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Achtzehn Jahre alt ... Einen Augenblick seh' ich mich selbst ganz deutlich vor mir – die eckige, ungelenke Knabengestalt und ich höre mich rufen: Nimm mich mit, Vincenz! Damals kannt' ich euch noch nicht, ihr Augen des frühen Todes. Aber schauernd empfand ich es dann und wann, daß ein Mensch mit diesen Augen, die immerdar in sichtlose Ferne spähten, nur hineinragte in die Dinge dieser Welt, nicht aber hineingehörte, wie wir, die aus dichterem Erdstoff Geballten. Er war ein Jahr älter als ich. Wir saßen zusammen in Prima und er gerade in der Bank hinter mir. Wenn ich mich umwandte, sah ich sein derbes, knochiges Gesicht, die Stirn halb verdeckt von dem straffen, hellblonden Haar. Es war nichts Krankhaftes an ihm; nur die Augen glänzten wie aus zartem Nebel hervor und der feine Mund paßte übel zu der starken Nase und dem kräftigen Kinn. Umgang pflegte er mit keinem von uns und so wußt' ich wenig von ihm. Selten auch mischte er sich in unser Streitgespräch, an dem wir anderen vor Beginn des Unterrichts uns ereiferten. Aber er horchte aufmerksam zu und stets war sein Gesicht hell von einem Lächeln innerer Teilnahme. Eines Morgens, als ich mit drei Mitschülern über Gott und Unsterblichkeit mich heiser stritt, zupfte mich Vincenz plötzlich am Rock. Unwillig dreht' ich mich um, doch sein Auge entwaffnete mich sofort. Er sprach gewöhnlich mit etwas schwerer, unbeholfener Stimme, und als ich fragte: »Was willst du?« antwortete er fast stotternd: »Du! kann ich wohl mal zu dir kommen, oder kommst du lieber zu mir?« Ich stieß nur ein Ja, ja natürlich! hervor und wandte mich wieder. An das Versprechen dacht' ich nicht weiter. Abends aber, als ich auf meinem Zimmer hockte, fühlt' ich eine Beklemmung, als ob ich etwas versäumt. Ich wußte nur nicht was. Auf einmal gingen mir ganz in dem Tonfall, wie ich sie gehört, die Worte durch den Sinn: Oder kommst du lieber zu mir? Und ich wiederholte innerlich drei, vier Mal: Ja, ja ich komme. Das Gefühl, das ich dabei empfand, wurde ich die ganze Nacht hindurch nicht los. Es bannte mich so, daß ich am anderen Tage, sobald ich Vincenz sah, auf ihn zustürzte und herausplatzte: Du! ich komme heut' zu dir. Er nickte und strich mir leise über die Schulter. Nachmittags ging ich zu ihm. Er wohnte in einer schmalen Gasse, die zum Dome führte. Durch die niedere Hausthür trat ich unmittelbar in die dämmrig dunkle Küche. Eine arbeitsalte Frau stand am Herde und wusch Geschirr auf. Sie drehte sich halb zu mir und sagte in müdem, schleppendem Ton: »Sie wollen wohl zu Vincenz? Da! ...« Hinter der Thür, auf die sie wies, war ein Gemurmel wie von vielen Stimmen. Und als ich sie öffnete, blieb ich überrascht stehen. In der kleinen Stube, die von einem welken Sofa, einem Tisch und einem Stuhl fast ausgefüllt wurde, saß Vincenz zwischen sieben oder acht Kindern. Er auf dem Sofa, die Kleinen neben ihm und auf seinen Knieen. Er las aus einem Buch Verse vor und die Kinder sprachen sie ihm nach. Als er mich sah, setzte er die beiden, die er auf dem Schoß hielt, zu Boden, erhob sich und trat linkisch auf mich zu. Er schien etwas sagen zu wollen, errötete aber und drückte mich, ohne zu reden, auf den Stuhl nieder. Dann wandte er sich zu den Kindern, die sich scheu zusammengedrängt hatten, und rief: »Nu, Kinderkens, lauft mal in die Küche zur Besmoer; Großmutter nachher hol' ich euch wieder 'rein!« Eifrig stürzten alle der Thür zu und hinaus. Nun erst bot mir Vincenz die Hand und sagte unvermittelt: »Hast du schon die Urania von Tiedge gelesen? Aus dem Gedicht les' ich den Kinderchen vor. Es sind Nachbarkinder. Sie kommen fast jeden Tag zu mir.« »Ist dir das nicht lästig?« »O nein, gewiß nicht. Ich hab' ja die Hauptfreude davon. Ach, sie – ach sie sind alle so lieb und verstehen ganz gut, was ich ihnen vorlese. Ich meine, sie fühlen das Schöne und Gute darin. Hast du nicht gemerkt, wie sie alle die Hände falteten?« »Aber was wolltest du von mir?« »Von dir – ich? Ja so! Du mußt mir nicht böse sein, daß ich dich – – Ich habe gehört, du liest so viel, und da –, da möcht' ich manchmal mit dir sprechen über –. Es gehen einem so viele Gedanken durch den Kopf beim Lesen. Kennst du das »Verlorene Paradies?« »O ja, das heißt nur strichweise.« »Ich eigentlich auch nur. Ich lese immer wieder die Schilderung vom Garten Eden; darüber komm' ich fast nie heraus. Da fällt mir das Buch auf den Tisch und ich träume davon, wenn doch die ganze Erde so ein Garten sein möchte und die Menschen alle so wie Adam. Geht es dir nicht auch so?« Ich lachte. »Mir? Das kann ich nun g'rad nicht sagen. Die Stelle ist ja herrlich. Aber fast noch besser gefällt mir der Luzifer. Was ist das für ein Kerl!« »O ja, gewiß. Aber mir ist das Stille, Reine, Friedliche lieber. Und da fällt mir ein – möchtest du mir wohl deine Bibel leihen? Auf ein paar Tage. Nicht das alte Testament. Das kenn' ich schon. Es ist meistens so düster –, so viel Feuerrauch darin. Aber das neue –«. »Ich denke, ihr Katholiken dürft die Bibel nicht lesen«. »Wer sagt das? Ich glaube, du hältst nicht viel von unsrer Kirche. Du mußt sie dir nicht so schlimm vorstellen. Ich möchte meinem Glauben nie untreu werden, aber ich weiß gar nicht alles, was die Kirche lehrt. Ich denke mir, diese Verbote sind nur für die – für diejenigen da, deren Herz krank ist. Wer so recht von Herzen Gott und die Menschen lieb hat, der hat alle Gebote und Verbote in sich selbst.« Mit jedem anderen hätt' ich mich nach diesen Worten in ein Gefecht eingelassen. Aber Vincenz Wagemann scheut' ich mich zu widersprechen. Alles, was er sagte, kam fast kindlich heraus, kindlich im Ton. Und doch hatt' ich stets das Empfinden einer Reife bei ihm, die so viel stärker war, als meine gärende Unreife, wie der Tag stärker ist, als das flackernde Licht ...
*
Acht Tage später schritt ich auf einem Waldweg der Heide zu. Als ich zwischen den Bäumen hervor in die weite Lichtung trat, sah ich dicht vor mir auf dem sandigen Heideweg Vincenz Wagemann gemächlich dahinschlendern. Laut rief ich: »He! nimm mich mit, Vincenz!« Mit einem Ruck kehrte er sich um. Als ich aber zu ihm herankam und ihm die Hand bot, starrte er mich erst eine Weile an, wie ein eben Erwachender. Dann plötzlich lachte er auf, packte meine Hand schüttelnd mit beiden Händen und murmelte fast zärtlich: »Du! Du! Das ist hübsch. Willst du ein Stück mit mir? Ich muß nach Roxel zu meinem Öhm.« Ich nickte und schweigend schritten wir nebeneinander durch das starre Heidekraut. Die Sonne glitt müde dem Westen zu. Noch aber war die Luft wie ein warmes Bad. Und von der Erde auf stieg es wie heißer, herbduftiger Atem. Kein Laut ringsum. Nur am Grunde ein leises, verschleiertes, unablässiges Raunen und Surren wie ein Abhall fernen, unterirdischen Gesanges. Sonnentrunkne Stimmung überkam mich. Ich warf mich in das Riet, wühlte den Sand auf, rollte eine Strecke weit hin und hob mich dann auf die Knie und flüsterte: Licht! Licht! ich bete dich an. Mit jähem Griff faßte mich Vincenz am Arm und riß mich in die Höh'. Dabei lachte er mich fröhlich an. Nur seine Augen blickten ernst und bittend. Und bittend klang seine Stimme: »Thu das nicht! Es ist dir ja doch kein Ernst damit. Und beten – ohne Ernst! nein, nicht wahr? Gerade weil das Licht so wunderbar ist. – – Vielleicht lieb ich's ebenso wie du. Ja, manchmal mein ich, Licht und Liebe sind eins. Beide schmiegen sich so warm allen Dingen an, umfangen alle und verklären alle. Manchmal aber mein ich auch, das Licht ist ein Gebet, das die Welt, die unendliche Welt zu Gott emporsendet. Und wir können nichts besseres thun, als dies Gebet aller Gebete mitbeten am Morgen, am Mittag, am Abend – immerzu. Aber es anbeten, ein Gebet anbeten, das – das.« – Ich stierte ihn etwas verblüfft an und da wurde er dunkelrot und stammelte nur noch: »– zu lustig.« Sein Auge hatte mich recht demütig gestimmt, aber ich schüttelte die Empfindung von mir ab und trällerte ein Spottlied vor mich hin. Er lachte, schlang den Arm um mich und scherzte: »Siehst du, nun hast's du auch mal gemerkt. Meine Mutter sagt immer, dreimal jeden Tag müsse ich predigen, sonst kriegte meine Zunge den Aussatz. Sei nur nicht bös. Du bist viel besser als ich ...«
Gleich hernach sahen wir die roten Ziegeldächer des Dorfs vor uns. Vincenz bog in einen schattigen Eichenpfad ein, der in ein Bauerngehöft mündete. Schon von fern hörten wir den wirren Lärm ineinanderschreiender Stimmen, Als wir auf den Hof traten, sahen wir den Bauer und einen der Knechte wie stoßbereite Bullen sich gegenüberstehn. Beide halb vorgebeugt, die Fäuste geballt, mit weit aufgerissenen Augen, die Gesichter hitzrot. Offenbar quälte es den Knecht, machte ihn rasend, daß er in Worten gegen den Bauer nicht aufkommen konnte. Jeden Satz seines Dienstherrn begleitete er mit einem kreischenden Wat! Wat! oder mit dumpfem Uh! Uh! Zu verstehen war von der Auseinandersetzung wenig; ich merkte nur, daß der Knecht mitten in der Erntezeit auf und davon wollte und der Bauer ihn zurückhielt. Plötzlich reckte der Knecht die Arme weit aus. Eben hatte der andere ihn angeschrien: »Met de Polzei laat ik di trügge halen. Int' Tuchthus häörst de, du Lusekärl, du Bedreiger, du –« Da mit einem Sprung stürzte der Knecht auf den Polternden, umspannte ihn klammernd mit dem linken Arm, und immerfort murmelnd »in't Tuchthus! ik! ik!« griff er mit der rechten Hand in die Hosentasche, tappte darin herum und zog dann ein Messer hervor, das er krampfhaft zitternd sich bemühte aufzuklappen. Und unversehens fühlt' ich jetzt selbst einen Stoß, Vincenz sprang vor und mit der ganzen Wucht seines breiten und knochenstarken Leibes schob er sich als Mauerbrecher zwischen die Ineinanderverschlungenen. Und dann, nachdem er den Bauer zur Seite geworfen, umfaßte er mit beiden Armen den Knecht und rang den nur schwach sich Wehrenden zu Boden. Nun erst suchte der Unterlegene mit einer zähen Muskelanspannung sich frei zu machen, doch Vincenz hielt ihn mit dem einen Knie fest und fuhr ihn an: »Schiäm Ji wat, en Kniew te bruken. Dat is kin ehrlik Striten.« Unruhig schob sich der Liegende hin und her, er suchte nach einer Antwort. Ehe er jedoch den Mund aufthat, lachte ihn Vincenz mit einem Mal freundlich an, streichelte ihn wie ein Kind und raunte ihm mit weicher Stimme zu: »Jans! Jans! Bedenkt Ju erst noch 'n maol, wat Ji doen willt. De Buer is doch süß kin leigen Käl, kin Menskenschinner. Van Dage is he blos daorüm so wild, wil Ji, sin beste Mann, em up un davon willt. Um en Annern waörd he sik wull kin Koppterbriäken maken.« Damit gab er den Liegenden frei. Und der richtete sich denn auch ganz ruhig und gemächlich auf und murmelte beinah verlegen: »Jau! Jau! Här Student, dat iss alls wull waohr, wat Se dao seggt, owwer ik gleiv, et geiht doch nich. Ik kann en Buern sin ewig Schimpen un Schennen nich verdriägen. Leiwer manks een met en Knüppel füör de Blässe, es dütt Schennen alle Dage.« »Na,« meinte Vincenz fröhlich, »wenn Ji so denkt, dann könn wi wiß licht bieene kummen.« Und er ging auf den Bauer zu und wisperte ihm etwas in die Ohren, so daß sich das harte braune Gesicht des Mannes zu einem breiten Schmunzeln verzog. Trotzdem wandt' er sich achselzuckend ab, Vincenz aber legte beide Hände auf seine Schultern, sah ihn mit seinen mondsanften Augen eine Weile fest an und zog ihn ganz allmählich gegen den Knecht hin. Und trat dann flink an meine Seite zurück. Die beiden Gegner stierten sich eine Zeitlang spee und scheel an, endlich aber reichte der Bauer doch dem Knechte die Hand und dieser schlug nach einigem Zögern ein. Kurz darauf feierten wir alle vier die Versöhnung mit einigen alten Klaren. Und spät am Abend erst verließen Vincenz und ich das gastliche Haus ...
Über die Heide hatte der Mond blaue, seidige Schleier gebreitet. Ringsum lag das Land wie ein stiller, klarer Weiher. Nur hier und da warf ein Baum seinen zartgekräuselten Schatten auf den gleißenden Spiegel. Und wie wir zwei nun durch die Einsamkeit dieser Lichtsee hinglitten, lautlos, schemenhaft, da war es mir, als sei alles Leben außer uns erloschen und wir beiden die letzten Erdwanderer, aber dem Menschlichen schon entrückt, Lichtseelen ohne Leib und Blut. Zwei letzte Genossen, die nichts mehr haben als sich, die nichts mehr trennen und sondern kann. Und ich hielt mich nicht, ich fiel Vincenz um den Hals und voll Wehmut und Jauchzen zugleich lachte, schluchzt' ich ihn an: »Vincenz was bist du für ein Kerl! Der rechte – – ein Seelenfänger, wie nur je einer war. Dieses zähe Bauernleder, was hast du das – – ach, Vincenz, du guter Kerl, mich fängst du auch noch!« Er selbst war sichtlich in gleicher Laune wie ich. Er schwenkte mich in die Höh' und sagte fast flüsternd, aber inbrünstig, innig: »Ja! laß uns Freunde sein! Freunde. Wirkliche Freunde!« Erst nach einer Weile fügte er mit stillem Lächeln hinzu: »Das mit den Bauern laß unter uns! Du weißt ja, ich will Priester werden. Da muß man jeden – man muß lernen, jeden nach seiner Art zu behandeln. Wenn nur immer – –« Er redete nicht aus. Wir schraken beide zusammen. Dicht neben uns huschte mit schrillem Gekrächz eine Dommel empor und strich raschelnd über das niedere Röhricht dahin.
*
Seit diesem Abend fühlten wir uns brüderlich verbunden. Fast täglich waren wir zusammen. Aber was wir weiterhin noch gemeinsam getrieben und beredet haben, ist mir aus der Erinnerung so gut wie geschwunden. Und nur zu bald lockerte sich auch das enge Band. Nach der Schulzeit gingen unsere Wege auseinander. Vincenz vertiefte sich in die Geheimnisse des Doctor angelicus, erfreute seine Mutter ein paar Tage vor ihrem Tode durch die Feier seiner Primiz und kam über das Weichbild unserer Heimatsstadt nicht hinaus. Ich selbst kehrte erst nach siebenjähriger Abwesenheit in das traute Nest zurück. Durch die grauen Nebel eines Novemberabends schritt ich dem Elternhause zu. Straßen und Häuser schienen in der Nässe zu modern; die Luft war klebrig. Wagen und Menschen glitten an mir vorbei wie schlotternde Schemen. Alle Dinge hatten ihre Form und Festigkeit eingebüßt. Der Himmel hing wie ein durchregnetes Zeltdach, schlaff und verwaschen. Kaum hatt' ich die Meinen begrüßt, da brachte mir die Schwester eine Tasse glühenden Kamillenthees. Die Mutter schleppte ein Bündel wollener Tücher und Binden herbei und der Vater prüfte besorgt mein Aussehen, als sei ich eben dem Tode entronnen. Schnell ging ich auf den Spiegel zu, denn mich überkam plötzlich die Angst, ich trage irgend ein Merkzeichen der knöchernen Hand sichtlich an der Stirn. Aber ich sah aus wie sonst und etwas unwirsch fragt' ich: »Was habt ihr denn eigentlich? Ich bin doch nicht g'rad aus dem Wasser gezogen,« Da erfuhr ich, daß der Typhus die Stadt in ein großes Lazarett verwandelt habe. In jedem dritten Hause liege ein Kranker. Und wenn das Wetter nicht umschlage, werde das große Lazarett bald zum großen Friedhof werden. Erleichtert lacht' ich auf. Was kümmerte mich der Typhus?! Und alsbald ersetzt' ich den Thee durch ein Glas Grog und warf die Wolle in die Ecke. Am anderen Tage aber merkt' ich, daß die Schilderung nicht übertrieben gewesen. Gleich beim ersten Ausgang begegnete ich sechs Leichenzügen, wenn ein Trauergefolge von drei bis vier dicht eingewickelten Mumien ein Zug genannt werden darf. Auch die übrigen Stadtbewohner, soweit sie sich auf der Straße sehen ließen, schlichen trübselig einher wie wandelnde Reklamen eines Sargfabrikanten. Am Abend saß ich im Wirtshaus mit einigen Schulgenossen. Und nicht lange währte es, da klang mir auch schon der Name Wagemann ins Ohr. Einer fragte über den Tisch herüber: »Du, war der Vikar Wagemann nicht in der Prima mit uns?« »Der von der Lambertikirche?« »Ja!« »Wird wohl derselbe sein.« »Kinder, ich sag' euch, der hat alle Aussicht auf den Heiligenrang. Himmlischer Geheimrat erster Klasse,« »Jawohl. Hab' schon davon gehört. Der Mann will offenbar Karriere machen. Drängt sich überall ein, bettelt für seine – na, seine Kranken und läßt die Behörden nicht zu Atem kommen. Ein bißchen unverschämt, find ich.« »Mag sein. Aber großartig doch auch. Meine Tanten füttern mich mit Geschichten, wie er den Krankenträger, Wärter, Apotheker, Heilgehülfen, Seelsorger spielt – alles in einer Person. Das meiste klingt stark sentimental, aber imponiert hat's mir doch.« »Na! Na! Deine verehrten Tanten sollten dir doch auch die – na, die Kehrseite der Medaille zeigen. Freilich, davon können sie nichts wissen. Der junge Mann hat erst vorgestern dem Regierungspräsidenten – ich weiß das aus bester Quelle. Hat ihm offen ins Gesicht gesagt, die Maßregeln, die man, wie soll ich sagen? – staatlicherseits getroffen, seien absolut – absolut unzureichend. Eigentlich war's noch viel schlimmer. Dein Heiliger soll beinah frech geworden sein. Mich wundert, daß die Vorgesetzten des jungen Mannes dergleichen dulden, ihn nicht besser im Zügel halten. Muß eine merkwürdige Disziplin unter diesen Schwarzröcken herrschen.« »Aber, Menschen, redet doch von was anderem! Was geht uns der Pfaff an? Ob er brav oder frech ist, jedenfalls ist er 'n bissel verrückt. Alle Heiligen sind verrückt, das haben sie so an sich. Sonst säßen sie hier und sagten Prost, statt sich draußen den Typhus zu holen. Prost Anton!«
Mit diesem Ergebnis kam das Gespräch zur Ruhe. Ich selbst hatte keine Lust, die Leutchen zu bekehren. Ließ sie reden. Aber ich nahm mir vor, Vincenz gleich am anderen Tage aufzusuchen. Seine Wohnung lag der meinen ziemlich fern. Zum Glück blies der neue Tag mit gellenden Morgenwindstößen den Nebel aus seiner Ruhe auf und trieb ihn nordwärts dem Meere zu. Die Sonne war noch von fahlgrauem Gewölk bedrängt, aber silbrige Blitze kündeten die nahe Befreiung. Und hier und da löste sich bereits das Wolkengewirr in Flocken und Rauchwirbel auf. Mit Behagen schlenderte ich durch die Baumgänge des alten Stadtwalles meinem Ziele zu. Als ich dann in die Straße bog, in der Vincenz hausen sollte, begegnete mir ein junger Priester. Sofort erkannt' ich in ihm den Freund. Er aber schritt achtlos an mir vorüber. Da faßt' ich von rückwärts seine Hand und zwang ihn so mich anzusehn. Und kaum traf mich sein Auge, da breitete er unwillkürlich die Arme aus, ließ sie jedoch gleich wieder sinken und sagte nur – aufatmenden Tons und die Stimme leicht zitternd: »Endlich – zurück!« Erst nach einigen Augenblicken fügte er hinzu: »Willkommen – doppelt willkommen!« Seine Gestalt schien mir schlanker als früher, zumal in dem langen schwarzen Priesterrock. Das Gesicht zeigte nichts mehr von dem derben Rot der Jugend, es war bleich, fahl, weiß geworden. Sehnsüchtiger noch als sonst blickten die Augen. Aber es war trotzdem nichts Schwächliches an ihm. In seinem Lächeln, seiner Haltung lag die alte Kraft und Freudigkeit. Ich erzählte ihm, daß ich zu ihm gewollt und nun ein Stück Weges ihn begleiten würde. So gingen wir zusammen durch einige schmale Straßen, ohne daß ich mich darum kümmerte, wohin es gehe. Alle zehn Schritt grüßte ihn ein Begegnender und überall liefen Kinder herbei, und boten ihm die Hand, die einen schüchtern knicksend, andere mit würdiger Vertraulichkeit. Er schien mir gesprächiger, als in vergangenen Tagen. In eine lebhaftere Unterhaltung aber gerieten wir erst, als ich fragte: »Du hast also das Glück gefunden – in deiner Priesterei?« »Glück? Ich weiß nicht recht, was du unter Glück dir vorstellst. Ich glaub' aber kaum, daß ich es gefunden habe; gefunden nein, ich hab' es ja noch nie vermißt. Wenn's nicht anmaßend klänge, möcht' ich wahrhaftig sagen, – ich begreif' eigentlich nicht, wie jemand sich unglücklich fühlen kann. Es ist doch so leicht, freudig zu sein, zu bleiben. Ich möcht' wohl wissen, wie das ist, wollte mir jemand dies Empfinden ausreißen. Sicherlich bliebe stets ein Freudenkeim zurück, der über Nacht wieder in die Höhe schösse.« Anmaßend klang das keineswegs; jedes Wort kam einfach und natürlich heraus und verriet im Ton die Scheu des Sprechers, von sich selbst zu reden. Ernster als bisher und leiser sagt' ich deshalb: »Ich bin glücklich, daß dich dein Wirken so befriedigt. Aber hat es auch Erfolg bei den« – –
Er legte die Hände übereinander und schüttelte den Kopf; blickte mich aber ganz ruhig und fröhlich an. »Nein, Heinrich, nicht so – nicht in dem Sinn, wie ich früher geglaubt. Es ist sonderbar, doch ich merk' es jeden Tag – die Religion ist für die Leute nur ein Feldzeichen, unter dem man kämpft gegen die andern, ein Betäubungsmittel, ein Blendwerk, um den Nichtgeblendeten das Plündern zu erleichtern, oder auch nur eine Uniform, die man an- und auszieht, wie's einem bequem. Blutchristen, deren Natur, deren Blut christlich ist, deren ganze Welt der Heiland ist und nur er, die sind selten wie – nun ebenso selten wie Teufel sind. Sieh doch selbst! Es giebt eine Sünde, die von allen die unseligste und unchristlichste ist, denn wo sie sich eingefressen hat, zerfetzt sie auch das Edelste allmählich in Eiter und Staub. Ich meine den Hochmut des Menschen gegen den Menschen. Und gerade dieser Hochmut, der das Wissen, das Geld, die Geburt, die Hautfarbe, die Tugend benutzt, um Schranken aufzurichten zwischen Mensch und Mensch, der den Pharisäer vom Zöllner, die Strenge vom Leichtsinn durch eine Kluft scheidet, – der wuchert noch heut, als ob nie ein Heiland auf Erden gewandelt. Gewiß, das Christentum hat sich in der Welt verbreitet, aber wie ein Tropfen Wein in einem Eimer Wasser.«
Ich griff plötzlich nach der Hand des Freundes und preßte sie heftig, jäh erstaunt, ihn derart sprechen zu hören. War das noch Vincenz, der neben mir ging? Nicht das verwunderte mich, daß die Worte seinem Munde entflogen, wie ein Schwarm Tauben, denen keine Mauer, kein Strom das Fortkommen wehrt. Offenbar sprach er so geläufig, weil jene Gedanken ihm etwas Alltägliches waren. Aber der Inhalt der Worte und mehr noch der Reif von Ironie, der sie leicht umhüllte, berührten mich seltsam aus dem Munde des sonst so Glaubenssicheren. Eine Ironie ohne Verfinsterung, ohne Härte, mild und leuchtend, aber doch Ironie, – Ironie des Herzens, nicht des Verstandes, Ich wollte wissen, wie tief dies Gefühl sich in ihn eingebohrt, und sagte: »Mich wundert's im Grunde nicht, daß auch du den alten Weg verläß'st. Wir haben ja alle in dieser Zeit unseren Tag von Damaskus, nur in anderem Sinne als Paulus. Aber gern erführ' ich das Nähere, wie und wodurch dein Glaube ins Wanken kam.« »Mein – ins Wanken – Mein Glaube –.« Er lachte vergnügt mich an wie ein Kind und schnipste mit den Fingern. »Wie kommst du darauf? ... Ich hab' ein paar Erfahrungen gemacht; mir scheint, daß die Leute die Liebe mehr im Munde, als im Herzen führen ... Und deshalb – deshalb sollt ich! ... Weiß ich, was des Ewigen Absicht ist? Welchem Plan diese Welt von Namenchristen dienen soll? Ich selbst – ich wirke, wie mein Inneres, mein Herz es verlangt. Wozu ich wirke, mit welchem Erfolg, – das ist nicht meine Sache. Ich erwarte nicht, daß irgend eine Mücke mein Thun begreift und mehr als ein Mückengehirn hab' ich doch gewiß dem Unendlichen gegenüber nicht. Soll ich etwa kein Licht mehr anzünden, weil für die Mücken das Licht – nur sengendes Feuer ist? Gedanken mach' ich mir freilich über das Wozu und Warum auch. Das gehört zur Erhaltung des Lebens. Vielleicht ist die Menschheit für den Ewigen nur eine Baumschule, in der er Edelreiser zieht, um sie in andere Welten zu verpflanzen –.« »Das heißt,« unterbrach ich ihn, »die ganze liebe Mitmenschheit ist nur da, damit sich an ihr die Güte der paar Auserwählten erprobt und bewährt.« »Du hast recht. Gleichnisse sind Spielerei. Und doch komm' ich mit dem Denken zu nichts Besserem. Grade jenes Gleichnis hat sich so – so in mir festgesetzt, aber ernst zu nehmen wag' ich es nicht. Fürs Leben bietet es auch nichts. Fürs Leben genügt ja das Lieben. Das Herz so mit Liebe erfüllen, daß es zuletzt bricht und ein Blutstrom von Liebe« – – Er blieb plötzlich stehen, rieb leise die Stirn und starrte wie verlegen zur Erde. »Ich schwatze, schwatze und hab' doch so nötig zu thun. In den nächsten Tagen werd' ich wohl etwas mehr Muße haben. Jetzt – – Leb' herzlich wohl für heut'. Ich muß jetzt noch zu – einer Kranken.« Aber ich ließ ihn nicht los. Ich dachte des Gesprächs im Wirtshaus und mir kam die Lust, den Freund in seiner Thätigkeit zu sehen. So fragt' ich ihn denn, ob ich nicht mit zu der Kranken dürfe. Er starrte mich einen Augenblick an und sagte dann beinahe flüsternd: »Du willst –? Gewiß darfst du, gewiß, 's ist leicht möglich, daß ich deine Hilfe brauche.«
Durch eine schmale Gasse schritten wir dem Witthof zu. Das war die Straße des Elends, von der sich die übrige Stadt wie von einem Pestkrankenherd abgeschlossen hielt. Als Kinder hatten wir manchmal mit zitternder Scheu hineingeblickt, aber keins hatte je gewagt, dies Ghetto der Verkommenen zu betreten. Eine Mauer konnte es nicht wirksamer absperren, als es das Vorurteil that. Fast menschenleer lag heute die breite und doch so düstre Straße, – Trostlosigkeit ihr ganzes Aussehen. Nur eine Frau begegnete uns mit dem narbigen, aufgedunsenen Gesicht der Nahrungsarmut. Und ebenso narbig, schlottrig, verquollen hingen die Giebel und Firste der Häuser. In eins dieser Häuser trat Vincenz ein. Hinter der niederen Hausthür stieg gleich die Treppe hinan, eng, ausgetreten und lichtlos. Nichts Lebendiges schien zwischen diesen Wänden zu herbergen, kein Geräusch deutete darauf hin. Aus dem Ächzen der Treppe nur klang es wie die Seufzerweise hoffnungsloser Not. Auf der obersten Stufe hielt Vincenz unerwartet an, wandte sich und beugte sich zu mir. »Ach,« raunte er mir zu, »daran hab' ich, nein, daran hab' ich nicht gedacht. Vielleicht kehrst du doch lieber wieder um. Die Kranke ist nämlich –« Er stockte und atmete tief auf, »Was ist denn?« fragt' ich, »Daß sie den Typhus – das kann ich –« »Still, still –« flüsterte er, »das ist's nicht. Aber warum soll ich's dir nicht sagen – ja, ich muß es. Das Mädchen ist etwas verrufen. Sie hat sehr leichtsinnig gelebt. Niemand will jetzt mehr mit ihr zu thun haben. Aber ich glaube nicht, daß sie ganz – daß sie eigentlich schlecht ist.« »Kurz und gut,« stieß ich hervor, »eine –« Er legte mir die Hand auf den Mund. Innerlich belustigte mich die Scheu des Freundes, aber ich lachte doch nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern und drängte ihn sanft vorwärts. Wir standen jetzt auf einem schmalen, dunklen Gang. Der dumpfe, modrige Dunst, der aus allen Ecken des Hauses drang, wirkte hier fast erstickend. Vincenz tastete sich die Wand entlang und klopfte dann an eine Thür, Kein Herein klang, nur der leise Ruf »He is es!« Gleich darauf ward die Thür geöffnet, und wir traten in ein Zimmer, dessen Decke dicht über meinem Kopfe hinstrich. Ich überflog es mit einem Blick. Und mich fröstelte vor dieser Kahlheit. Die Wände nackt, schmutziggrau; nur ein kleiner, schwarzgerahmter Spiegel blitzte von der Fensterwand her. In der einen Ecke hockte ein winziger, schwarzer Ofen, krumm und schief. Dicht bei ihm stand das Bett, davor zwei Stühle. Sonst war der ziemlich weite Raum ganz leer.
Vincenz wandte sich an die alte Frau, die uns geöffnet. »Nun Frau Viets, wie steht's?« fragte er mehr hauchend, als sprechend, »Gans gued,« erwiderte sie gleichfalls wispernd, »gans gued, Här Vikar, dat hett, nich biäter un nich leiger. Usse Dokter is dao west, He sagg – ja wat sagg he auk noch? Ne, seggen doen dei he so recht nix, he hett met en Kopp schüddelt un dann sagg he: et wäör slimm, slimm, dat et Hus fo natt un verfult wäör. Wenn dat nich wäör – –.« »Ja, ja,« unterbrach sie Vincenz, und er preßte fast krampfhaft die Hände in einander, »so kann's nicht bleiben.« Die Alte aber ließ sich nicht stören und fuhr fort: »Un dann, Här Vikar, dat Leigste is, dat arme Wicht kümmp nich derto te slaopen. Wenn Se nich dao sind, is se ganz unwis un verweert. Owwer wenn Se dao sind, Här Vikar, is se so stilleken es en Kind. Ne, ne, dat kann en Mensken nich gued doen, slaopen mott he un erst recht, wenn he krank is.« Im Bett regte sich die Kranke. Sie schlug mehrmals wie mechanisch mit den Händen auf die Decke. Vincenz trat schnell zu ihr hin; ich folgte ihm. Er streichelte leicht die Stirn der Kranken. Und sie rührte sich nicht weiter und sah ihn nur mit weit offenen Augen starr an. Diese glänzenden grauen Augen hatten etwas Anziehendes. Sonst aber war das breite Gesicht ohne jeden Liebreiz. Jetzt ergriff Vincenz die rechte Hand des Mädchens, beugte sich nieder und murmelte: »Schlaf, Kind, du mußt schlafen. Schlaf!« Alsbald verzog sich der Mund der Kranken zu einem stillen Lächeln. Ihre Lider aber zuckten auf und nieder und nach einer Weile schien sie in der That eingeschlafen zu sein. Behutsam machte Vincenz ihre Hand aus der seinen frei, stand, noch eine Zeitlang die Kranke betrachtend, und drehte sich dann und zog mich der Thüre zu. Ich öffnete und ging. Ehe er jedoch mir folgte, flüsterte er noch einige Augenblicke mit der Alten.
Dann schritten wir wieder die Straße hinauf, ohne ein Wort zu sprechen. In Gedanken versunken ging Vincenz neben mir her. Plötzlich umschlang er meine Hand und sprudelte hervor: »In dem Hause darf sie nicht bleiben. Nicht wahr? Du hast ja gehört, was der Doktor sagte ... Ich werde sie zu mir nehmen, in meine Wohnung.« Unwillkürlich riß ich mich von ihm los und sah ihn ungläubig an. »Was? Du – ein alleinstehender Mann – dies Mädchen. Du als Priester!« Er drückte die Linke mehrmals gegen die Brust und sagte fast tonlos: »Eben deshalb – als Priester.« Dann aber holte er tief Atem und fuhr mit freier Stimme, beinahe scherzend, fort: »Was soll ich thun? Darf ich sie in dieser Fäulnis, diesem Moder verkommen lassen? Die Krankenhäuser sind überfüllt. Ich wollte sie in Pflege geben – bei Familien, die ich kenne. Überall hat man mich – Und das hülfe ja auch nichts. Ich weiß nicht, was das ist, aber du sahst es ja, sie schläft nur, wenn ich – –«
Er brach ab und blickte mich zuversichtlich an. Ich antwortete nicht, aber ich nickte ihm zu. Was er sagte, fand ich ja ganz richtig und, was er vorhatte, im Grunde nur natürlich für einen Menschen wie ihn. Und die Bosheit, an ihm entdeckte sie sicherlich keine Blöße. Ermunternd schüttelte ich seine Rechte. »Siehst du! Siehst du!« rief er laut, freudig laut, »nun giebst du mir recht. Vielleicht retten wir sie noch und – nicht nur vom Typhus.«
An der Ecke trennten wir uns. »Ich muß noch zu mehreren Kranken,« sagte er; »aber da hat's keine Gefahr. So elend, so verlassen, wie die Witthöferin, ist sonst keine.«
*
Ich hatte die Bosheit unterschätzt. In den nächsten zehn Tagen hört' ich nichts von Vincenz. Eine Arbeit nahm mich stark in Anspruch und eine Fahrt über Land entführte mich auf kurze Zeit der Stadt. Als ich zurückkam, hört' ich um so mehr. Früh am Morgen schon geriet ich in ein Gespräch mit unserem Hauswirt, einem dürren Gesellen, dessen Haut verschrumpft war wie altes Leder. Und seine Empfindungen hatten sich mit verledert. Dreimal am Tage lief er in die Kirche. War er aber mit Einem zusammen, den er für freisinnig hielt, dann entschuldigte er sich eifrig wegen seiner Gottseligkeit. »Ik weet, 't is alls dumm Tüg, wat de Papen kürt, owwer ik mott se mi apatt warm hollen, ik heww minen ganzen Profit van de Papen.« Eben jetzt kam er aus der Messe. Um so mehr hielt er es, als er mich sah, für seine Pflicht, über die Pfaffen herzuziehen. Leider hab' ich die böse Gewohnheit, alle Leute drauf los reden zu lassen, um sie ein wenig zu studieren und nebenbei einen Einblick in allerlei Alltäglichkeit zu thun. So ließ ich auch Herrn Kruse klatschen und sein Mundwerk überströmte mich mit einem Schwall von »Dönkes« über die Geistlichkeit der frommen Stadt. Mit einem Mal kam er auf Vincenz zu sprechen, »Hebbt Se 't all haört? Ik gleiwe, Se kennt je den Vikar van Lamberti, Wagemann hett he. Priädigen kann he aislik nett, owwer sölwst doen, wat he priädigt – Schite, segg Lepper. Kuortens hett he sik eene – ja, ik kann 't nich anners seggen, ne Dirn' to sik int Hus nuommen. Un gans uopen. Is datt wull menskenmüeglich? Se sall bi em gesund wären, segg he. Jau, dat kenn wi. Un dat will en römsk-katholsken Christ sin! Anspiegen sall man em!«
Mit einem Ruck stieß ich den Biedermann von mir und ließ ihn stehen. Beim Frühschoppen aber hatt' ich die gleiche Qual auszustehen. Meine Tafelrunde schien eine Lust daran zu finden, sich mit dem früheren Schulgenossen zu beschäftigen. Als ich eintrat, hatte gerade der Assessor das Wort. »Ich nehme die Sache nicht so leicht. Es ist einfach ein Skandal. Gott sei Dank, haben sich endlich auch die Vorgesetzten 'mal aufgerappelt. Das ging denn doch selbst diesen Brüdern über die Hutschnur. Aus bester Quelle weiß ich, daß man ihm jetzt das Handwerk legen wird. Werden ihn wohl in ein Kloster stecken. Freilich hat sich der Mensch herausreden wollen. Hat sich, glaub' ich, auf – na, auf sein Christentum berufen wollen. Oder auf so was Ähnliches. Ein schönes Christentum – könnte jedem passen – danke dafür.«
Lange hielt ich's in der Gesellschaft nicht aus. Ich sprach meine Ansicht grob und deutlich aus, aber meine Worte fanden keinen Wiederhall. Und so lief ich fort und schlenderte länger als eine Stunde umher. Mein Blut wallte, ich suchte es zu beruhigen. Die kühle Luft that mir wohl. Ohne es eigentlich zu wollen, war ich in die Straße gelangt, in der Vincenz wohnte. Als ich es merkte, schritt ich langsam auf das Haus des Freundes zu und trat ein. Auf der Treppe begegnete mir ein älterer Priester. Sein rundes Gesicht war dunkelrot und die Falten auf der Stirn hatte wohl erst der Augenblick eingegraben. Oben auf der Schwelle des Zimmers stand Frau Biets. Sie hatte offenbar dem Pfarrer nachgesehen. Jetzt ließ sie mich mit einem Knicks eintreten und schloß die Thür hinter mir.
Das Zimmer war rings an den Wänden von Büchergestellen umrahmt. Sonst etwas zu sehen, hatt' ich keine Gelegenheit, denn schon kam Vincenz aus einer Nebenstube hervor und auf mich zu. Ich hatte erwartet, ihn bedrückt zu finden und hielt allerlei Tröstung bereit. Aber wie er auf mich zuschritt, in den Bewegungen, im Blick frischer, freudiger denn je, da war es mir, als glänze das Zimmer frühlingsleuchtend auf. Und ich sparte meinen Trost für mich selbst. Beide Hände legte mir Vincenz auf die Schultern und sah mich lustig zwinkernd an. Und in einem Ton, der etwas übermütig klang, rief er: »Wo steckst du denn, du fahrender Poet? Auf Poetenbeistand rechn' ich künftig nicht mehr. Nun, nötig warst du nicht. Sie ist genesen und darf morgen bereits in die freie Luft hinaus. Da – nebenan liegt sie,« Ich hob etwas seinen Kopf und blickte ihm spähend in die Augen. »Das freut mich – vor allem deinetwegen. Aber das ist doch jetzt nicht die Hauptsache. Was ist denn das mit dem – andren? Ist's wahr, was man sich erzählt?« Er ließ mich los, gab mit leiser Stimme der Alten irgend einen Auftrag und wandte sich dann wieder mir zu. »Was meinst du?« »Aber, Vincenz, du weißt doch, daß du in Acht und Bann bist. Und es soll noch schlimmer kommen. Man will dich von hier entfernen, dir eine Buße aufzwingen und was weiß ich! Sind das alles nur Redereien oder steckt was dahinter?« Er ging mehrmals durchs Zimmer auf und nieder, ehe er mir antwortete. »Ungefähr so ist's. Sie thun das Ihre, ich thu' das Meine. Allen Guten hab' ich ein Ärgernis gegeben. So sagen sie. Dergleichen ist ihnen ein Ärgernis. Nicht an und für sich. Nein, weil es in der Welt falsch beurteilt werden kann. In der Welt, die am liebsten das Schlimmste glaubt. Und auf das Urteil dieser Welt kommt es an. Darnach soll man handeln. Wo bleibt aber dann er, der mit den Zöllnern aß? Was bedeutet dann sein Urteil?«
Er sprach stoßweise, kurz abgebrochen, wie einer, der etwas Unbegriffenes sich klar zu machen sucht. Und er sprach mehr zu sich, als zu mir. Gleichwohl stieß ich nicht ohne Erregung hervor: »Weißt du, Vincenz, das ist mir lieb. Daß du nicht zerknirscht bist, daß du zum Kampf gerüstet bist. Du wirst ihnen die Stirn zeigen, du wirft das Joch nicht auf dich nehmen.« Er lächelte mir zu, doch schien mir das Lächeln ein wenig gezwungen und unfrei. »Ich werd' es doch auf mich nehmen. Nicht darin hab' ich gesündigt, was der Welt als Schuld gilt. Aber gegen den Gehorsam hab' ich gefehlt. Mein Gelübde verletzt. Das muß ich, muß ich büßen.« Er starrte eine Minute lang zu Boden. Dann aber plötzlich richtete er sich straff auf und fuhr fort, die alte Freudigkeit im Ausdruck des Gesichts und mit fast leidenschaftlicher Stimme: »Ach, Liebster, Bester, glaub' mir! Das ist ja alles gleichgiltig, was die Menschen gegen mich vorhaben. Wüßt' ich nur das Eine, wie mein Gott, wie er darüber richtet, was ich gefehlt! ... Und doch, was hülf' es mir? Würd' ich noch einmal vor die Wahl gestellt, müßt' ich nicht genau so handeln wie jetzt? Selbst gegen Gott, ja, ja selbst gegen ihn müßt' ich doch handeln, wie es hier innen – mein Herz mir sagt. Was wär' ich denn noch, wenn mein Herz und ich – auseinandergingen, wenn mein Herz und ich – zwei würden. Was wär' ich dann noch? Nein, nein, ich nehm' die Strafe auf mich, jede Strafe, aber – bereuen, das, das kann ich nicht.«
Durch seinen Körper ging ein Zittern, eine krampfhafte Erschütterung, und mit einemmal stürzte er auf die Knie, umklammerte mich und seine Augen sahen mich wie ekstatisch, reglos, glänzend an. Sein Mund aber lächelte und er hauchte sanft: »Ach, Liebster, manchmal dünkt mich die Hölle selbst keine Strafe. Sollt' es nicht möglich sein, auch das ewige Feuer durch ein Lächeln der Liebe zu löschen? Wie schön war' es doch, selbst den Fürsten der Finsternis zum Frieden der Liebe emporzutragen.« Kaum hatte er ausgesprochen, da glitten seine Arme von mir ab und er sank ohnmächtig rücklings. Ich sah erst jetzt, wie fahl sein Gesicht war. Zum Glück trat in diesem Augenblick Frau Biets wieder ins Zimmer, denn ich selbst zitterte so heftig, daß ich mich kaum zu bewegen vermochte. Mit Hilfe der Alten aber trug ich den Freund zum Sofa, und als ihn die Frau mit Wasser benetzt, schlug er auch gleich die Augen wieder auf. » Keine Sorge,« flüsterte er, » das ist nichts, nichts.« Er wollte noch etwas sagen, doch ein heftiger Husten verschüttete seine Stimme. Als er sich wieder erholt, reichte er mir die Hand und murmelte: »Willst du lieb sein, so laß' mich jetzt allein. Ich bedarf – jetzt – des Gebets. Das macht mich wieder frisch.« Die Alte aber, die mich hinaus begleitete, wisperte mir zu: »Ach Gott! Ach Gott! Gleiw Se em nich. He is krank – up en Daud.«
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Tags darauf empfing ich einen Zettel: »Bester Freund. Ich fühle mich ein wenig unwohl. Aber es thut nichts; ich befinde mich in guter Pflege. Besuch' mich heute nicht, aber bald, bald! Es widerstrebt mir, dich als Kranker zu begrüßen. Du Gesundheitsprotz! Herzlich dein Vincenz.« – Die Worte der Alten hatten auf mir wie ein Alp gelastet; diese Zeilen aber erfrischten, beruhigten mich. Und ich tröstete mich selbst mit einem Spott auf alte Weiber, die in jedem Mondblink ein Gespenst sehen. Abends jedoch, als ich in meinem Zimmer vor dem Schreibtisch saß, meldete mir das Hausmädchen, eine Frau wolle zu mir. »Weibsbild,« fügte sie halblaut hinzu und zuckte mit den Schultern. Ahnungslos stand ich auf und bot der Hereintretenden einen Stuhl an. Von ihrem Gesicht sah ich fast nichts, da sie ein schwarzes Tuch breit um den Kopf geschlungen hatte, Sie setzte sich nicht, sagte aber auch kein Wort, und keuchte nur, wie von raschem Gehen matt.
»Nun!« fragt' ich nach einer Weile. Sie faltete die Hände und stieß heiser hervor: »Bitte, bitte – so spät abends – verzeihen – Bitte, ziehen Sie sich doch gleich an. Der Herr Vikar –« Mit einem Mal erkannt' ich sie – die Witthöferin. Und von plötzlicher Angst gepackt trat ich auf sie zu: »Was ist's? Was ist's mit dem Vikar?« »Sie möchten – zu ihm kommen – noch heute. Er möchte Abschied – von Ihnen –«, Bei jedem Wort biß sich das Mädchen in die Lippen, ihre Hände zitterten und mit einem wilden Schluchzen brach sie ab. Ich griff, ohne daß ich wußte, was ich that, nach Mantel und Hut und drängte das Mädchen vor mir her zur Thür. Da faßte sie jäh meine Arme, schüttelte sie und stammelte wie irr: »Abschied! sagt er. Er darf nich – darf nich. Komm – helfen Sie – Er darf nich – nur nicht todt –« Erst unterwegs ward sie ein wenig ruhiger. Ich sagte ihr, daß unmöglich die Krankheit so schnelle Fortschritte machen könne. Von Sterben könne keine Rede sein. Dankbar strich sie über meine Hand. Und dann erzählte sie mir, daß Vincenz den Abend vorher von neuem zusammengebrochen sei. Aber ins Bett wollte er nicht.
Und so fand ich ihn denn auch, als wir in seine Wohnung traten, halb aufrecht sitzend auf dem Sofa, Ich befühlte seine Stirn, sie war nur mäßig heiß. Aufatmend sagte ich deshalb: »Warum gehst du nicht zu Bett? Du hast zu viel gewacht, dich überarbeitet. Du bedarfst der Ruhe. Sicherlich, weiter ist es nichts.« Er aber zog mich zu sich herab und raunte mir zu: »Laß nur! Es geht zum Sterben. Eben erst war der Arzt hier. Nichts zu machen.« Und dann küßte er mich plötzlich auf die Stirn und mit einem Lächeln, das wie ein Jubel war, flüsterte er: »Nun sag', bin ich nicht ein Glückskind? Nun erspart mir mein Gott das Äußerste. Nicht vor den Menschen soll ich büßen, nur vor ihm.« Er hatte noch nicht ausgeredet, als das Mädchen vor ihm niederstürzte, seine Hand umpreßte und weinend stöhnte: »O nein, nein! nicht sterben! nur nicht sterben!« Er hob sich ein wenig in die Höhe und wie kichernd, halb ironisch sagte er: »Aber Kind, ich will ja nicht sterben. Ich will leben, so lang ich lebe. Es hat mich niemand gefragt, ob ich geboren sein wolle, und es fragt mich niemand, ob ich sterben will. Leben, leben – das war meine Sache. Und ich hab's ja auch redlich gethan. Geburt aber und Tod – ach, das ist meine Sache nicht.« Ernster fügte er dann hinzu: »Und was hast du denn? Warum soll ich denn nicht ster –«
Mit einem Aufschrei fiel sie ihm ins Wort: »Weil, weil – o Gott, mein Gott, weil ich so – elend bin. Und ich will's nich sein. Ich will nicht für immer von – weit von Ihnen sein. Ich will so werden – wie Sie. Nein nicht so – nur ein bißchen, ein bißchen.« Da, mit jähem Ruck richtete sich Vincenz ganz empor, er hob das Mädchen auf, umfaßte es und sah ihr forschend in die Augen, Sein Gesicht war wie verklärt, und klar und feierlich klang seine Stimme: »Klärchen! Klärchen! Du bist ja schon, was du sein willst. Halt dich nur dabei! Halt' dich! O Jesus! Jesus! War mir das vergönnt, eine, eine Seele frei zu machen, vom Staube frei, stark zum Ausflug, – o dann ist's genug. Dann, ja dann ist's gewiß, daß die Liebe der Atem ist, der Welt Atem und Licht. Wir fühlen sie nur nicht immer und überall. Unsere Herzen sind mit – Spinnweben umzogen. Aber dann und wann fällt ein Lichtstrahl durch die Verspinnung, und – jetzt seh' ich ihn, blitzend, golden. Kinder, jetzt laßt mich sterben. Wie wunderbar muß es sein, da – da, wo kein Netz mehr um die Herzen ist, jeder den andren durchschaut wie Glas, keiner mehr dem andren mißtraut, gram ist – –« Ein entsetzlicher Hustenanfall unterbrach ihn. Und lange Zeit lag er dann mit geschlossenen Augen da. In qualvollem Warten beugten wir beide, Klara und ich, uns über ihn. Endlich öffnete er die Augen wieder und er versuchte zu lächeln. Aber das Sprechen schien ihm zu schwer zu werden, er winkte nur mit der Hand nach den Stühlen hin. Wir setzten uns denn auch und bis tief in die Nacht hinein blieb ich bei ihm. Sein Mund schien verstummt, immer wieder jedoch drückte er uns beiden die Hand und lächelte uns an ... Zwei Tage später war er todt.
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Richard
Die Schlucht ging zu Ende. Und so plötzlich trat ich aus der Finsternis in sanfte Helle, daß es mir war, als glitte die Nacht wie ein Mantel von meinen Schultern. Und ich fühlte mich leicht und frei wie eins mit der Luft, die mich umfing. Voller Frührot war die Luft. Alle Dinge ringsum, den Fels, die Fichten, den Wassersturz umwand sie mit Rosenschleiern. Im Osten wallte der Himmel wie eine See von geschmolzenem Erz. Und aus der See stieg empor eine märchenhafte Lichtstadt von goldschimmernden Palästen, Minutenlang stand ich berückt, trunkenen Auges, regungslos. Endlich wandt' ich mich, um nach dem Weg zu spähen, der aus der Bergmulde in die Niederung führen sollte. Da – auf der Kuppe des Felsens erblickt' ich zwei Menschen, einen Mann, ein Weib, den Rücken mir zugewandt. Sich eng umschlungen haltend starrten sie in das Strahlengeblitz des siegenden Lichts. Mein Schritt aber in dem lockeren Steingeröll scheuchte sie aus ihrer Versunkenheit auf. Sie lugten herab zu mir, ich grüßte empor und ging fürbaß.
Da hört' ich hinter mir ein frisches Halt! Halt! Und als ich den Kopf drehte, sah ich den Mann in raschen Sätzen die Höhe herniedereilen. Langsam folgte ihm die Frau. Der Eilende winkte wiederholt und so ging ich ihm verwundert entgegen. Als er jedoch vor mir stand, keuchend, wortlos, erkannt' ich ihn. Und freudig stieß ich hervor: »Richard! Du!« Vor zwei Jahren hatten wir uns in St. Goar gefunden. Gemeinsam wanderten wir den Rhein entlang gen Worms. Und die Glut, die vom Himmel, aus grünen Römern, aus schwarzen Augen strahlte, schmolz unsere Seelen ineinander. Dann fuhr er weiter nach Süden, ich kehrte heim nach Berlin und hörte nichts mehr von ihm.
Jetzt endlich sah ich ihn wieder. Und er nahm meinen Arm und führte mich seiner Genossin zu. »Hier mein Poet, von dem ich dir erzählt – hier Frau Sita, meine Liebste.« Ich blickte die beiden an mit einer Empfindung, als starre ich noch in die Morgenglut. Ein schöneres Menschenpaar war mir auf all meinen Wegen nicht begegnet. Er – straff, braun, die Stirn von dem lockigen, dunkelblonden Haar wie von luftigen Schlänglein umringelt, die graublauen Augen leuchtend von Lebensbrunst und Schalkhaftigkeit. Sie – biegsam schlank, das schwarze Haar wie von blauem Duft überhaucht, in den großen dunklen Augen den Glanz heißen Verlangens und schwärmenden Träumens. Ein leichtes resedenes Kleid umschmiegte sie wie zartes Gewölk. Sie streckte mir die Hand entgegen, aber ich merkt' es kaum. Da schüttelte mich Richard und rief lachend: »Mensch, was machst du für ein Gesicht! Es ist dir wohl fürchterlich, daß wir dich ertappt haben. Aber das hilft dir nichts. Wir lassen dich nicht los. Du bist unser Gast.« Erstaunt fragt' ich: »Bist du denn hier daheim?« »Und wie, und wie daheim! Seit einem Jahr schon sind wir Menschen der Höhe, der Stille, der Einsamkeit, Darum vorwärts nach Bimini! Ein Sonnenaufgangswanderer wie du verdient göttliche Rast.«
Ich zauderte nicht lange, schloß mich an und durchquerte mit den beiden den dämmrigen Fichtenwald, dessen Grund wie ein niederer Urwald war von tau-nassen Blumen und Ranken, von Farren und Gräsern. Mit ein paar Worten erzählt' ich von meiner Reise, die mich bis hierher geführt. Und ich verhehlte nicht, daß mir der Titel Sonnenaufgangswanderer schlecht anstehe, denn allzu oft locke mich die Frühsonne nicht aus den Decken, »Wem sagst du das!« schluchzte Richard mit schauspielerischem Stöhnen, »Vor einigen Monden noch stritten wir uns, meine Liebste und ich, nicht ohne Erbitterung über die Frage, ob die Sonne überhaupt täglich neu geboren werde. Seit ein paar Tagen aber treiben wir Licht- und Wolkenstudien. Und morgens wie abends Vergnügen wir uns ehrfürchtiglich an den brennenden Wundern, die Freund Sol auf's Firmament spachtelt. Ach! er versteht's, der Kunstjubelgreis! So ärmlich im Grunde sein Farbenorchester ist. Aber das flötet in Gelb, das jauchzt in Gold, das girrt in Orange! Und die Bläue schalmeit, das Rot stößt ins Horn, und das Lila schluchzt schämig auf der Oboe und lockt dann sehnsuchtslüstern, wollustzitternd mit der Klarinette. Und darüber hinweg rast das bakchische Tamtam des Karmoisin, wie eine Weltuntergangsfuge grollt es aus dem Violett und schon bricht die Götterdämmerung herein: mit schrillem Wehlaut erlischt das Konzert im fahlbraunen Aismoll.«
Der Freund war stehen geblieben und den Kopf emporgeworfen strich und malte er mit beiden Händen durch die Luft. Dann atmete er tief auf und rief halb spöttisch, halb feierlich: »Ja, so ist's! Das schildern, das bloß schildern wollen, heißt schon auf's Pfuschen sich verlegen. Nachmachen wollen ist einfach Wahnsinn. Wenn ich Maler wär', ich ließ 's Malen sein.« Frau Sita bückte sich, brach eine Lichtnelke und steckte sie dem Freunde ins Knopfloch. Dabei wandte sie ihr Gesicht mir zu und sagte lächelnd: »Das zielt auf mich. Auf meine Staffelei, die nur noch mit Morgen und Abendroten prunkt. Zum Besingen sind sie freilich nicht. Aber die Sonne hat's leicht, genial zu sein. Ihr Werk ist sie selbst. In ihren Farben verblutet sie sich selbst. Sie braucht keinen Pinsel als Vermittler,« Frau Sita sprach fließend, aber mit fremdartigem Tonfall. Richard umfaßte die Zarte und wirbelte sie übermütig ein Paarmal herum. Dann küßte er ihr die Hand und sagte: »Recht, Liebste! Im Blutigen ist euch Malern die Sonne über. Dafür habt ihr das prae im Geistigen. Eure Kraft ist Einseitigkeit, die ihre ist Allseitigkeit. Die Kunst führt, die Natur erfüllt. Mit allen Sinnen zugleich eine Stimmung auskosten, sie hören, sehen, schmecken, riechen, das kann ich nur in der Natur. Nur, wenn sie ihn malt, ist der Lichtaufgang noch mehr als ein Farbengeflamm' –, ein Duft, ein Flöten- und Cymbelnklang, rinnender Wein, Andacht, Liebesbrunst. Aber deine Kunst hat auch ihre Vorzüge. Nur weiß ich sie jetzt nicht, denn hier draußen läßt die Natur, die Tyrannin, nichts neben sich gelten.« Plötzlich drehte er sich zu mir und rief mir zu: »Bitte, schließ' mal die Augen! Ich will dich führen.«
Gehorsam macht' ich mich blind und er leitete mich an der Hand vorwärts. Nur eine Weile. Dann hieß es »Augen los!« Und in fröhlicher Überraschung schrie ich hellauf. Wir waren aus dem Walde hinausgetreten. Vor uns erhob sich ein mit Busch- und Strauchwerk übergrünter Hügel, Ein Quell plätscherte singend zu Thal. Am Fuß des Hügels, durch einen Garten von ihm geschieden, streckte sich in langer Front ein einstöckiges Holzhaus, Die weißgestrichenen Wände blinkten nur hier und da durch blühendes Geschling von Ranken und Reben. Rings um das Haus zog sich eine Hecke von wilden Rosen. So erquickend licht und frisch, war der Anblick, daß ich kein Wort fand, mein Empfinden auszudrücken und nur etwas Banales stammelte von Märchenzauber und Feenheim. »Ja! Ja!« rief Richard, er selbst freudig erregt. Hier ist in Wahrheit Märchenland. Hier fließt der Jungbrunnen, den draußen die Ponce de Leons vergeblich suchen. Uns ist Bimini keine Fabel mehr. Seit ich hier hause, leb' ich erst. Früher hatt' ich nur Lebensahnungen. Und Sita geht es wie mir ... »Ich verstand das und fühlt' es ihnen nach, als wir durch die Heckenpforte, zwischen bunt glühenden Beeten hindurch dem Hause zuschritten. Mit tiefen Atemzügen sog ich den Duft, die würzige Luft in mich ein.
Frau Sita ließ uns allein, als wir in Richards Zimmer getreten waren. Die Wände waren dunkelrot gemalt. Nirgends Luxus, doch überall Kunst. Über dem Schreibtisch leuchtete die Kopie einer Landschaft Giorgiones. Gegenüber starrte von der Wand die Medusa Rondanini; darunter schimmerte Böcklins Insel der Seligen. Richard entriß mich meiner Versunkenheit. »Die Kunst thut's nicht allein. Sieh her, wir haben auch noch für andere Dinge Zeit und Eifer.« Er öffnete eine Thür und zeigte mir seine Werkstatt, ein weites Zimmer, von Retorten und kleinen Maschinen, von Apparaten und allerlei Handwerkszeug fast ausgefüllt. »Wenn wir das nicht hätten,« erklärte der Freund, »würden wir doch Wohl zuweilen schon an der Zwei-Einsamkeit erkrankt sein. Abwechslung aber, Allseitigkeit in Genuß und genußvoller Thätigkeit hält uns fröhlich und frisch, daß wir beständig Maiensonne in Haus und Herz behalten. Heut' Askese und morgen Rausch, heute Schweiß und morgen far niente; eine Stunde studieren, erfinden, schnitzeln, ackern, und eine Stunde küssen, plaudern, schwärmen, spielen – das ist unsere Losung. Freilich, Meister in der Allseitigkeit sind wir noch nicht. Nach und nach aber wollen wir's dahin bringen, daß wir keinen Dritten mehr gebrauchen. Höchstens als Freund, nicht als Bedürfnis, Gehen muß das. War nicht früher einmal ein jeder sein eigener Schuster, Schneider, Bäcker und Kornlieferant? Da konnte man ein Kerl sein, jeder ein Herrscher, ein Einzelmensch. Vorausgesetzt, daß man geistig dazu fähig war, sich seiner Individualität bewußt war. Das fehlte allerdings. Jetzt haben wir den Geist, das Bewußtsein, und doch sind wir jetzt einer Sklave des andern und alle Sklaven der Arbeitsteilung. Das Mittel, uns frei zu machen, wüßt' ich freilich schon. Die Maschine. Bin ich erst von einer Sklavenschar von Maschinen umringt, dann bin ich eine Welt für mich und die ganze andere Welt« –
In diesem Augenblick trat Frau Sita ein und lud uns zum Frühstück. Auf der Veranda war der Tisch gedeckt. Und das saftige Behagen, das durch das ganze Haus verbreitet lag, ging auch von diesem Tische aus. In krystallenen Schalen lockendes Obst, Äpfel, frische Feigen, Bananen. Auf zierlichen Tellern Brot von allerlei Art, blütengelbe Butter, Eier und Käse. Geschliffene Flaschen mit Fruchtsäften, Milch und Honig bildeten den farbenfrohen Hof rings um einen Aufsatz, der mit Wald- und Gartenblumen prunkte. Frau Sita wies mir einen Platz an und sagte: »Gästen gegenüber bedarf ich der Entschuldigung. Mit Fleischernem sind wir nicht versehen. Das kommt nie« – »Nicht nötig! Nicht nötig!« fuhr Richard dazwischen. »Diesmal brauchen wir uns gegen sanftes Gespött nicht zu rüsten. Unser Freund ist selbst kein Leichenvertilger. Ich erinnere mich noch, wie er in Bingen am Gasthofstisch einer ältlichen Maid die Mahlzeit verdarb. Sie hatte gerad in der Zeitung von den köstlichen Mahlzeiten der Niam-Niam gelesen. Und nach jedem Löffel Suppe sprühte sie mit Entrüstung über die vertierten Kannibalen um sich. Endlich ward es unsrem Freunde der Glut zu viel. Und er bemerkte in zartestem Ton: Ich verstehe nicht, mein Fräulein, was Sie gegen die braven Menschenfresser derart in Grimm setzt. So ein Niam-Niam ißt seine Feinde, und wir, – dabei deutete der Schlingel auf die Brathühner, die den Tisch zierten, – wir Kinder der Kultur essen unsre Freunde. Ich geb' zu, daß ein Feind schwerer im Magen liegt, als ein Freund, aber zu sittlicher Entrüstung reicht denn doch der Unterschied nicht aus ... War's nicht so mein Junge?«
Ich nickte schämig lächelnd und griff zu und schmauste. Zu dem Frühstück erschienen auch die Hausgehilfen, ein junges Mädchen und ein Gärtner. Sie saßen zwanglos mit am Tisch und beteiligten sich auch am Gespräch durch diese und jene Frage. Mir selbst schwirrten noch immer die Worte im Kopf von dem Einzelnen und der Arbeitsteilung. Und ich enthielt mich nicht, etwas ironisch zu bemerken: »Lieber Kerl, du brauchst nur an dem Tisch hier Umschau zu halten, und du wirst finden, daß es doch für den Einzelnen sehr schwer sein wird, dies alles, diese Schalen samt Inhalt selbst herzustellen. Noch schlimmer aber, wenn du einmal vom Fleck weg und in die Welt hinaus willst. Eine Eisenbahn, ein Schiff ohne Arbeitsteilung zusammenzuhämmern, das ist auch für dich mit deinem ganzen Sklavenheer ein Unding.« Richard war sofort mit der Erwiderung bei der Hand. »Das sieht nach einem Einwand aus, ist aber gar keiner. Erstens hab' ich nicht gemeint, daß ich heute schon ohne einen Dritten fertig werden kann. Dazu bin ich noch nicht weit genug weder als Wissender, noch als Könner. Zweitens erfordert es mein Behagen durchaus nicht, daß ich gerade das, was hier auf dem Tische prangt, stets zur Verfügung habe. Ähnlich Hübsches aber für Aug' und Magen getrau ich mir denn doch in nicht zu ferner Zukunft selbst zu erzeugen und zu erpflanzen. Und drittens wird auch für Schiff und Bahn ein Ersatz zu finden sein. Die Lokomotive, dies Untier, ist das Verkehrsmittel der Kapitalzeit, der sozialen Massenbewegung. In den Tagen, wo das selbstherrschende Individuum den menschlichen Typus bilden wird, wird es sicherlich auch ein individuelles Verkehrsmittel besitzen, Flügel oder sonst ein Flugwerkzeug.« Ich erklärte mich für geschlagen und gab dem Freunde Recht.
Nach dem Frühstück forderte er mich auf, mit ihm in den Garten zu gehen. Und ich erfreute mich an der Fülle und Mannigfaltigkeit, die auf kleinem Raum vereinigt war. Zwischen Obstbäumen breiteten sich Gemüsebeete hin, die von saftigem Gewächs glänzten. Beerensträucher umrahmten die Beete und Zierpflanzen bildeten lauschige Ecken. Fast erregt drückte ich Richard die Hand und sagte: »Du Sonniger! Was ich ersehne, du hast es bereits. Da quälen wir draußen uns mit der sozialen Frage herum, die doch auch nur bezweckt, aus jedem ein Selbst für sich zu machen. Und hier ist die einfache Lösung der Frage.« »Lösung und einfach! Ja für mich!« erwiderte er lächelnd. Seine Augen aber blickten ernst, in die Ferne hinaus. »Um das zu sein, was ich bin, dazu gehört Geld, von den Vätern zusammengerafft. Und es gehört wohl auch dazu, um unbescheiden zu reden, ein Maß von Einsicht, von Einsicht, die den Lebensgenuß nicht nach geleerten Sektgläsern mißt. Das Geld mag sich dann und wann ein Dutzendmensch im harten Kampf erringen, aber je härter er kämpft, desto weiter entfernt er sich von der Weisheit. Für die Masse giebt es nur einen Weg zur Individualität, den Massenkrieg gegen die Zustände, die unter Tausenden einen Einzelnen wie mich begünstigen. Nur durch rücksichtslosen Krieg wird sie sich die wirtschaftliche Unabhängigkeit erringen, die mir bereits in der Wiege beschert war. Die Unabhängigkeit ist das erste, die Weisheit das zweite, die vollendete Individualität das letzte. Und ein absoluter Einzelner ist heut noch gar nicht möglich. So lange nicht alle frei sind, schwebt auch meine eigene Freiheit in der Luft. Samen im Winde. Subjektiv ist sie vollkommen, objektiv aber bedingt und beschränkt.«
In diesem Augenblick trat der Gärtner zu uns heran, Richard gab ihm einige Anweisungen und griff dann selbst zur Schaufel, um ein Beet, das neubepflanzt werden sollte, umzuackern. Eine Zeitlang schien er nur mit Händen und Füßen thätig zu sein. Nach einer Weile aber richtete er mehrmals seine Augen auf mich und sah mich seltsam forschend an. Und plötzlich warf er seine Schaufel hin, schlang seinen Arm in den meinen und ging mit mir durch den Garten auf und ab. Offenbar wollt' er sprechen, fand aber nicht gleich den rechten Eingang. Endlich stieß er halblaut hervor, doch ohne jede Erregung: »Dir kann ich's erzählen. Ja ich will's. Nicht um dich zu unterhalten. Bild' dir nichts ein. Aus krassem Egoismus. Dergleichen Dinge muß ich erzählen, einfach, um sie zu vergessen. Ich hab' das erprobt. Und wie man lernen muß, so muß man auch vergessen können, wenn man wahrhaft leben will. Aber was schwatz' ich? Statt zu erzählen! Hör' zu! Ich will's kurz machen: Sita, – ich hab' mir Sita durch einen Mord erobert, einen Mord.« Unwillkürlich riß ich mich von ihm los und sah ihn fragend an. Natürlich scherzte er. Und da er laut auflachte, mein verdutztes Gesicht streichelnd, so lacht' ich mit ihm und brummte: »Ein Mord! Sehr wahrscheinlich. Vielleicht hast du sie im Mittagssonnenschein von einer Fliege befreit. Und zum Dank –« »Nein, Herr Poet. Eine Fliege war's nicht. Übrigens mach' ich keinen Unterschied zwischen Leben und Leben. Auch nur eine Fliege ermordet zu haben, würde mich quälen, wenn es sinn- und zwecklos geschehen wäre. Aber hier handelt es sich um ein Wesen wie du und ich. Ich hab' einen Menschen getötet. Und es quält mich durchaus nicht. Nein, Qual, oder Reue, oder Gewissensbisse oder was sonst die Leute aus Angst und Feigheit sich zusammengebraut haben, – von all dem weiß ich nichts. Die Sache hatte eben Zweck und Sinn, sie war eine Notwendigkeit – für mich. Nur wie ein Windschatten streift manchmal die Erinnerung über meine Gedanken hin, über mein Denken, nicht mein Empfinden, Und selbst die will ich heut los werden. Was soll ich mit ihr? Ich weiß nichts mit ihr anzufangen ... Wie es dazu kam? Ja, viel Seltsames war nicht dabei.
Du weißt, als wir uns damals vor zwei Jahren in Worms trennten, fuhr ich in die Schweiz hinein. Acht Tage blieb ich in Zürich. Im Gasthof lernt' ich einen Signor Nesso kennen, einen Tessiner. Er hing sich an mich an, weil ich sein Italienisch verstand, und war nicht abzuschütteln. Ein Kerl von Pappe. Äußerlich glatt, innerlich struppig. Voll Bosheit, aber nicht eigentlich gemein. Um schurkisch zu sein, dazu war er viel zu oberflächlich. Ohne Geist, ohne Empfindung. Er hatte für nichts Sinn, als für Klatsch, Sport und guten Wein. Aber sein Klatsch unterhielt mich. Ich fühlte mich damals etwas leer, unbefriedigt, gesellschaftsbedürftig. Eines Abends bewahrt' ich den Signor vor einer Tracht Prügel. Bauernknechte, die er durch einige seiner frechen Bemerkungen vor den Kopf gestoßen, hatten ihn schon unter den Fäusten. Zum Dank lud er mich ein, mit ihm auf seine Besitzung zu fahren. In der Stimmung, die mich beherrschte, willigte ich gern ein. Und so fuhren wir los, durch den Gotthard hin. In Lugano setzten wir uns zu Pferd und erreichten nach einigen Stunden das Gut. Sehr hübsch, aber sehr verwahrlost. Tabakpflanzungen, Weingärten, Park, Wald, es fehlte an nichts, nur an Aufsicht. Am Abend führte mich Nesso zu seiner Frau ... Sita stand vor mir. Und als ich spät in der Nacht von ihr auf mein Zimmer ging, da schrie und schluchzte und lacht' ich vor toller Herzenserregung. Was wir an dem Abend geredet, gespielt, gelesen haben, davon weiß ich und wußt' ich auch damals nichts. Aber ich wußte, daß sie es war, die ich stets gesucht, geträumt und im Traum umschlungen hatte. In allen Empfindungen, allen Sehnsuchten, allen Gedanken waren wir eins. Und ihre Augen, ihre zitternde Hand hatten es mir gesagt, daß auch über sie das Einsgefühl wie ein Wirbelsturm hereingebrochen war. Ich hab' es nie begriffen, daß Liebe zwei Gegensätze verbinden soll. Nein, eins sein wie Hall und Widerhall, das ist das Glück. Ich hab' es geahnt und heute weiß ich's. Aber was kümmern dich meine Empfindungen! Kurz und gut, schon am Tage drauf bekannten wir uns, was in uns blühte und glühte. Und unter wilden Küssen stöhnt ich in einem fort: »Ich lass' dich ihm nicht. Lass' dich ihm nicht. Du bist mein, einzig mein für immer, für immer.«
Inzwischen ging Nesso auf die Jagd. Ahnungslos. Er hatte gar kein Gefühl dafür, daß er ein lebendiges Gut besaß, des stehlens, des raubens wert. Sie war ihm gleichgiltiger als das Huhn, nach dem er schoß. Ja, manchmal zuckte es aus seinen Worten und Mienen wie Haß, kalter, leidenschaftsloser Haß. Und zwar immer dann, wenn ihm ihre Überlegenheit – nicht bewußt, aber doch merkbar wurde. Natürlich war das nicht von Anfang an so gewesen. Er hatte sie zu lieben geglaubt, oder sich doch in sie vergafft, so lang' er sie nicht kannte. Aber sie waren noch nicht acht Tage verheiratet, da hatte sich schon wie über Nacht die unsichtbare Mauer zwischen ihnen aufgebaut. Und sein Haß machte mich keck. Ohne Umschweife forderte ich eines Morgens von ihm, Sita freizugeben. Er verliere mit ihr nur eine Last, einen Alb, eine Wolke in der heitren Luft seines Daseins. Er hörte mich ruhig an, schnalzte einige Mal und lächelte höhnisch. Dann bog er sich vor, lauernden Gesichts, und flüsterte: »Gut! Gut! Signor Riccardo, Euer Wunsch ist mir Befehl! Selbstverständlich! Nur eins noch! Sie – Sie – liebt Euch? Nicht wahr? Sie hat's Euch gesagt – ist's so? Sie steckt hinter Euch – sie will fort? Sprecht, gesteht's!« Ich starrte ihn etwas spöttisch an und zuckte mit den Achseln. Da – mit einem Ruck erhob er sich, klatschte in die Hände und kreischte: »Täubchen! Täubchen! Jetzt hab ich dich! So wollt' ich's. Fest an der Kette – an der Kette! Flieg doch, Teufelin! Zu! Zu!« Und plötzlich sprang er seitwärts, griff nach einem Revolver, der auf dem Tisch lag, zielte auf mich und rief mit theatralischem Pathos: »Eins! Zwei! Drei! Signor. Treff' ich Sie nach zehn Minuten noch in meinem Hause, dann schieß' ich Sie über den Haufen wie einen – einen lahmen Hengst!«
Ich drehte ihm kurzweg den Rücken und ging. In einem nahgelegenen Bauernhof fand ich Unterkunft. Kaum war das abgemacht, eilt' ich nach Lugano, mietete zwei Pferde und ritt wieder dem Gute zu. Der trübe Herbsttag stimmte mich nichts weniger als wehmütig und weich. Ich fühlte eine kalte Entschlossenheit in mir, auch vor dem Äußersten nicht zurückzuschrecken. Und trotzig lacht' ich in den frostigen Wind hinein, der mir entgegenschlug. Einen Revolver hatte ich zu mir gesteckt. Trat er noch einmal zwischen sie und mich – dann hinweg mit ihm! Sein Leben oder das meine. Eine andere Wahl sah ich nicht mehr. Ohne dies Weib könnt' ich nicht mehr sein. Die Stunden, die ich von ihr getrennt war, waren mir wie eine unendliche Leere, in der ich mir selbst wie ein Nichts, ohne Gefühl, ohne Bewußtsein, vorkam. Und deshalb durft' ich auch nicht zaudern. Ich wußte, daß er des Abends auf die Jagd ging. Ehe er zurückkam und Sita vermißte, würd' ich mit ihr in Lugano sein.
Als ich das Gut vor mir sah, stieg ich ab und band die Pferde in der Nähe des Parkes an einen Baum. Dann schritt ich dem Park zu. Aber, o Gott, das Thor war geschlossen! Die Mauer fast unübersteiglich. Und hinter der Mauer hört' ich Schritte; ich merkte, daß Nesso auf der Wacht war. Zu weiterem Überlegen kam ich nicht. Der Sturm toste immer wütender und eisiger, er warf solche Regenmassen zu Boden, vor sich her, daß ich in wenigen Minuten zerpeitscht, zerschunden, überschwemmt war. Es blieb mir nichts übrig, als auf den Bauernhof zurückzukehren. Dort stellt ich auch die Pferde ein.
Die Nacht, die ich durchwachte, war entsetzlich, todeswahnsinnsschaurig. Sehnsucht nach ihr, wilde Angst um sie, ein immerwährendes Aufbäumen gegen den Mordgedanken, und wenn dies Äußerste nicht – was dann? Nein, toten könnt' ich nicht, ich, der ich zitterte vor Pein, als mir einst ein Fisch an die Angel geriet und vor mir zappelte. Was nutzte mir auch ein Mord? Aber wenn das nicht – was half mir sonst? Sinnlos rannt' ich im Zimmer auf und ab. Mein Kopf war lahm, taub, irr. Ich ballte die Fäuste gegen den pfauchenden Sturm. Das Fenstergeklirr klang mir wie ein Gesang von Rasenden, hohnvoll kreischend. Als ich zufällig in den Spiegel blickte, war ich mir wie ein Fremder, ein Toter. Gegen Morgen endlich fiel ich halb ohnmächtig aufs Bett und schlief bis in den Mittag hinein.
Als ich erwachte, dacht' ich an die Nacht zurück wie an eine ferne, traumgewordene Vergangenheit. Vom Himmel blitzte die Sonne und ich selbst fühlte mich licht und frei, als ob der Kampf schon siegreich beendet sei. Ich lächelte über meine Mordlust. Wie konnt' ich nur an meinem Glück verzweifeln! Es mußte ja alles gut werden. Zwischen ihm und mir gab's für das Schicksal keine Wahl. Er hinab, ich empor, er in die Nacht, ich ins Licht. Das war unsere Bestimmung, – so mußte es kommen. Über das Wie zerbrach ich mir nicht den Kopf. Das war nicht meine Sache. Es würde sich finden, von selbst, wie sich stets mein Glück gefunden hatte, ohne mein Zuthun.
Nur ein Empfinden brannte in mir, die Sehnsucht nach ihr, ich mußte sie sehen, sie sprechen. Und so macht' ich mich fertig wie zu einem Besuch, aß und trank mit viel Behagen und trat dann auf die Landstraße hinaus.
Vielleicht konnt' ich auf einem Umweg an das Haus gelangen. Durch den Wald. Die Pfade waren mir nicht unbekannt, da ich Nesso ein paarmal auf seinen Jagdstreifereien begleitet hatte. Der Bewegung halber, nicht um zu schießen. Eine Strecke lang fand ich mich denn auch im Walde zurecht. Aber bald irrt' ich vom rechten Wege ab. Mehrere Gewässer waren breit angeschwollen, ich mußte sie mühsam umgehen. Dadurch geriet ich in die Berge und erst nach stundenlangem Schweifen kam ich wieder an eine Stelle, die mir bekannt schien.
Dieses sumpfige Bruch hatt' ich schon einmal gesehen. Gewiß! Hier war es, wo Nesso seinen Anstand hatte auf Wildenten. Sollt' ich ihn erwarten? Es dämmerte schon, das Grau des Abends senkte sich tiefer und tiefer. Möglicherweise kam er – er, er. Und dann. – Ja, dann. – Was sollt ich mit ihm! Ihn sucht' ich ja heute nicht. Um so besser für mich, wenn er das Haus verlassen hatte.
Und so schritt ich vorwärts, wieder dem Walde zu. Eh' ich ihn erreichte, stieß ich auf den hölzernen Steg, der über einen Gießbach führte. Der Bach, sonst so zahm, gurgelte und schäumte und schnaubte im Gestein, wie ein reißend Tier, das über seiner Beute liegt. Vorsichtig erklomm ich den Steg und tastete mich am Geländer hin. Mit einemmal blieb ich wie gelähmt stehn. Die Brücke schwankte gleich einem Seil im Wind. Jeden Augenblick konnte sie zusammenbrechen. Erst nach einer Weile wagt' ich mich wieder vorwärts. Aber von neuem hielt ich taumelnd an, – ein Brett löste sich unter meinen Füßen und platschte ins Wasser. Fast verlor ich das Gleichgewicht. Und da ich sah, daß der Steg zu Ende ging, so besann ich mich nicht lange und sprang mit jäher Kraftanstrengung aufs Land hinüber. Der Stoß erschütterte das Holzwerk derart, daß mehrere Balken dem Brette nachfolgten. Ich schüttelte mich, es überlief mich ein Frosthauch. Und ich mußte mehrmals tief Atem holen, eh' ich weiter gehen konnte.
Die Holzschneise, die ich jetzt entlang schritt, war mir bekannt; sie lief geradewegs dem Parke zu. Eine Viertelstunde lang durchmaß ich schon den fahldunklen Wald, da hört' ich Schritte – mir entgegen. Unwillkürlich trat ich zur Seite ins Gebüsch. Und wirklich – er war's. Ich sah ihn nicht, aber er rief seinen Hund an, der mich witternd stehen geblieben war. Der Hund folgte dem Ruf und bald war das Paar meinem Hörkreis entschwunden. Ich lachte hell auf und trat auf den Weg zurück.
Da – plötzlich durchzuckte es mich: wenn er die Brücke beschritt, ahnungslos, dann war er verloren. Und einen Augenblick trieb es mich, ihm nachzueilen, ihn zu warnen. Aber nur einen Augenblick. Dann wurde der Trieb von einem Wirbel von Empfindungen übertäubt. Nur zu! – ich glaube, ich knirscht' es laut vor mich hin – nur zu! Das ist die Entscheidung. Nun sind wir beide in des Schicksals Hand. Jetzt tritt die eherne Notwendigkeit, jetzt tritt sie einmal aus ihrem Dunkel heraus, offen auf den Plan, – die Notwendigkeit alles Geschehens. Mag sie das Schwert erheben – für mich – gegen mich! Was geht mich das Leben dieses Mannes an! Ein Felsblock mir im Wege! Weiter nichts. Ich kann ihn nicht beseitigen. Aber ich juble, wenn ihn der Anprall einer stärkeren Kraft zertrümmert. Und ich reckte mich hoch auf, wie triumphierend.
Nur eine Angst quälte mich: wenn die Brücke zusammengestürzt war, eh' er sie betrat! Wenn sie ihn noch trug! Wenn er rechtzeitig gemerkt, wie morsch sie war! Mit allen Sinnen horchte, starrt' ich in die Nacht hinein. Mein Empfinden preßte sich zusammen wie in ein Gebet – ein Gebet um Vernichtung. Das war Mord – ich empfand es. Aber ein Mord, der keinen Ankläger fand, nicht einmal in mir selbst. Er oder ich! Seine Dumpfheit oder meine Seligkeit! Tötet, tötet ihn, ewige Mächte!
Plötzlich schrak ich auf. War das nicht ein Ruf – wimmerndes Hundegebell? Nein, nein! Ich täuschte mich. Kein Laut war zu vernehmen. Die Spannung aber in mir hatte sich gelöst. Und ich schritt weiter, ohne zurückzusehn. Ich summte eine Melodie vor mich hin, die mir unversehens in den Sinn kam. Ich suchte die Worte dazu, fand sie aber nicht gleich. Wie war es doch? Ach, richtig! Das war's: »Edward, wie ist dein Schwert so rot! Edward.« Aber das Rot hatte nichts Schreckhaftes für mich. Ich sah es vor mir glänzen – lichter und lichter, den Himmel umspannen wie ein schimmerndes Hochzeitskleid. Ich ging zu ihr ... Am anderen Tage erfuhr ich, daß Nessos Leiche unweit Lugano ans Land getrieben sei. Eine Stimme in mir klang: Gut so! ... Weiter empfand ich nichts« ...
Richard schwieg. Stumm sah ich ihn an. Und wahrlich, dieses Lächeln, diese Augen verrieten nichts von Schuldgefühl. Und in dem Augenblick durchzuckte mich der Gedanke: Das Seltsame ist eigentlich, daß er in dem Vorgang einen Mord sieht. Für sein Empfinden ist es freilich auch einer. Der Philister würde in der Sache nichts sonderlich Erregendes finden, höchstens in dem Ehebruch, der aber für Richard nichts bedeutet ... Ich wollte den Gedanken aussprechen, – aber da faßte er meine Hand und sagte: »Komm! Die Geschichte ist abgemacht. Dein Urteil brauch' ich nicht. Das ist ja das Zeichen wahrer Menschlichkeit, daß ein jeder von uns alle Entscheidung in sich selber trägt, in sich selber sein Gesetz, sein Gericht – Kritik und Anerkennung, Schande und Ehre nur von sich selbst nimmt.« Aber das eine fragt' ich doch noch: »Weiß sie darum?« »Erzählt wie dir hab' ich's ihr nicht. Angedeutet gewiß. Sie bedarf keiner Schonung. Sie ist stark. Stark, wie ich.« Schweigend gingen wir dem Hause zu. Beim Mittagessen war Richard ausgelassen heiter. Mehrfach scherzte er über den Tod, den Spaßmacher, der das Leben pathetisch bedrohe und es nur immer herrlicher neu schaffe. Nur den Rost in uns kratzt er fort, das Leben in uns bleibt. Leben wir lächelnd, als wäre er nicht, denn die Furcht fördert den Rost! Und die Operation wird dadurch schwieriger. Meldet er sich dereinst, so laßt uns ihn begrüßen, wie den Arzt, ein wenig zitternd vor dem Skalpell, aber voll Sehnsucht nach der Heilung!
Den Nachmittag verbrachten wir mit Ballspiel. Am Abend aber saßen wir zu drei in der Laube. Über uns breitete ein Nußbaum sein Laubgefieder. Immer beredter machte uns der Wein. Wir sprachen über die Frage, was das höchste Glück sei. Und jeder fand vier und fünf Antworten. Einssein in Liebe, Einssein mit der Natur, pantheistisches Allgefühl, unbedingte Unabhängigkeit, Freiheit von der Alltäglichkeit, von den Vorurteilen der Masse, dem Druck des Unwissens, mystischer Rausch, Askese – das alles schwirrte fröhlich durcheinander. Wie verzaubert aber verstummten wir mit einemmal zugleich.
Durch die Blätter und Zweige nieder rann Mondesglanz. Weißglimmende Lichtblüten streute er auf Tisch und Boden. Die Gläser blinkten und glitzerten, als sprühe der Wein in Funken empor. Sitas Antlitz verklärte sich in dem Glanz zu mystischer Schönheit. Träumend starrte ich sie an.
Da sprang Richard auf und flüsterte: »Sita! das ist eine Stunde zum Singen. Ich hole die Laute.« Sie nickte. Bald war er zurück und sie nahm die Laute und präludierte. Eine heiße, wildfahrige, sinnliche Weise, tarantellagleich, die aber fast unvermittelt in eine mildere, jubelnd feierliche Melodie überging. Weich und doch klangvoll klang es dann von den Lippen der schönen Frau:
Wie von goldnen, wie von goldnen Harfensaiten
Klingt mein Lied zu dir.
Deine Flügel, deine Flügel sollst du breiten,
Schwing' dich auf mit mir.
Laß dich tragen, laß dich tragen
In das maiengrüne Land,
Wo in weißen Blütenhagen
Goldne Liebestempel ragen,
Myrthenlaubumspannt.
Deine Wunden, deine Schmerzen
Lischen wie ein Hauch,
Knospend sprießen dir im Herzen
Seligkeiten auf.
Menschen siehst du feiernd wallen
In den lichtdurchgrünten Hallen,
Die wie Götter sind.
Liebend werden sie umfangen
Dich, der Sonne Kind.
Alle Sehnsucht ist vergangen –
Alles ist erfüllt;
Nur ein einziges Verlangen
Fühlt sich nie gestillt.
Laß dich locken in das maien –
In das maiengrüne Land,
Der du jenen Schönen, Freien
Brüderlich verwandt.
Komm, mit jenen Schönen, Freien
An dem ew'gen Quell zu ruhn –
Laß dich tragen in das Maien –
Maienland von Avalun.
Wie ein süßer Duft verann das Lied in den Lüften, lichtgleich entschwebten die Töne fern und ferner. Nach einer Weile hob Richard das Glas und rief: »Stoßt an, ihr Schönen, Freien, daß die Menschheit, daß unsere Brüder alle den Weg finden ins Maienland! Nur wenn alle frei geworden der Schönheit leben und der Freude, erst dann ist die Erde das Reich des Lichts. So lang noch einer unter dem Joche stöhnt, zittert seine Qual in uns nach, und wir andern sind noch nicht ganz Kinder des Lichts. Aber kommen wird der Tag. Dessen sind wir Zeugen und Boten, wir, wir. Er wird kommen. Ihm dieses Glas! Avalun! Aval!«