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7.

Für die große schriftliche Arbeit glaubte Richard bürgen zu können, aber wie die Klausuren ausgegangen waren, das mochte der liebe Herrgott wissen. Vor dem Mündlichen war ihm schon wieder weniger bange, denn auf sein Mundwerk konnte er sich verlassen. Wenn ihm die gewißlich verbogenen Klausuren noch eine Möglichkeit ließen, so war es gut, aber zweifelhaft schien ihm der ganze Rummel auf alle Fälle. Eleonore lachte sich krank über ihn.

»Das kann ich Ihnen sagen«, versicherte sie ihm, »wenn ich meinem alten Herrn einen Ton von Ihnen erwähne, dann kann er Sie schon nicht leiden und läßt Sie durchfallen. Was wollen Sie außerdem in Gohlungen, bevor ich dort bin?« Es machte ihr Spaß, ihren Verehrer zappeln zu lassen.

So ein Examen war eine furchtbare Geschichte. Andere verschwiegen wie die Trappistenmönche sorgsam den Termin, Richard hatte unvorsichtigerweise zu allen Bekannten vom Tage des Schreckens gesprochen. Nun wollte Else Rosenbaum am Vorabend seinen Frack begutachten, und der Justizrat hielt noch schnell ein Rigorosum mit ihm ab. Es fiel befriedigend aus.

»Was machen wir jetzt mit Ihnen? Wenn wir Sie jetzt nach Hause gehen lassen, fallen Sie den bösen Buben in die Hände. Wenn wir Sie lange zurückhalten, haben Sie bis morgen nicht ausgeschlafen.« Man beschloß, daß Richard bis zehn bei Rosenbaums bleiben sollte, dann brachte ihn der Justizrat selbst in die Knochenstraße und wartete noch eine Weile vor der Tür, bis oben in der Bude das Licht anging. Richard war von einer erschütternden Artigkeit. Gleich nach dem Examen am nächsten Tag sollte er zu Rosenbaums kommen. »Wir warten bestimmt mit dem Essen auf Sie.«

Aber man wartete vergebens. Die Uhr ging auf zwei, auf drei, und der Examinand erschien nicht Der Justizrat ging in eigener Person ins Schloß zum Oberlandesgericht Der Prüfungssaal war längst geschlossen. Darauf aß man mit Unbehagen die köstlichen Gerichte, die zur Feier oder zum Trost bestellt waren, und schwebte in tausend Ängsten. Else Rosenbaum ging schließlich zu Eleonore, um von ihr Auskunft zu holen. Eleonore war wütend über Richards Verhalten. Sie wußte schon seit Stunden durch ihren Vater, daß Richard mit »genügend« bestanden hatte.

»Ob er wenigstens seine Eltern benachrichtigt hat?«

»Das weiß der liebe Himmel. Ach, er ist ein schrecklicher Mensch, Fräulein Rosenbaum!«

Aber man muß Richard Ambrus in Schutz nehmen. Eine Abordnung seiner Verbindung hatte dem Examen beigewohnt und an der Aufregung aufs redlichste teilgenommen. Als sich die Kommission zur Beratung zurückzog, war man über das Resultat noch keineswegs im klaren. Eine furchtbare Viertelstunde ging und ging nicht vorüber, ohne den Zuspruch der Bundesbrüder wäre sie nicht zu überstehen gewesen. Als dann endlich das erfreuliche Ergebnis verkündet wurde, forderten die Burschen ihren verdienten Lohn. Ins »Blutgericht« brauchte man nur eine Treppe hinunterzusteigen, dem Küfer »Nummer sieben!« zuzurufen, und man hatte die vortrefflichste Burgundermischung vor sich. Es war einfache Pflichterfüllung, die Burschen zu einigen Bouteillen einzuladen, und man durfte von dem Postvorsteher erwarten, daß er sich das Examen seines Sohnes einige Taler kosten lassen würde. Noch immer nahm man als Zeitspanne eine halbe, schlimmstenfalls eine Stunde an, und es war nicht Richards Schuld, sondern den erlittenen Aufregungen zuzuschreiben, daß bis dahin der Burgunder eine Wirkung gezeitigt hatte, die es verbot, sich ohne eine vorherige Tasse starken Kaffees an einen Familientisch zu setzen. Wozu hatte man seine Verbindungserziehung! Dabei wurde ständig das Projekt durchgesprochen, an Rosenbaums einen Boten zu senden, und es wurde aus dem Grunde nicht ausgeführt, da man ja noch immer früher als der Bote dort sein würde. Eine Voraussetzung, die sich erst im Verlauf einiger Stunden als hinfällig erwies. Im Café aber traf man auf den Rest der Bundesbrüder, und es wäre ein Frevel gewesen, die geschlossene Burschenschaft vor den Kopf zu stoßen, indem man übereilig zu philistrischen Bekannten entwetzte. Da man aber endlich einen zuverlässigen Boten an Rosenbaums senden mußte und ein solcher, wirklich zuverlässiger, nur in der Person des Verbindungsfaxes aufzutreiben war, trieb die Einladung geradezu auf die Kneipe in der dritten Fließstraße. Hier aber erhielt das Problem die Form eines schwierigen Bierthemas: Wie es möglich wäre, einen Fax gleichzeitig mit Biereinschenken und gleichzeitig mit Botengängen zu beschäftigen? Drei Bierreden wurden darüber gehalten, die bedeutendste von Richard selbst in Versen, wie er es mühelos zuwege brachte. Er wies darauf hin, daß die zur Diskussion stehende Fragestellung eine Teilung des Faxes in sich schlösse, zog die betreffenden Paragraphen an, die es verbieten, einen Menschen zu dividieren, wo hingegen das Wohl des Staates es erforderlich machte, daß die Menschen sich fleißig multiplizierten. »Dividieren« und »Multiplizieren« ergab eine ganze Reihe von Reimzeilen. Das Problem wäre zwar »verdösbar«, wie man sehe, aber »nicht lösbar«. Und so würde er selber, sobald es ging, »mit eiligster Durchschneidung des Raums, hineilen zu den Rosenbaums«. Sie sollten es noch alle sehen und zeigen: »Dort geht er – aber erst später!«

Hätte der Zufall ihm einen anderen Schlußreim zugeworfen, wäre er vielleicht früher, vielleicht auch sofort gegangen. Aber das »erst später!« wurde zum geflügelten Wort, gegen dessen schlagende Logik nichts eingewendet werden konnte. Um zwei Uhr nachts wurde bei Rosenbaums die Nachtglocke gezogen, und als der erschrockene Justizrat zum Fenster hinaussah, erblickte er vier schwankende Gestalten, die sich vergeblich durch Zurufe verständlich zu machen suchten. Der liebenswürdige Mann wäre beinahe noch die vier Treppen hintergegangen, um den Herren zu öffnen, aber Frau Rosenbaum legte ein energisches Veto ein, und auch Else steckte den Kopf durch die Tür und verbat sich dringend, daß die Bummelanten noch hineingelassen würden.

Vier Tage später erschien der neugebackene Referendar in Gohlungen, um am dortigen Amtsgericht auf dem Schloß seine erste Station zu absolvieren. Die Sache begann mit einem blutigen Frühschoppen im Deutschen Haus, der abends gegen sechs sein Ende erreichte. Alle Mitglieder des Tisches waren vollständig versammelt, vom aufsichtführenden Amtsgerichtsrat Vogel bis zum Referendar Tießen, vom würdigen Sanitätsrat Arnold bis zum Apotheker Schnepper. Bis zum Markt hin zogen sich die Wellenkreise dieser Sitzung, und Herr Amende wurde gegen sechs Uhr Zeuge einer seltsamen Begebenheit: Herr Schnepper kehrte um diese Zeit aus dem Deutschen Haus zurück, stand mit der Uhr in der Hand vor seiner Apotheke am Markt und suchte in allen Taschen nach seinem Hausschlüssel. Da er glaubte, sich am frühen Morgen zu befinden, hielt er das Haus und auch die Toreinfahrt zum hinteren Eingang für geschlossen, obwohl alles sperrangelweit offen stand und die Leute aus Fenstern und Türen seinem Gebaren zuschauten und die Straßenkinder von allen Seiten herbeigelaufen kamen. Schließlich gab er es auf, den Schlüssel zu finden, und erkletterte neben der offenen Toreinfahrt den hohen Bretterzaun, kam auch glücklich hinauf, ließ sich oben in den Hof hinunter und strebte durch die Hintertür seinem Bett zu.

Diese Heimfahrt Schneppers leitete die große Zeit des Stammtischs im Deutschen Haus ein.

Regine hatte einige Tage nach Richards Eintreffen gewartet, ehe sie sich im Ambrusschen Hause sehen ließ. Sie kam gerade am Tag des Frühschoppens an und mußte nach eins mit dem Schulwagen zurückfahren, ohne Richard zu Gesicht zu bekommen. Es erschien ihr als eine schlechte Vorbedeutung, und das Schlimme an der Sache war, daß sie ihre Enttäuschung vor Paula nicht völlig verbergen konnte. Wie sie O-chens Korbstuhl an das vordere Fenster schob, sich dort mit der Alten in ihrer freundlichen Art unterhielt und von Zeit zu Zeit einen flehenden Blick auf die Straße warf, fühlte sie sich auf einmal von Paula mit einem spitzbübischen Lächeln beobachtet, das ihr zurief: »Daher also deine Freundschaft!« Im übrigen war es Paula gewohnt, daß sich ihre Freundinnen in Richard verliebten, und sie konnte es Regine nicht verübeln. Nur ein kleines Triumphgefühl war nicht ganz zu unterdrücken. Das Heraus und Herein vom Gut in die Stadt, der Wagen und die Pferde, der betreßte Kutscher und der Hintergrund des großen Gutes hatten ihr nicht wenig imponiert, und nun sah sie Regine fast demütig um ihre Freundschaft bemüht. Es tat ihr wohl und rührte sie zur gleichen Zeit, und sie ließ es sich sogar einen Augenblick durch den Kopf schießen, ob nicht überhaupt eine Verbindung zwischen Richard und Regine wünschenswert sein konnte.

Sie schalt auf den Bruder, daß er so gar keine Rücksicht kennte, und meinte, daß er nun wohl erst in Stunden zurückkehren würde. Frau Ambrus ergriff Richards Partei: er könne doch nicht früher aufbrechen als die älteren Herren, und man hätte doch gehört, wie es im Deutschen Haus zugehen solle. Sie hatte schon einen Teller Suppe für den Sohn beiseite gestellt und eine gehörige Portion Klopsfleisch abgeteilt, um es ihm rasch aufbraten zu können, wenn er nach Hause kam.

Richard wollte nun keineswegs am hellichten Tage über Zäune klettern wie Herr Schnepper, er kam vielmehr in äußerst guter Laune und sehr aufrecht durch die richtige Tür nach Hause, umarmte sein »Muttchen« wegen der Klopse, aß mit Appetit und legte sich für einige Stunden schlafen. Abends hatte er sich mit einigen Herren auf die Kegelbahn verabredet, ging auch hin, kam um halb elf zurück, legte sich und las noch eine Stunde im Bett. Am nächsten Morgen um halb neun saß er an seinem Pult im Amtsgericht. Er hatte sich am ersten Tag seines Wirkens in den Ruf eines gewaltigen Trinkers gesetzt, und das war zunächst für seine Tätigkeit mehr wert als eine gute Examensnote. Übrigens tauchten schon an diesem ersten Tag Zweifel auf, ob er wirklich so gewaltig viel vertragen konnte oder nicht vielmehr bei herausfordernden Falstaffallüren im Grunde sehr mäßig trank. Da man aber immerhin mit der Möglichkeit außergewöhnlicher Aufnahmefähigkeit bei ihm rechnen mußte, wagte es niemand, im Ernst mit ihm anzubinden. Einen Bierjungen hatte er jedenfalls gegen den Referendar Tießen geradezu mit Pferdelänge gewonnen. Was ihn aber zum unumstrittenen Herrn der Kneiptafel machte, war nicht so sehr der vertilgte Konsum, dessen Quantum wie gesagt bestritten wurde, sondern seine unerschöpfliche Fülle von lustigen Einfällen.

Schon bei den nächsten Sitzungen gab er der Korona die Form eines richtigen Hofstaates. Zum König wurde der aufsichtführende Amtsgerichtsrat ernannt, da die Juristen nun einmal das Übergewicht hatten. Richard selbst behielt für sich das schwierige und verantwortungsvolle Amt des Hofhistoriographen, dem es oblag, die der Nachwelt werten Taten des Königreichs der Vergessenheit zu entreißen. So beschrieb er in Hexametern die Heimkehr des Apothekers Schnepper und ruhte nicht, bis dem wackeren Helden der große Odysseusorden am Bande verliehen wurde. Nicht »mit Schwertern«, denn diese Auszeichnung müsse den verheirateten Herren vorbehalten bleiben. Schnepper aber war Junggeselle. Der Odysseusorden war ein rot angestrichener Bierfilz, den Schnepper bei allen offiziellen Sitzungen des Kronrates an einem Bindfaden um den Hals tragen mußte. Es kamen noch andere Orden hinzu. Amtsrichter Eichholz, der im Ruf des Pantoffelhelden stand, erhielt das »Großkreuz der russischen Regierung«, das aus Streichholzschachteln angefertigt wurde. Der Rektor der Stadtschule, der einen ungewöhnlichen Konsum an Rohrstöcken hatte, bekam Rang und Abzeichen eines Tambourmajors. Richard brachte es binnen kurzem zur »Medaille für Kunst und Wissenschaften«.

Mit Amtseifer stürzten sich die ernsthaften Männer in das unsinnige Spiel. Lange Debatten wurden darüber geführt, ob der »König« befugt oder verpflichtet wäre, sämtliche von ihm erteilte Orden selbst anzulegen, ferner ob sich diese Verpflichtung, denn sie wurde anerkannt, auch auf Orden von offenbar fremdländischer Herkunft, wie etwa das »Großkreuz der russischen Regierung«, beziehe. Am Tage in ihren Amtsstuben trieben sie kaum etwas anderes als des Abends beim Dämmerschoppen, sprachen in feierlichen Talaren Recht, entschieden über Gut und Böse und brachten Urteile »Im Namen des Königs« heraus. Hier wie dort kam es auf eine gewisse »Schneidigkeit« des Auftretens und der Begründung an, hier wie dort wurde die Anerkennung allgemeinverbindlicher Begriffe vorausgesetzt. Wer das Spiel abgelehnt hätte, wäre bald auch auf Mißtrauen bei seiner amtlichen Tätigkeit gestoßen. Dabei handelte es sich durchaus um honette Persönlichkeiten, die einen unbefangenen Blick für das Leben besaßen, mit praktischer Menschenkenntnis Streitfragen zu entscheiden und ein gesundes Rechtsempfinden mit den knifflichen Paragraphen des Preußischen Landrechts in Einklang zu bringen vermochten. Aber sie konnten kaum etwas anderes tun, als ihre Mußestunden mit dem »heiligen Blödsinn« auszufüllen. Die großen Fragen waren durch Bismarck samt und sonders gelöst, und noch nirgends spitzte sich das Leben in der kleinen Stadt und ihrer Umgebung zu schwierigen Konflikten zu. Wer nur wollte, verdiente sein ausreichendes Stück Brot, und der Bevölkerungsüberschuß konnte in die gesegneten Industriebezirke an Ruhr und Wupper abwandern und Ersparnisse machen. Es gab freilich auch hier Außenseiter des Lebens und Widerspenstige, die sich in die allgemeine Ordnung nicht fügen wollten, wie etwa den Übeltäter Brandhäuser. Aber der fühlte selbst, daß das Recht, göttliches wie menschliches, nicht auf seiner Seite war, wenn er wieder einmal, verlegen grinsend, vor den Schranken des Gerichtshofes stand und seine vier Wochen Gefängnis als Sühne der verletzten Staatsordnung einsteckte. Das alles wurde mit einer humorvollen Gutmütigkeit behandelt und beruhte auf sicheren Grundlagen von allgemeiner Gültigkeit, die man selbst frevelnd nicht aus der Welt schaffte.

*

Es war nicht abzusehen, weshalb das Leben nicht ewig in dieser gottgefälligen Übersichtlichkeit und Ordnung beharren sollte. Allerdings fiel von Zeit zu Zeit aus dem Westen ein ernster Schatten wie ein Schauer über den Gotteszipfel des Oberlandes. Nicht allen »Westfalengängern«, wie die Auswanderer genannt wurden, glückte es im Ruhrgebiet. Amendes früheres Dienstmädchen Marie zum Beispiel kam nach zwei Jahren mit ihrem Mann, einem Schmied, aus Dortmund zurück. Er hatte das Leben in den Kohlengruben nicht vertragen, war lungenkrank geworden und konnte nicht mehr arbeiten. Nun lag die Familie in einer Armenstube seines Heimatdorfes Ziegenberg der Gemeinde zur Last. Marie half so gut es gehen wollte auf den Feldern, aber was die schwächliche Frau beschickte, reichte samt der Unterstützung nicht für die vierköpfige Familie. Ohne Hausrat verkümmerten die vier Menschen im Schmutz, und eigentlich war niemand geneigt, ihnen zu helfen, da sie ja vermessen in die Fremde gewandert waren, um Reichtümer einzuheimsen. Wer den hohen Löhnen des Industriegebiets nachging, hatte das Risiko zu tragen, empfand man. So wie Marie und ihrem Mann war es mehreren ergangen, und von diesen gescheiterten Menschen ging Unzufriedenheit und Aufsässigkeit aus. Man konnte nicht recht von Schuld bei ihnen sprechen, da sie ja das Ihrige getan hatten, und durfte sie nicht einmal schelten, weil sie die Heimat verlassen hatten, da ja ein Teil der Bevölkerung auswandern mußte, weil es auf dem Land an Arbeit fehlte, die kleinen Hofstellen nicht immer und immer wieder unter die vielen Geschwister geteilt werden konnten und die polnischen Saisonarbeiter in der Erntezeit um einen Bruchteil des Lohnes zu schwerstem Dienst in Hülle und Fülle zur Verfügung standen. Mehr als die fast schadenfrohen Standesgenossen der Unglücklichen waren die studierten Herren auf dem Gericht geneigt, die Verstricktheit des Daseins anzuerkennen, wenn sie wieder einen dieser Menschen wegen Diebstahls oder Beleidigung oder gar wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, als welche in Gestalt eines martialischen Gendarmen als Zeuge dabeistand, zu verurteilen hatten. »Es fehlt an der inneren Siedlung«, meinte ein Rechtsanwalt. »Die Entwicklung der Industrie frißt zu viele Existenzen.« Man gab ihm recht, aber schließlich war nichts dagegen zu tun, wenn man nicht geradezu Sozialdemokrat werden wollte.

Von solchen Fällen drohte Einbruch in die fest umhegte Welt und ihre göttliche Ordnung. Es war noch zu wenig, um sich aus der wohlwollenden Ruhe bringen zu lassen, aber wenn man mit strenger Amtsmiene ein möglichst mildes Urteil gefällt hatte, begriff man doch für Augenblicke, daß die Gleichung der Welt nicht mehr rein aufgehen wollte, und sprach von den schweren Zeiten. Aber wahrscheinlich war es nie vollkommen gewesen, wie schon das Beispiel Brandhäusers zeigte, und auf irgendeinem Wege wollte wohl eine nichtsnutzige Anlage des Menschen zum Licht brechen.

Man muß nicht denken, daß mit Richard Ambrus' Eintreffen ein neues Kapitel in der Geschichte der Gohlunger Stammtische begonnen hätte. Fast jeder der jungen Juristen, die frisch von der Universität her kamen und sich nach der Examenspaukerei auf ihre aktiven Zeiten besannen, brachte einen Hauch studentischer Ausgelassenheit mit sich. Ambrus überragte nur alles Dagewesene dadurch, daß seine Talente ihn nach den verschiedensten Richtungen ausschlagen ließen. Er war unverwüstlich im Trinken – wenigstens war ihm Verwüstlichkeit auf diesem Gebiet nicht nachzuweisen –, strotzte voll toller Einfälle, aber in einer so ansteckenden Art, daß alle Menschen um ihn nicht weniger zu Verrücktheiten aufgelegt wurden. Einmal überredete er die ganze Gesellschaft, nachts um zwölf mit ihm zum Mariensee zu marschieren und dort ein Bad zu nehmen. Übrigens paßte er dabei sorgfältig auf, daß niemand allzu erhitzt in das Wasser ging und jeder sich vor dem Hineinsteigen die Herzgrube und die Achselhöhle näßte. Er führte auch einen Budenzauber bei einem Assessor an, der zu einem Lokaltermin nach Liebstadt gefahren war. Es war der Gipfelpunkt eines Budenzaubers. Solche Streiche hatte man auch vor ihm schon begangen, und was er hinzutat, war mehr die geräuschvolle gute Laune. Aber worin er für Gohlungen ein völliges Novum war, das war die Verbindung dieser kraftvollen Ausgelassenheit mit seinen künstlerischen Talenten. Während der aufsichtführende Amtsgerichtsrat eine seiner »Königsreden« hielt, warf er eine treffende Karikatur von ihm mit wenigen Strichen auf die Rückseite eines Bierfilzes, und während Vogel noch redete, wanderte sein Zerrbild von Hand zu Hand, und jeder konnte sich aus der Rednerpose des Gewaltigen die verschiedensten Ähnlichkeiten mit dem gutmütig boshaften Porträt heraussuchen. Oder er vertraute dem Bierfilz ein besonders bissiges oder schneidiges Distichon an und sandte es unter dem Tisch herum. Am unwiderstehlichsten aber war er, wenn er sich ans Klavier setzte und, wie an jenem ersten Abend in Schwenkendorf, aus einer Melodie in die andere fiel.

Überhaupt muß man zu seiner Ehre sagen, daß er sich weit weniger im Deutschen Haus aufgehalten haben würde, wenn er in Gohlungen einen musikalischen Kreis wie bei Rosenbaums gefunden hätte. Herr Schnepper kratzte ein wenig auf der Geige. Richard versuchte, mit ihm und Paula ein leidliches Trio zusammenzubringen, bei dem er sich selbst mit dem Cellopart begnügte. Aber Herrn Schneppers Künste waren unzureichend. Besser schon war es, wenn er selbst die Geige ergriff und mit Paula Sonaten spielte. Aber über Haydn und einige leichtere Beethovens brachte es Paula in diesen Jahren nicht hinaus, obwohl es Richard nicht daran fehlen ließ, ihr mit dem Geigenbogen von Zeit zu Zeit auf die allzu unwilligen Finger zu klopfen. Diese Übungen endeten gewöhnlich mit hartem Anfahren und schwesterlichen Tränen, so daß die Mutter sich ins Mittel legen mußte.

»Weißt du«, sagte Paula nach solchen Stürmen zu dem bewunderten Bruder, »wenn ich nur nicht immer so müde wäre! Aber O-chen spricht mit mir jede Nacht bis zwölf, dann schnarcht sie, daß ich nicht einschlafen kann, und morgens um sechs ist sie schon wieder munter.«

»Papperlapapp«, entgegnete der Bruder, »dafür bist du Mädchen.« Und sie mußte es dabei bewenden lassen.

Am besten ging das Musizieren mit Frau Bresgott. Für die junge Frau Kreisbaumeister komponierte er sogar einige Lieder, die sie mit tiefer Empfindung sang. Mit tiefer Empfindung! dachte der Kreisbaumeister, der eifersüchtig war, und sie dämmten ihre regelmäßigen Nachmittage schleunigst wieder ein. Richard hatte einen eisigen Respekt vor »dummen Frauenzimmergeschichten«. Es war schon das beste, er setzte sich allein an das Klavier und spielte, was ihm unter die Hände kam, Chopin und den geliebten Schumann. An die Brahmssonaten, die überhaupt sündhaft teuer waren, wagte er sich nicht.

So sah er sich in seinen Betätigungen auf die Rolle des Solisten angewiesen, die ihn langweilte, da er lieber im Wettkampf triumphierte. Er merkte selbst, wie leicht es ihm gemacht wurde, unerreicht dazustehen, und wie wenig es darauf ankam, sich zu vervollkommnen, und zuzeiten konnte ihn eine tiefe Niedergeschlagenheit befallen. Es wurde ihm langweilig, den Saufkumpanen immer wieder dieselben Märsche, Tänze und Lieder vorzuspielen, weil sie andere nicht haben wollten. Einmal, auf einer Gesellschaft bei Amtsrichter Eichholz, stand er mitten in einem Chopinschen Prelude auf und fragte: »Habe ich das schön gespielt?« Und als alle ihm zuriefen: »Herrlich, fabelhaft, wunderbar!« schrie er die Verdutzten an: »Wie ein Schwein habe ich gespielt!« und war an dem Abend nicht mehr zu bewegen, eine Taste anzurühren. Diese »Künstlerlaunen« erhöhten übrigens sein Ansehen.

Eines Tages redete ihn, nach schweren Kämpfen und mehrmaligen schüchternen Ansätzen, Willy Amende auf der Straße an und berief sich auf die Gemeinsamkeit des Elbinger Gymnasiums.

»Natürlich, natürlich!« sagte Richard, »ich besinne mich. Sie trugen damals als Tertianer schon eine Brille und waren ein großer Musterknabe. Außerdem waren Sie mit Klassenkameraden von mir bei Frau Meitzen in Pension.« Das war mehr, als Willy erwarten durfte. Damals fing Richard aber auch der Stammtisch und die Kegelbahn schon an über zu werden, und er freute sich aufrichtig der neuen Bekanntschaft. Er drückte diese Freude sogar in ungewöhnlicher Weise aus und forderte Willy auf, sich mit ihm zu Dorsch zu setzen und ein Glas Bier mit ihm zu trinken. In einer Viertelstunde hatte er die Lebensgeschichte des jungen Herrn Amende erfahren.

»Dann sind Sie ja der einzige in diesem Nest, Herr Amende, der etwas von der Welt gesehen hat. Leipzig und Rhein, das lobe ich mir. Famos! Nun erzählen Sie einen Witz!«

Willy, dem bei diesem Examen die Haare zu Berge standen, erzählte von dem Gemeindevorsteher aus Groß-Hermsdorf. Es war damals, als die »Gohlunger Kreiszeitung« erst einmal in der Woche, dann zweimal und schließlich ein halbes Jahr später dreimal in der Woche erschien. Damals schrieb dieser Gemeindevorsteher, er sei gern bereit, den höheren Abonnementspreis zu zahlen, aber daß er nun noch mehr lesen solle als bisher schon, darauf ließe er sich nicht ein, und er bitte, ihm die Zeitung nur zweimal in der Woche zu schicken.

»Famos!« rief Richard und klatschte sich auf die Schenkel. »Das ist ja ganz famos! Zahlen will er, aber noch mehr lesen, nein!« Und er lachte und stieß mit dem glücklichen Amende an. »Noch so eins, lieber Amende!«

Und Willy erzählte von der Frau aus Pörschkendorf, die tausend Taler geerbt hatte. Sie war zu seinem Vater gekommen, um zu fragen, was sie mit dem Geld machen solle, und »mein Alter« – in Richards Gegenwart sagte er wirklich respektlos »mein Alter« – »und mein Alter riet ihr, das Geld auf die Sparkasse zu legen. Aber sie wollte nicht und ging fort. Nach ein paar Wochen trifft mein Alter sie wieder und fragt, ob sie das Geld nun auf die Sparkasse gebracht hätte. Ach nein, Herrchen, sagt sie, ich habe es dem Juden in unserem Dorf gegeben, der bewahrt es mir auf und nimmt nur ganz wenig dafür.«

»Herrlich! Famos!« rief Richard und klatschte sich wieder auf die Schenkel. »Der nimmt nur ganz wenig dafür! Prachtvoll!«

Einige andere Herren kamen und setzten sich zu ihnen. Willy glaubte, fürs erste nicht mehr verlangen zu können, und verabschiedete sich. Richard forderte ihn auf, ihn zu besuchen, aber Willy nahm sich vor, mindestens noch eine Aufforderung abzuwarten, ehe er es tat.

So nahm der Sommer ein Ende, und Richard war nicht dazu gekommen, auch nur ein einziges Mal nach Schwenkendorf hinauszufahren. Paula, die sich schon vorgesetzt hatte, zwischen ihrem Bruder und der Freundin nach Kräften zu schüren, mußte allein für einige Tage aufs Land, um den Verkehr nicht einschlafen zu lassen, obwohl sie es ganz richtig fand, sich dem reichen Rittergutsbesitzer gegenüber reserviert zu verhalten. Sie konnte nämlich Frau Steinbock nicht ausstehen. Sie machte sich auch sonst nichts aus dieser kleinen Besuchsreise, denn sie wußte, daß der stattliche Erich zu seiner ersten Leutnantsübung eingezogen war und sie ihn wieder nicht kennen lernen würde, und sie fuhr nur hinaus, um Regine einen öfteren Besuch im Ambrusschen Hause zu ermöglichen, und hauptsächlich, um für einige Nächte der schnarchenden O-chen zu entgehen.

Zwischen den beiden Mädchen war nie ein Wort des Einverständnisses gesprochen worden, und Regine litt Qualen, wenn sie dachte, von Paula erraten zu sein. Aber selbst auf diese Gefahr hin kam sie in der Woche einmal in die Stadt und blieb gegen Ende des Sommers sogar einige Tage bei Ambrus'. Sie sah, daß sie ihrem Ziel um keinen Schritt näher gerückt war. Richard ging aus, als ob sie nicht da wäre, oder saß in seinem Zimmer und arbeitete, und nur einmal am Abend war er heruntergekommen, als Frau Bresgott zum Singen erschien. Sie merkte deutlich, daß er nur deshalb zu ihr hinüberspielte und seine Scherze an sie richtete, weil sonst kein Publikum anwesend war. Aber auch das beglückte sie schon. Zu Hause war sie schon längst wieder in ihrem Mütterchendasein versunken. Wenn Richard sich am Klavier nach einer glänzenden Passage den Schnurrbart emporzwirbelte und ihr zunickte, sehnte sie sich fast nach ihren kleinen Geschwistern und den Kühen, spähte aber doch verstohlen nach ihm hin.

Nach diesem Abend nahm ihn die Mutter ins Gebet. »Du solltest dich schämen, einem Mädchen den Kopf zu verdrehen!«

»Ich? der Regine?« fragte er mit ungekünsteltem Erstaunen und dachte darüber nach. Es war das erstemal, daß er sich ihr Bild vorstellte. »Eigentlich ein nettes Ding«, dachte er und lächelte geschmeichelt.


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