, eh wir eintraten.

Don Pedro. Es sitzt hier sogar noch ein Jemand, wenn ich bitten darf.

Hamlet versonnen am Fenster. Was treibt die schwarze Rotte im Hof?

Don Pedro. Wenn es Eurer Hoheit genehm ist – denn ich glaube mich nicht zu täuschen –, so bin ich zu einer Auskunft bereit. Die Gitanen haben Gerichtstag gehalten. Es gab Urteil und Vollstreckung zu gleicher Zeit. Der Teufel bevorzugt activam justitiam.

Hamlet. Wahrhaftig, ein Weib hält ein Kind an der einen und ein saugendes Ferkel an der andern Brust! – Ein junges Ding mit gelöstem Haar hat sich über einen geworfen, der auf der Erde liegt. Ein altes Weib, eine Zigeunermutter, schlägt sich wie rasend mit einem starken Manne herum.

Don Pedro. Des Mädchens Mutter und der Zigeunerhäuptling.

Horatio. Eine grade nicht alltägliche Spelunke, diese Herberge Zum Pilgerstab.

Don Pedro. Hier kreuzt, man um jeden Pfifferling die Brotmesser und macht einander um einer räudigen Katze willen faustgroße Löcher in den Hals.

Hamlet halblaut zu Horatio. Wer ist dieser Kavalier, der sich in seinen Selbstgesprächen nicht mäßigen kann und jedermann zu bitten scheint, über seine langen Beine zu stolpern?

Fachus. Ein Spanier, Proteus. In den Tagen des spanischen Karl die deutsche Landplage!

Gewaltiger Blitz.

Hamlet. Tausend Jahre Licht sind ein Augenblick! . . .

Donner.

. . . und das alte Erz wie immer dröhnt heilig nach im Himmelsdom.

Der Penneboß kommt wieder, gefolgt von einer schlumpigen rothaarigen Magd. Beide tragen Essen und Wein auf.

Penneboß leise zu Don Pedro. Wie werden wir diese Bande am schnellsten los?

Don Pedro ebenso. Du mußt sie dir einmal genauer ansehn. Dieses fahle Mädchen, das für einen Mann gelten möchte, ist niemand anders als der vielbeschriene Thronerbe von Dänemark, der zu Wittenberg die Schulbank drückt und Scharteken wälzt.

Penneboß. Unter meinem Dache ein Prinz und Thronerbe!?

Rosenkranz. Hier ist's nicht geheuer, Junker Fachus. Wir sind dem Hofe zu Helsingör für den Prinzen verantwortlich.

Wilhelm. Ich führe zwei Degen in einer Scheide. Wir sind fünf Klingen außerdem. Er setzt sich an den Tisch und haut ein. An die Gewehre, an die Gewehre!

Paulus und Achazius treten ein, zwei zerlumpte Riesenkerle. Paulus rotblond, Achazius schwarz. Sie tragen Rucksäcke. Thomas, schwer bepackt, folgt ihnen.

Don Pedro. Ah, neuer Kehricht von der Landstraße.

Paulus wirft den Rucksack ab, stöhnt aus. Mein Gut der Welt! Mein Leib den Würmern! Meine Seele dem Teufel!

Achazius. Es ist kein Leben auf diese Art: sic satis!

Horatio. Beinahe ein hamletisches Testament.

Paulus. Bah, mich verdrießen alle Dinge. Ich bin ganz und gar ein bloßer Verdruß. Ich habe an Gott und den Teufel geglaubt, heut glaube ich nur noch an den Teufel. Oder: wie kam die Schlange ins Paradies?

Wilhelm. Ihr habt unsre Humore, Kerls: ich wette, ihr seid Bacchanten auf der Reise nach Wittenberg.

Achazius. Genau! Ihr habt Eure Wette gewonnen. Und hier, der Thomas, ist unser Schütz.

Wilhelm. Dann wären wir Kommilitonen, Mann!

Penneboß zu Wilhelm. Hab' mir doch gleich gedacht, Euer Gnaden. Euer Gnaden, Seine Gnaden und Ihro Gnaden, Ihr seid Herren Doktoren und Herren Studiosen von Wittenberg.

Wilhelm. Commilito, willst du nicht weiter philosophieren? Wie heißt du denn?

Achazius. Paulus, ist aber zum Saulus geworden.

Penneboß. Vermengt euch mit diesem Gelichter nicht, es sind Brandstifter, Atheisten und Gaudiebe!

Paulus. Entweder du hältst dein Maulwerk, Kujon, oder ich lüfte dir den Hirnkasten.

Penneboß. Macht, daß ihr auf die Straße kommt! Belästigt mir nicht die Herrn Kavaliere!

Paulus. Quare? quare?

Penneboß. Laß dein verfluchtes Küchenlatein, es wird euch zur Tür nicht wieder hereinhelfen.

Thomas heult und schlägt um sich, wirft sein Gepäck ab.

Thomas. Buckeln, kraxeln, Fressen herzuschaffen, sich mit Bauernkötern herumbalgen: Bisse, Stockprügel, Steinwürfe, blaue Flecke, Frostbeulen, Brandblasen, Fliegenstiche – lieber sterb' ich im Augenblick, aber ich gehe nicht mehr auf die Landstraße!

Paulus. Schmier ihm ein paar Watschen hinter die Lauscher, Achazius. Aller Augenblicke macht er jetzt solche Karessen.

Wilhelm. Rühr ihn nicht an, sonst versteh' ich falsch, Bursch! Bub, komm her! Hier ist Essen und Wein, besser als Humaniora schmecken Fleischklöße. Und ihr da, ihr beiden Flegel, werdet auch Appetit haben! Bursch ist Bursch: Proteus sieht da nicht auf den Stand. Wir wollen uns hier wie gleich und gleich aufführen.

Die Bacchanten und Thomas nehmen am Tische Platz und hauen ein.

Hamlet zu Thomas. Bist du auch ein Lateinschüler? Treibst du Humaniora wie ich?

Thomas. Wollt's gern sein, aber bin nur ein Packesel.

Paulus. Lüg nicht! täglich bekommst du deinen Unterricht.

Thomas. Ja, täglich bekomme ich meine Stockprügel.

Hamlet zu Paulus. Bist du vielleicht ein Poeta laureatus, vom Kaiser gekrönt? Man kann nie wissen in diesem Lande, die Lumpen des Stromers decken mitunter einen irdischen Gott.

Paulus. Ich hab' keinen Ehrgeiz mehr in der Sache.

Achazius. Sein Vater ist Seiler. Er denkt aller Augenblicke ans Aufhängen.

Penneboß. Nicht nötig, der Henker wird ihm die Mühe abnehmen.

Paulus zum Boß. Hast du vielleicht irgendwann einmal von Paul mit der Hellebarde gehört?

Penneboß. Ich kümmre mich nicht um Namen von Raufbolden.

Paulus. Oder von Grand-diable, wie man zuweilen Paul mit der Hellebarde nennt?

Wilhelm ironisch. Mir ist, wir hätten die Namen gehört: ein gefürchteter Herkules von der Landstraße.

Achazius. Soll er Euch einmal zeigen, wie man mit einem einzigen Degenstoß eine Fliege durchsticht?

Wilhelm. Auf der Stelle! Hier ist mein Degen. Ich habe deren zwei in der Scheide und behalte einen zurück.

Paulus übernimmt den Degen, betrachtet ihn und steht auf.

Paulus mit Bezug auf Don Pedro. Diese sind zu klein, ich hätte gern eine spanische Fliege. Ich kenne keine größere Lust, als eine spanische Fliege aufzuspießen.

Don Pedro zum Penneboß. Sucht der Kerl Händel?

Penneboß. Mit jedermann.

Don Pedro laut provozierend. Ich erzählte dir jüngst von Rom, Penneboß: Ich habe die Eskalade auf die Engelsburg mitgemacht. Ich bestieg die Leiter gleich hinter Bourbon. Er bekam einen Schuß und kugelte ab wie ein Butterfaß. Er hatte mich mit hinabgerissen. Aber über seine Leiche drangen wir Kaiserlichen in die Stadt. Wir fanden den Papst und die Kardinäle verkrochen in einem Stall. Alle schluchzten und weinten wie die Kinder. Die Landsknechte brüllten: Luther soll Papst werden! Luther Papst! Luther Papst!

Paulus. Ich habe die Eskalade auf die Mauern von Ninive, Troja, Konstantinopel und Rom ebenfalls mitgemacht. Kommilitonen, ich nahm die Engelsburg auf den Rücken und setzte sie auf Sankt Peters Dom. Ich nahm den Papst bei der großen Zehe, wirbelte ihn um meinen Hut, schleuderte ihn danach in die Höhe, sah ihm bei hellem Tage in die schwarze Nacht des Himmels nach und konnte bemerken, wie er mit der Nase am großen Hundsstern hängenblieb.

Don Pedro. Hijo de puta, hüte dich, mir könnte einmal die Geduld reißen!

Paulus. Den Luther riß ich mit der freien Hand aus seiner Fettlebe zu Wittenberg, stülpte ihm über den Kopf ein Butterfaß. Da hatte er seine päpstliche Krone. Dann setzte ich ihn als Vitzliputzli auf Sankt Peters Thron.

Hamlet am Fenster. Es ist eine große Bewegung unter dem seltsamen Volke eingetreten. Irgendwo ist ein Handgemenge. Die Mehrzahl zieht ab.

Don Pedro springt auf. Dann ist es Zeit, und ich ziehe vom Leder.

Großer Lärm schwillt auf und nähert sich. Die Tür wird aufgestoßen. Ein wildes Durcheinander von Zigeunern bricht ein. Zigeunermutter Brakka verteidigt Hamida wütend gegen Sasteresko.

Brakka. Rette mein Mädchen, Penneboß! Rettet mein Mädchen, Herrn Kavaliere!

Hamida stürzt Hamlet zu Füßen. Rette schuldlose arme Zigeunerkind! Will mir für nix mit die Hammer totschlagen.

Sasteresko. Gleich für gleich! Hurenmensch hat meine einzige Sohn in Tod gehetzt.

Hamlet. Ihr rührt sie nicht an, solange ein braver wittenbergischer Bursch und Lateinschüler noch eine gesunde Ader im Leibe hat!

Brakka schreit auf. Brav, schwarze Prinz! Gott lohn's, schwarze Prinz!

Sasteresko und die Zigeuner sehen sich den blanken Klingen von Don Pedro, Paulus, Wilhelm, Horatio, Rosenkranz, Güldenstern, Fachus und Hamlet gegenüber.

Horatio. Wohl! Seien wir alte Römer, Proteus!

Achazius. Verfluchte Heiden, ich stürze mich mit den Fäusten auf euch!

Wilhelm. Das Leben wurde dir schal, Proteus. Konntest du dir ein besseres Abenteuer wünschen, als du gefunden hast: Kophetua und das Bettelmädchen!

Sasteresko. Bin nicht Heide, Sasteresko Christ!

Achazius. Dann hat dich ein besoffener Pfaff getauft, Bube.

Don Pedro. Hierher, Hamida, du bist vor der falschen Schmiede!

Sasteresko. Sag' ich, hat keiner in Zigeunersachen sich einzumischen. Warum? Gewählter Hauptmann bin ich.

Alle Zigeuner schreien. O baridir tschatschopáskero atschas raha dschido! Lang lebe der Hauptmann!

Brakka. Bist nicht Gako, Vater von Stamm, bist grausame Bluthund. Willst Hamida wie Lischka hinrichten. Dein elende Sohn hat sich selbst entleibt. Warum? Du hast ihn tagtäglich blutig gedroschen.

Sasteresko. Gut. Stoß' euch beide mitsamm aus Zigeunervolk. Zigeunervolk spuckt euch, speit euch aus. Wirft euch weg wie Dreck in Latrine. Wer euch auch nur ansieht: krätziger Hund! Aasbrocken seid ihr, mag Hund euch nicht fressen!

Don Pedro. So recht! Wirf Aasbrocken weg, Gitano! Er packt Hamida blitzschnell am Handgelenk, reißt sie auf und mit sich. Komm! Bist mir grade recht, Aasbrocken!

Hamida sträubt sich. In der Rechten den Degen, stürmt er mit ihr, mitten durch die Zigeuner, die ausweichen, zur Tür hinaus. Die Zigeuner stürzen schreiend nach, mit Ausnahme des Hauptmanns und Brakkas. Alle Zurückbleibenden sind vor Überraschung stumm.

Horatio. Nun haben wir erlebt, Proteus, worauf wir aus waren.

Hamlet wie betäubt, faßt sich an die Stirn. Mehr!

Penneboß zum Hauptmann. Ihr hättet dem Caballero einen größeren Gefallen nicht tun können. Hamida hat ihren Herrn gefunden.

Sasteresko völlig verändert, gleichmütig. Kenn' keine Hamida. Gib großes Glas Branntwein, Boß!

Er wirft Münze auf den Tisch.

Penneboß horcht, man hört Pferdegetrappel. Das sind seine Reiter. Sie preschen davon.

Hamlet. Die heilige Agnes ist wegen ihrer Schönheit verfolgt worden, sie erlitt ihrer Schönheit wegen den Märtyrertod.

Wilhelm. Sollen wir ihnen die Prise abjagen?

Penneboß. Das widerrat' ich, Herr dänischer Prinz. Er würde sie nicht dem Herrgott ausliefern.

Brakka hat gestanden wie ein Bild aus Stein. Nun kommt Bewegung in sie. Sie ballt die Fäuste. Sie will und kann nicht sprechen. Sie bewegt sich gegen den Hauptmann, der ihr den Rücken zukehrt.

Brakka. Das hast du verschuldet, verfluchtiger, grindiger zugelaufener Bettelhund!

Sasteresko wendet sich und schlägt sie. Kriech unter die Erde! O polopen kamela tut nit – die Welt will dich nicht mehr!

Brakka sinkt ohnmächtig auf einen Stuhl.

 

Zweite Szene

Wohnraum in Hamlets Quartier zu Wittenberg.

Wilhelm, Horatio, Balthasar von Fachus, unter ihnen der knabenhafte Famulus Hamlets, genannt Felix.

Felix. Wie ich euch sagte, liebe Herrn, der Prinz
ist arg verändert, und er macht mir Sorge.
Und damit will ich sagen: mehr als sonst.
Denn dieser seltsam rätselhafte Herr,
den länger ihr und tiefer kennt als ich,
setzt dem, der seinem Reiz verfallen ist,
mit Ängsten aller Art beständig zu.
Ihr wollt ihn sehn, ihr wart daran gewöhnt,
bei ihm alltäglich aus und ein zu gehn,
er aber, er entzieht sich euch seit Wochen.
Kein Wunder, wenn euch dies Betragen kränkt.
Und doch, ich kann auch heut euch nichts versprechen.

Horatio. Ist er im Haus?

Felix.                               Nein.

Horatio.                                   Ist er im Kolleg?

Felix. Seit Wochen hat Prinz Hamlet keins besucht.

Horatio. So weißt du auch wohl jetzt kaum, wo er ist?

Felix. Du sagst es: Nein. – Er wandert viel und oft
stromab die Elbe meilenweit ins Land
am rechten Ufer. Leute sagen mir
hinwiederum, er nehme oft den Weg
zum Hochgericht, wo er mit Geistern rede.

Horatio. Man spricht von einem Augustinermönch,
der, treu geblieben unsrer heil'gen Kirche,
für Luthers Rettung aus dem Bann des Teufels
in brünstigem Gebete täglich ringt.
Ist's richtig, daß der Prinz ihn öfters aufsucht?

Felix. Nicht allzuoft, allein, er sucht ihn auf.

Horatio. Und hier zu Haus, was tut er hier?

Felix.                                                             Er schließt
sich ein, verhängt die Fenster, seufzt und weint.
Spiel' ich ihm auf der Fiedel etwas vor
und sing' ein spanisch Liedchen, wird es besser.
Doch leider hält die Besserung nicht an.
Schelt' ich ihn, sagt er mir ein Lutherwort:
Vor allem Wirken stehe Weinen, und
das Leiden überträfe stets das Tun.

Wilhelm springt auf
Mag sein! Und trotzdem, Martin Luther ist
ein ganzer Mann, und Hamlet ist's nicht minder.
Der Allmacht Prägstock drückt sich peinlicher
in weiche Seelen und ins weiche Fleisch
der Jugend als ins trockne Holz des Alters.
Doch nun, ich will vergeblich mich der Kunst
des Hippokrates nicht gewidmet haben.
Es sei genug, wir schreiten nun zur Kur.

Felix. Und was nun wäre das für eine Kur?

Wilhelm. Ich sehe deine sorgenvolle Miene,
sie offenbart mir, du errätst sie, Felix.
Wir kennen uns. Du bist zwar ein Scholar,
doch keiner, der wie wir dem Biere zuspricht.
Du bist zum ewigen Diskant geboren,
und nie erlebt dein Kehlkopf einen Stimmbruch.
Du hast es, wie man's nehmen will, zum Knaben
gebracht, doch niemals wird aus dir ein Mann.

Felix. Wenn unsereins die Wissenschaften liebt,
dann bleibt kein andrer Weg.

Wilhelm.                                       So ist's, Danena.

Horatio. Zwei Worte noch, bevor wir weitergehn,
mein Felix: Diese beiden Parasiten,
die ihm sein Oheim in den Pelz gesetzt –

Felix. Ihr sprecht von Rosenkranz und Güldenstern?

Horatio. Ja. Werden sie von ihm wie wir gemieden?

Felix. Sie brachten jüngst ihm eine Menge Briefe
aus Helsingör . . .

Horatio.                       Vom Hof, den er so liebt,
daß ihn der Blick nach Norden, wie er sagt,
jedwedes Mal mit Wut und Galle vollpumpt?

Felix. . . . vom Hof! Von seinem Onkel Claudius,
und auch ein Schreiben von der Königin,
vom König selber aber keine Zeile.

Horatio. Das alte Lied, ich kenn' es recht genau:
Der König steht im Feld, sein Bruder pflegt
daheim mit viel Geschick die Königin,
damit der Herr Gemahl ihr wen'ger fehle.
Sie sträubte sich, den vielgeliebten Sohn
nach Deutschland in die Fremde zu entlassen,
nun gar nach Wittenberg. Die Bitten Hamlets
vermochten ihren Willen nicht zu brechen,
bis es dem Oheim Claudius gelang:
und so verdankt der Kronprinz ihm sein Hiersein.
Nun gut. Der Heuchler sprach von Wißbegierde,
die er bei einem Prinzen sehr bewundre,
im Grunde aber wollt' er ihn nur los sein.
Der König selber kümmert sich um nichts.

Wilhelm. Wir sollten Rosenkranz und Güldenstern
einmal besuchen, wenn sie nicht zu Haus sind,
und ihre Schreibereien visitieren.

Horatio. Wie nahm er's auf, was sie ihm brachten, Felix?

Felix. Gelassen! – Freunde, nein! Des Übels Kern
liegt diesmal, scheint mir, nicht in Helsingör,
sondern woanders.

Wilhelm.                       Meinst du, hierherum
in Wittenberg? um Wittenberg vielleicht?

Felix in Tränen.
's ist Wahnwitz, es zu denken: irgend etwas
muß ihn im Wesensmark verwundet haben.

Wilhelm. 's ist Wahnwitz, sagst du: hast du eine Fährte
zu jenem Irgendetwas also?

Felix.                                           Nein,
denn wär's die rechte Fährte, die ich wittre,
so hätte sich ein Allerheiligstes
noch nie so tief erniedrigt.

Wilhelm.                                   Wie es dir
als einer keuschen Jungfrau eben vorkommt.
Doch, bitte, Felix, gib uns einen Wink.

Felix. Was ich euch sagen kann, ist einzig das:
Spricht er zu mir, so will er irgend etwas
meist wissen von dem Volke der Zigeuner.
Ich habe Schriften ihm herbeigeschleppt,
die allerlei von dessen Ursprung faseln;
zufrieden wird Prinz Hamlet nie gestellt.
Am meisten glaubt er jenen, die behaupten,
es komme dieser kleine Völkerrest
wie die Ägypterin Kleopatra
vom Stamm der Pharaonen.

Wilhelm ist aufgesprungen, geht umher
                                              Alles ist
am Tag, Horatio. Du gibst es zu.
Stechapfeldunst hat Proteus' Hirn umwölkt
und ist in alle Adern ihm gedrungen;
wir wissen, wann und wo. Das wäre denn
aufs Haar, was ich vermutet.

Fachus.                                       Sei es drum.
Das Wetterhexchen aus dem Pilgerstab,
so war auch mein Vermuten, hat die Knie
des Prinzen nicht umsonst mit weichen Armen
umschlossen und an ihre Brust gepreßt.
Wo ist sie hin? Man müßte sonst sie ihm
ausliefern, denn das Fieber, das ihn quält,
löscht die nur ganz, die es ihm eingeimpft.
Doch diesen Ausweg gibt es leider nicht;
man muß somit auf einen andern sinnen.
Erwägt nun diesen: heute abend ist
Bankett und Tanz im Rathaus. Er muß hin
und soll mit Bürgermeister Hohndorfs Jüngster
den Tanz eröffnen, 's ist ein schmuckes Ding,
mit heitrem Sinn und Mutterwitz begabt
und einer sechzehnjährigen flotten Jugend,
die ihn, wenn irgend etwas, heilen kann.
Dem Prinzen fehlt durchaus, was hierzulande
gemeinhin man Studentenliebschaft nennt:
denn du bist, angezogen, ein Scholar
und ohne Kleider, Felix, eine Heil'ge.
Nun aber sage mir – ich höre Schritte,
es knarrt die Zimmerdecke über uns –:
am Ende gar ist Proteus hier im Haus,
und du verschweigst es.

Felix.                                     Damit tat ich nur,
wie immer, was der Prinz befiehlt: Ihr wißt es.

Wilhelm. Du bist sein willenloses Werkzeug: Ja!
Doch mein Entschluß ist fest, wenn er zu Haus ist:
ich geh' ihn an, er muß mir Rede stehn.

Hamlet erscheint oben an der Treppe.

Hamlet. Nicht nötig, Wilhelm, ich bin ganz zu deiner Verfügung, ganz zu eurer Verfügung, liebe Freunde. Ich bin froh, euch wiederzusehen. Ihr habt mir sehr gefehlt all die Zeit.

Die drei Freunde ergreifen zugleich seine Hände.

Wilhelm. Und was wären wir ohne dich, Proteus: eine Art Findelkinder, fertig, uns für ein Findelhaus aufsammeln zu lassen, ein Häuflein armer Kurrendesänger, reif für ein Waisenhaus. Es hat dir beliebt, Proteus, unter deinen zahllosen Humoren dem trübseligsten dich hinzugeben. Wäre es nicht an der Zeit, ihn zu verabschieden und dich zu erinnern, Commilito, daß du ein Liebling der Götter bist?

Hamlet. Ich habe in der Tat, ich weiß nicht wodurch, alle meine natürliche Frische eingebüßt, meine gewohnten Übungen und Humaniora aufgegeben, um dafür einem Hang zu frönen, der mir einen Kirchhof verlockender machte als ein bekränztes Symposion. Die grausigsten Bilder verdrängten die lieblichsten. Nächte hindurch quälen mich Alpträume. Wie das unendliche Leiden selbst verfolgt mich der Anblick des blutenden Gottes am Kreuz. Oder ich sehe Johann Hus zu Konstanz in den Flammen des Scheiterhaufens unter dem Gelächter der Klerisei um den nassen Pfahl rennen wie einen brennenden Kettenhund. Sobald ich erwache, stehe ich auf. Ich schleiche mich durch die Nacht in die Kirchen, allein mich erwartet auch hier nur der böse Geist. Die Weihwasserkessel riechen nach Blut, die Kerzen qualmen wie Holzstöße. Nicht nur die Bilder der Märtyrer sprechen von Mord, Tortur und Tod. Ich sehe überall Galgen, Richtbeile und Räder. Kurz: die Schöpfung der sieben Tage scheint mir ein Satanswerk, ein fauler, verpesteter Haufen von Dünsten. – Aber, was wollt ihr eigentlich hier?

Fachus, Horatio und Wilhelm heben die Rechte hoch und rufen gleichzeitig Du sollst mit uns in den Bums kommen, Proteus!

Hamlet. Seid ihr von Sinnen? Was ist das, der Bums?

Fachus. Der Bums ist der Bums, Proteus.

Horatio. Es ist eine Schenke hier zu Wittenberg. Man steigt durch eine Falltür hinein. Der Reformator hat sie einmal besucht und ist, statt hineinzutreten, hinuntergepurzelt. Als er am Boden saß, sagte er: »Bums!« Und damit ist die Schenke getauft worden.

Hamlet. Es ließe sich hören, warum denn nicht.

Wilhelm. Du solltest dich einmal recht gründlich verlieben, mein Proteus!

Fachus. Wenn niemand in der Kirche ist, so ist weder der Turm noch das Schiff was wert.

Hamlet leicht erheitert. Soll ich mir einen Tyrannen aufhalsen?

Fachus. Liebster, man ist nur einmal jung! Wir sollten einen Rosenbund gründen. Wir sollten den Abfallsberg unsres Mißvergnügens von Rosen überwuchern lassen. Wir sollten unser ganzes Vermögen zusammentun und einen Tropfen Rosenöl dafür kaufen und die ganze Welt wohlriechend machen!

Hamlet. Im Bums?

Fachus. Im Bums! Überall! Wo es auch sei, Proteus.

Hamlet. Erstickt in Rosen meine Schwermut denn,
wenn ihr's vermögt! Macht meine Jugend flügge,
die freilich flügellahm am Boden liegt,
mit Chidhers Quell, des ewig jungen! Ritzt
mich künstlich, Freunde, mit dem Pfeil der Liebe,
wenn ihr das Ding dem Gott entwenden könnt. –
Wer weiß, am Ende bin ich schon versehrt
tief irgendwo im Innern, und sein Gift
schwelt irgendwie in mir. –

Wilhelm. Heil uns! Des Kummers Wolke weicht von ihm,
das graue Elend läßt von Proteus ab!

Hamlet. Stand's denn so schlimm mit mir, daß ihr so plötzlich
aufjubelt, weil sich meines Herzens Gram
ein wenig nur bemüht, euch zu willfahren?

Wilhelm. Es stand sehr schlimm, sehr schlimm um dich, mein Proteus!
Kommt nun und laßt uns eilen!

Hamlet.                                             In den Bums?

Wilhelm. Ins Licht, ins Leben! Dort erzählst du uns
nach Studiosenbrauch, wo dich der Schuh drückt,
frei von der Leber weg, nicht zimperlich,
und ohne Pflaster heilt, was jetzt dich schmerzt.

Hamlet. Schütz, bring mir meinen Mantel!

Felix mit dem Mantel wirbelt die Treppe herunter.

Felix.                                                           Prinz, mein Prinz!
Ich bin glückselig! Wollt Ihr wirklich ausgehn?

Hamlet Mantel und Degen anlegend.
Ich will's. Gott gebe, daß des Frohmuts Welle
nicht schnell verebbt, wie zu befürchten steht
bei Hamlets Wankelmut. – Doch hört ein Rätsel,
bevor wir gehn: Vom Feuer angeglüht
und nie berührt, stand, was mich schwer gerührt.
Kleopatra, versunken in der Zeit,
erregt mir Liebe, Sehnsucht, Bitterkeit.
Hufschläge hallen nachts in meinen Traum,
Frau Venus hebt sich aus der Wellen Schaum.
Flucht hindert nicht die ew'ge Gegenwart.
Vor Anker liegt mein Schiff in ew'ger Fahrt.

Fachus. Wer will seine Lösung zuerst bringen?

Wilhelm. Es fehlt am meisten, was man nie besessen hat.

Horatio. Das ist keine Lösung, Wilhelm, sondern nur ein Hinweis. Proteus liebt.

Fachus. Ich allein habe die Lösung des ganzen Rätsels in der Hand. Sie ist in einem Wort beschlossen.

Hamlet. Zum Teufel, Jungs! Ich muß endlich einen ordentlichen Bissen zwischen die Zähne kriegen, denn ich habe an diesem Wort wie ein verhungerter Pudel an einem fleischlosen Knochen genagt. Also kennst du das Wort und des Rätsels Lösung?

Fachus. Hamida!
Vom Feuer angeglüht: das Zigeunermädchen Hamida am Feuer. Und nie berührt: nun ja, nämlich von dir, das ist zutreffend. Kleopatra: warum nicht? Sie ist Ägypterin. Hufschläge: das sind Don Pedros Buschklepper. Vor Anker liegt mein Schiff in ew'ger Fahrt: nullis amor est medicabilis herbis. Und endlich ist das die Lage: nec possum tecum vivere nec sine te.

Hamlet. Ihr mögt recht oder unrecht haben, ich sage weder ja noch nein. Aber dieser Don Pedro, heißt es, soll sich hier in der Stadt aufhalten.

Wilhelm. Dann laßt uns jeden Winkel von Wittenberg nach dem Halunken absuchen!

Fachus. Sachte, ihr Herrn! Ich möchte diesen gefährlichen spanischen Klopffechter zunächst ungeschoren lassen.

Hamlet. Bin ich einmal so weit, kenne ich keine Bedenken.

Wilhelm. Endlich wieder der alte Proteus! Kommilitonen, auf, auf, auf! Mir ist zumute, als ob uns auch noch ein anderes Wild ins Garn laufen könnte, wodurch erst wahrhaft des Rätsels Lösung erreicht wäre.

Hamlet wirft den Degen auf den Tisch. Geht allein! Ich geh' nicht mit.

Wilhelm wirft seinen Degen daneben. So fahre auch meine Mannheit dahin!

Er lacht bitter.

Hamlet. Du lachst?

Wilhelm.                 O nein, das Weinen ist mir näher.

Hamlet ergreift den Degen wieder.
Ich gehe mit euch, Freunde. Kommt! Nun kommt!

Auch Wilhelm hat seinen Degen ergriffen. Alle gehen, von Hamlet angeführt, lachend ab.

Die Freunde durcheinander.
Er hieße sonst nicht Proteus, Proteus, Proteus!
Hoch lebe heut und immer unser Proteus!

 


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