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Das Kapitalverbrechen bringt im hellen Jahrhundert nicht mehr hohen Zins. Die Konjunktur aller das Wesen unserer Zeit bestimmenden Mächte stemmt sich gegen diese Art menschenthierischer Thätigkeit und eine Gestalt vom Schlag des sobernheimer Henkersgehilfen Johannes Bückler, der an der Neige des achtzehnten Jahrhunderts, als Schinderhannes, der Schwarzalb ganzer Bezirke war und den geängsteten Markthändlern Pässe verschleißen konnte, ist heute kaum noch vorstellbar. Schon der Zwang, von der Wiege bis zur Bahre gestempeltes Papier mitzuschleppen, sich in irgendeinem Amtshaus an- und abzumelden, von jeder Schnüffelnase den Heimathschein, Militärpaß, Steuerzettel beriechen zu lassen, erschwert das ins Dunkel trachtende Handwerk; und die Schnelle des modernen Erkundungdienstes erlaubt ihm selten, in hohe Jahre zu kommen. Leicht duckt zwar Einer ins Großstadtgewimmel unter und ähnelt sich der Schlammfarbe an, in der er mindestens eine Weile athmen muß. Doch irgendwo ist er einmal photographirt worden; nach kurzen Stunden sind Alle, die ihn kennen, aufgescheucht, der zuständigen Stelle vorgeführt, vernommen; Grenzorte und Hafenbehörden zur Wachsamkeit gemahnt; Telegraph und Telephon haben gewirkt, das Bild des Verdächtigen ist verschickt, ist vom Draht übers Weltmeer geblitzt worden und auf dem finstersten Steg muß der hinkende Schächer beben, von dem Wanderer, der ihn gestern im Lichtspiel sah, gehemmt und in Haft gezerrt zu werden. Marconi ward ihm gefährlicher als der Erinyen bleicher Schwarm. Auf dem Meer durfte einst der Mörder selbst sich in wohlige Ruhe betten; bis die Ankerkette niederrasselte, konnte ihm nichts geschehen. Jetzt fluthet Nachricht heran, ebbt Nachricht zurück; kann auf dem stampfenden, schlingernden Schiff, das kein Draht einem Festland verbindet, in der nächsten Minute ein Fünkchen aufglimmen, das der Besatzung die Spur des Verbrechers hellt. Ungünstige Konjunktur. Findet deshalb der Blick in so schlechtem Geschäft fast nur noch Stümper? Kleine Leute nur, die über Zwirnsfäden stolpern und bald zwischen Netzmaschen zappeln? Bruning, Crippen, Kolbe, Sternickel, die pariser Apachen sogar, denen der Plan glitzerte, die moderne Technik, den Totfeind des Gesetzbrechers, sich zu verbünden, im Automobil durch die Raubreviere zu rasen: Alle enttäuschen das aus staunendem Grausen ihnen nachstarrende Auge; Alle scheinen, wenn die Halsschlinge der Ordnungwächter sie ins Alltageslicht geschleift hat, dem nahen Betrachter winzig, unbedachtsam, albern; und Aller Herrlichkeit währt nicht lange. Bruning sieht zuerst aus wie ein Kerl von schwerstem Kaliber. Als Kassenbote erspäht er die schwächste Stelle des Kontrolbrauches, raubt eine Viertelmillion und verschwindet spurlos. Der, denkt man, hat witzig mit dem Stimmungtrieb der Masse gerechnet, die den Verlust einer Aktienbank gleichgiltig oder höhnisch hinnimmt und deren öffentlich meinendes Maul höchstens fragt, ob die Bank, das über den Hort von zweihundertsechzig Millionen breit und schuppig hingestreckte Ungethüm, die Schramme verbergen, die paar fürs Pflaster nöthigen Läppergroschen dem Vorstand oder den Aktionären vom Jahresgewinn abzwicken werde. Kein sichtlich arg Geschädigter: also auch keine grollende Empörung. Dem Flüchtling gellt aus allen Ecken Gelächter nach. »Den kriegen sie nicht!« Der hat gewiß, weit vom Thronsitz der Dresdener Bank, längst ein Schlupflöchlein geschaufelt, wo er sich umkleiden, rasiren, umkämmen kann; sitzt, ehe das Polizeiroth des Belohnunganschlages die Meute auf seine Fersen hetzt, schon, bartlos und mit der Brille eines Landschulmeisters, im Eisenbahnwagen und zerkaut, um zwischen länger gefirnißten Reisenden nicht durch Lackgeruch aufzufallen, in der Dritten Klasse sein Butterbrot; schlüpft unbemerkt über die österreichische oder holländische Grenze, wird vom Lloyd oder von der Stoomvaart Maatschappij prompt verfrachtet, taucht in Alexandrien oder Batavia ins dichteste Gekribbel, protzt nicht viel mit seinem Geld und wird vom Scheinwerfer der Heimath nie wieder gesichtet. Nein: er schreibt an einen berliner Kameraden und prahlt ihm des neuen Lebens Wonne vor; er bleibt in Briefwechsel mit Verwandten, denen er einen Zipfel vom Schleier seines Geheimnisses gelüpft hat. Die Fährte wird ruchbar, der Marder erwischt und in den Käfig ausgeliefert. Crippen ist schlauer. Behutsam meuchelt er die ihm lästige Ehegefährtin und hüpft, als in seines Hauses Kellergrund Menschenknochen gefunden werden, mit hurtiger, doch nicht hastiger Dialektik über das Drahtgeflecht der Verdächtigung hinweg. Wird dann aber das blinde, dumme Opfer der Theaterwelt, in die sein nach flink zu erraffendem Geld und Frauenfleisch geiler Sinnendrang sich verlaufen hat. Nur im Rampenlicht gedeiht der Wahn, ein geschorenes, in Rock und Hose gestecktes Mädchen könne Wachen ein Jüngling scheinen und solche Mummerei, trotz einem ungewollten Strauchelschritt, einem nicht eingedrillten Gestus, unbemerkt bleiben. Weil die leise Theaterwanze niemals bedacht hatte, daß im Mann der müdeste Eros noch im Bratenrock das Mädel erwittert, weil Crippen sein Liebchen (an Bord eines auf der Atlantis schwankenden Schiffes gar) für einen jungen Sekretarius ausgab, ward er verdächtig, ertappt, gegriffen. Kolbe schwadronirt und späßelt vor Kneipkumpanen und Winkeldirnen so lange davon, daß er den Eheherrn seines alternden Bettschätzchens erschossen habe, bis die Rattenfalle hinter ihm zuklappt. Sternickel bestimmt alles zur Drosselung dreier Menschen und zur Sieherung seiner Flucht Nöthige; läßt aber im Kleid des Leichnams, den er in einer abgelegenen Strohmiete verbrennen will, ein Papier, das den Getöteten als nach Ortwig, im Bezirk Fürstenberg-Wriezen, zuständig erweist und auf die Spur des Thäters hilft. Mit diesem Viergespann stolzirt die Verbrechergilde nicht in neuen Ruhmeslenz. Zu Ehren kam die Zunft in den letzten Jahren nur durch den Erzschelm, der dem Louvre am hellen Tag den berühmtesten Leonardo stahl. Und wer weiß, ob nicht auch seine Glorie bleicht, wenn er eines Tages vor den Schirm der Hehler tritt?
Sternickel hat ihn lange überstrahlt. Sein Ruf glich dem Klostermayers, des Bayerischen Hiesl, der, nach ganzen Serien grausamster Blutgräuel, 1771 in Dillingen von Staates wegen erwürgt und dann noch gerädert worden ist. Neben ihm schien dem nachgeborenen Raubmörder im Neuen Pitaval ein Vorderplatz gewiß. Der Norddeutsche tummelte sich nicht auf so glatter Bahn wie der Wilderer aus Kissing, der eine Bande um sich schaaren und, ohne Angst vor der Warnermacht und Meldegewalt stumm scheinender Drähte, Jahre lang eine Wittelsbacherprovinz brandschatzen konnte. Sternickel, den das Müllergewerbe ausgebrütet haben sollte, galt als ein Ungeheuer aus dem finstersten Schlund mythischer Vorstellung. Der an Körperkraft stärkste, den Menschen wölfischste Mensch, den Einbildnerwille je träumte; dabei allem Gethier in Güte zugethan und besonders zärtlich dem sanft gurrenden Täubchen. Ein Riese, ein Vieh, ein Kind: Alles, was die im Masterbe der Sue und D'Ennery, Lytton-Bulwer und Conan Doyle speckig gewordene Romantik für das Bild eines großen Verbrechers braucht. Unzählige, hieß es, hat er geplündert und in Martern geschlachtet; unstillbar ist sein Blutdurst, unausschöpflich der Born seiner List. Durch dicke Mauern und dichte Gitterstäbe tappt er sich ins Freie; wer ihn zu halten glaubt, umklammert eines Entlaufenden Schatten. Wohin er sich verkrochen hat und wie schwer die Sündenlast ihn bebürdet, weiß kein Sterblicher. Als ein schmatzendet Moloch hockt er wohl irgendwo und blinzelt aus nie satter Gier schon nach frischer Menschenfleischspeise. Unter der Mütze eines Bauernknechtes wird er gefunden. Mit drei jungen Strolchen, die der Zufall ihm warb, hat er den Hofbesitzer, dessen Weib und Magd gedrosselt; die Wohnstätte ausgeraubt, den Kindern und Hausthieren aber Labung bereitet; und den Leib des getöteten Hofbesitzers durch Feuersbrunst zu zerstören versucht. Moloch, wie er im Prophetenbuch Ezechiels steht: dessen Wink Menschen schlachtet und verbrennt. Die Knechtsgestalt ist sicher nur Larve. Dieses Scheusal braucht nicht von Schmalhans die Atzung zu holen. Das Ermittelungverfahren weitet den blutdunstigen Nimbus; muß ihn weiten: denn am sausenden Webstuhl der Zeit schaffen emsige Erdgeisterchen und wirken dem Ermittler das Kleid der Gottähnlichkeit, Der Kriminalkommissarius heftet des Namens Zukunft an seinen Kapitalverbrecher; den Reporter klebt erlaubte Geschäftssucht an seinen Kommissar. Der wächst mit der Summe der Unholdsthaten; und müßte mit ihr schrumpfen. Drum wird Sternickel im Regirungbezirk Schwarzer Kunst sacht ein abgefeimter Gigant, der Ermittler ein Kriminologengenie, neben dem Dostojewskijs Untersuchungrichter Porphyrius uns kaum ein armer Pfuscher, Sherlock Holmes höchstens ein anstelliges Polizeihündchen dünkt. Nur dieses einen Hirnes Allgewalt vermochte den Listenreichen so zu umzingeln, daß nirgends eine Lücke, eine Ausbruchsmöglichkeit blieb; ihm alle Masken vom Antlitz zu nöthigen und nur das Gäßlein offen zu lassen, das thalwärts in reumüthiges Geständniß führt. Sternickel wehrt sich wie ein Löwe, in dessen Schädel Fuchsenschlauheit auf der Wacht liegt; doch der triebhaft ahnende, alle Zusammenhänge blitzschnell ertastende Geist des Kommissars bändigt ihn, wie des Beschwörers Starrblick die giftige Schlange. Stemickel leugnet zäh; ist aber vorgestern, unter der Rüttelfaust des Allumfassers, ins Wanken gekommen; gestern in ungemein wichtige Bekenntnisse überredet worden; heute völlig niedergebrochen. So (ungefähr) lasen wirs. Wochen lang. Auch, daß der Kommissar Zehnmännerarbeit bewältige; Tag und Nacht über Akten grüble; bis in den Nordosten Oberschlesiens des Denkens Faden fortspinne; ein Gebirg schurkischer Gräuel entschleiern werde, die, alle, wurden, weil Sternickel sie gewollt hatte. Dessen Gestalt färbt sich allgemach nun ins Höllenfürstliche. Und wie ein Mühlenwerk ächzt des Lauschers angstvoll wogender Athem.
Hofft Herr Omnes, einen vom Wirbel der Leidenschaft auf den Grat des Verbrecherwillens Gepeitschten am lichten Tag, ohne Eintrittsgeldaufwand, begaffen zu dürfen? Unter der Mehlstaubschicht eines Macbeth, hinter des Mistfahrers verjauchtem Schurz eines Raskolnikow Wesenszug wiederzufinden? Vor dem Abbild des vom Scheitel bis unter die Zehe mit Blut Getünchten die luftlos welkende Seelenhaut mit dem Prickelreiz frommen Grausens zu beleben? »Der Gedanke der Erbsünde ist der natürlichste, auf den der Mensch verfallen konnte. Wie oft thut der Mensch, was er schon bereut, bevor und indem er es thut! Wie oft ruft er: Pfui, spuckt ins Glas und leert es dennoch! Alles, was im Lauf der Zeit allgemeiner Glaube, unumstößlich scheinende Satzung wurde, auf das persönliche, individuelle Bedürfniß zurückzuführen, ist von der höchsten Wichtigkeit; nur dadurch gelangt man zu einiger Freiheit der Erkenntniß. Man macht auf diesem Weg die merkwürdigsten Entdeckungen: die, zum Beispiel, daß Gottes Mantel aus dem Schlafrock des Menschen und aus dem Gespensteranzug seines Gewissens zusammengestückt ist. Die Menschheit läßt sich keinen Irrthum nehmen, der ihr nützt; sie würde an Unsterblichkeit glauben, auch wenn sie das Gegentheil wüßte. Eine Weltordnung, die der Mensch begriffe, wäre ihm unerträglicher als diese, die er nicht begreift.« Das hat Friedrich Hebbel gesagt; der Friesenrecke mit den Fiedernerven der schamhaften Mimosa, der mit gleicher Sicherheit des Empfindungtones aus Hagens und Rhodopes, Etzels und Mariamnes Herzen sprach. Dieser große Erfühler und Dichter spätorientalischer und spätgermanischer Menschheit hat auch, mit geduldigerer und feiner behäuteter Hand als irgendein Anderer, die Wurzel zerfasert, aus der Mörderaffekt keimt, und ihren Stoff uns durch die vergrößernde Linse des Dramatikertemperamentes sehen gelehrt. Golo: da steht leibhaftig (und erklärt sich selbst leider nur allzu bewußt) der Verbrecherwille aus Leidenschaft. Und der ihm beklemmten Odems stürmisches Geseufz gab, flüchtet von so grassem Anblick auf eine Bülte, durch deren Schilfbesatz Urmuhmenweise raschelt: »Was Einer werden kann, Das ist er schon; zum Wenigsten vor Gott! Der Mörder und der Andere, der ihn des Mordes wegen zum Tod verdammt: worin sind sie unterschieden, wenn Gott, der mit der wirklichen zugleich alle möglichen Welten überschaut, erkennt, daß, bei anderer Verkettung der Umstände, Jener der Richter und Dieser der Mörder hätte sein können?« Entstrafft, die Ihr von den ortwiger Morden träumt, den Strang Eurer Hoffnung oder denket, wenn Ihr durchaus ein Vorbild aus dem Kampf zwischen Begierde und Gewissen ersehnt, an Feuerbachs »Raubmörder aus Eitelkeit«, der, um einer durch Prunksucht entstandenen Schuldpflicht ledig zu werden, die Hirnschale des Schulklopfers Joseph Landauer zerschmetterte, eher als an den nach Genovevas Leib brünstigen Golo. Der hat nur, wenn unter der Eiskruste ersten Entsetzens ihm der Blutstrom auskühlt, mit den kalten Dutzendmördern Gemeinschaft; in den Sekunden nur, in denen er sich schwichtigen und dem Fegfeuer abbetteln will: »Ein Mord! Was ist ein Mord? Was ist ein Mensch? Ein Nichts! So ist denn auch ein Mord ein Nichts!« Ist die Kruste geborsten, dann siedets rasch wieder im Lebenssaft und der von Leidenschaft hemmunglos Verwirrte sondert sich, mit allen Kanten und Zacken der Wesensart, deutlich vom homo delinquens. Schon Gall hat, vor neunzig Jahren, die Verbrecher in die von Affekt und die von Gewerbssinn bestimmten Rotten geschieden. Viel weiter kam Erkenntniß bis heute nicht.
Sternickel wird sehenswerth, wenn er, mit gefesselten Gliedern, über den Zaun in den minder häßlichen Reigen der Jäheitsünder springen, als von ungerechter Schimpfrede des Bauers, der Bäuerin, der Magd bis ins Blut Gekränkten sich vor das Schwurgericht pflanzen will. Er wird hörenswerth, wenn er aus der Stoppelrede des wortarmen Landarbeiters und auf die rohe Ausdrucksform stolzen Stromers in die von Bohnerwachs blankgeriebene Zeitungsprache schlittert. »Meine Frau, die nicht weiß, daß ich auf solchen Wegen gewandelt bin, will ich nicht unglücklich machen.« Nur danach entsteht im Schwurgerichtssaal der Oderstadt Frankfurt »große Bewegung«. Herr Omnes langt gierig nach der Gefühlshülse, der Lebensspielmarke, an die sein Tastsinn gewöhnt ist; und scheint, zum ersten Mal, in die Bereitschaft zu Mitleid geneigt. Weil er den Mörder des Lieferungromans, endlich das von Reuezähren aufgeweichte Ungeheuer zu erblicken hofft, dessen »Psyche« der Reporter in einen Blätterstoß durchgepaust hat (damit keine Plantage auf die Dungzufuhr zu warten brauche). Doch das Strählchen verkohlt rasch und um Sternickel wirds wieder fahlgrau. Weder Gewitter noch Wolkenbruch. Wo blieb der blutdunstige Nimbus? Der Kranz aus den Sumpfblumen herbstender Romantik? Die Ueberfülle scheusäliger Enthüllung, die den Lungernden verheißen worden war? Mußte für diesen Ertrag ein Kriminologe von vielen Graden sich länger noch als der Weltenschöpfer plagen? Nicht nur die Monarchenmörder, von Aegisth, der Agamemnon erschlug, bis auf den irren Weltbeglücker, der in Saloniki jetzt einen König der Hellenen erschossen hat, kitzeln das Gedächtnißfell wohliger (denn sie hattens auf einen Nebenbuhler oder Tyrannen, den Thron- oder Bettlusträuber, den Wipfel eines gehaßten Stammes abgesehen): noch der Raubmörder aus Eitelkeit letzt den Gaumen reichlicher als dieser verviehte Müller, dem die Knechtsgestalt nicht Larve war und der über Leichen nur in Taglöhnerfron geschritten ist. Joseph Lepage, dessen Selbstbekenntniß Lombroso abgeschrieben hat, beugt sich über den geknebelten Strolch. Auch ein Wicht ohne besonderes Willensmerkmal. Der als Fünfzehnjähriger dem arbeitsamen Vater, als Dank für ernsthaft milde Ermahnung, das Lebensmotto in den Bart speit: »Wer sich schindet, ist ein Rindvieh; habe ich erst ein Frauenzimmer, das mir jeden Tag vierzig Sous zinst, dann bin ich geborgen«. Da er den Kochtopf, dem er Deckel sein dürfte, nicht sogleich findet, will er ein stilles Weibchen, seines Herbergers Gefährtin, töten, um ihr acht Francs zu nehmen. Dieses schäbige Motiv kleidet ihn aber allzu schlecht und er schminkt sich behend den Satyrkopf eines Lustmörders an. »Ich bebte, wenn ihre Haut mich streifte, und mußte ihr helfen, wenn sie die entzündete Brust verband. In solchem Drang hat michs übermannt. Den zuckenden, noch warmen Leib zu genießen: cela doit être un morceau de gourmet! Der Versuch mißlang. Ich habe ihr nur ein paar Centiliter Blut abgezapft: und soll nun fünfzehn Jahre im Höllenklima schuften. Lächerlich! Ja, wenn ich sie eine Viertelstunde lang in meinen Fängen gehabt hätte, gäbe ich gern meinen Kopf hin. Reue? Die bitterste; doch nur, weil ich so dumm war, beim Stoß falsch zu zielen. Fünf Millimeter tiefer: und sie verröchelte in meinem Arm.« Der schämt sich des Diebsgewandes, sehnt sich in die Nähe Pranzinis, des in orgiastischen Messen gefeierten Marquis de Sade und wendet sich verächtlich von dem Raubmörder, den kein Mimenschwung aus stickiger Mulde hoch ins Interesse einer hungernden Menge hebt.
Sternickel bleibt kalt und klar, wie, noch in gefährlichen Händeln, ein schlauer Bauer. Zwischen ihm und allen weicher Gebetteten ist Krieg; gilt seit Jahrzehnten nur das Höhlenrecht uralten Naturzustandes. Wenn es sein mußte, hat er gefront, daß der Fleißigste sich nicht neben ihm brüsten durfte. Vom Frühroth bis in die Nacht. Auf dem Feld und im Stall. Dann flogs ihm nur so von der Hand; und der Dienstherr schmunzelte und maß dem tüchtigen Knecht den Nachttrunk wohl einmal reichlicher zu. Gut. Nur: immer den Rücken krümmen, für Andere schwitzen, dem Fremden die Scheune füllen? Nein. Macht über Menschen erlangen, von ihrer Weide Futter erzwingen: Das wäre Trost und endlich sättigender Lohn. Wie aber erlangt Unsereins denn je, wie nur Macht über Menschen? Durch die von verschlagener List bediente Körperkraft. Durch das Geld, das sie ihm in den Beutel liefert. Verbrechen? Unsinn. Zwischen dem waffenlos in den Kampf ums Dasein Geschickten und den stärker Gerüsteten ist nicht Rechtsgemeinschaft, ist niemals von Beiden beschlossene Lebensversicherung; ist immer nur Krieg. Der unter der Bewußtseinsschwelle vorbereitet und auf der Tenne, an der Mistgrube, in der Ackerfurche ausgefochten wird. Würde der Herr zaudern, ihn wegen Siechthums oder geringen Fehls wegzujagen? Krieg also; der Erdhöhlenzwist um Nahrung, Wärme, Gebieterrecht. Und wer zählt im Krieg fallende Blutstropfen? Augenmaß und Wahrnehmungfähigkeit sind so blöd, daß sie zur Schätzung des Abstandes von fernem Gewinn und naher Gefahr nicht ausreichen. »Was ist ein Mord? Was ist ein Mensch? Ein Nichts!« Wird man ertappt, so gehts noch lange nicht an den Kragen. Ein Kerl, der zwei Zinken und Hauer hat, beißt oder kratzt sich durch und übertölpelt den Büttel, der für Litzchen und Zulage nicht ins offene Grab schielen mag und zwar alles Wahrscheinliche berechnet, für Unwahrscheinliches aber nicht vorgesorgt hat. Schwedische Gardinen sind kein Sargdeckel, Mauern von Mannesbreite nicht die Schollen, die der im Würmerverließ erwachende Arm nicht zu lockern vermag. Im richtig erspähten Augenblick die aller Voraussicht spottenden Gewaltmittel mobil gemacht: und der Sieg ist beinahe gewiß. Handeln im Weiten die großen Herren denn anders? Und ist das Ding schließlich nicht zu drehen, dann ist doch ein buntes Erlebniß, eins, in das Bleigrau des Frönertages geprasselt und ein im Riesenbetrieb der Bürgerwirthschaft unbeachtetes Rädchen für eine kurze Frist wenigstens in den Lichtkreis gerückt. Weshalb aber soll Einem, der stracks auf sein Ziel losgeht und nichts Unkluges, nichts unklug thut, Alles mißlingen? Hier lagert Geld genug für den Lebensrest. Eine gute Brise treibt Gehilfen herbei. Bauer, Bäuerin, Magd in festen Schlingen gedrosselt. Die Töchter, damit sie nicht heulen und zu unnöthiger Metzelei zwingen, in den Schrank gesperrt. Futter und Trank für das Vieh; sonst brüllt es zur Unzeit. Nichts Unnützliches; hübsch nüchtern bleiben und nichts Nothwendiges versäumen. Der Briefträger? Die Herrschaft ist verreist. Den Kadaver in die Strohmiete, die schnell in Brand kommt. Arbeit; wie andere. Dann, mit den bequem am Leib zu bergenden Beutetheilen, in die Nacht hinaus; in buntes Erleben und, endlich, in Genuß. In dem Ding müßten zwölf Teufel und ihre Großmutter sitzen, wenn es nicht zu drehen wäre.
Ist aber nicht. Und Sternickel muß dran glauben. Diesmal, weiß er, entwischt er nicht wieder. Seine Schliche sind ruchbar. Wie ein wildes Thier wird er in den Käfig gepfercht. Keine Klage; so gehts im Krieg. Und daß dieser verloren ist, könnte nur ein Tropf noch weglügen. Einen Vertheidiger von Ruf herwinken, einen aus dem berliner Troß, der jeder Lärmrolle nachjagt? Der würde, um in der Zeitung nie zu fehlen, täglich zehnmal das Wort fordern; mit Gericht und Staatsanwalt raufen; seinen Aerger ins Protokol spritzen; das Mandat wie ein verlaustes Trödelstück schwenken; sein Rügerecht mit Puschel durch den Saal tummeln; hinter das Gespenst unvermeidbarer Revision den Entschluß hissen, beim nächsten Unglimpf von dem Oderfort grimm nach Berlin zu weichen und den Angeklagten schutzlos zulassen; schließlich, wenn alle Raketen verknallt sind, in Psychologie plätschern und der Thränendrüse die Offizialleistung auspressen. (Nach dem berüchtigten Muster: »Daß mein Klient Vater und Mutter gemordet hat, darf und will ich nicht beschönigen; Ihre Gewissenspflicht aber, meine Herren Geschworenen, ist, ernstlich zu erwägen, daß er zur Waise wurde!«) Solchen Quark beleckt hier doch Keiner. Am Liebsten zerrisse die Volkswuth den Mörder. Der riecht die Stimmung; und wickelt sich stramm in Gleichmuth. Weder Abruzzenpose noch Zusammenbruch in den Tümpel der Reue. Stämmig sitzt er, ist mit jeder taktischen Wendung des Prozeßführers zufrieden und drückt sich an Ja und Nein nie feig vorbei. Die Hemmung, die Menschenhirne von aller Thierheit trennt, hat er nicht; aber trutzigen Muth bis ans Ende. Auch noch ein Bodensätzchen von dem Korsarenhumor, der ihn einst vor vielen Ohren höhnen ließ: »Die Polizeisippschaft hat keine Augen im Kopf; sonst hätte sie den Sternickel, der (ich bin aus dem selben Dorf) gar nicht zu verkennen ist, längst aufgegriffen«. Die Polizei haßt er wie je ein Frommer den Satan; dem Kommissar ein garstiges Läppchen ans Zeug zu flicken, ist ihm noch in Fesseln Genuß. Auch den Gehilfen ist er nicht hold. Die drei Jämmerlinge haben von dem verhagelten Ding wenigstens Etwas gehabt: sich randvoll gesoffen, in Autos gebummelt, den Radrennern zugegröhlt, mit willigen Mädchen geschlafen. Er hatte nichts, gar nichts als die Last der Zurichtung und das Elend der Flucht. Und die grünen Bengel, die vor Groschendirnen die That ausgeschwatzt, dann ihn verpfiffen haben und jetzt flennen, der Gedanke an Mord oder Totschlag sei ihnen nie genaht, diese ruppigen Zuhälter sollen mit blauem Auge davon? Nein. »Alles, was Recht ist.« Sternickels Rechtsgefühl bäumt sich; und billigt dann den Spruch, der ihn dreimal, zwei Helfer zweimal zum Tod verurtheilt und nur den jüngsten Gesellen auf fünfzehn Jahre ins Gefängniß schickt. Auf die letzte Karte, die einzige, die noch auszuspielen war, hat er selbst wohl kaum eine Hoffnung gesetzt. Er wollte sich als ruhigen, auf seine besondere Weise ehrlichen Mann präsentiren, Unbestreitbares frank zugeben und nur behaupten, was bündig nicht als falsch zu erweisen war: daß seiner Absicht Ziel Betäubung und Raub gewesen sei, doch nicht Mord. Diese Nothschanze war von einem Unbescholtenen nicht zu halten. Wer so würgt und das Schädeldach prügelt, hat, allermindestens, die Möglichkeit des Totschlages in sein Bewußtsein aufgenommen. Wider Sternickel zeugte obendrein die verjährte Schuld. Und der vom Staatszwang ihm verpflichtete Anwalt sprach für den Mörder kein armes Wörtchen. Würdiger war diese steife Absage als ellenlanges Rabulistengeplärr oder gar der Versuch, den Mörder vom Richtblock weg ins Irrenhaus zu schmuggeln. (Wer sich in Mord gewöhnt, sieht die Relation von Gewinn und Gefahr freilich so falsch, daß ihm die Willensschranke verrückt wird und er den Normalen nicht mehr zugehört; ihn sofort und für immer unschädlich zu machen, ist dennoch die Pflicht jeder von ihm gestörten Rechtsgenossenschaft.) Aber ein gefesselter Mensch, in höchster Lebensgefahr, ein noch so verthierter, ohne den Schild menschlicher Fürspräche: kein Lenzfeierglanz verklärte uns dieses Schreckensbild. Als Fedor Michailowitsch Dostojewskij, der grundlos des Trachtens nach Aufruhr verdächtigte Dichter, in der Peter-Paul-Festung das Todesurtheil hörte, hielt er sich still. Als auf dem Richtplatz, vor dem Galgen, der Wink eines weißen Tuches den Henker zwang, den irren Grigoriew vom Pfahl loszubinden, floh das Blut Fedors Michailowitsch, dem die Halsschlinge schon geknüpft war, in die Herzkammer zurück. Als ihm der Gnadenerlaß des Zaren vorgelesen wurde, überströmte die Wangen des zum Tod Bereiten jäh die Purpurwelle der Scham: denn diese Begnadigung empfand er »wie unnöthigen und häßlichen Schimpf.« In Sibirien litt er, als Zuchthaussträfling, unter Entbehrung, Arbeitzwang, Kettengewicht, Leibes und Geistes Noth nicht so wie unter der Wucht der Verachtung, die sich von ihm wandte, des mit Furcht gesprenkelten Hasses, der aus jedem nicht wegschweifenden Auge ihn und Seinesgleichen anfunkelte. Almosen wurde zum Seelenlabsal; und die Erlaubniß, ein Kupfergeldstück ins Kirchenbecken zu legen, leuchtete wie Sonnenaufgang ins Gemüth und weckte aus finsterem Schacht die Zuversicht: »Vor Gottes Blick bin auch ich ein Mensch; sind wir, Alle, den nicht in Eisen geschirrten, nicht von der Peitsehe umdräuten Menschen gleich.« Ostern wird eingeläutet. Die Freien, Reichen, Vornehmen drängen sich auf die bequemsten Sitze. Weitab, an der Schwelle, kauern die Elenden; Krüppel, Bettler, das Zuchthausvolk. Aus ihrem demüthigen Gebet lodert Inbrunst, die reine Flammensäule frommer Andacht. Und da im Morgengrau nun selbst den vom Staat Geächteten das Sakrament des Abendmahles gespendet wird und über dem Kelch des Priesters Mund den Herrn anfleht, auch dem ärmsten Schächer in dieser Stunde nicht die Aufnahme zu weigern, klirren hundert Ketten; liegen hundert Dürstende vor dem Erlöser im Staub; stehen hundert von Trost Gelabte auf und schleifen, neuer Wegzehrung froh, die Fessellast weiter. Und dem Dichter dämmert noch schöner ein Tag. Dem von der Morgenarbeit Heimkeuchenden schreitet eine Frau sammt einem kleinen Mägdlein entgegen. Das schaut den beladenen, vergilbten Mann; und reckt sich ans Ohr der Mutter. Der Sträfling erblinzelt noch, wie die Frau aus ihrem Bündelchen eine Münze nimmt. Nun hört er rasche Füße hinter sich; und schon hat das liebliche Kind ihn überholt. »Hier, armer Mann; um Christi willen!« Hartes drückt sich in die sanft entballte Hand. Und das scheue Vögelchen fliegt wieder der Nestschützerin zu. »Eine Kopeke! Ich habe sie lange aufbewahrt«: erzählt Dostojewskij. Weder das Kind noch die Mutter ahnte, daß ihre Gabe Einem zukam, der sich durch irgendein Wesentliches von den Kettengefährten unterschied. Den Unglücklichen, in Verbrechen Gestrauchelten wollten sie erquicken; nicht einen Dichter ehren. Eines jungen Soldaten Witwe und Waise. Der Mann, der Vater war eines Zuchtmangels verdächtigt, in Untersuchung gezogen worden und im Gefängnißspital gestorben. Eigenes Leid hatte sie, Mutter und Kind, Mitleid mit fremdem Elend gelehrt. »Hier, armer Mann; um Christi willen!« Noch blühte kein Lenz; in Frost starrte duftlose Erde. Aus der Grabesnacht aber war in Morgendust ein Heiland erstanden.