Wilhelm Hauff
Phantasien im Bremer Ratskeller
Wilhelm Hauff

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So wäre ich denn allein mit dir, meine Seele, tief unten im Schoße der Erde. Oben auf der Erde schlafen sie jetzt und träumen, und auch hier unten, rings um mich her, schlummern sie in ihren Särgen, die Geister des Weines. Ob sie wohl träumen, von ihrer kurzen Kindheit träumen und der fernen Berge, der Heimat gedenken, wo sie groß wurden, und des Stromes, des alten Vaters Rhein, der ihnen allnächtlich freundlich ein Wiegenlied murmelte?

Gedenket ihr der wonnigen Tage, da die milde Mutter, die Sonne, euch aus dem Schlummer küßte, da ihr in ihrer klaren Frühlingsluft die Äuglein öffnetet zum erstenmal und hinabschautet ins herrliche Rheingau? Und als der Mai einzog in sein deutsches Paradies, gedenket ihr noch, wie euch die Mutter antat mit grünem Kleidchen von Laubwerk, und wie der alte Vater baß sich dessen freute, herauflugte aus seinem grünen Bette und euch zuwinkte und munter rauschte am Lurlei?

Und gedenkst denn auch du der Rosentage deiner Jugend, o Seele, der sanften Rebenhügel der Heimat, des blauen Stromes und der blühenden Täler des Schwabenlandes? O Wonnezeit voll holder Träume! Wie reich bist du behängt mit Bilderbüchern, Christbäumen, Mutterliebe, Osterwochen und Ostereiern, mit Blumen und Vögeln, Armeen aus Blei und Papier und den ersten Höschen und Kollettchen, in welche sich deine kleine sterbliche Hülle, stolz auf ihre Größe, kleiden ließ. Und wie dich der selige Vater auf den Knien schaukelte, und dir der Großvater gerne das lange Meerrohr mit dem goldenen Knopf abtrat, um res dir als Reitpferd zu leihen!

Und rücke mit dem nächsten Glase um einige Jahre vorwärts! Erinnerst du dich des Morgens, als sie dich heimführten zu einem wohlbekannten Mann, dessen Gesicht so blaß geworden war, dessen Hand du weinend küßtest, weinend ohne zu wissen warum? Denn konntest du glauben, daß die harten Männer, die ihn in einen Schrank legten und mit schwarzen Tüchern zudeckten, konntest du glauben, daß sie ihn nicht mehr zurückbringen würden? Sei ruhig, auch er schlummert nur ein Weilchen. – Und gedenkst du des geheimnisvollen Freudenlebens ich Großvaters Büchersaal? Ach, damals kanntest du noch keine Bücher als den schnöden kleinen Bröder, deinen ärgsten Feind, wüßtest nicht, daß jene Folianten noch zu etwas anderem in Leder gebunden seinen, als um Hütten und Ställe daraus zu erbauen für dich und dein Vieh!

Gedenkest du noch des Frevels, wie roh du mit der deutschen Literatur in kleinerem Format umgingst? Hast du nicht deinem Bruder den Lessing an den Kopf geworfen, wofür er dich freilich mit Sophiens Reisen von Memel nach Sachsen erbärmlich zudeckte? Damals dachtest du freilich nicht daran, daß du einst selbst Bücher machen werdest!

Tauchet auch ihr auf, aus dem Nebel verschwundener Jahre, ihr Mauern des alten Schlosses. Wie oft dienten deine halbverfallenen Gänge, dein Keller, dein Zwinger, deine Verließe der fröhlichen Schar zum Tummelplatz ihrer Spiele! Soldaten und Räuber, Nomaden und Karawanen! Wie wohl war uns oft in der untergeordneten Rolle eines Kosaken, während andere – Generale, Platows, Blüchers, Napoleon u. dgl. vorstellten und sich prügelten? Ja, waren wir nicht zuzeiten sogar ein Pferd, dem Freuden zu Gefallen? O Himmel, wie schön ließ es sich dort spielen!

Wo sind sie hin, die Gespielen deiner Kindheit, die Genossen jener goldenen Tage, wo kein Rang, kein Stand, kein Ansehen gilt? Grafen und Barone machen jetzt wohl die große Tour der dienen an Höfen als Kammerherren. Arme Teufel pilgern als Handwerksburschen durchs Reich, das schwere Bündel auf dem Rücken, ohne Schuhe an den Füßen, haschen nach Pfennigen aus dem Kutschenschlag, die sie mit dem vom Regen gebräunten Hut künstlich aufzufassen wissen. Und die Liebe drückt sie oft noch schwerer als das Bündel auf dem Rücken. Andere Kameraden, Seelen, die sich in der Schule durch geordneten Fleiß in humanioribus hervorgetan, sitzen jetzt schon auf einer Pfarre, im Schlaf- oder Chorrock bei der Frau Liebsten. Andere sind Amtleute, wieder andre Apotheker, einige Referendare u. dgl. – und nur wir beide, ausschweifend aus dem gewöhnlichen Gang der Dinge, sitzen hier im Bremer Ratskeller und tun uns gütlich im Weine. Und was sind denn wir Absonderliches geworden? Doktor? Das kann jeder werden, der vernünftig genug ist, eine Dissertation zu schreiben.

Doch ich trinke das vierte Glas, Seele. Das vierte! – Fühlst du nicht einen gewissen Nexus zwischen dem Wein und der Zunge? Zwischen der Zunge und dem Gaumen? Hier, behaupte ich, ist ein Scheideweg und daran ein Wegezeiger aufgestellt. Nämlich auf der einen Seite steht: »Weg nach dem Magen.« Eine breite fahrbare Straße. Es geht so schnell, so glitschend bergab! Daher auch der gemeinere Stoff gewöhnlich diesen Weg nimmt. Der andere Arm des Zeigers heißt: »In den Kopf.« Dahin ziehen die Geister, die sich schon im Faß lange genug bei dem schnöden gemeineren Stoff gelangweilt haben, und jetzt, da sie freien Lauf nehmen können, schielen sie nach dem Wegezeiger rechts hinauf. Während die Masse links hinabströmt, steigen sie aufwärts und finden sich im Wirtshaus zur Zirbeldrüse wieder zusammen. Es sind friedliche, verständige Leute, diese Geister. Sie erhellen dein Haus, o Seele, solange ihrer vier oder fünf beisammen sind, nachher möchte ich wohl für nichts stehen, denn sie raufen sich dann und treiben allerhand Unfug im Gehirn.

Wie schön ist die vierte Lebensperiode, die wir mit dem vierten Glase beginnen wollen! Du bist vierzehn Jahre alt, o Seele! Aber was ist mit dir vorgegangen in der kurzen Zeit? Du spielt keine Knabenspiele mehr, Soldaten und alles dieses Gezeuge liegt hinter dir, und die scheinst mir viel zu lesen. Du bist hinter Goethe und Schiller geraten und verschlingst sie, ohne alles zu verstehen. Oder wie? Du verstehst jetzt schon alles? Du willst meinen, du könntest Liebe verstehen, weil du im letzten Sonntagsklub Elvire hinter der Kommode im Dunkeln geküßt und Emmas Zärtlichkeit zurückgewiesen hast? Barbar! Ahnest du nicht, daß dieses dreizehnjährige Herz auch den Werther und sogar etwas von Clauren gelesen haben kann und Liebe für dich fühlt? Aber die Szene ändert sich. Sei mir gegrüßt, du Felsental der Alb! Du blauer Strom, an welchem ich drei lange Jahre hauste, die Jahre lebte, die den Knaben zum Jüngling machen. Sei mir gegrüßt, du klösterliches Dach, du Kreuzgang mit den Bildern verstorbener Äbte, du Kirche mit dem wundervollen Hochaltar, ihr Bilder alle, in schönes Gold des Morgenrotes getaucht! Seid mir gegrüßt, ihr Schlösser auf den Felsen, ihr Höhlen, ihr Täler, jene Klostermauern waren das enge Nest, das uns aufzog, bis wir flügge waren, und ihrer rauhen Albluft danken wir es, daß wir nicht verweichlichten.

Ich komme ans fünfte Glas, ins fünfte Säkulum unseres Lebens. Ich schlürfe euch ein, liebliche Erinnerungen, wie ich dies Glas edlen Rheinweins schlürfe. Ihr duftet auf in herrlicher Schöne, Jahre meiner Jugend, wie das Aroma aufsteigt aus dem Römer. Mein Auge wird wacker, o Seele, denn sie sind um mich, die Freunde meiner Jugend! Wie soll ich dich nennen, du hohes, edles, rohes, barbarisches, liebliches, unharmonisches, gesangvolles, zurückstoßendes und doch so mild erquickendes Leben der Burschenjahre? Wie soll ich euch beschreiben, ihr goldenen Stunden, ihr Feierklänge der Bruderliebe? Welchen Töne soll ich euch geben, um mich verständlich zu machen? Welche Farbe dir, du nie begriffenes Chaos! Ich soll dich beschreiben? Nie! Deine lächerliche Außenseite liegt offen, die sieht der Laie, die kann man ihm beschreiben, aber deinen innern, lieblichen Schmelz kennt nur der Bergmann, der singend mit seinen Brüdern hinabfuhr in den tiefen Schacht. Gold bringt er herauf, reines, lauteres Gold, viel oder wenig, gilt gleichviel. Aber dies ist nicht seine ganze Ausbeute. Was er geschaut, mag er dem Laien nicht beschreiben, es wäre allzu sonderbar und doch zu köstlich für sein Ohr. Es leben Geister in der Tiefe, die sonst kein Ohr erfaßt, kein Auge schaut. Musik ertönt in jenen Hallen, die jedem nüchternen Ohr leer und bedeutungslos ertönt. Doch dem, der mit gefühlt und mit gesungen, gibt sie eine eigene Weihe, wenn er auch über das Loch in seiner Mütze lächelt, das er als Symbolum zurückgebracht. Alter Großvater, jetzt weiß ich, was du vornahmst, wenn »der Herr seinen Schalttag feierte«. Auch du hattest deine trauten Gesellen seit den Tagen deiner Jugend, und das Wasser stand dir in den grauen Wimpern, wenn du einen beisetztest im Stammbuch. Sie leben!

Wirf die Flasche weg, Mensch, stich eine neue an zu neuer Freude. Die sechste! Wer kann dich berechnen, o Liebe?

Es ging uns, wie es so manchem Erdensohn ergeht. Wir lasen von Liebe und glaubten zu lieben. Das Wunderbarste und doch Natürlichste an der Sache war, daß die Perioden oder Grade dieser Art Liebe sich nach unserer Lektüre richteten. Haben wir nicht Vergißmeinnicht und Ranunkeln gebrochen und des Doktors Tochter in G. verschämt überreicht und uns einige Tränen ausgepreßt, weil wir lasen: »Das Schönste sucht er auf den Fluren, womit er seine Liebe schmückt« – »Aus seinen Augen brechen Tränen –«? Haben wir nicht à la Wilhelm Meister geliebt, das heißt, wir wußten nicht mehr, war es Emeline oder Kamille, die Zarte, oder gar Ottilie? Haben nicht alle drei in zierlichen Schlafmützen hinter den Jalousien hervorgeschaut, wenn wir Ständchen brachten im Winter und die Gitarre weidlich schlugen, obgleich uns der Frost die Finger krumm bog? Und nachher, als es sich zeigte, wie sie alle nur schnöde Koketten seien, haben wir da nicht die Liebe törichterweise verschworen und uns vorgenommen, erst dann zu heiraten, wenn die Schwaben klug werden, das heißt im vierzigsten?

Wer kann dich berechnen, verschwören, o Liebe? Du tauchst nieder aus dem Auge der Geliebten und schlüpfst durch unser Auge verstohlen in das Herz. Und dennoch, so kalt konntest du bleiben, wenn ich meine Lieder sang, wolltest den Blick nicht erwidern, den ich so oft nach dir aussandte? Ich möchte ein General sein, nur daß sie meinen Namen in der Zeitung läse, daß es ihr bange würde, wenn sie läse: »Der General Hauff hat sich in der letzten Schlacht bedeutend hervorgetan und acht Kugeln ins Herz bekommen – woran er ab nicht gestorben«. Ich möchte ein Tambour sein, nur daß ich vor ihrem Haus meinen Schmerz auslassen und fürchterlich trommeln könnte, und fährt sie dann erschrocken mit dem Köpfchen durchs Fenster, so will ich gerade das Gegenteil russischer Fellrassler machen und vom fortissimo abwärts trommeln und piano im leisen Adagiowirbel ihr zuflüstern: »Ich liebe dich.« Ein berühmter Mensch möchte ich sein, nur daß sie von mir hörte und stolz zu sich sagte: »Der hat dich einst geliebt.« Aber leider reden die Leute nicht von mir, höchstens wird man ihr morgen sagen: »Gestern nacht hat er auch wieder bis Mitternacht im Weinkeller gelegen!« Und wenn ich vollends ein Schuster oder Schneider wäre! Doch dies ist ein gemeiner Gedanke und deiner unwürdig, Adelgunde! –

Jetzt wacht wohl keiner mehr als der Höchste und Niedrigste dieser Stadt, nämlich der Turmwächter hoch oben auf der Domkirche und ich tief unten im Ratskeller. Wär' ich doch der auf dem Turme! In jeder Stunde wollte ich das Sprachrohr ansetzen und dir ein Lied hinabsingen ins Schlafkämmerlein, doch nein! das würde ja den süßen Engel aus seinem Schlummer wecken, aus seinen holden, lieblichen Träumen. Doch hier unten hört mich niemand, da will ich eines singen. Seele! komme ich mir denn nicht gerade vor wie ein Soldat auf dem Posten, dem das Heimweh recht schwer und tief im Herzen liegt? Und hat nicht einer meiner Freunde dies Lied gedichtet?

Steh' ich in finstrer Mitternacht
So einsam auf der stillen Wacht,
Dann denk' ich an mein fernes Lieb,
Ob es mir treu und hold verblieb.

Als ich zur Fahne fortgemüßt,
Hat sie so herzlich mich geküßt,
Mit Bändern meinen Hut geschmückt
Und weinend mich ans Herz gedrückt.

Sie liebt mich noch, sie ist mir gut,
Drum bin ich froh und wohlgemut,
Mein Herz schlägt warm in kalter Nacht
Wenn es ans ferne Lieb gedacht.

Jetzt bei der Lampe mildem Schein
Gehst du wohl in dein Kämmerlein
Und schickst dein Nachtgebet zum Herrn
Auch für den Liebsten in der Fern.

Doch wenn du traurig bist und weinst,
Mich von Gefahr umrungen meinst,
Sei ruhig: steh' in Gottes Hut,
Er liebt ein treu Soldatenblut.

Die Glocke schlägt, bald naht die Rund
Und löst mich ab zu dieser Stund;
Schlaf wohl im stillen Kämmerlein
Und denk in deinen Träumen mein!

Und denkt sie wohl auch meiner in ihren Träumen? Die Glocken summten dumpf auf den Türmen, sie begleiteten meinen Gesang. Schon Mitternacht? Diese Stunde trägt eigenen geheimnisvollen Schauer in sich; es ist, als zittere die Erde leise, wenn sich die schlummernden Menschen unter ihr auf die andere Seite legen, die schwere Decke schütteln und den Nachbar im Kämmerlein nebenan fragen: »Ist's noch nicht Morgen?« Wie so ganz anders zittert der Ton dieser Mitternachtsglocke zu mir hernieder, als wenn er am Mittag durch die hellen, klaren Lüfte schallt. Horch! Ging da nicht im Keller eine Türe? Sonderbar! wenn ich nicht so ganz allein hier unten wäre, wenn ich nicht wüßte, daß die Menschen nur oben wandeln, ich würde glauben, es tönen Schritte durch diese Hallen. – Ha! es ist so; es kommt näher, es tastet an der Türe hin und her; es faßt und schüttelt die Klinke; doch dir Türe ist verschlossen und mit Riegeln verhängt; mich stört heute nacht kein Sterblicher mehr. – Ha, was ist das? die Tür springt auf! Entsetzen! –

 


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