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Um den Leichnam Friedrichs Mitterwurzer ist ein Kulturkampf entbrannt. Der große Komoediant, der im Feuchten und Kalten nicht leben konnte, wollte auch als toter Mann nicht unter kalten und feuchten Erdschollen ruhen: das Feuer sollte, sein Lebenselement, den entgeisteten Leib züngelnd verzehren. Was ihn zu der seltsamen Hausvatersorge für den Erdenrest trieb? Vielleicht gönnte er den gierigen Würmern selbst das welkende Fleisch nicht, das schlanke Frauenfinger früher so oft gestreichelt hatten, vielleicht wars auch nur der Wunsch, immer das Neuste und Allerneuste mitzumachen, der den müden Nerven des Sterbenden einen letzten Genuß verhieß, – eine postume, brennende Sensation, die noch einmal den Blick des Publikums auf ihn lenken könnte. Doch die liebe Geistlichkeit kümmert sich nicht um die Bedürfnisse eines Genußsüchtlinges; sie besteht, als vereidete Beamtenschaft des Weltenschöpfers, heute eigensinnig noch darauf, daß der aus Erde geformte Mensch auch wieder zu Erde werde, sie mag von Feuerbestattung und ähnlichem modischen Kram nichts wissen und gewährt Denen nur ihren Segen, die hübsch ordentlich, wie es Sitte war, ist und bleiben soll, in den Boden gebettet werden. Mitterwurzers Leiche ist in Wien feierlich, unter pomphaftem Aufgebot, eingesegnet und geweiht worden und darf deshalb, so verkündeten fromme Pfarrer, nicht den zehrenden Flammen überliefert werden. Und weil die Hinterbliebenen zaudernd vor der Frage standen, ob sie dem Wunsch des Künstlers die Erfüllung weigern oder dem Zorn der Kirche trotzen sollten, hat der Leichnam des Ruhelosen Tage lang keine Ruhe gefunden. Nirgends. Es war ein Kampf wie um Faustens Unsterbliches. Die schlotternden Lemuren hatten diesmal ihr nächtiges Werk nur halb gethan, und ehe der Weg vom hellen Theaterpalast ins enge und letzte dunkle Haus noch zurückgelegt war, entbrannte der uralte Zwist zwischen dem bübisch-mädchenhaften Gestümper, »wie frömmelnder Geschmack sichs lieben mag«, und den roten kichernden Flammengeistern, die ihren Raub in Feuerwirbelstürme retten wollten. Wenn der Mann, der im Dunstkreis der Coulissenluft sich sein Leben lang faustisch mühte und faustisches Schöpferglück fand, dem Schauspiel zuzusehen vermocht hätte, – wer weiß, ob er mit den Engeln nicht recht verruchte Scherze getrieben und mit dem goethischen Teufel, den er immer zu greifen strebte und nie ganz begriff, höhnend und grinsend ausgerufen hätte: »Es sind auch Teufel, doch verkappte!«
Dann könnte er in den appetitlichen Rackern vielleicht liebe Verwandte begrüßen und die Kleinen von den Seinen lachend aus der kleidsamen Muckermaske kitzeln. Denn er gehörte selbst ein Bischen zu dem Geschlecht der verkappten Teufel, die gar so englisch verzückt dreinblinzeln können und an Rosenketten das gekirrte Opfer in den Höllenschlund zerren. Er glich oft einem gefallenen Engel, dem sündig gewordenen und aus der Gemeinschaft der Reinen deshalb verbannten Lucifer, dessen unvertilgbar adeliges Wesen die Pöbelschaar, in der er nun heimisch geworden ist, noch mit einem letzten Abendstrahl des rosigen Himmelsglanzes verklärt. Ein früh welkes und verwüstetes Gesicht mit weiten, leeren Flächen, schlaffe und fahle Wangen, ein sinnlich begehrender Mund, der von allen Genüssen, rastlos immer nach neuem Genuß schmachtend, genascht hat, – und über diesen Trümmern eines einst edlen Menschenantlitzes ein wundervolles Auge, das Auge eines unbeugsamen Gebieters, der Gehorsam, Liebe, willenlose Hingabe und von den Schwächsten beinahe Anbetung erzwingt. Dieses Auge war Mitterwurzers herrlichster Besitz; es half ihm zu Wirkungen, wie sie außer Booth kaum ein anderer moderner Schauspieler jemals erreichte. Ich erinnere mich noch des Abends, wo ich Edwin Booth zum ersten Male sah; er kauerte als Hamlet auf den Stufen des Thrones, auf dem des geflickten Lumpenkönigs lächelnde Majestät sich lümmelhaft spreizte, und sah, mit dem weichlich hageren Kopf und dem langen Hals, dessen tiefe Greisenfurchen die Schminke nicht decken konnte, wie eine häßliche Alte Jungfer aus. Das sollte Hamlet sein?... Da, auf das Wort des Königs, der ihn schmeichelnd als Vetter und Sohn umwirbt, hob der Zusammengesunkene das Haupt und schlug langsam, als riefe die dumpf gehaßte ölige Stimme ihn aus tiefem Traum, die Augen auf; es war, wie wenn ein schwarzer Schleier nach dem anderen sänke, bis das große, stille Auge ganz offen vor dem Betrachter lag, – ein Auge, das oft gewiß schon in die verborgensten Räthsel der Ewigkeit hineingeblickt und mit entfleischten Gespenstern stumme Zwiesprache gehalten hatte. Ja: Das war Hamlet, war der seltsame Jüngling, dem der für kurze Stunden aus schwefligen Flammen erlöste Vater vertrauen durfte... Mitterwurzers helleres Auge vermochte ähnliche Wirkung. Er spielte den Wallenstein nicht gut, nicht im Geist der Zeit des Gedichtes, und ließ uns den derben Mann des Lagers und den väterlichen Freund Maxens vermissen; wenn der Vereinsamte aber, den der von des Schicksals Stimme selbst empfohlene Waffengefährte verlassen hatte, in brünstig frohem Glauben das Auge zum Himmel hob, dann strahlten in seinem Blick wirklich des Friedländers Sterne. Und dieses Auge gehorchte der leisesten Regung des Empfindens; es konnte zornig blitzen und viehisch vergnügt zwinkern, drohen und locken, lüstern werben und blöde glotzen. Am Liebsten aber leuchtete es doch aus dem stolzen Haupt eines herrischen Uberwinders, der Völker bändigt und Frauen zähmt. Dann wurde der Begriff des Verführers, der nur in schlechten Romanen und Theaterstücken schemenhaft noch zu spuken scheint, endlich einmal lebendig und vor uns stand ein Mann, der mit dem Blick streichelt und buhlt, kitzelt und kost und so lange den gleißenden Wurm in das belagerte Frauenauge bohrt, bis aus dem sprödesten Sinn prasselnd die Funken sprühen. Dann erst kam auch das Luciferische dieses Mannes heraus, der äußerlich fast einem Gott – oder, wie man jetzt gern sagt: einem Übermenschen – glich und es doch nicht war und der, wie Byrons bleicher Versucher, zornig zu stöhnen schien: »Und da es mir mißlang, ein Gott zu sein, möcht' ich nichts Andres sein, als was ich bin.« Er hatte Demuth nie gelernt, konnte nur weilen, wo er der Erste war, und hätte auf alle Seligkeit des Himmels verzichtet, ehe er einem fremden Gesetz den Nacken beugte.
Deshalb entfloh er zweimal dem friedsamen Paradies des Burgtheaters. Er wäre in dieser weichen Stille erstickt; er konnte bei den Phäaken nicht atmen und lechzte nach frischen Aprilstürmcn. Was sollte er auch dort? Die Sprudeljugend wurde noch immer von den Herren Sonnenthal und Hartmann dargestellt, den Virtuosen der schönen Linie, und die großen Bösewichte besorgte Herr Lewinsky, der ein Tragoede ersten Ranges geworden wäre, wenn die Natur ihm, ihrem Stiefkinde, nicht den grausigen Reiz der Lasterhaften und die Polyphonie der Stimmungen versagt hätte. Nero fiel dem süßen Sonnenthal, Caligula dem Hünen Gabillon als Beute zu, – und Mitterwurzer, der für beide Rollen geschaffen war, konnte sehen, wo er blieb. Er mußte, wenn Sonnenthal lustige Leute gab, langweilige Liebhaber spielen und, während Lewinsky Richard war, irgend einen Lord würdevoll repräsentiren. In allen Nöten war er freilich der Helfer; denn er konnte Alles spielen, von der Tragoedie bis zur Posse, und war, je nach Bedarf, Faust oder Mephisto, Franz, Karl oder der alte Moor, Fiesko oder Hassan, Beaumarchais oder Carlos, Othello oder Jago, Macbeth und Doktor Wespe. Doch diese Nothhelferstellung behagte ihm nicht. Eine Weile ertrug er sie, trotzdem die Kritiker, mit dem allmächtigen Ludwig Speidel an der Spitze, ihm das Leben recht sauer machten; dann lief er davon, – leider zu spät, denn er hatte im Innersten schon die tötliche Wunde empfangen. In Berlin hat kein Theaterkritiker auf die Stimmung des Publikums beherrschenden Einfluß; in Wien aber war Speidel eine Großmacht, mit der selbst der Stärkste sich abfinden mußte. Auch er hat oft geirrt; kannte aber das Theater und dessen Lebensbedingungen, schrieb einen prachtvoll persönlichen Stil und konnte Dichter und Schauspieler nach Laune selig sprechen oder verdammen. Dieser Mann hat an Mitterwurzer das Schlimmste gethan: er hat ihm den Glauben an sich selbst und die ruhige Sicherheit des Schaffens für Jahre geraubt. In Speidels Augen war Mitterwurzer der Eindringling, das fremde und feindliche Element, dem man im festen Gefuge des alten Burgtheaters keinen Raum gönnen durfte. War nicht Sonnenthal da, Baumeister, Meixncr, Gabillon und alle die Anderen? Was wollte der dreiste Geselle unter den Meistern? Speidel spürte nicht, daß Mitterwurzer der Mittelpunkt eines neuen Burgtheaters werden konnte, und schlug, während die Alten jauchzten, unermüdlich auf den jungen Umstürzler ein. Dadurch trieb er den Schauspieler, dessen Wesenheit niemals recht harmonisch gewesen war, in die grellsten Übertreibungen: Mittcrwurzer wollte um jeden Preis glänzen und auffallen, gegen den wütenden Despoten der Neuen Freien Presse das Publikum für sich gewinnen, – und so fiel er in die schlimmsten Schrullen einer krankhaft erregten Effekthascherei, die nur mit dem Ungewöhnlichen und Unerhörten noch wirken zu können wähnte. Ein Mensch, den Mitterwurzer spielte, durfte nicht mehr aussehen, gehen und stehen wie andere Christenmenschen, er mußte allerlei Angewohnheiten und Steckbriefkennzeichen haben, die auch den Obcrflächenbetrachtcr schnell fesseln konnten; sein Mephisto wurde, wie Speidel damals ganz richtig schrieb, ein »gräßlicher Hanswurst«, sein Franz Moor rülpste wie ein besoffener Rüpel durch den Schloßpark und sein Macbeth rüstete sich in viehischer Trunkenheit für die letzte Schlacht. Schon Laube, der Ewig-Nüchterne, hatte an Mitterwurzer die Neigung bemerkt, Einunddreißig zu sagen, wo er nur Dreißig sagen sollte. Diese Neigung mußte ins Pathologische gesteigert werden, als der Schauspieler statt der Anerkennung nur Hohn oder höchstens Gleichgiltigkeit fand. Er brauchte den Beifall, er langte und lechzte, im Gefühl strotzender Kraft, nach dem ersten Platz unter den Histrionen des Kaisers und versuchte, Beifall und Geltung dadurch zu erringen, daß er »anders« war, ganz anders als die k. und k. Nachbarschaft ... Die Italiener hatten unserer erstarrten Schauspielkunst eben eine Renaissance gebracht; Rossi, Salvini und ihre Meisterin Adelaide Ristori waren ohne das lastende Schulvorurtheil an die (so genannten) Klassiker herangetreten, sie hatten die Gestalten Shakespeares wieder menschlich und naiv, nicht durch die geschliffenen Gläser der Tradition, gesehen und sie mit einer Technik nachgeschaffen, die im Lande der Ziegler und Haases ein Wunder schien. In ihren Spuren schritt Mitterwurzer vorwärts, aber er kam nicht an ihr Ziel; ihre Technik konnte er lernen, den geschmeidigen Körper und die metallische Stimme zu jedem Dienst zwingen, aber ihre Naivetät war ihm versagt. Den Italienern waren Shakespeares Dramen »Novitäten« wie andere auch ihnen war nicht in der Schule schon alles Klassische verekelt, durch die Theatereindrücke der ersten Jugend den Gestalten des Briten nicht ein festes Gepräge gegeben worden, das die Phantasie dann für immer lähmte, – und so nahten sie keck, mit der unverbrauchten Kraft ihrer Anschauung, selbst den ragenden Riesen: Lear und Macbeth und dem schlimm gepaarten Mohren von Venedig. Der deutsche Schauspieler war nicht so gut dran: er mußte vergessen, tiefe Eindrücke aus der Erinnerung kratzen und den erkältenden Verstand in der Schöpferstunde zu Hilfe rufen; er hatte gehört, gesehen oder gelesen, wie Schroeder, Devrient, Seydelmann, Dawison, Dessoir oder Anschütz die und die Rolle zu spielen pflegten, und der Versuch, dennoch die Selbständigkeit zu bewahren, kostete eine Anstrengung, bei der oft genug die Ursprünglichkeit zum Teufel ging. Trat nun, wie bei Mitterwurzer in Wien, die bewußte Absicht hinzu, um jeden Preis anders zu sein als die nächste Umgebung, dann war die Gefahr natürlich besonders groß. Sonnenthal hatte die Lebemänner mit einer sanften und süßen Anmuth gespielt, die aus Fichtners Vermächtniß stammte: Mitterwurzer gab ihnen die ungezügelte Lebenslust eines mit heißem Gelüsten in die civilisirte Welt entflohenen Barbaren; Lewinskys Franz Moor war eine Abstraktion, der kaum individualisirte Trieb zum Bösen: Mitterwurzers Franz wurde ein weichlicher, kindischer Prasser, ein boshafter Schlingel, der früher wohl Schmetterlinge gespießt und verflatterte Vögelchen gerupft hatte und der mählich so zur großen Missethat herangereift war. Er donnerte, wo Andere geflötet hatten, und säuselte, wo sonst ein derber Theaterdonner üblich gewesen war. Man sollte ihn sehen, ihn auffällig finden, – wenn auch das Werk des Dichters dabei aus den Fugen ging und die Gestalt im Wirbelwind der Effekte zerbröckelte. So weit trieb ihn der Unverstand eines klugen Kritikers. Und als dennoch Alles nutzlos blieb und er immer wieder hören mußte, wie man den weichen Comtessenspieler Sonnenthal ihm vorzog, lief er, nun schon zum zweiten Male, davon. Spät erst, als ein aufrechter Fünfziger, kehrte er dahin zurück, wo stets seine Heimath gewesen war, und nun fiel Alles ihm zu, was er früher so sehnsüchtig begehrt hatte: als ein Triumphator, dem kein Anderer sich vergleichen durfte, stand er auf den Brettern, spielte, was ihm gefiel, war der Mitregent des Burgtheaters, wurde vom Publikum und von der Presse laut umjubelt und von Speidel, der alte Schuld fühlen mochte, zärtlich gehätschelt. Aber nun war es zu spät: der ungesunde Hang zum Auffälligen, Unerhörten, war völlig nicht mehr zu bannen und dem Schauspieler, dem so Großes gelang, war zu reinster Künstlerschaft, wenigstens im Alltagsspiel, der Weg fortan gesperrt.
Nur an die Allergrößten aber darf man denken, wenn man ihn anderen Helden der Schaubühne vergleichen will, an Einen besonders, dem er als Mensch und als Menschendarsteller ähnlich war: an Edmund Kean. Von dem Engländer sagte Heine: »Er war einer jener fürchterlichen Farceure, bei deren Anblick Thalia vor Entsetzen erbleicht und Melpomene vor Wonne lächelt. Kean war einer jener Menschen, deren Charakter allen Reibungen der Civilisation trotzt, die, ich will nicht sagen: aus besserem, sondern aus ganz anderem Stoff als wir Anderen bestehen, eckige Sonderlinge mit einseitiger Begabung, aber in dieser Einseitigkeit außerordentlich alles Vorhandene überragend, erfüllt von jener unbegrenzten, unergründlichen, unbewußten, teuflischgöttlichen Macht, die wir das Dämonische nennen. Mehr oder minder findet sich dieses Dämonische bei allen großen Männern der That oder des Wortes. Kean war gar kein vielseitiger Schauspieler; er konnte zwar in vielerlei Rollen spielen, doch in diesen Rollen spielte er immer sich selbst. Er war eine jener exzeptionellen Naturen, die weniger die allgemeinen schlichten Gefühle als vielmehr das Ungewöhnliche, Bizarre, Außerordentliche, das sich in einer Menschenbrust begeben kann, durch überraschende Bewegung des Körpers, unbegreiflichen Ton der Stimme und noch unbegreiflicheren Blick des Auges zur äußeren Anschauung bringen.« Das paßt beinahe Wort vor Wort auf Friedrich Mitterwurzer. Auch er konnte zwar vielerlei Rollen spielen, aber er spielte in jeder eigentlich nur sich selbst: immer, sogar wenn er, zum eigenen Amüsement, den Schmierendirektor Striese spielte, kam der Moment, wo das Charakterbild klaffend zerriß und Mitterwurzers Herrenauge leuchtend durch die Maske blickte. Auch er war, wie Kean, in der Darstellung allgemeiner schlichter Gefühle nicht stark, – und hier lag die Grenze seines von fern unbegrenzt scheinenden Könnens. Er war ganz und gar nicht naiv und konnte einfachen Gefühlen nicht die Zunge lösen, einfach empfindende Menschen nicht auf die Beine stellen. Sein bewunderter Konrad Bolz, dessen arge Mätzchen und geschmacklose Improvisationen Gustav Freytag aus dem Theater trieben, war ein höchst reizvoller Gastkomoediant, ein Verführer und Zauberer aus dem überheizten Coulissenreich, aber kein brauner Bursche, der harmlos fröhlich einst durch die Dorfstraße tollte und neckend nun ehrliche Bürgersleute zum Besten hält. Sein Dietrich Quitzow war ein robuster Prachtkerl, dessen Wiege aber sicher nicht in der Mark, sondern im sonnigen Lande der Borgia und Malatesta gestanden hatte, und sein koketter Junker Roecknitz wäre auf den pariser Boulevards eher heimisch gewesen als in der ostelbischen Wüste. Sein eigenster Machtbereich begann erst bei den komplizirten und kranken Naturen, – und sie konnten ihm nie komplizirt und krank genug sein ... Auch sein Lebenswandel ähnelte dem Keans. Beide liebten geräuschvoll orgiastisches Genießen, schlugen der Wohlanständigkeit frech ins Gesicht, ließen am Wege kein liebliches Blümchen verdorren und gefielen sich am Ende in Similitollheit und Simulantenwahn. Heutzutage sind die Theaterleute sehr korrekt, halten auf Anstand und Bildung und verkehren in den besten Familien; die netten Mädchen nehmen zwar noch immer Liebhaber, aber nur, weil die Toiletten so theuer und die Gagen gewöhnlich so klein sind, und Eine, die sich aus Leidenschaft an einen armen heißen Jungen wegwirft, wird, als ein dummes Ding ohne praktische Vernunft, über die Achsel angesehen. Man spürt dieses Streben nach bürgerlicher Anständigkeit in dem frostigen, uniformirten Spiel der neuen Theaterbureaukratie, die am Studirtisch dicke Bände gewälzt hat und auf der Bühne die Grenzen der sauberen Konvention nie überschreitet. Die Sätze, die Rousseau in den berühmten Brief an D'Alembert schrieb, gelten heute nicht mehr: »L'état de comédien est un état de licence et de mauvaises moeurs; les hommes y sont livrés au désordre; les femmes y mènent une vie scandaleuse; les uns et les autres, avares et prodigues à la fois, toujours accablés de dettes et toujours versant l'argent à pleines mains, sont aussi peu retenus sur leurs dissipations que peu scrupuleux sur les moyens d'y pourvoir.« Diese Sittenschilderung stimmt schon lange nicht mehr zu der glatten Hoftheaterwirklichkeit. Mitterwurzer aber hätte in das Bild des citoyen de Genève gepaßt. Man könnte ihn, wenn neben und nach ihm nicht Matkowsky gelebt hätte, den letzten großen Komoedianten alten Stils nennen, den legitimen Erben der wilden Bretterkönige, der Kunst, Kean, Fleck, Ludwig und Karl Devrient.
Er wäre auch auf jedem anderen Gebiet eine ungewöhnliche Erscheinung geworden, ein Massenhypnotiseur, ein großer Verbrecher oder mindestens ein tollkühner Haberer. Denn das Stärkste in ihm war der Wille, ein Erobererwille, dessen Gewalt Alles sich beugen mußte und der zufällig nur ein Wille zum Schauspielen wurde. Er kam wie von hohen Barbarenbergen in die Kulturniederungen und wollte sich nie in das kleine Richtmaß civilisirter Erdensöhne bequemen. So sicher er alle mondänen Aeußerlichkeiten beherrschte und in jedem Salon der Vornehmste war: etwas Wildes, Ungezähmtes und Unzähmbares blieb immer zurück und brach, wie ein jähes Gewitter am hellen Sommermittag, plötzlich hervor. Das war sein Reiz; darin lag aber auch seine Gefahr. Weil er nur durch den Willen wirkte, wurde er machtlos, sobald sein Wille ermüdete; dann kamen die toten Strecken, die launischen Sprünge, die erkünstelten, kalten Effekte. Wenn er merkte, daß ein Stück nicht zu retten war oder daß er selbst den Kontakt mit der Menge nicht fand, gab er das Treffen auf und hastete seine Rolle lieblos herunter. Das waren dann fürchterliche Abende, fürchterlich für die Mitspieler und für das Publikum. Auf der Bühne tuschelten dann die Kollegen, wahrscheinlich ohne zu ahnen, wie richtig die Bemerkung war: »Heute will er mal wieder nicht«; und unten wisperten die Kenner: »Das sind so seine Boecklinismen!« Er war an verschiedenen Abenden in der selben Rolle nicht wiederzuerkennen, – ungefähr wie unser Albert Niemann, dem er in manchem Wesenszug glich, der ihm an naiver Innigkeit eines kraftvollen Mannesempfindens aber überlegen war. Der unvergleichlich größte Schauspieler unserer Zeit, Ernesto Rossi, war von anderer Art; seine reiche und reife Kunst bedurfte keines gewaltsamen Hebels und schenkte uns, vor leerem wie vor vollem Hause, immer die selben köstlichen Schätze. Mitterwurzer war von der Kraft und der Frische seines Willens abhängig und mußte, um diesen Willen zu neuer Leistung zu spornen, immer neue stimulirende Mittel suchen. Man hat ihm, mit Recht, vorgeworfen, daß er so gern in erbärmlichen Stücken auftrat. Aber er brauchte die schrillsten Sensationen und war viel zu sehr Schauspieler, um »literarisch« zu sein. Führt einen Maler, der seine Kunst leidenschaftlich liebt, in den herrlichsten Wunderbau: sein erster Blick wird an den Wänden die Bilder suchen. Gebt einem Schauspieler, der vom berlinischen Klüngel nicht zum schwachgemuthen Heuchler verzogen ist, ein Theaterstück in die Hand: er wird zuerst nach der Rolle spähen, die er gestalten, die ihm die Möglichkeit suggestiver Wirkung auf die Menge bieten könnte. Mitterwurzer heuchelte nicht; er griff gierig nach den Rollen, die »ihm lagen«, spielte Narziß, Kean, Zolas delirirenden Säufer und, wenn gerade nichts Anderes zu finden war, sogar Cardou, den wüsten Bagnosträfling. Um den Literaturwerth der Dichtung bekümmerte er sich kaum und es war ihm ganz gleichgiltig, ob der Poet auch zu seinem Rechte kam. Er war nicht geschaffen, Anderer Geisteskinder zu pflegen und künstlich aufzupäppeln, und mochte mit Ibsens Skalden denken, daß ein Mann für das Lebenswerk eines Anderen zwar fallen, aber nur für das eigene leben kann. Solche Willensmenschen sind unbequem; sie ducken sich nicht, fügen sich in kein »Ensemble« und der Demokratensinn, dem ein deutscher Herzog auch die Bühnenpforte erschlossen hat, sieht unwillig auf ihre selbstherrische Gewaltthat. Aber sie gewähren uns auch den höchsten Genuß, der hienieden zu haschen ist: den Anblick ragender Größe, die im Schaffen der Menschheit Grenzen erweitert. Sie zerbrechen die alten Tafeln und geben dem Gewimmel der Kleinen manches Aergerniß, aber sie können dem froh zu ihrem Wirken aufschauenden Blick auf neuen Tafeln auch neue Satzungen bieten ... Soll man sie in das Prokrustesbett zwängen und sie um einen Kopf kürzer machen, damit sie nicht mehr größer seien als ihre Genossen? Ich denke, wir sind mit Mittelgröße reichlich versorgt und können uns freuen, wenn irgendwo noch ein Stämmiger sich regt. Mitterwurzer war kein treuer Diener am Wort des Dichters, – gewiß nicht; er war zu stark, um nur zu spielen, was ihm vorgeschrieben war, zu sehr Schöpfer, um sich mit der bescheidenen Arbeit des Interpretirens begnügen zu können. Man mußte sich oft über ihn ärgern. Dann aber, wenn wieder ein Drama erschien, in dem ein bedeutender Mensch lebendig zu machen war, kam doch immer wieder auch das alte Geständniß: Nur Mitterwurzer kann die Rolle spielen. Nur er konnte damals auf deutschen Bühnen Solneß und John Gabriel Borkmann sein; da er gestorben ist, ehe er an diesen fast überlebensgroßen Gestalten die Kraft erproben durfte, werden wir sie nicht in ihrem stolzen Wuchs über die Bretter schreiten sehen.
... Nach dem Lärm des Leichenzankes kam die Kunde, der große Komoediant solle nun doch in der Erde ruhen. Die Kirche hat gesiegt und die rothen kichernden Flammengeister mußten die kostbare Beute lassen. Auch die Allermodernsten sollten über diese Entscheidung nicht zimperlich jammern. Mitterwurzer hatte, selbst noch in den letzten Jahren, wo sich um manche seiner Leistungen schon der dicke wiener Zuckerguß zu schmiegen begann, Feuer genug und brauchte nicht, wie ein Fröstelnder, in Flammen gebettet zu werden. Zu der Erde zog den Lebenden die Begierde; er taugte nicht ins reine Element des Salamanders. In die Erde durften sie den Toten bestatten. Was an ihm unsterblich war, trugen die seligen Knaben empor und der Weltenschöpfer, der stets viel duldsamer war als seine Beamten, hat dem wild irrlichtelirenden Geist, der sich auf seine Weise strebend immer bemühte, gern gewiß die enge Gnadenpforte erschlossen, die zur leuchtenden, die Sünder erlösenden Klarheit führt. Der große Komoediant war ein frommer Christ.