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Gedämpftes Saitenspiel

Roman


Einleitung

Heuer gibt es gewiß viel Beeren. Preiselbeeren, Rauschbeeren und Multebeeren. Nicht, daß man von Beeren leben könnte. Aber es ist so heimlich, wenn sie draußen stehen, und für das Auge sind sie erfreulich. Und oft sind sie auch erfrischend, wenn man hungrig und durstig ist.

Daran dachte ich gestern abend.

Es dauert wohl noch zwei und drei Monate, bis die späten Herbstbeeren reif sind, das weiß ich recht gut. Doch erwarten uns auch andere Freuden im Freien draußen als nur Beeren. Im Frühling und im Sommer sind die Beeren erst noch Blüten; aber da gibt es Glockenblumen und Hornklee und tiefe, windstille Wälder, den Duft der Bäume, Schweigen. Vom Himmel tönt es wie das ferne Rauschen eines Flusses, in Zeit und Ewigkeit gibt es keinen so langgezogenen Laut. Und wenn eine Drossel singt, dann steigt ihr Ruf weiß Gott wie steil empor, und während er sich hoch da oben hält, schlägt er plötzlich einen rechten Winkel, einen Strich, so klar und rein wie mit Diamant geschnitten. Dann singt sie wieder abwärts, weich und herrlich. Auch an den Ufern herrscht Leben. Lummen, Krähen und Seeschwalben hüpfen umher; die Bachstelze ist draußen und sucht Futter, sie bewegt sich in Stößen vorwärts, wippend, fein und spitzschnabelig, dann fliegt sie auf einen Zaun und singt, sie auch. Aber wenn die Sonne untergegangen ist, stimmt vielleicht eine Lumme ihr melancholisches Hurra von einem abgelegenen Bergsee her an. Das ist das letzte. Nun ist nur noch die Grille da. Über sie ist nichts zu sagen, sie ist so unsichtbar und ist zu nichts nutz. Sie liegt nur dort und knarrt wie Harz.

Über dies alles denke ich nach: daß auch der Sommer seine Freuden für den Wanderer hat, und daß man nicht auf den Herbst zu warten braucht.

Nun aber überlege ich mir, daß ich hier sitze und über diese stillen Dinge ruhige Worte schreibe – als ob ich niemals später zu heftigen und gefährlichen Begebenheiten kommen sollte. Dies ist nur ein Kniff, ich lernte ihn von einem Mann auf der südlichen Halbkugel, von Rough, einem Mexikaner. Rund an der Krempe seines ungeheuren Hutes klingelten kleine Messingpailletten, und schon deshalb erinnere ich mich seiner. Und vor allem erinnere ich mich, wie ruhig er von seinem ersten Mord erzählte: Einmal war meine Liebste ein Mädchen, das Marie hieß, erzählte Rough mit seiner resignierten Miene, ja, sie war erst sechzehn Jahre, und ich war neunzehn. Sie hatte so kleine Hände; wenn sie mir für etwas dankte oder mich begrüßte, hatte ich eigentlich nur ein paar dünne Finger in der Hand, so war sie. Eines Abends nahm sie der Herr vom Felde mit heim, damit sie ihm etwas nähe. Das war nicht zu verhindern; und es verging auch nicht mehr als ein Tag, da nahm er sie wieder vom Feld mit heim zum Nähen. So ging es einige Wochen, dann hörte es auf. Sieben Monate später starb Marie und wurde begraben, und auch ihre kleinen Hände wurden begraben. Ich ging zu ihrem Bruder Inez und sagte: Morgen früh gegen sechs Uhr reitet der Herr zur Stadt, und er ist allein. Ich weiß es, antwortete er. Du könntest mir dein kleines Gewehr leihen, damit ich ihn morgen erschießen kann, sagte ich. Ich werde es selbst brauchen, erwiderte er. Dann sprachen wir eine Weile von anderen Dingen, vom Herbst und von dem neuen großen Brunnen, den wir gegraben hatten. Als ich ging, hob ich sein Gewehr von der Wand und nahm es mit. Im Walde war mir Inez dicht auf den Fersen und rief mir zu, ich solle warten. Wir setzten uns und schwätzten noch über allerhand, doch bald schnappte mir Inez das Gewehr weg und ging heim. Am Morgen war ich frühzeitig am Gatter, um es für meinen Herrn zu öffnen, und Inez war auch dort in den Büschen. Ich sagte zu ihm: Du mußt deiner Wege gehen, damit wir nicht zwei sind gegen einen allein. Er hat Pistolen im Gürtel, was aber hast du? fragte Inez. Nein, ich habe nichts, antwortete ich, aber ich habe ein Bleilot in der Hand, und das macht keinen Lärm. Inez sah das Lot an, dachte eine Weile nach, dann nickte er und ging heim. Jetzt kam der Herr geritten, er war sehr grau und alt und mindestens sechzig Jahre. Auf mit dem Gatter! befahl er. Aber ich öffnete das Gatter nicht. Glaubte er wohl, ich sei verrückt geworden? Er schlug mit der Peitsche nach mir, aber das beachtete ich nicht. So mußte er selbst herunter, das Gatter zu öffnen. Da gab ich ihm den ersten Schlag, er traf beim Auge und brach ein Loch. Oh! rief er und taumelte zu Boden. Ich sagte ein paar Worte zu ihm, aber er verstand sie nicht, nach einigen Schlägen war er tot. Er hatte viel Geld in der Tasche, ich nahm mir davon, was ich für die Reise brauchte, dann saß ich auf und ritt fort. Inez stand an seiner Tür, als ich kam. Du hast nur dreieinhalb Tage bis zur Grenze, sagte er.

So erzählte Rough diese Begebenheit und starrte ruhig vor sich hin, als er geendet hatte.

Ich habe von keinem Mord zu berichten, sondern von Freuden und Leiden und Liebe. Und Liebe ist ebenso heftig und gefährlich wie Mord.

Jetzt ist es grün in allen Wäldern, dachte ich heute morgen, während ich mich ankleidete. Sieh, der Schnee schmilzt in den Bergen, in allen Ställen steht das Vieh unruhig und will hinaus, und in den Häusern der Menschen sind die Fenster weit geöffnet. Ich knöpfe mein Hemd auf, lasse mir den Wind entgegenwehen und fühle, wie ich im Innersten besessen werde von Unbändigkeit und Begehren; oh, es ist ein Augenblick wie vor vielen Jahren, als ich jung war und stürmischer als jetzt. Vielleicht gibt es im Osten oder Westen von hier einen Wald, denke ich, wo ein Alter es ebensogut haben kann wie ein Junger, dorthin gehe ich!

*

Regen und Sonne und Wind wechseln, ich bin schon viele Tage gewandert, noch ist es zu kalt, nachts draußen zu schlafen, aber ich finde ohne Schwierigkeit Obdach auf den Höfen. Ein Mann wundert sich darüber, daß ich so zwecklos wandere und wandere: ich sei wohl eine verkleidete Person, die nur merkwürdig sein wolle, wie Wergeland. Der Mann kennt meine Pläne nicht, weiß nicht, daß ich bekannte Orte aufsuchen will, wo einige Menschen sind, die ich Wiedersehen möchte. Aber er hat einen hellen Verstand, und unwillkürlich nicke ich und finde etwas Wahres an seinen Worten. Soviel Theater steckt in jedem Menschen, man fühlt sich geschmeichelt, wenn man für mehr gehalten wird, als man ist. Jetzt aber kommen Frau und Tochter zu uns her und unterbrechen uns mit dem gewohnten gutmütigen Gerede, er hat ja nicht gebettelt, sagen sie, hat ja für das Abendessen bezahlt! Da werde ich in meinem Innern feig und verschlagen, schweige still und dulde, daß mir der Mann noch mehr zur Last legt, und schweige auch dazu. Wir drei Gemütsmenschen überwinden den Verstand des Mannes, er muß erklären, daß er gescherzt hätte, wir verstünden doch wohl einen Scherz! Eine Nacht und einen Tag blieb ich auf dem Hof, ich fettete meine Schuhe besonders gut ein und setzte meine Kleider instand.

Da wird der Mann wieder mißtrauisch: Wenn du nun gehst, gibst du meiner Tochter gewiß ein recht großes Trinkgeld, sagte er. Ich tat, als berühre mich das gar nicht, und erwiderte lachend: So, tu ich das? Ja, antwortete der Mann, und dann bleiben wir zurück und denken, du müßtest wohl eine sehr hochstehende Person gewesen sein.

Ach, wie unausstehlich er mir war! Ich tat das einzige, was ich tun konnte, ich überhörte seine Anzüglichkeiten und bat um Arbeit. Es gefalle mir gut hier, sagte ich, und er könne mich brauchen, könne mich jetzt bei der Frühjahrsbestellung zu allem möglichen verwenden. Es ist mir am liebsten, du gehst deines Weges, antwortete der Mann, du bist ein Narr! Es war unverkennbar, daß er mich haßte, und es war keine der Frauen vom Hof zur Stelle, die mir hätte helfen können. Ich sah ihn an und konnte sein Auftreten nicht fassen. Sein Blick war fest; es kam mir plötzlich vor, als hätte ich noch niemals so kluge Augen bei einem Menschen gesehen. Aber er übertrieb seine Bosheit und brachte sich selbst auf Abwege. Er fragte: Was sollen wir den Leuten sagen – wie heißt du? Du brauchst gar nichts zu sagen, antwortete ich. Ein wandernder Eilert Sundt? riet er. Ich ging auf den Scherz ein und erwiderte: Ja, meinetwegen! Als der Mann aber diese Antwort bekam, wurde er aufgebracht und immer zungenfertiger, er sagte: Frau Sundt tut mir leid! Da zuckte ich mit den Achseln und antwortete: Du irrst dich, ich habe keine Frau! Damit wollte ich gehen. Aber mit einer unnatürlichen Schlagfertigkeit rief er mir nach: Nein, du selbst irrst dich, ich meinte deine Mutter, die dich gebar!

Unten auf dem Weg drehte ich mich um und sah, daß der Mann von Frau und Tochter hereingeholt wurde. Und ich dachte bei mir: Nein, man geht nicht nur auf Rosen, wenn man wandert.

Auf dem Nachbarhof erfuhr ich, daß der Mann ein ehemaliger Fourier war. Er sei einmal wegen eines Gerichtsprozesses, den er verloren hätte, in einer Irrenanstalt gewesen. Um die Frühjahrszeit brach nun seine Krankheit wieder durch, vielleicht war es mein Kommen, das ihm den letzten Stoß versetzt hatte. Gott, wie hatte er doch in dem Augenblick, als der Wahnsinn über ihm zusammenschlug, vor Scharfsinn geleuchtet! Manchmal noch erinnere ich mich seiner, er gab mir eine Lehre: Es ist nicht leicht, sich auf die Menschen zu verstehen, zu erkennen, wer verrückt und wer klug ist! Gott bewahre uns alle davor, daß wir durchschaut werden!

An diesem Tag kam ich an einem Haus vorbei, auf dessen Schwelle ein junger Bursche saß und auf einer Mundharmonika blies. Es war gerade kein Spielmann, aber er war wohl ein fröhlicher Kerl, da er hier so saß und für sich spielte. Ich griff auch nur an die Mütze, um ihn nicht zu stören, und blieb in einiger Entfernung stehen. Er nahm keine Notiz von mir, sondern trocknete das Instrument ab, setzte es wieder an den Mund und spielte weiter. Das dauerte lange. Als er wieder einmal die Harmonika abtrocknete, benutzte ich die Gelegenheit und hustete. Bist du es, Ingeborg? fragte er. Ich glaubte, er spräche mit einem Frauenzimmer hinter sich im Haus, deshalb antwortete ich nicht. Du dort! sagte er. Verwirrt fragte ich: Ich? kannst du mich nicht sehen? Darauf antwortete er nichts. Er machte einige tastende Bewegungen und wollte sich erheben, ich begriff, daß er blind war. Bleib sitzen, laß dich nicht erschrecken, sagte ich und setzte mich neben ihn.

Wir sprachen über allerlei, er war ungefähr achtzehn Jahre alt, blind seit seinem vierzehnten Jahr, groß und stark, und über der ganzen unteren Gesichtshälfte lag der Flaum des hervorbrechenden Bartes. Gott sei Dank, er habe eine gute Gesundheit, sagte er. Aber die Sehkraft? meinte ich. Ob er sich wohl noch erinnere, wie die Welt aussehe? O ja, er habe noch viele nette Erinnerungen aus jener Zeit, in der er noch gesehen habe. Im großen ganzen sei er zufrieden und froh. Im Frühjahr solle er zu einem Professor nach Kristiania und solle operiert werden, dann würde er auf jeden Fall wieder so viel sehen, daß er allein gehen könne; oh, bis dahin verginge wohl noch einige Zeit! Seine Begabung war ganz gering, er sah aus, als nähme er sehr viel Nahrung zu sich, er war dick und tierisch kräftig. Aber es schien etwas Ungesundes, etwas Idiotisches über ihm zu sein, seine Ergebenheit in sein Schicksal war zu unverständlich. Solche Hoffnungsfreudigkeit setze einige Dummheit voraus, dachte ich, es bedarf eines gewissen Grades von Minderwertigkeit, um dauernd mit dem Leben zufrieden zu sein und sich noch dazu etwas Neues und Gutes zu erwarten.

Ich war jedoch dazu aufgelegt, auf meiner Wanderung von allem ein wenig zu lernen, selbst dieser arme Kerl dort auf der Türschwelle machte mich um einiges klüger. Wie konnte er mich mit dem weiblichen Wesen Ingeborg, dem er rief, verwechseln? Ich mußte zu leise gegangen sein, ich hatte vergessen wie ein Pferd einherzustampfen, meine Schuhe waren zu leicht. Ich war von all den Feinheiten, die ich mir in vielen Jahren angewöhnt hatte, verdorben worden, mußte erst wieder zum Bauern zurückstudieren.

*

Nun hatte ich noch drei Tage bis zu dem Ziel, das meine Neugierde sich gesetzt hatte, bis Övrebö, zu Kapitän Falkenbergs. Es war günstig für mich, gerade jetzt hinzukommen und nach Arbeit zu fragen; auf diesem großen Hof gab es im Frühjahr eine lange Arbeitszeit. Sechs Jahre war es her, seit ich zum letztenmal dort gewesen war, die Zeit war vergangen, und ich hatte mir seit einigen Wochen einen Bart stehen lassen. Niemand würde mich wiedererkennen.

Es war gerade mitten in der Woche, ich wollte es so einrichten, daß ich an einem Samstagabend dort ankäme. Da würde der Kapitän mich vorläufig dortbleiben lassen und über mein Ansuchen nachdenken, am Montag würde er dann zu mir kommen und Ja oder Nein sagen.

Merkwürdigerweise war keinerlei Spannung in mir bei dem Gedanken an das, was bevorstand, nein, keine Unruhe, ich ging dahin und wanderte ganz gemächlich an den Höfen und Wäldern und Wiesen vorbei. Ich dachte im stillen: auf diesem gleichen Övrebö habe ich doch einmal ein paar inhaltreiche Wochen verlebt, ich bin sogar in die Frau des Hauses verliebt gewesen, in Frau Louise. Gewiß war ich das. Sie hatte helles Haar und graue, dunkle Augen, sie war wie ein junges Mädchen. Sechs Jahre ist es her, oh, eine lange Zeit. Ob sie sich verändert hat? An mir hat die Zeit gezehrt, ich bin dumm geworden und verblüht und gleichgültig, jetzt sehe ich eine Frau an wie Literatur. Das ist das Ende. Was dann? Alles muß ein Ende haben. Zu Anfang dieses Zustandes hatte ich ein Gefühl, als hätte ich etwas verloren, es war, als sei ich von einem Taschendieb bestohlen worden. Dann überlegte ich mir, ob ich mich jetzt noch ausstehen könnte, ob ich mich wirklich noch ertragen könnte. O ja. Es war nicht wie früher, aber das Ganze ging lautlos, friedlich und sicher. Alles muß ein Ende haben.

Wenn man älter ist, lebt man das Leben nicht mehr mit, man nährt sich nur noch von Erinnerungen, wir sind wie abgesandte Briefe: wir werden nicht mehr weiterbefördert, wir sind angekommen. So ist es, ob wir nun Freude und Trauer durch unseren Inhalt aufgewirbelt oder ob wir keinen Eindruck hinterlassen haben. Dank für das Leben, es war lustig, zu leben!

Die Frau aber, sie ist, wie alle Weisen schon immer wußten: unendlich arm an Begabung, reich aber an Unverantwortlichkeit, an Eitelkeit, an Leichtfertigkeit. Sie hat viel vom Kinde, aber nichts von dessen Unschuld.

*

Ich stehe an dem Pfahl, wo der Weg nach Övrebö hinaufgeht. In mir ist keine Erregung. Groß und hell breitet sich der Tag über Wiesen und Wälder, da und dort wird auf den Ackern gepflügt und geeggt, beinahe unbeweglich langsam, des Mittags Müdigkeit und heiße Sonne liegen über allem. Ich gehe am Wegweiser vorbei, um noch einige Zeit verstreichen zu lassen, ehe ich auf den Hof komme. Nach einer Stunde bin ich im Walde und wandere dort umher, die Beeren stehen in Blüte, und das junge grüne Laub strömt Duft aus. Eine Menge Drosseln jagen eine Krähe vor sich am Himmel hin, sie lärmen mächtig, es ist wie das Geklapper schlechter Kastagnetten. Ich lege mich auf den Rücken, meinen Sack unter dem Kopf, und schlafe ein.

Nach einer Weile erwache ich und gehe zu dem nächsten Pflüger hin – meine Absicht ist, mich ein wenig über Falkenbergs auf Övrebö zu erkundigen – ob sie noch leben, ob es ihnen gut geht. Der Mann gibt mir einige vorsichtige Antworten. Kleinäugig und verschmitzt steht er da und meint: Es fragt sich, ob der Kapitän zu Hause ist. – Pflegt er fort zu sein? – Nein, er ist wohl daheim. – Ist er mit der Frühjahrsbestellung schon fertig? – Der Mann lächelte: O nein, das ist er wohl nicht. – Hat er genug Leute? – Das weiß ich nicht, ja, das hat er gewiß. Und die Frühjahrsbestellung ist vorbei, jedenfalls ist der Dünger ausgefahren. Ja.

Dann schnalzt der Mann den Pferden zu und pflügt weiter, und ich folge ihm. Es war nicht viel von ihm zu erfahren. Als die Pferde wieder anhalten und verschnaufen, entlocke ich dem Mann ein paar Widersprüche über die Leute auf Övrebö: Der Kapitän sei doch im Sommer stets auf dem Übungsplatz, und während dieser Zeit sei die Frau allein. Ja, sie hätten ja immer viele Fremde bei sich, allerdings; aber der Kapitän sei fort. Nicht so zu verstehen – er fühle sich sicher daheim am wohlsten, aber er müsse ja auf dem Übungsplatz sein. Nein, sie hätten noch keine Kinder, es sehe nicht so aus, als ob sie Kinder bekommen würde, die Frau. Was sage ich da, es können noch viele Kinder kommen, noch ein Haufen Kinder, was das betrifft. Na hüh, weiter!

Wieder pflügen und wieder verschnaufen wir. Ich möchte nicht gern ungelegen nach Övrebö kommen und frage den Mann, ob er glaube, daß es heute Gesellschaft und Fremde auf dem Kapitänshof gäbe? – Das glaube er nicht. Es käme wohl vor, daß es Gesellschaft gäbe, aber …; Und Musik, Spiel und Gäste gäbe es jetzt zu jeder Zeit …; Nicht deswegen – Kapitäns seien feine Leute und hätten wohl das Geld dazu – solch ein Reichtum und solch eine Üppigkeit, wie dort herrschten.

Es war ein Kreuz mit diesem Ackermann. Ich versuche nun ein wenig über einen anderen Falkenberg zu erfahren, über meinen alten Kameraden beim Baumfällen, der die Klaviere im Handumdrehen gestimmt hatte, Lars Falkenberg. Und hier wurden die Auskünfte des Mannes viel sicherer: Lars? Doch, der sei hier. Freilich kenne er den Lars! Ja, der diene nicht mehr auf Övrebö, der Kapitän habe ihm einen kleinen Rodungsplatz überlassen, den bebaue er nun. Er habe das Stubenmädchen Emma geheiratet, und es seien auch schon ein paar Kinder da. Strebsame und flinke Leute seien es, die sich auf der Rodung schon zwei Kühe halten könnten.

Hier endet die Furche, und der Mann wendet die Pferde, ich sage Lebwohl und gehe.

Als ich auf dem Hofplatz von Övrebö stehe, erkenne ich alle Häuser wieder; aber sie müßten frisch gestrichen werden. Ich bemerke, daß die Flaggenstange, die ich vor sechs Jahren aufrichten half, noch dasteht, doch ist sie ohne Leine, und die Kugel auf der Spitze fehlt.

Nun war ich da. Es war vier Uhr nachmittags, am 26. April. Alte Leute behalten die Daten leicht im Gedächtnis.

 

1

Es ging anders, als ich gedacht hatte: Kapitän Falkenberg kam auf den Hof heraus, hörte mein Anliegen und schlug es mir auf der Stelle ab. Er habe genug Leute, und die Frühjahrsbestellung sei beinah fertig.

Gut. Ob ich mich in die Gesindestube setzen und ein wenig ausruhen dürfe?

Ja, bitte.

Der Kapitän forderte mich nicht auf, den Sonntag über dazubleiben, er drehte sich auf dem Absatz herum und ging wieder hinein. Er schien direkt aus dem Bett gekommen zu sein, war noch im Nachthemd, ohne Weste, und hatte nur eine Joppe lose übergeworfen, ohne sie zuzuknöpfen. An den Schläfen und über den Bart hinunter war er grau geworden.

Ich setze mich in die Gesindestube und warte, bis die Knechte zum Vespern heimkommen. Es waren nur ein erwachsener Knecht und ein Bursche auf dem Hofe, ich schwätze mit ihnen, und es zeigt sich, daß der Kapitän sich getäuscht hat, als er meinte, die Frühjahrsbestellung sei beinahe getan. Meinetwegen! Ich verberge nicht, daß ich Arbeit suche, und was meine Tüchtigkeit betrifft, so lasse ich sie das Zeugnis sehen, das ich von dem Lensmann auf Hersaet früher einmal bekommen habe. Als die Burschen wieder aufs Feld müssen, begleite ich sie mit meinem Sack auf dem Rücken und bin bereit, zu gehen. Ich schaue in den Stall hinein, in dem erstaunlich viele Pferde stehen, in den Kuhstall, zu den Hühnern, den Schweinen; ich sah vorjährigen Mist in den Verschlägen liegen, der noch nicht ausgefahren war.

Wie ist das möglich?

Ja, was sollen wir tun! antwortet der Knecht. Vom Spätwinter bis jetzt habe ich Dünger gefahren, ich war allein. Nun sind wir endlich sozusagen zu zweit, aber jetzt müssen wir pflügen und eggen.

Meinetwegen!

Ja, Lebwohl, sage ich und gehe. Ich will zu meinem guten Kameraden Lars Falkenberg, aber davon sage ich nichts. Ich erblicke ein paar neue Hütten hoch oben im Wald und vermute, daß das die Rodung ist.

Der Knecht scheint sich aufzuregen, weil ein Mann für die Arbeit auf Övrebö verloren geht, ich sehe ihn über den Hofplatz und in das Hauptgebäude stapfen, während ich mich entferne.

Ein paar hundert Schritte bin ich gegangen, als mir der Knecht schnell nachkommt und meldet, daß ich doch angenommen sei. Er habe mit dem Kapitän gesprochen und die Erlaubnis erhalten, mich einzustellen. Jetzt ist vor Montag nichts mehr zu tun; aber komm herein und sieh zu, daß du dein Vesperbrot bekommst.

Der Knecht ist ein umgänglicher Kerl, er begleitet mich in die Küche und ruft: Gebt dem Mann etwas zu essen; er soll hier arbeiten!

Eine fremde Köchin, fremde Mädchen, ich bekomme mein Essen und verlasse die Küche wieder. Von der Herrschaft sehe ich niemand.

Da es mir zu langweilig wird, den ganzen Abend nur so zum Staat in der Gesindestube zu sitzen, gehe ich zu den Burschen auf den Acker hinaus und schwätze mit ihnen. Der Knecht selbst stammt von einem Hof weiter nördlich in der Gemeinde, da er aber nicht der älteste Sohn ist und keinen eigenen Hof zu bewirtschaften hat, nahm er kurzerhand für einige Zeit Dienst hier auf Övrebö. Wahrlich, er hätte es schlechter treffen können! Statt sich immer eifriger des Hofes anzunehmen, vernachlässige der Kapitän ihn immer mehr; er sei auch viel abwesend, und der Knecht müßte nach eigenem Gutdünken handeln. Im letzten Herbst hatte er große Strecken moosgrundigen Wiesenlandes umgebrochen, wo er jetzt ansäen will. Der Knecht zeigt über das Land hin, da hat er gepflügt, und dort will er wieder umbrechen; und die Wintersaat, steht sie nicht schon schön?

Man hört leicht heraus, daß der junge Mann in seiner Arbeit Bescheid weiß, und ich werde von seiner verständigen Rede erfaßt. Er war auch auf der Amtsschule gewesen, hatte gelernt, Rechnung über einen Gutsbetrieb zu führen, die Zahl der Heufuhren in die eine Rubrik zu schreiben und den Geburtstag der Kälber in die andere. Meinetwegen! Früher hatte der Bauer solche Rechnungen im Kopf, und die Weiber wußten auf den Tag, wann eine jede ihrer zwanzig oder fünfzig Kühe kalben würde.

Aber der Knecht ist ein aufgeweckter Kerl und scheut sich nicht, anzupacken, nur in der letzten Zeit war er ein wenig bedrückt von all der unabsehbaren Arbeit auf dem Kapitänshof. Es wirkte gleichsam aufmunternd auf ihn, noch eine Hilfe zu erhalten. Vom Montag ab soll ich das Pferd zum Dungfahren bekommen, das jetzt vor die Egge gespannt war, so bestimmt er, – der Junge soll eines der Wagenpferde zum Eggen nehmen; der Knecht selbst wollte weiter pflügen. Oh, wir würden die Saat heuer schon noch in die Erde bekommen!

*

Sonntag.

Ich muß mich davor in acht nehmen, mich von früher her auf dem Hofe auszukennen, zu wissen, wie weit sich zum Beispiel die Wälder des Kapitäns erstrecken, wo die verschiedenen Häuser und Stadel liegen, die Brunnen, die Wege. Ich beschäftigte mich mit der Vorbereitung für den nächsten Tag, schmierte den Karren, fettete das Geschirr und putzte meinen Gaul ein wenig heraus. Am Nachmittag unternahm ich eine vier- bis fünfstündige Wanderung in die Wälder des Kapitäns, kam an Lars' Rodung vorbei, ohne in die Hütte einzutreten und ging bis zur Grenze der Nachbargemeinde, ehe ich umkehrte. Ich war überrascht, wie stark der Wald gelichtet worden war.

Als ich heimkam, fragte der Knecht:

Hast du das Singen und Treiben heute nacht gehört?

Ja. Was war das?

Das waren die Gäste, antwortet der Knecht lachend.

Ja die Gäste! Es waren ihrer jetzt immer so viel auf Övrebö.

Darunter befand sich ein übermäßig fetter und dazu lustiger Herr, der einen aufgedrehten Schnurrbart hatte und Kapitän bei der gleichen Waffe wie Falkenberg war; im Laufe des Abends sah ich ihn und die anderen Gäste aus dem Haus herauskommen. Bei ihnen war auch ein Mann, den sie Ingenieur nannten, er war jung, einige zwanzig Jahre alt, mittelgroß, mit brauner Haut und ohne Bart. Auch Elisabet vom Pfarrhof war dabei. Ich erinnerte mich genau an Elisabet, deshalb konnte ich sie sofort wiedererkennen, obwohl sie sechs Jahre älter geworden war und reifer. Die kleine Elisabet aus früheren Tagen war kein junges Mädchen mehr, ihre Brust stand vor und vermittelte den Eindruck von übertriebener Gesundheit. Der Knecht erzählt, daß sie verheiratet ist, sie hatte doch Jung-Erik, einen Hofbauernsohn, genommen, den sie seit den Kindertagen liebte. Sie blieb Frau Falkenbergs Freundin und kam oft hierher nach Övrebö. Aber ihr Mann war niemals dabei.

Jetzt steht Elisabet bei der Flaggenstange, und auch Kapitän Falkenberg kommt hinzu. Sie sprechen über allerlei und sind mit ihren Angelegenheiten beschäftigt; jedesmal, bevor der Kapitän etwas sagt, sieht er sich ein wenig um. Es ist also vielleicht nichts Gleichgültiges, was er ihr sagt, sondern im Gegenteil etwas, womit er vorsichtig sein will.

Da kommt der fette, lustige Kapitän, wir hören sein Gelächter bis in die Gesindestube, er ruft Falkenberg zu, mitzukommen, erhält aber nur eine kurze, nachlässige Antwort. Einige Steinstufen führen in das Syringenwäldchen hinunter, darauf steuert jetzt der Kapitän los; hinter ihm geht ein Mädchen mit Wein und Gläsern. Zuletzt kommt der Ingenieur.

Der Knecht neben mir bricht in Lachen aus und sagt:

Nein, der Kapitän!

Wie heißt er?

Sie nennen ihn alle nur Bruder, voriges Jahr sowohl wie heuer. Ich weiß nicht, wie er heißt.

Und der Ingenieur?

Der heißt Lassen, hörte ich. Er ist bisher nur einmal hier gewesen, vor meiner Zeit.

Dann trat Frau Falkenberg auf die Treppe heraus, sie bleibt einen Augenblick stehen und sieht zu den beiden an der Flaggenstange hinüber. Ihr Körper ist immer noch schön und fein, aber ihr Gesicht ist schlaff, es ist, als seien ihre Wangen früher voller gewesen. Jetzt nimmt auch sie den Wog zum Syringenwäldchen hinunter, da erkenne ich ihren Gang wieder, er ist ruhig und geschmeidig wie früher. Aber natürlich hat ihr die Zeit viel von ihrem guten Aussehen genommen, in so viel Jahren.

Einige Leute kommen aus dem Haus, eine ältere Dame mit einem Schal, von zwei Herren begleitet.

Der Knecht erzählt mir, es seien nicht immer soviel Fremde auf dem Hof; aber vorgestern, am Geburtstag des Kapitäns, wären zwei Wagen mit Gästen dahergesaust gekommen, die vier fremden Pferde stünden noch im Stall.

Jetzt wird den beiden an der Flaggenstange ernstlich gerufen, und der Kapitän antwortet ungeduldig Ja, bleibt aber stehen. Bald nimmt er ein Staubkorn von Elisabets Schulter, bald sieht er sich vorsichtig um, legt seine Hand auf ihren Arm und schärft ihr etwas ein.

Der Knecht sagt:

Die haben immer soviel miteinander zu reden, die beiden. So oft sie hierherkommt, machen sie lange Spaziergänge zusammen.

Sieht das Frau Falkenberg denn gern?

Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.

Hat Elisabet auch keine Kinder?

Doch, sie hat viele Kinder.

Wie kann sie so oft von den Kindern und dem großen Hof abkommen?

Dem steht nichts im Wege; solange Eriks Mutter lebt, kann sie gut abkommen.

Der Knecht geht hinaus, und ich bleibe in der Gesindestube allein. Hier hab ich einst gesessen und mir eine merkwürdige Holzfällersäge ausgedacht. Oh, wie war ich davon in Anspruch genommen! Dort drinnen in der Kammer lag der Knecht Petter krank, aber ich, warm vor Eifer, sprang jedesmal, wenn ich etwas hämmern mußte, in den Schuppen hinaus. Jetzt denke ich an diese Baumsäge wie an Literatur. So verändern uns die Jahre.

Der Knecht kommt wieder herein.

Wenn die Fremden auch morgen noch nicht abreisen, so nehme ich zwei ihrer Pferde und pflüge damit, sagt er und ist nur von seiner Arbeit erfüllt.

Ich sehe zum Fenster hinaus. Endlich sind die beiden an der Flaggenstange ihres Weges gegangen.

*

Am Abend wurde es immer lebhafter unten im Syringenwäldchen, die Mädchen gingen mit Tabletten hin und her und trugen Getränke und Essen hinunter, die Herrschaft hielt unter den Büschen Mahlzeit. Bruder, Bruder! wurde gerufen, aber am lautesten von allen lachte und rief der Bruder selbst. Er hatte mit seinem unmäßigen Gewicht einen Stuhl zerbrochen, jetzt kommt ein Bote nach der Gesindestube und holt einen richtigen, guten Holzstuhl, der ihn tragen könne. Ja, wie die unten im Syringenwäldchen sich unterhielten. Kapitän Falkenberg kam ab und zu auf den Hofplatz, um zu zeigen, daß er noch gut auf den Beinen stand und noch immer auf alles acht gab.

Ich kenne ihn! sagte der Knecht. Der läßt sich nicht so schnell unterkriegen. Als ich ihn im vorigen Jahr einmal kutschierte, trank er während des ganzen Weges, aber es war ihm nichts anzumerken.

Die Sonne ging unter. Im Syringenwäldchen wurde es wohl kühl, denn die Herrschaft begab sich ins Haus. Aber in den Zimmern öffnete man die Fenster, und Wogen des Wohllautes tönten von Frau Falkenbergs Flügel zu uns herüber. Später gab es Tanzmusik, es war wohl der fette Kapitän Bruder, der spielte.

Solche Leute! murmelte der Knecht. Sie tanzen und spielen bei Nacht und schlafen am Tag. Ich gehe jetzt und lege mich schlafen.

Ich bleibe am Fenster sitzen und sehe meinen Kameraden Lars Falkenberg über den Hofplatz kommen und ins Hauptgebäude gehen. Er war geholt worden, um der Herrschaft Volkslieder vorzusingen. Als er eine Weile gesungen hat, beginnen Kapitän Bruder und andere sich in den Gesang zu mischen und mitzuhelfen, ja, es klang laut und lustig. Nach ungefähr einer Stunde kommt Lars Falkenberg in die Gesindestube, er hatte eine halbe Flasche Branntwein für seine Mühe bekommen. Da er nur mich fremden Mann in der Gesindestube findet, geht er in die Kammer zum Knecht und trinkt mit ihm ein Glas Schnaps; bald darauf werde auch ich hineingerufen. Ich hüte mich, viel zu sagen, um mich nicht zu verraten; als Lars aber heimgeht, bittet er mich, ihn ein Stück zu begleiten. Da zeigt sich, daß man mich durchschaut hat. Lars weiß, daß ich sein alter Kamerad vom Holzfällen bin.

Der Kapitän hat es ihm gesagt.

Gut! dachte ich. Aber dann ist ja alle weitere Vorsicht meinerseits unnötig. Ich war übrigens mit dieser Wendung sehr zufrieden, der Kapitän ließ mich also mit der größten Gleichgültigkeit auf dem Hof umhergehen, wie ich nur wollte.

Ich begleitete Lars Falkenberg ganz nach Hause, wir sprachen von alten Tagen, von seiner Rodung und über die Leute unten auf dem Hof: Man hatte gleichsam nicht mehr so großen Respekt vor dem Kapitän wie früher, er war zurzeit nicht Bürgermeister in der Gemeinde, und Männer und Frauen kamen nicht mehr zu ihm, um sich mit ihm zu beraten. Sieh, dort ist nun der Weg, den er zur Chaussee umgebaut hat, das ist das letzte, was er gemacht hat. Es ist fünf Jahre her. Die Gebäude sollten gestrichen werden, aber er läßt es gehen, der Ackerbau ist vernachlässigt, und den Wald hat er zu stark ausgeholzt. Ob er trinke? Es gehe wohl die Rede davon, aber, o nein, das könne man nicht mit Recht behaupten; der Teufel hole alle Klatschmäuler! Er trinke ein wenig und fahre außerdem manchmal von daheim fort und bleibe dann stets einige Zeit aus; aber er habe keine rechte Tatkraft mehr, wenn er wieder heimkehre, und das sei das Schlimme. Es ist, als sei ein böser Geist über ihn gekommen, sagt Lars.

Und die gnädige Frau?

Die gnädige Frau! Sie ging umher wie früher und spielte auf dem Flügel und war so freundlich, wie man es nur verlangen konnte. Und sie haben ein gastfreies Haus und viel Besuch; aber die Steuern und Abgaben sind hoch, und es kostet viel, auch nur die großen Gebäude instand zu halten. Aber es ist ja ein Jammer, sowohl für den Kapitän wie für die Frau, daß sie einander so überdrüssig sind; hat man so etwas je gesehen? Wenn sie ein Wort zueinander sagen, blickt ein jedes nach seiner Seite und bewegt den Mund kaum. Sie sprechen monatelang nur mit Fremden. Und im Sommer ist der Kapitän auf dem Übungsplatz und kommt nicht heim und sieht nicht nach Frau und Hof. Nein, sie haben keine Kinder, das ist die Sache! fügt Lars hinzu.

Emma kommt aus der Stube und schließt sich uns an. Immer noch sieht sie sehr gut und niedlich aus, und ich sage es ihr. Ach ja, die Emma, meint Lars, die ist schon recht; aber sie bekommt soviel Kinder, der Racker! Dann schenkt er ihr aus der Flasche ein und nötigt sie auszutrinken. Nun möchte uns Emma hineinbitten, wir könnten ebensogut in der Stube auf einem Hocker sitzen, sagt sie. Ach, wir haben ja jetzt Sommer! antwortet Lars und gibt sich keine Mühe, mich hineinzunötigen. Als ich fort will, begleitet er mich wieder ein Stück hinunter und zeigt mir, wie er gegraben und gerodet und eingezäunt hat. Er hat eine gute und verständige Arbeit auf seinem kleinen Besitz geleistet, und es strömt ein seltsames Wohlbehagen auf mich ein, wie ich so bei diesem behaglichen Heim im Wald stehe. Hinter der Balkenstube und dem Kuhstall rauscht leise der Wald, bei den Häusern sind Laubbäume, das Espenlaub raschelt wie Seide.

Ich gehe heim. Der Abend schreitet vor, alle Vögel schweigen, es ist mildes Wetter, mit einer weichen, blauen Dämmerung.

*

Laßt uns heute abend jung sein! sagt ein Mann laut und klar hinter den Fliederbüschen. Laßt uns heute abend auf der Kälberweide tanzen!

Erinnern Sie sich, wie Sie im vorigen Jahr waren? antwortet Frau Falkenbergs Stimme. Da waren Sie artig und jung und sagten so etwas nicht.

Nein, da sagte ich so etwas nicht. Daß Sie sich dessen noch erinnern! Eines Abends aber schalten Sie mich auch im vorigen Jahr: Sie sind so schön heute abend, sagte ich. Nein, erwiderten Sie, ich bin nicht mehr schön; aber Sie sind ein Kind, trinken Sie nicht soviel.

Ja, das sagte ich, antwortet Frau Falkenberg lachend.

Ja, das sagten Sie. Aber nicht wahr: ob Sie schön waren, das mußte ich doch wohl wissen, der da vor Ihnen saß und Sie ansah.

Kind, Kind!

Und heute abend nun sind Sie noch schöner.

Es kommt jemand.

Zwei Menschen richten sich hinter den Syringen auf, die gnädige Frau hat den fremden Ingenieur bei sich. Als sie sehen, daß nur ich es bin, atmen sie gleich wieder auf und schwätzen weiter, als sei ich nicht da. Und so ist das menschliche Gemüt: obwohl ich gewünscht hatte, alle möchten mich in Frieden lassen, war ich nun verletzt, weil diese beiden mich so wenig beachteten. Ich bin doch grau an Haar und Bart, dachte ich; müßten sie mich nicht schon deshalb achten!

Ja, heute abend nun sind Sie noch schöner, wiederholt der Ingenieur.

Ich komme heran, grüße gleichgültig und gehe vorbei.

Ich will Ihnen nur sagen, es nützt Ihnen nichts, antwortet die gnädige Frau. – Sie haben hier etwas verloren! rief sie mir nach.

Verloren? Mein Taschentuch lag auf dem Weg, ich hatte es absichtlich fallen lassen; nun kehre ich um und hebe es auf, sage Dank und gehe weiter.

Welche Aufmerksamkeit Sie doch nebensächlichen Dingen schenken! sagt der Ingenieur. Ein rotgeblümtes Bauerntuch! Kommen Sie, wir wollen ins Lusthaus gehen!

Das ist während der Nacht verschlossen, antwortet sie. Es ist wohl jemand drin.

Mehr höre ich nicht.

Mein Schlafraum ist auf dem Speicher im Gesindehaus, und mein offenes Fenster geht auf das Syringenwäldchen hinaus. Als ich hinaufkomme, höre ich immer noch Stimmen hinter den Büschen, verstehe aber nicht, was gesagt wird. Ich dachte bei mir selbst: warum ist das Lusthaus nachts verschlossen, und wer hat das eingeführt? Vielleicht hat eine sehr verschmitzte Seele gemeint, wenn diese Türe immer verschlossen sei, würde es weniger dreist sein, sich ein einzelnes Mal in guter Gesellschaft hineinzuschleichen, den Schlüssel abzuziehen und dortzubleiben.

Weit unten auf dem Weg, den ich eben gekommen war, sehe ich zwei Personen sich nähern, den fetten Kapitän Bruder und die ältere Dame mit dem Schal. Sie waren wohl irgendwo im Wald gewesen, als ich vorbeiging, und ich dachte nun darüber nach, ob ich im Vorübergehen möglicherweise laut mit mir selbst gesprochen haben könnte.

Plötzlich sehe ich den Ingenieur sich hinter den Büschen erheben und zum Lusthaus eilen. Als er die Türe verschlossen findet, stemmt er die Schulter dagegen und drückt sie ein. Man hört ein Krachen.

Kommen Sie doch, niemand ist hier! ruft er.

Frau Falkenberg steht auf und sagt sehr ärgerlich:

Was fällt Ihnen ein, Sie verrückter Mensch!

Trotzdem aber geht sie ihm entgegen, während sie dies sagt.

Was mir einfällt? antwortet er. Die Liebe ist kein Glyzerin, sie ist Nitroglyzerin.

Dann nimmt er Frau Falkenberg am Arm und zieht sie hinein.

Meinetwegen!

Jetzt aber kommen der dicke Kapitän und seine Dame. Die beiden im Lusthaus ahnen wohl nichts davon, und Frau Falkenberg ist es vielleicht nicht gleichgültig, an einem so abgelegenen Ort allein mit einem Mann entdeckt zu werden. Ich sehe mich in meinem Zimmer nach einem Gegenstand um, mit dem ich sie warnen könnte, finde eine leere Flasche, stelle mich ans Fenster und werfe sie mit aller Kraft zum Lusthaus hinüber. Ein Krach, Flasche und Ziegel splittern, und die Trümmer rasseln über das Dach hinunter; gleichzeitig steigt aus dem Lusthaus ein Schreckensruf auf, und Frau Falkenberg stürmt heraus, gefolgt vom Ingenieur, der sich noch an ihr Gewand klammert. Einen Augenblick halten sie inne und schauen sich um. Bruder, Bruder! ruft Frau Falkenberg und läuft ins Syringenwäldchen. Nein, nicht mitkommen! ruft sie zurück, Sie dürfen nicht mitkommen!

Trotzdem aber lief der Ingenieur nach. Er war wunderbar jung und voller Eigensinn.

Nunmehr erscheinen der fette Kapitän und seine Dame, und sie führen ein wunderbares Gespräch, als gäbe es nichts anderes in der Welt als Liebe. Der dicke Herr war sicherlich sechzig Jahre und hatte eine Frau von vierzig neben sich, ihre Zärtlichkeit war ein Anblick ohnegleichen.

Der Kapitän sagt:

Und bis heute abend war es noch einigermaßen auszuhalten, nun aber übersteigt es die Kräfte eines Mannes, Sie haben mich vollkommen bezaubert, gnädige Frau.

Ich dachte nicht, daß es so ernst sei, entgegnet sie und will ihm darüber weghelfen.

Doch, antwortet er. Aber nun muß ich ein Ende machen, hören Sie. Wir kommen aus dem Wald; dort glaubte ich, ich könnte es noch eine Nacht ertragen, deshalb habe ich nichts weiter gesagt. Nun aber bitte ich Sie, wieder mit mir in den Wald zurückzukehren.

Sie schüttelt den Kopf:

Nein, ich will ja gerne – tun, was Sie –

Dank! bricht er aus.

Mitten auf dem Weg schlingt er die Arme um sie und setzt ihr den runden Bauch auf den Leib. Wie sie so dastanden, sahen sie aus wie zwei Widerspenstige, die nicht wollten. Oh, dieser Wicht von einem Kapitän!

Lassen Sie mich los! bat sie.

Er ließ den Griff ein wenig locker und drückte sie dann wieder an sich. Und wieder sah es aus, als wehrten sich beide gegeneinander.

Kommen Sie mit zum Wald zurück! sagte er ein über das andere Mal.

Das geht unmöglich, antwortete sie. Und jetzt liegt so viel Tau.

Der Kapitän aber war erfüllt von Liebesworten und ließ sie ausströmen:

Ach, seinerzeit kümmerte ich mich wenig um Augen. Blaue Augen – pah! Graue Augen – pah! Welche Farbe und Kraft ein Blick auch haben mochte – nur pah! Jetzt aber kamen Sie mit Ihren braunen Augen!

Ja, sie sind braun, sagt auch die Dame.

Sie versengen mich damit, Sie rösten mich!

Eigentlich sind Sie nicht der erste, der meine Augen lobt, antwortet sie. Mein Mann –

Aber ich erst! ruft der Kapitän. Ich sage Ihnen, hätte ich Sie vor zwanzig Jahren getroffen, ich hätte nicht für meinen Verstand einstehen mögen. Kommen Sie jetzt, es liegt gar nicht soviel Tau im Wald.

Gehen wir doch lieber hinein, schlägt sie vor.

Hinein? Dort gibt es keinen einzigen Platz, wo wir allein sitzen könnten.

Es wird sich schon einer finden, antwortet sie.

Ja, denn heute abend muß es ein Ende haben, sagt der Kapitän schließlich.

Dann gehen sie.

Ich fragte mich, ob ich diese leere Flasche geschleudert hatte, jemand zu warnen?

*

Am Morgen höre ich den Knecht um drei Uhr hinausgehen und die Pferde füttern. Um vier Uhr klopft er unter mir an die Decke. Ich gönne es ihm, als erster auf den Beinen zu sein, obwohl ich ihn zu jeder Stunde der Nacht hätte wecken können, ich schlief nicht. In dieser leichten, feinen Luft fällt es nicht schwer, den Schlaf ein oder zwei Nächte zu entbehren, das macht nicht müde.

Der Knecht fährt mit einem neuen Pfluggespann auf den Acker. Er hat die fremden Pferde untersucht und Elisabets Pferde gewählt. Es sind gute Bauernpferde mit starken Beinen.

 

2

Neue Fremde kommen nach Övrebö, und die Feste nehmen kein Ende. Wir Knechte düngen, pflügen und säen, und in einigen Ackern spitzt es schon grün hinter unserer Arbeit hervor. Wir betrachten es mit Freuden.

Bei Kapitän Falkenberg selbst aber haben wir einigen Widerstand zu überwinden. Er vernachlässigt gegen sein eigenes besseres Wissen seinen Vorteil! sagt der Knecht. Ja, ein böser Geist war über ihn gekommen, verschlafen und halb betrunken ging er umher und wollte vor allem nur ein unvergleichlicher Gastgeber sein. Fünf Tage hintereinander hatte er nun mit seinen Freunden die Nacht zum Tag gemacht. Aber bei dem Spektakel während der Nächte hatten weder die Tiere im Stall ihre Ruhe, noch konnten die Mädchen ordentlich schlafen, ja es geschah, daß die jungen Herren in der Nacht zu diesen kamen, sich auf ihre Betten setzten und mit ihnen plauderten, nur um sie ausgekleidet zu sehen.

Wir Arbeitsleute hatten nichts damit zu tun, nein, das nicht; aber oft empfanden wir Gram statt Stolz darüber, daß wir auf dem Kapitänshof dienten. Die Knechte verschafften sich das Abstinenzlerzeichen und trugen es auf der Bluse.

Eines Tages kommt der Kapitän zu mir auf den Acker heraus und befiehlt mir, den Wagen anzuspannen und zwei neue Gäste an der Station abzuholen. Es war mitten in der Nachmittagsarbeit, und er war wohl soeben erst aufgestanden. Er brachte mich in große Verlegenheit. Und warum wandte er sich nicht an den Knecht? Ich dachte: Ganz sicher geniert er sich bereits ein wenig vor dem Abstinenzlerzeichen! Der Kapitän sah wohl, daß ich zögerte, er lächelte und sagte: Du getraust dich vielleicht nicht wegen Nils? Dann werde ich zuerst mit ihm sprechen.

Nils, das war der Knecht.

Aber auf keinen Fall wagte ich, den Kapitän jetzt zu Nils hinübergehen zu lassen. Der pflügte immer noch mit fremden Pferden und hatte mich gebeten, ihm einen Wink zu geben, wenn Gefahr im Verzug wäre. Ich zog mein Taschentuch heraus, trocknete mein Gesicht ab und winkte ein wenig. Der Knecht sieht das, und augenblicklich spannt er die Pferde vom Pflug. Was wird er nun tun? dachte ich. Oh, der gute Nils hilft sich schon! Obwohl es noch mitten in der Arbeitszeit ist, führt er das Gespann heim.

Könnte ich den Kapitän jetzt nur ein wenig aufhalten! Der Knecht begreift, worauf es ankommt, er treibt die Gäule an; schon auf dem Heimweg beginnt er abzuschirren.

Plötzlich sieht mich der Kapitän an und fragt:

Hast du die Sprache verloren?

Es scheint, daß dem Knecht etwas zugestoßen ist, sage ich; er hat ausgespannt.

Ja, was weiter?

Nein, ich dachte nur –

Aber der Teufel stehe hier und heuchle! Jetzt konnte ich dem Nils noch ein wenig helfen, bevor die Reihe an ihn kam. Gleich ging ich drauflos und sagte:

Es ist nun eben einmal die Bestellzeit, und hinter uns beginnt schon alles zu wachsen. Und wir haben immer noch Land, das –

Ja, laß es wachsen, laß es wachsen.

Hier sind zwölf Maal Eine Bodenfläche von 2500 Quadratellen, und der Knecht bearbeitet vierzehn Maal Getreideland, ich dachte, der Herr Kapitän möchte vielleicht seinen Befehl ändern.

Da schwingt sich der Kapitän auf dem Absatz herum und verläßt mich ohne weiteres.

Jetzt habe ich meinen Abschied! denke ich. Aber ich folge mit Pferd und Karren bis zu den Häusern, um dem Befehl zu gehorchen.

Nun war ich wegen des Knechtes beruhigt, er näherte sich schon dem Hof. Der Kapitän winkte ihm, – es nützte nichts. Halt! rief er mit seiner Offiziersstimme, der Knecht aber hörte nicht.

Wir kamen zum Stall; der Knecht hatte die Pferde an ihren Platz gebracht. Der Kapitän war äußerst steif, aber er hatte sich auf seiner Wanderung gewiß schon ein wenig besonnen.

Weshalb spannst du aus? fragte er.

Der Pflug ging entzwei, antwortet der Knecht. Ich stelle die Pferde ein, bis ich ihn instand gesetzt habe, es wird nicht lange dauern.

Der Kapitän befiehlt:

Ein Mann muß mit dem Wagen zur Station.

Der Knecht wirft einen Blick auf mich und murmelt:

Hm. Soso. Haben wir dazu Zeit?

Was murmelst du da?

Wir sind zweieinhalb Mann zur Arbeit, antwortet der Knecht, das ist nicht zuviel.

Der Kapitän aber muß wegen der braunen Pferde Verdacht gefaßt haben, weil der Knecht sie in solcher Hast ausgespannt heimführte; er geht zu den verschiedenen Tieren und findet heraus, welche warm sind. Dann kommt er wieder aus den Ständen heraus und sagt, indem er seine Hände mit dem Taschentuch abwischt:

Pflügst du mit fremden Pferden, Nils?

Pause.

Davon will ich nichts wissen.

Hm. Nein, nein, antwortet der Knecht. Aber plötzlich wird er ärgerlich und besteht auf seiner Meinung: Wir brauchen bei der heutigen Bestellung die Pferde nötiger als je bei einer Frühjahrsarbeit auf Övrebö, wir brechen mehr Land um als jemals früher. Und diese fremden Pferde standen hier tagelang und fraßen nur und brachten nicht einmal soviel Nutzen, wie das Wasser wert ist, das sie saufen. Da nahm ich sie ab und zu für ein paar Stunden heraus und bewegte sie.

Der Kapitän wiederholte kurz und bündig:

Aber davon will ich nichts mehr wissen. Hast du verstanden, Nils?

Pause.

Sagtest du nicht, daß eines von den Ackerpferden des Kapitäns gestern krank war? fragte ich.

Der Knecht greift zu:

Jawohl. Doch. Es stand da und zitterte. Ich konnte es nicht einspannen.

Der Kapitän maß mich von oben bis unten und sagte:

Wozu stehst du denn hier?

Der Herr Kapitän befahl mir, zur Station zu fahren.

So mach dich bereit.

Aber kaum hatte der Kapitän das gesagt, als Nils seine Antwort gab:

Nein, das geht nicht.

Bravo, Nils! dachte ich. Er hatte ja vollkommen recht und sah auch danach aus, stark und unerschütterlich. Und was die Pferde betraf, so waren unsere eigenen Tiere von dieser langen Frühjahrsarbeit ganz heruntergekommen, während die fremden Pferde dastanden und fraßen und vor lauter Stillstehen unbrauchbar wurden.

Was geht nicht? fragte der Kapitän wie aus allen Wolken gefallen.

Wenn mir der Herr Kapitän meine Hilfe nimmt, so habe ich hier nichts mehr zu schaffen, sagt Nils.

Der Kapitän ging zur Stalltüre und sah hinaus. Er biß sich in den Bart und dachte nach, dann fragte er über die Schulter zurück:

Kannst du auch den Jungen nicht entbehren?

Nein, antwortet der Knecht, – der eggt.

Dies war der erste Zusammenstoß mit dem Kapitän, und wir behielten recht. Später kam es noch zu einigen kleinen Reibungen, aber da gab er schnell nach.

Es muß eine Kiste von der Station herausgeholt werden, sagte er eines Tages, kann der Junge sie holen?

Der Junge ist jetzt für uns so viel wert wie ein Erwachsener, antwortete der Knecht, er eggt. Muß er jetzt zur Station, so ist er nicht vor morgen abend wieder zurück; das sind anderthalb verlorene Tage.

Bravo! dachte ich wieder. Er hatte früher schon mit mir über diese Kiste gesprochen, sie enthielt wieder Getränke, die Mädchen hatten davon gehört.

Sie wechselten noch einige Worte, der Kapitän runzelte die Brauen und fand, daß die Frühjahrsbestellung noch niemals so lange gedauert habe wie in diesem Jahr, der Knecht wurde gereizt und sagte schließlich:

Wenn Sie den Jungen vom Acker wegholen, geh ich! Und er tat so, als hätten wir beide es im voraus verabredet und fragte mich: Gehst du mit?

Ja, antwortete ich.

Da gab der Kapitän nach und sagte lächelnd:

Dies ist ja ein Komplott. Aber ich muß zugeben, daß ihr einigermaßen recht habt. Und ihr macht eure Arbeit gut.

Aber davon, daß wir unsere Arbeit gut machten, wußte der Kapitän nicht viel und freute sich auch nicht weiter darüber. Er hatte vielleicht ab und zu einen Blick über das Land geworfen und den Eindruck bekommen, daß viel gepflügt und viel gesät worden war, das war alles. Wir Knechte jedoch arbeiteten und taten unser Bestes für die Herrschaft, so waren wir.

So waren wir wohl.

Oh, manchmal aber konnte uns ein Mißtrauen gegen unseren eigenen großen Eifer aufsteigen: er könne möglicherweise gar nicht so uneigennützig sein. Der Knecht war ein Mann aus der Gemeinde, der seine Frühjahrsbestellung mindestens ebenso schnell machen wollte wie die anderen Bauern der Gemeinde, er hatte eine Ehre zu verteidigen. Und ich folgte ihm. Ja, und als der Knecht das Abstinenzlerzeichen anlegte, geschah es vielleicht hauptsächlich, um den Kapitän einigermaßen zu ernüchtern, damit er unser großes Werk auf dem Hof sehen sollte. Und auch hierin war ich mit ihm einig. Außerdem hegte ich die Hoffnung, daß die gnädige Frau, daß auf jeden Fall Frau Falkenberg bemerken würde, welch gute Kerle wir waren. Besser war ich wohl kaum.

Zum erstenmal sah ich Frau Falkenberg aus der Nähe, als ich an einem Nachmittag die Küche verließ. Schlank und barhäuptig kam sie über den Hof. Ich grüßte mit meiner Schirmmütze und sah sie an: ihr Gesicht war merkwürdig jung und unschuldig. Und vollständig gleichgültig antwortete sie mir Guten Tag und ging vorbei.

Es konnte unmöglich ganz zu Ende sein zwischen dem Kapitän und seiner Gattin. Ich gründete diese Meinung auf folgende Ereignisse:

Das Stubenmädchen Ragnhild war Vertraute und Spion der gnädigen Frau. Sie kundschaftete für sie, ging als letzte ins Bett, horchte, während sie auf den Treppen stand und ihre Hände betrachtete, machte drei, vier lautlose Sätze, wenn sie draußen war und plötzlich gerufen wurde. Sie war ein schönes Mädchen mit auffallend blanken Augen und dazu sehr warmblütig. Eines Abends ertappte ich sie nahe beim Lusthaus, wo sie an den Syringen roch; als ich kam, schrak sie zusammen, deutete warnend auf das Lusthaus und lief davon, die Zunge zwischen den Zähnen.

Der Kapitän merkte, was Ragnhild wollte, und er sagte einmal zu seiner Frau in Gegenwart aller – er war wohl betrunken und war über irgend etwas ärgerlich geworden:

Diese Ragnhild ist doch ein schwieriges Geschöpf. Ich begreife nicht, daß sie noch da ist.

Die gnädige Frau antwortete:

Das ist nicht das erstemal, daß du Ragnhild fortschicken willst, Gott mag wissen, warum. Sie ist das tüchtigste Mädchen, das wir bisher gehabt haben.

In ihrem Fach vielleicht, schloß der Kapitän.

Dies gab mir ein wenig zu denken. So schlau konnte ja Frau Falkenberg sein, daß sie sich diesen Spion hielt, nur um den Anschein zu erwecken, als bekümmerte es sie einigermaßen, was der Kapitän trieb. Das würde vor den Augen der Welt so aussehen, als gehe die arme Frau umher und sehne sich heimlich nach ihrem Mann, werde aber immer wieder enttäuscht und gekränkt. Hatte sie dann nicht selbst ein gutes Recht, sich zu entschädigen und ihre eigenen Wege zu gehen? Gott weiß, ob es sich nicht so verhielt!

Aber ich sollte anderer Meinung werden.

Tags darauf hatte der Kapitän seine Taktik geändert. Er konnte sich Ragnhilds Wachsamkeit nicht entziehen, wenn er mit Elisabet hinter einer Wand stand oder am späten Abend ins Lusthaus gehen wollte, um mit jemand allein zu sein, – nun schlug er um und begann, Ragnhild angenehme Worte zu sagen. Hoho, es war wohl eine Frau, war wohl Elisabet gewesen, die ihn darauf gebracht hatte!

Wir Knechte saßen am langen Eßtisch in der Küche, Frau Falkenberg war auch anwesend, und die Mädchen beschäftigten sich mit allerlei. Da kommt der Kapitän mit einer Bürste in der Hand aus der Stube.

Ach, fahr mir ein paarmal über den Rock, wendet er sich an Ragnhild.

Sie gehorchte. Als sie fertig war, dankte ihr der Kapitän und sagte:

Danke, mein Kind!

Die gnädige Frau schien ein wenig überrascht und gab dem Mädchen sofort einen Auftrag nach dem Speicher. Der Kapitän sah ihr nach und sagte:

Was für wunderbar blanke Augen das Mädchen hat!

Ich schielte schräg zu Frau Falkenberg hinüber. In ihren Blicken flammte es auf, sie wurde rot und ging ihres Weges. Aber noch in der Tür wandte sie sich um, und jetzt war ihr Antlitz bleich geworden. Sicherlich war bereits ein Entschluß in ihr gereift, sie sagte über die Schulter zu ihrem Mann: Ich glaube, daß Ragnhild ein wenig zu blanke Augen hat, ja.

Der Kapitän fragte erstaunt:

So?

Und Frau Falkenberg lacht ein kleines Lachen, deutet mit dem Blick zu uns am Tisch herüber und fährt fort:

Ja, sie beginnt sich zu sehr mit den Knechten anzufreunden.

Stille in der Küche.

Und so ist es wohl am besten, sie kommt fort, sagt Frau Falkenberg.

In diesen Worten lag eine unerhörte Frechheit von Frau Falkenberg, aber wir konnten nichts dagegen tun und begriffen, daß sie uns nur als Vorwand benutzte.

Als wir draußen waren, sagte der Knecht aufgebracht:

Ich sollte vielleicht doch wieder hineingehen und etwas darauf antworten.

Da es aber nicht der Rede wert war, riet ich ihm ab.

Ein paar Tage vergingen. Wieder fand der Kapitän Gelegenheit, Ragnhild in Gegenwart seiner Frau eine plumpe Schmeichelei zu sagen: Du mit deinem jungen Körper, sagte er.

Nein, welcher Ton jetzt auf dem Kapitänshof herrschte! Mit jedem Jahr war es wohl abwärts gegangen, betrunkene Gäste hatten das Ihre getan, und Müßiggang, Gleichgültigkeit und Kinderlosigkeit hatten auch das Ihre getan.

Am Abend kam Ragnhild zu mir und erzählte, daß ihr gekündigt worden sei; Frau Falkenberg hatte sich damit begnügt, eine Anspielung auf mich zu machen.

Dies war wieder ein Schleichweg. Frau Falkenberg wußte genau, daß ich nicht lange auf dem Hof blieb, weshalb da nicht mich zum Sündenbock machen? Sie wollte ihrem Mann einen Strich durch die Rechnung ziehen, so lag die Sache.

Ragnhild war übrigens betrübt, weinte ein wenig und wischte sich die Augen. Aber nach einer Weile tröstete sie sich damit, daß Frau Falkenberg ihre Kündigung zurücknehmen werde, wenn ich wegginge. In meinem Innern war ich jedoch gewiß, daß sie das nicht tun würde.

Der Kapitän und Frau Elisabet konnten wohl zufrieden sein, das lästige Zimmermädchen kam sicher vom Hofe fort.

*

Aber was wußte ich! Vielleicht hatte ich die Situation doch falsch beurteilt. Einige neue Ereignisse machten mich unsicher, ja veranlaßten mich, meine Meinung zu ändern – oh, wie schwer es ist, die Menschen zu verstehen!

Es wurde mir klar, daß Frau Falkenberg ehrlich und redlich eifersüchtig auf ihren Mann war und nicht nur so tat, um selbst freies Spiel zu haben. Weit entfernt. Dagegen glaubte sie wohl nicht einen Augenblick daran, daß der Mann an dem Stubenmädchen Gefallen gefunden hätte. Es war nur ein Kniff von ihr, daß sie so tat; jetzt, da es darauf ankam, gebrauchte sie alle Mittel. Sie war in der Küche rot geworden, nun ja; aber das war nur ein rasches, natürliches Gekränktsein über einige unpassende Worte ihres Mannes gewesen. Das war alles. Es war keine wirkliche Eifersucht.

Ihr Mann aber sollte gerne glauben, sie sei auf das Mädchen eifersüchtig. Das eben war ihre Absicht. Dadurch sagte sie klar und deutlich: Jawohl, ich bin wahrhaftig wieder eifersüchtig, du siehst, es ist wie früher, hier hast du mich! Frau Falkenberg war besser, als ich geglaubt hatte. Viele Jahre hindurch hatten sich die Eheleute aus Gleichgültigkeit mehr und mehr voneinander entfernt, zuletzt vielleicht aus Trotz, nun wollte sie den ersten Schritt tun und wiederum Liebe zeigen. So war es. Aber vor dem Menschen, den sie am meisten von allen fürchtete, wollte sie sich in keiner Weise ihre Eifersucht anmerken lassen: vor Elisabet, dieser gefährlichen Freundin, die viele Jahre jünger war als sie selbst.

So war es.

Und der Kapitän? Hatte sich etwas in ihm gerührt, als er seine Frau in der Küche erröten sah? Vielleicht. Möglicherweise flackerte eine schwache Erinnerung an frühere Tage in ihm auf, ein leises Erstaunen, eine Freude. Aber er zeigte keine Erregung, die Jahre hatten wohl seinen Hochmut und Trotz gesteigert. So sah er aus.

Dann traten jene Ereignisse ein, von denen ich gesprochen habe.

 

3

Frau Falkenberg hatte längere Zeit mit ihrem Mann ein Spiel getrieben. Sie hatte zu seiner Gleichgültigkeit gleichgültig getan und sich mit dem zufälligen Hofieren der Gäste ihres Hauses getröstet. Nun reiste einer nach dem anderen dieser Gäste ab, – doch der fette Kapitän Bruder und die Dame mit dem Schal blieben zurück. Und Ingenieur Lassen blieb zurück. Bitte sehr! dachte wohl Kapitän Falkenberg, laß dich hier nieder, mein Freund, so lange du willst! Und es schien keinen Eindruck auf ihn zu machen, daß auch seine Frau sich mit dem Ingenieur duzte und ihn ebenso wie er Hugo nannte. Hugo! rief sie manchmal auf der Treppe. Und der Kapitän mochte ihr dann wohl Auskunft geben und antworten: Hugo ist den Weg hinuntergegangen!

Eines Tages hörte ich den Kapitän, mit einem spöttischen Lächeln zum Syringenwäldchen deutend, antworten: Der kleine König Hugo erwartet dich in seinem Reich! Ich sah Frau Falkenberg zusammenzucken, sie lachte verlegen, um ihre Überraschung zu verbergen, und ging zum Ingenieur hinunter.

Jetzt hatte sie endlich einen Funken aus ihrem Mann geschlagen. Sie würde versuchen noch mehrere zu schlagen.

Das war an einem Sonntag.

Im Lauf des Tages war Frau Falkenberg auffallend unruhig, sie sprach einige freundliche Worte mit mir und sagte, daß wir tüchtig gearbeitet hätten, Nils und ich.

Lars ist heute für mich auf dem Posthaus gewesen, sagte sie. Er hat nach einem Brief gefragt, auf den ich ungeduldig warte. Willst du mir den Gefallen tun und den Brief von der Rodung holen?

Ich sagte mit Freuden Ja.

Lars ist nicht vor elf Uhr wieder daheim. Du brauchst also noch lange nicht fortzugehen.

Gut.

Und wenn du zurückkommst, gibst du den Brief Ragnhild. Das war das erstemal während meines jetzigen Aufenthaltes auf Övrebö, daß Frau Falkenberg ein Wort mit mir gesprochen hatte; dies war so neu für mich – ich ging hinauf, setzte mich allein in meinen Schlafraum und fühlte, wie ich ein wenig auflebte. Auch kam mir verschiedenes in den Sinn. Es sind ja doch nur Narrenstreiche, hier auf dem Hofe noch weiterhin den Unbekannten zu spielen, dachte ich, warum soll ich mich in dieser Hitze mit dem langen Bart plagen? Der graue Bart macht mich alt, uralt! So entschloß ich mich rasch und rasierte mir den Vollbart ab.

Gegen zehn Uhr begab ich mich zur Rodung hinauf. Lars war noch nicht da, aber als ich mich eine Weile bei Emma aufgehalten hatte, kam er. Ich erhielt den Brief und kehrte heim, es war beinahe Mitternacht.

Ragnhild konnte ich nirgends finden, und die anderen Mädchen waren schlafen gegangen. Ich schaute im Syringenwald nach, dort saßen Kapitän Falkenberg und Elisabet an dem runden Steintisch und schwätzten, sie nahmen keine Notiz von mir. Im ersten Stock sah ich Licht im Zimmer der gnädigen Frau. Da fiel mir ein, daß ich heute abend so aussah wie vor sechs Jahren und rasiert war ebenso wie damals; ich nahm den Brief aus der Tasche und ging durch den Haupteingang, den Brief Frau Falkenberg selbst zu übergeben.

Oben im ersten Stock kommt mir Ragnhild lautlos zur Treppe entgegengehüpft und nimmt mir den Brief ab. Ihr Atem weht mir förmlich heiß ins Gesicht, und sie scheint stark erregt zu sein, während sie in den Gang zurückdeutet, wo ich Stimmen höre.

Ich bekam den Eindruck, daß Ragnhild entweder eigenmächtig hier Wache gestanden hatte oder von jemand anderem hierher gestellt worden war; auf jeden Fall aber war dies etwas, was mich nichts anging. Als mir Ragnhild zuflüsterte: Sag nichts, geh leise wieder hinunter! gehorchte ich und ging in mein Zimmer.

Mein Fenster stand offen. Ich hörte die beiden am Steintisch unten in den Büschen, sie saßen dort und tranken Wein, und ich sah immer noch Licht im Zimmer der gnädigen Frau.

Zehn Minuten vergingen, dann wurde das Licht ausgelöscht.

Eine Minute später höre ich unten im Hauptgebäude hastige Tritte die Treppe hinaufgehen, und unwillkürlich schaue ich hinaus, um zu sehen, ob es der Kapitän gewesen sei. Aber der Kapitän sitzt noch auf seinem Platz.

Jetzt höre ich die gleichen Schritte die Treppe wieder herunterkommen, und kurz darauf noch andere. Ich behalte das Hauptgebäude im Auge. Zuerst tritt Ragnhild aus der Türe, sie läuft wie gejagt und wendet sich zum Gesindehaus herüber; dann kommt Frau Falkenberg, sie hat den Brief in der Hand, er leuchtet weiß in der Dämmerung, ihr Haar ist offen. Nach ihr kommt der Ingenieur. Die beiden gehen den Weg zur Chaussee hinunter.

Ragnhild stürzt zu mir herein und läßt sich auf einen Hocker fallen, schnaufend, geladen, voller Lust, zu erzählen. Sie hatte heute abend etwas sehr Seltsames erlebt, flüsterte sie. Schließ das Fenster! Die gnädige Frau und dieser Ingenieur – keine Spur von Vorsicht – um ein Haar hätten sie es getan. Er hätte Frau Falkenberg festgehalten, sogar noch als Ragnhild mit dem Brief hereinkam. Oh! Im Zimmer der gnädigen Frau bei ausgelöschter Lampe.

Du bist verrückt! sagte ich zu Ragnhild.

Das verschlagene Mädchen! – es zeigte sich, daß sie wirklich gut gehört und gesehen hatte. Das Lauschen war ihr so zur Gewohnheit geworden, daß sie sich dessen nicht einmal ihrer Herrin gegenüber enthalten konnte. Aber sie war doch ein merkwürdiges Mädchen.

Im Anfang war ich erhaben und wollte nichts von ihrem Klatsch wissen: Sie hätte dort gestanden und gelauscht? Pfui! Was sie anderes hätte tun können! antwortete sie. Sie sollte mit dem Brief erst hereinkommen, wenn die gnädige Frau die Lampe ausgelöscht hätte, dann sollte sie kommen. Aber die Fenster von Frau Falkenbergs Zimmer gehen nach dem Syringenwäldchen hinaus, wo der Kapitän und Elisabet vom Pfarrhof saßen. Also dort konnte Ragnhild nicht warten. Sie mußte sich auf dem Gang aufhalten und manchmal durch das Schlüsselloch schauen, ob die Lampe ausgelöscht wäre.

Das hörte sich schon besser an.

Plötzlich schüttelte Ragnhild den Kopf und sagte voll Bewunderung vom Ingenieur:

Nein, dieser junge Windhund, der die gnädige Frau beinahe dazu gebracht hätte, daß –! Es hing au einem Haar!

Wozu er die gnädige Frau gebracht hätte? Die Eifersucht stach mich, ich hörte auf erhaben zu sein und fragte eindringlich nach allen Dingen: Was taten sie, sagst du? Wie ging es zu?

Den Anfang wußte Ragnhild nicht. Die gnädige Frau hatte ihr Bescheid gegeben, daß ein Brief aus der Rodung abgeholt werde; wenn er käme, sollte Ragnhild warten, bis die Lampe im Zimmer der Frau Falkenberg ausgelöscht würde, und dann gleich mit dem Brief zu ihr heraufkommen. Ja, antwortete Ragnhild. Nicht, ehe ich die Lampe auslösche, hörst du! sagte Frau Falkenberg nochmals. Und Ragnhild hatte auf den Brief gewartet. Aber das dauerte eine Ewigkeit. Dann hatte sie angefangen, nachzudenken, zu grübeln, das Ganze war eigenartig, sie ging einstweilen auf den Gang hinauf und versuchte etwas zu erfahren. Sie hörte drinnen die gnädige Frau und den Ingenieur frei miteinander sprechen und begann zu lauschen. Als sie durch das Schlüsselloch schaute, sah sie, daß Frau Falkenberg im Begriff war, ihr Haar zu lösen, während der Ingenieur sagte, sie sei herrlich. Oh, dieser Ingenieur, dann küßte er sie!

Auf den Mund? Nein!

Ragnhild sah meine große Erregung und wollte mich beruhigen:

Auf den Mund? Vielleicht nicht richtig, nein aber. Und der Ingenieur hat gar keinen hübschen Mund, finde ich. Nein, wie fein du dich rasiert hast; laß sehen!

Aber was sagte die gnädige Frau dazu? Entwand sie sich ihm nicht?

Doch, das tat sie. O ja. Und dann schrie sie.

Sie schrie?

Ja, sie schrie auf. Und: pst! machte der Ingenieur. Und jedesmal, wenn die gnädige Frau laut sprach, bat er sie, leise zu sein. Nein, die dürfen uns gern hören! antwortete Frau Falkenberg nur, die sitzen selbst unten in den Büschen und sind verliebt. Das waren der Kapitän und Elisabet vom Pfarrhof. Schau, dort sitzen sie! fügte sie hinzu und ging zum Fenster. Jawohl, jawohl, sagte auch der Ingenieur, aber bleib doch nicht mit dem offenen Haar dort stehen! Er ging ihr nach und holte sie wieder zurück. Dann sprachen sie über vielerlei, und wenn der Ingenieur leise redete, fragte die gnädige Frau immer wieder. Wenn du nur nicht so laut schreien wolltest, könnte es hier sehr still sein, sagte er zu ihr. Da schwieg sie und lächelte ihm nur zu und war still. Sie war furchtbar verliebt in ihn.

So?

Ja, das sah ich. Wie man so einen liebhaben kann? Er schmiegte sich an sie und faßte sie so mit den Händen, genau so, sieh her!

Blieb die gnädige Frau auch da still sitzen?

Doch ja, ziemlich still. Dann aber ging sie zum zweitenmal ans Fenster und kam wieder zurück; sie machte mit der Zunge so und ging gerade auf ihn zu und küßte ihn. Daß sie das mochte! Denn er hat keinen schönen Mund. Dann sagte er: Jetzt sind wir ganz allein und können es hören, wenn jemand kommt! Wo sind der Bruder und seine Dame? fragte sie. Draußen, draußen, auf der anderen Seite der Erde, antwortete er. Wir sind allein, und nun laß mich dich nicht mehr länger bitten! sagte er. Im gleichen Augenblick umfaßte er sie und hob sie auf, er war so stark, so stark. Nein, laß mich! schrie sie auf.

Was weiter? fragte ich atemlos.

Dann kamst du mit dem Brief, so daß ich in diesem Augenblick nichts mehr sehen konnte. Und als ich zur Tür zurückkam, wurde der Schlüssel umgedreht und dadurch der Spalt noch kleiner. Aber ich hörte Frau Falkenberg fragen: Was tust du? Nein, wir dürfen nicht! Er hielt sie gewiß in den Armen. Dann sagte sie schließlich: Ja, warte ein wenig, laß mich einen Augenblick los! Er gab sie frei. Blas die Lampe aus! sagte sie. Dann wurde es dunkel im Zimmer, oh!

Nun aber wußte ich beinah nicht mehr, was ich zu tun hatte, fuhr Ragnhild fort. Eine Weile stand ich ganz betäubt da und dachte daran, sofort an die Türe zu klopfen.

Ja, das hättest du tun sollen. Warum in aller Welt hast du damit gewartet?

Aber dann hätte ja die gnädige Frau gemerkt, daß ich draußen gestanden hatte, antwortete das Mädchen. So sprang ich von der Türe weg und die Treppe hinunter. Und dann kehrte ich um und ging die Treppe wieder hinauf und trat fest auf, damit Frau Falkenberg hörte, woher ich käme. Die Tür war noch verschlossen, ich klopfte an, und Frau Falkenberg kam und machte auf. Der Ingenieur aber war dicht bei ihr und hielt sie an den Kleidern und war vollkommen verrückt vor Verlangen nach ihr. Geh nicht, geh nicht! sagte er die ganze Zeit und sah nicht einmal zu mir her. Aber da kam die gnädige Frau mit mir heraus, als ich fortging. Ach du meine Güte, wäre ich nicht gerade in diesem Augenblick gekommen! Es stand auf Spitz und Knopf!

*

Eine lange, unruhige Nacht.

Als wir Knechte am folgenden Mittag daheim waren, begannen die Mädchen davon zu flüstern, daß heute gewiß eine Abrechnung zwischen den Eheleuten stattgefunden habe. Ragnhild wußte Bescheid. Der Kapitän hatte sich das offene Haar und die ausgelöschte Lampe gestern abend gemerkt, und er lachte über das Haar und sagte: Nein, wie war das doch schön! Die gnädige Frau antwortete nicht viel, ehe sie nicht selbst gut zugreifen konnte, dann sagte sie: Ja, gewiß, ich gehe manchmal mit offenem Haar, es ist ja nicht deines!

Die Arme konnte es nicht gut mit ihm aufnehmen, wenn es eine Abrechnung zwischen ihnen gab.

Dann war Elisabet dazugekommen und hatte sich darein gemischt. Und sie war flinker, prr! Frau Falkenberg brachte heraus: Ja, wir saßen im Haus, aber ihr saßet in den Büschen! Darüber wurde Elisabet scharf und entgegnete: Wir haben nicht die Lampe gelöscht! Ach, daß wir die Lampe auslöschten, antwortete die gnädige Frau, hatte nichts zu sagen; wir gingen gleich danach hinaus.

Ich dachte: Aber Herrgott, sie hätte sich doch herausreden können und sagen, sie hätten die Lampe ausgelöscht, weil sie hinausgingen!

Dann war es wieder zu Ende. Bald darauf aber kam der Kapitän mit einer Andeutung, daß seine Frau soviel älter sei als Elisabet: Du solltest immer mit offenem Haar gehen, meinte er; ganz gewiß, es lag eine Art Halbwüchsigkeit über dir! Ach ja, das könnte ich jetzt wohl brauchen! erwiderte die gnädige Frau. Als sie aber sah, daß Elisabet sich abwandte und lachte, wurde sie plötzlich verbittert und sagte, sie solle machen, daß sie fortkomme. Und Elisabet stemmte die Hände in die Seite: Lassen Sie meinen Wagen anspannen, Kapitän! Der Kapitän antwortete: Jawohl. Und ich selbst werde dich fahren!

Ragnhild war in der Nähe gewesen und hatte es gehört.

Ich dachte bei mir: Alle beide sind wohl eifersüchtig aufeinander gewesen. Sie, weil er in den Büschen gesessen hatte, er wegen des offenen Haares und der ausgelöschten Lampe. Als wir während der Arbeitspause gerade die Küche verließen, kam der Kapitän und machte sich an Elisabets Wagen zu schaffen, er rief mir und sagte:

Ich sollte dich jetzt während der Ruhezeit nicht um etwas bitten, aber möchtest du nicht die Tür vom Lusthaus instand setzen?

Ja, antwortete ich.

Diese Tür war beschädigt, seit der Ingenieur sie vor einigen Abenden eingerannt hatte. Warum wollte der Kapitän sie eben jetzt wieder instand gesetzt haben? Er hatte doch keine Verwendung für das Lusthaus, wenn er mit Elisabet fortreiste. Wollte er, während er fort war, diesen Zufluchtsort für andere versperren? Dann war das ein bedeutungsvoller Zug.

Ich nahm das Werkzeug mit und ging in das Syringenwäldchen hinunter.

Zum erstenmal sah ich das Lusthaus von innen. Es war ein ziemlich neues Haus, vor sechs Jahren hatte es noch nicht dagestanden. Innen war es sehr geräumig, Bilder hingen an den Wänden, sogar eine Schlaguhr, die jetzt abgelaufen war, Polsterstühle gab es, einen Tisch, eine breite Bank mit Sprungfedern und rotem Plüschüberzug. Die Vorhänge waren heruntergelassen. Ich setzte erst ein paar Ziegel auf dem Dach ein, an Stelle derer, die ich mit der leeren Flasche zerbrochen hatte, dann schraubte ich das Schloß ab und sah nach, was fehlte; noch während ich hiermit beschäftigt war, kam der Kapitän. Er hatte heute sicher schon etwas getrunken oder war noch von gestern her stark benommen.

Das war kein Einbruch, sagte er. Entweder hat die Tür offengestanden und durch das Auf- und Zuschlagen im Winde gelitten, oder einer der Herren stieß eines Abends in der Dunkelheit dagegen. Es gehört ja nicht viel dazu, sie einzudrücken.

Die Türe aber hatte einen schweren Stoß bekommen, das Schloß war gesprengt und das Leistenwerk an der inneren Seite des Rahmens zersplittert.

Laß sehen! Setz hier einen neuen Pflock ein und zwing die Feder wieder zusammen, sagte der Kapitän. Er setzte sich auf einen Stuhl.

Frau Falkenberg kam die wenigen Steinstufen zum Syringenwäldchen herunter und rief:

Ist der Herr Kapitän hier?

Ja, sagte ich.

Sie kam. Ihr Gesicht war erregt.

Ich möchte gern mit dir sprechen, sagte sie. Nur wenige Worte.

Der Kapitän antwortete, ohne sich zu erheben:

Bitte schön. Willst du stehen oder sitzen? Nein, du kannst hierbleiben, sagte er scharf zu mir. Ich habe keine Zeit, hier lange zu warten!

Das aber sagte er gewiß, weil er die Türe gerne noch fertig haben wollte, damit er den Schlüssel mit auf die Reise nehmen könnte.

Es mag ja sein, daß ich – ja, daß ich das nicht hätte sagen sollen, begann Frau Falkenberg.

Der Kapitän schwieg.

Aber daß er schwieg, jetzt, da sie kam, um es wieder gut zu machen, war mehr, als sie ertragen wollte, sie sagte schließlich:

Übrigens ist ja alles ganz gleichgültig.

Dann kehrte sie um und wollte wieder gehen.

Wolltest du nicht mit mir sprechen? fragte der Kapitän.

Nein, es ist nicht nötig. Es ist mir nicht der Mühe wert.

Ach so, antwortete der Kapitän.

Dies sagte er und lächelte dabei. Er war ja wohl betrunken und über irgend etwas gereizt.

Aber als die gnädige Frau in der Tür an mir vorbeiging, wandte sie sich um und sagte:

Du solltest heute nicht fortfahren. Es gibt schon genug Gerede.

Du mußt es nur nicht beachten! erwiderte er.

Auf die Dauer geht es nicht so weiter, gab sie zur Antwort. Und es ist eine Schande, daß du das nicht begreifst.

Wir dürfen uns wohl beide schämen, entgegnete er trotzig und sah die Wände an.

Ich nahm mein Schloß und ging hinaus.

Du gehst nicht! schrie mir der Kapitän nach. Ich habe keine Zeit.

Ja, freilich hast du wenig Zeit, du mußt wieder fort, sagte Frau Falkenberg. Aber du solltest es dir überlegen. Auch ich habe es mir in der letzten Zeit überlegt; aber du wolltest es nicht sehen.

Was meinst du? fragt er hochmütig und unnachgiebig. Meinst du dein Spiel mit offenem Haar und ausgelöschter Lampe am Abend – soll ich das nicht gesehen haben? O doch.

Ich muß zum Amboß und nieten, gab ich vor und lief davon.

Ich blieb länger fort als notwendig, aber als ich zurückkam, war die gnädige Frau noch immer da. Es wurde sehr laut gesprochen im Lusthaus, Frau Falkenberg sagte:

Aber weißt du, was ich getan habe? Ich habe mich bemüht, ein wenig Eifersucht zu zeigen. Das habe ich getan. Ja, nur auf das Mädchen – ich meine –

Ja, was weiter? antwortet der Kapitän.

Nein, nein, du willst nichts verstehen. Nun gut. Aber dann mußt du wahrlich auch die Folgen auf dich nehmen!

Dies waren ihre letzten Worte. Es klang wie ein Pfeil, der gegen einen Schild prallt. Sie trat zur Türe hinaus und ging.

Wirst du damit fertig? fragte mich der Kapitän. Aber ich verstand, daß seine Gedanken anderswo waren, er wollte sich nur munter stellen. Bald darauf tat er, als gähne er und sagte: Huah, ich muß einen weiten Weg fahren. Aber Nils will mir ja niemand abtreten.

Als ich das Schloß eingefügt und das Leistenwerk auf den Rahmen genagelt hatte, war ich fertig. Der Kapitän prüfte die Tür, steckte den Schlüssel zu sich, bedankte sich bei mir für die Arbeit und ging.

Kurz darauf fuhr er mit Elisabet davon.

Ich komme bald wieder! rief er dem Kapitän Bruder und dem Ingenieur Lassen zu und winkte den beiden. Und unterhaltet euch gut! rief er.

 

4

Dann wurde es Abend. Und was würde nun geschehen?

Es geschah viel.

Schon während wir Knechte beim Abendbrot saßen und die Herrschaft gleichzeitig in der Stube zu Mittag aß, herrschte drinnen große Lustigkeit und Ausgelassenheit. Ragnhild trug verschiedene Gerichte und Flaschen hinein und wartete auf, und als sie einmal aus der Stube kam, lachte sie leise und sagte zu den anderen Mädchen: Heute abend ist die gnädige Frau sicher auch betrunken.

Ich hatte die Nacht vorher nicht geschlafen und auch heute mittag keine Rast gehabt; zudem hatten die letzten Begebenheiten auf mich eingewirkt und mir die Ruhe geraubt. Nach dem Abendessen schlenderte ich deshalb in den Wald hinauf, mich eine Weile hinzusetzen und allein zu sein. Und ich blieb lange dort.

Ich sah auf den Hof hinunter. Jetzt war der Kapitän fort, die Dienstleute waren zur Ruhe gegangen, die Tiere in den Ställen in tiefem Schlaf. Der fette Kapitän Bruder und seine Dame hatten sich wohl auch nach dem Essen irgendwohin zurückgezogen; er brannte lichterloh und war beständig hinter ihr her, obwohl er so alt und dick und auch sie nicht mehr jung war. So blieb niemand mehr übrig als Frau Falkenberg und der junge Ingenieur. Und wo waren die wohl?

Nun, meinetwegen!

Gähnend und halb erfroren in der kühlen Abendluft schlenderte ich wieder nach Hause und ging auf mein Zimmer. Kurz darauf kam Ragnhild und bat mich, wach zu bleiben und ein wenig behilflich zu sein, falls das nötig wäre. Alles sei so unheimlich heute abend, die Menschen unten im Hauptgebäude täten, was sie wollten, sie gingen in Unterkleidern von Zimmer zu Zimmer und seien betrunken. Ob die gnädige Frau auch betrunken sei? Ja, sie auch. Ob auch sie nur in Unterkleidern umhergehe? Nein, aber der Kapitän Bruder täte es, und sie riefe Bravo dazu. Und der Ingenieur ebenfalls. Sie seien also alle miteinander verrückt. Jetzt habe Ragnhild noch einmal zwei Flaschen Wein hereinbringen müssen, obwohl sie schon betrunken wären.

Komm mit mir, dann hörst du es selbst! sagte Ragnhild zu mir. Sie sind jetzt in das Zimmer der gnädigen Frau hinaufgegangen.

Nein, ich will mich schlafen legen, antwortete ich. Und das solltest du auch tun.

Aber wenn sie läuten und etwas wollen?

Laß sie läuten!

Da erklärte mir Ragnhild, daß der Kapitän selbst sie gebeten habe, in der Nacht aufzubleiben, falls seine Frau sie brauche.

Dies veränderte die ganze Situation mit einem Schlag. Dann hatte der Kapitän wohl Befürchtungen gehegt und Ragnhild als Wache aufgestellt. Ich zog den Kittel wieder an und ging mit ins Hauptgebäude.

Im ersten Stock blieben Ragnhild und ich auf dem Gang stehen und hörten, wie es im Zimmer der gnädigen Frau sehr lustig zuging. Frau Falkenberg selbst aber sprach mit klarer Stimme und war durchaus nicht betrunken. Doch doch, sie ist so seltsam! behauptete Ragnhild.

Ich hätte die gnädige Frau gern einen Augenblick gesehen.

Ragnhild und ich gingen in die Küche hinunter und setzten uns. Ich fand jedoch keine Ruhe; bald nahm ich die Lampe von der Wand und bat Ragnhild, mir zu folgen. Wir gingen wieder in den ersten Stock hinaus.

Bitte nun die gnädige Frau, sie möge zu mir herauskommen! sagte ich.

Nein, warum das?

Ich habe eine Nachricht für sie.

Und Ragnhild klopfte an und ging hinein.

Erst in diesem Augenblick überlegte ich mir, welche Nachricht ich für sie haben könnte. Ich könnte der gnädigen Frau nur ins Gesicht sehen und sagen: Der Kapitän bat mich, Grüße auszurichten. Wäre das genug? Ich könnte auch sagen: Der Kapitän war genötigt selbst zu fahren, weil ihm Nils keinen Mann abtreten wollte.

Ein Augenblick kann aber bisweilen sehr lang sein, und man kann blitzschnell denken. Ich hatte Zeit, diese zwei Pläne zu verwerfen und einen dritten auszuhecken, ehe Frau Falkenberg kam. Mein letzter Plan aber war wohl nicht besser als die beiden ersten.

Die gnädige Frau fragte erstaunt:

Was willst du?

Und auch Ragnhild trat hinzu und sah mich fragend an.

Ich richtete den Lampenschirm gegen Frau Falkenberg und sagte:

Entschuldigen Sie, daß ich so spät komme. Ich muß morgen früh zur Post, vielleicht hat die gnädige Frau Briefe mitzugeben?

Briefe? Nein, sagte sie und schüttelte den Kopf.

Ihr Blick war abwesend, sie schien jedoch nicht im geringsten betrunken zu sein. Aber vielleicht hielt sie sich nur aufrecht.

Nein, ich habe keine Briefe, wiederholte sie und wollte wieder hineingehen.

Entschuldigen Sie, sagte ich darauf.

Gehst du im Auftrag des Kapitäns? fragte sie.

Nein, für mich selbst.

Dann ging sie. Schon in der Türe sagte sie in verletztem Ton zu den anderen:

Das war auch nur ein Vorwand!

Ragnhild und ich gingen wieder hinunter. Ich hatte also Frau Falkenberg gesehen. Aber in welch gedemütigtem Zustand saß ich jetzt hier! Es war auch nicht sehr beruhigend für mich, daß Ragnhild sich verplapperte und etwas sagte, bei dem ich mich in Scham zusammenkrümmen mußte. Die gute Ragnhild hatte wohl überhaupt nur geschwindelt, der Kapitän hatte sie nicht als Wache aufgestellt. Sie erklärte mir, ich hätte sie mißverstanden, meine Ahnung wurde klar und bestärkt: Ragnhild spionierte heute abend, wie auch sonst, auf eigene Rechnung, aus Liebe zum Handwerk.

Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Wozu hatte nun meine ungehobelte Aufdringlichkeit gedient? Einen Vorwand hatte es die gnädige Frau genannt, und so hatte sie mich wohl durchschaut. Voll Gram gelobte ich mir, daß von nun an alles und alle Frieden vor mir haben sollten.

Dann warf ich mich angekleidet aufs Bett.

Nach einer Weile höre ich durch mein offenes Fenster Frau Falkenbergs Stimme auf dem Hofplatz, sie spricht laut; der Ingenieur ist bei ihr und antwortet dann und wann.

Die gnädige Frau ist entzückt über das schöne Wetter, über den warmen Abend, es ist herrlich hier im Freien, unendlich viel schöner als drinnen!

Jetzt aber schien es, als sei ihre Stimme weniger klar.

Ich lief zum Fenster und sah das paar unten bei den Steinstufen zum Syringenwald stehen. Der Ingenieur schien etwas auf dem Herzen zu haben, was er bis jetzt nicht hatte vorbringen können: Hör mich jetzt ein wenig an! sagte er. Und nun folgte eine kurze und eindringliche Bitte, die ihre Antwort, ja die ihren Lohn erhielt. Er sprach wie zu einer Schwerhörigen, weil sie solange taub für ihn gewesen war, sie standen dort an den Steinstufen, und keines von ihnen kümmerte sich um die ganze Welt rings um sie her. Mochte man lauschen, mochte man sie sehen – die Nacht gehörte ihnen, die Worte ihnen; der Frühling trieb sie wohl auch zueinander. Er war wie ein Kater, bei jeder ihrer Bewegungen kochte es in ihm auf, so bereit war er, sich über sie zu werfen. Und da alles auf die Tat hindrängte, war in seinem Verlangen nach ihr ein brutaler Zwang. Der junge Feuerbrand!

Ich habe lange genug gebettelt, sagte er atemlos. Gestern wolltest du beinahe, heute bist du wieder taub. Es scheint, daß du und Bruder und Tante und ihr alle miteinander euch lustig und unschuldig unterhalten wollt, und ich soll dasitzen und zusehen und den Leutnant für die Damen spielen. Aber, bei Gott im Himmel, nein. Denn du sitzt wie ein Garten des Guten dicht vor mir, und der jämmerliche Zaun rings um den Garten, das Tor – – weißt du, was ich jetzt damit tue?

Was tust du damit? Nein, du hast zuviel getrunken, Hugo, du bist so jung. Wir haben beide zuviel getrunken, sagte sie.

Und dann treibst du ein hinterlistiges Spiel mit mir, du sendest einen Expreßboten nach einem Brief, auf den du nicht mehr länger warten kannst, gleichzeitig aber hast du das Herz dazu, mir in Aussicht zu stellen – mir zu versprechen –

Ich werde es nie wieder tun.

Nie wieder tun? fuhr er fort. Was soll das heißen? Ich habe dich einem Mann entgegenkommen sehen – nun wohl, mir selbst – mir entgegenkommen, mit etwas Lebendigem, mit der Zunge, du küßtest mich, oh! Schweig nur davon, daß du es nie wieder tun willst, es ist getan, ich fühle es noch, es ist fürchterlich gut für mich, und Dank, daß du es tatest. Du gehst noch mit dem Brief auf der Brust umher, laß ihn mich sehen!

Du bist so heftig, Hugo. Nein, nun ist es spät geworden, jetzt gehen wir jedes seinen Weg.

Willst du mich den Brief sehen lasten?

Warum? Nein.

Da nahm er einen Anlauf, als wolle er Gewalt anwenden, blieb aber stehen und preßte hervor:

Wie? Nicht? Du bist wahrlich – um nicht das Wort schamlos zu gebrauchen, aber du bist vielleicht noch etwas Schlimmeres –

Hugo!

Doch, genau das.

Willst du den Brief durchaus sehen? Hier ist er. Sie steckte die Hand in die Bluse und zog den Brief hervor, faltete ihn auseinander, winkte damit; er sollte sehen, wie unschuldig sie war: Sieh, hier ist der Brief. Er ist von meiner Mutter, siehst du die Unterschrift hier. Er ist von Mama. Nun!

Es war, als hätte er eine Ohrfeige bekommen, und er sagte nur:

Von deiner Mutter? Aber dann war er ja gar nicht wichtig?

Nein, da siehst du's nun! O doch, übrigens, ein wenig wichtig war er, aber –

Er lehnte sich an den Zaun und begann mit einem Gedanken zu spielen:

Ach so, von deiner Mutter. Ein Brief deiner Mutter kam und störte uns. Weißt du, was ich glaube? Du hast geschwindelt. Du hast mich die ganze Zeit zum Narren gehalten. Jetzt geht mir ein Licht auf.

Sie wollte sich herausreden.

Es war ein wichtiger Brief, Mama will herkommen, sie will uns in einiger Zeit besuchen, in ganz kurzer Zeit. Ich erwartete den Brief.

Nicht wahr, du hast nur geschwindelt! beharrte er. Du ließest im rechten Augenblick, als wir die Lampe auslöschten, den Brief kommen. So ist es. Du wolltest mich nur reizen. Dein Mädchen mußte auf dich aufpassen.

Sei nun vernünftig. Ach, es wird so spät, laß uns gehen. Nein, ich habe zum Schluß gewiß zuviel getrunken, jetzt rede ich nicht mehr klar.

Er hatte nur den Brief im Kopf und sprach weiter davon:

Denn sonst hättest du ja aus dem Brief deiner Mama kein solches Geheimnis zu machen brauchen. Nun durchschaue ich das Ganze. Du willst gehen, sagst du. Ja, gehen Sie, gnädige Frau. Gute Nacht, gnädige Frau. Meinen kindlichen Gruß.

Er verbeugte sich und blieb mit einem Grinsen um den Mund stehen.

Kindlich? Jawohl, ich bin alt, erwiderte sie in starker Erregung. Du bist so jung, Hugo, das ist wahr. Und ich habe dich geküßt, weil du so jung warst. Aber deine Mutter könnte ich nicht sein, nein, sondern ich bin nur viel, viel älter als du. Aber ganz alt bin ich nicht, das könntest du sehen, wenn …; Aber ich bin älter als Elisabet und alle anderen. Was sage ich? Durchaus nicht. Ich weiß nicht, was die Jahre aus mir gemacht haben, alt haben sie mich jedenfalls nicht gemacht. Nicht wahr? Findest du? Ach, was weißt du davon!

Nein, nein, sagte er ausweichend. Aber ist in alledem irgendein Sinn? Hier gehst du junges Menschenkind die ganze Zeit umher und hast nichts anderes zu tun, als dich selbst zu behüten und die anderen dazu zu bringen, das gleiche zu tun. Und Gott weiß es, daß du mir etwas versprochen hast, aber das bedeutet dir nichts, du schiebst mich nur fort und schlägst mich mit deinen großen, weißen Schwingen nieder.

Große, weiße Schwingen, sagte sie vor sich hin.

Ja. Du könntest große, rote Schwingen haben. Sieh nur, wie schön du dastehst, und wie zwecklos und unnütz du bist.

Ach, ich habe gewiß zuviel getrunken. Doch ich bin wahrlich zu vielerlei nütze! Plötzlich nimmt sie seine Hand und zieht ihn die Stufen hinunter, ich höre sie sagen: Warum soll ich mich darum kümmern? Bildet er sich ein, daß Elisabet so viel besser ist?

Sie kommen auf den Weg zum Lusthaus. Hier besinnt sie sich und bleibt stehen.

Nein, wo gehen wir hin? fragt sie. Haha, wir sind verrückt. Mußt du nicht glauben, daß ich verrückt bin? Das bin ich nicht, das heißt, doch, hie und da. Die Tür ist verschlossen, komm, dann gehen wir fort von hier. Was ist das wieder für ein Streich, die Tür zu verschließen, wenn wir hinein wollen!

Voller Bitterkeit und Mißtrauen antwortete er hierauf:

Jetzt schwindelst du wieder. Du wußtest gut, daß die Türe verschlossen war.

Nein, du darfst nicht die ganze Zeit so schlecht von mir denken, hörst du! Aber warum schließt er so gut ab und will das Haus allein für sich haben? Doch, ich wußte, daß die Tür verschlossen war, deshalb ging ich mit dir hierher. Ich wage es nicht. Nein, Hugo, ich will nicht, du sollst mir glauben. Bist du von Sinnen! Komm mit.

Wieder nahm sie seine Hand und wollte umkehren; sie stritten ein wenig miteinander, er wollte nicht mitkommen. Dann schlang er übermächtig beide Arme um sie und küßte sie viele Male. Mehr und mehr ergab sie sich, zwischen jedem Kuß sprach sie abgerissene Worte:

Ich habe nie früher einen fremden Mann geküßt, niemals. Bei Gott, das mußt du mir glauben. Nie habe ich –

Nein, nein, nein, antwortet er ungeduldig und zieht sie Schritt für Schritt mit sich.

Beim Lusthaus läßt er sie einen Augenblick los, stemmt die Schulter schwer gegen die Türe und sprengt sie zum zweitenmal. Im nächsten Augenblick ist er wieder an ihrer Seite. Keines von beiden spricht.

Noch in der Türe leistet sie Widerstand, sie hält sich am Rahmen fest und will nicht loslassen:

Nein, ich bin ihm niemals untreu gewesen, ich will nicht, ich bin niemals, niemals –

Er zieht sie an sich, küßt sie eine Minute, zwei Minuten lang, schwer und ohne Unterbrechung, sie beugt sich nach hinten, ihre Hand wird locker, dann läßt sie los. –

Ein weißer Nebel strömt vor meine Augen. So – nun sind sie dort. Nun entfaltet er sie. Jetzt nimmt er sie und tut das Gute mit ihr.

Eine traurige Mattheit und Ruhe legt sich über mich, ich bin gequält und allein. Es ist spät, für mein Herz ist es Abend geworden.

Mitten in dem weißen Nebel sehe ich eine hüpfende Gestalt: Es ist Ragnhild, die aus den Büschen kommt. Sie läuft, die Zunge zwischen den Zähnen.

*

Der Ingenieur kam zu mir, nickte guten Morgen und bat mich, die Tür zum Lusthaus instand zu setzen.

Ist sie wieder entzwei?

Ja, heute nacht ist sie entzweigegangen.

Es war noch früh am Morgen, noch nicht später als halb fünf, und wir Knechte waren noch nicht auf die Äcker hinausgefahren. Die Augen des Ingenieurs waren klein und funkelnd, als brennten sie, sie hatten wohl keinen Schlaf gehabt. Er gab keine Erklärung, weshalb die Tür aufgebrochen war.

Nicht um seinetwillen, sondern um Kapitän Falkenbergs willen ging ich sofort zum Lusthaus hinunter und brachte die Türe zum zweitenmal in Ordnung. Es eilte wohl nicht, der Kapitän hatte einen langen Weg hin- und zurückzufahren; aber jetzt war es bald vierundzwanzig Stunden her, seit er von daheim fort war.

Der Ingenieur folgte mir. Ohne daß ich mir im Augenblick genauere Rechenschaft darüber gab, bekam ich einen guten Eindruck von ihm: Jawohl, er hatte heute nacht diese Tür eingerannt, aber nun war er auch der Mann, der sich nicht davon drückte, er und kein anderer mußte sie wiederherstellen lassen! Ach, es schmeichelte vielleicht nur meiner Eitelkeit, es wirkte auf mich, daß er Zutrauen in meine Verschwiegenheit setzte. So war es. Und deshalb bekam ich den guten Eindruck von ihm.

Ich bin Flößereiinspektor, sagte der Ingenieur. Wie lange bleibst du hier?

Nicht lange. Bis die Frühjahrsbestellung getan ist.

Wenn du willst, kannst du bei mir Arbeit bekommen.

Das wäre eine unbekannte Tätigkeit für mich gewesen. Außerdem mischte ich mich nicht gern unter Flößer und Proletariat; ich war lieber bei den Bauern und Holzarbeitern. Ich dankte dem Ingenieur jedoch für sein Anerbieten.

Es ist wirklich freundlich von dir, daß du die Tür in Ordnung bringst. Ich hätte nämlich gerne eine Flinte gehabt und suchte überall; ich wollte etwas schießen. Da dachte ich, daß der Kapitän da drinnen eine Flinte haben könnte.

Ich antwortete nicht. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte nichts gesagt.

Deshalb wollte ich dich darum bitten, ehe du auf den Acker gehst, schloß er.

Ich richtete das Schloß, setzte es wieder ein und begann die Leisten, die wiederum in Splitter zersprengt waren, anzunageln. Während ich damit beschäftigt bin, höre ich Kapitän Falkenberg auf dem Hof und sehe durch die Büsche, daß er dabei ist, auszuspannen und die Pferde einzustellen.

Dem Ingenieur gab es einen Ruck, er tastete nach seiner Uhr, zog sie hervor, – aber seine Augen waren auf einmal ganz groß und leer geworden; sie sahen gewiß nichts mehr. Plötzlich sagte er:

Nein, ich muß – ich vergaß –

Dann verschwand er unten im Garten.

Wie er sich nun doch wegschleicht! dachte ich.

Gleich darauf kommt der Kapitän. Er ist bleich und staubig, übernächtig, aber vollkommen nüchtern. Von weitem fragt er: Nein, wie bist du da hineingekommen?

Ich grüße nur.

Ist die Tür wieder eingerannt worden?

Es ist nur – mir fiel ein, daß ich gestern hier ein paar Nägel einzuschlagen vergaß. Nun ist es geschehen. Wenn der Herr Kapitän jetzt absperren möchte.

Oh, ich dummer Teufel! Wenn ich keine bessere Ausrede finden konnte, mußte er ja alles erraten.

Einige Minuten stand er da und sah die Tür mit zusammengekniffenen Augen an, er hatte wohl seine eigenen Gedanken; dann steckte er den Schlüssel ins Schloß, sperrte ab und ging. Es blieb ihm nichts anderes übrig.

 

5

Alle Gäste sind fort: der fette Kapitän Bruder, die Dame mit dem Schal, Ingenieur Lassen. Und Kapitän Falkenberg machte sich endlich bereit, auf den Übungsplatz zu reisen. Ich dachte: Er muß mit triftigen Gründen um Verlängerung nachgesucht haben, weil er nicht schon lange zum Übungsplatz gefahren ist.

Wir Knechte haben uns in der letzten Zeit tüchtig an die Arbeit gehalten, und es war für Pferde wie Leute hart gewesen, doch Nils verlangte es so und hatte seine Absicht damit: er wollte Zeit für etwas anderes gewinnen.

Eines Tages ließ er mich rings um die Häuser zusammenrechen und es sauber und ordentlich machen. Damit verloren wir, was an Zeit gewonnen war, aber der ganze Hof bekam gleichsam ein besseres Aussehen. Und das war es, was Nils erreichen wollte, er wünschte den Kapitän ein wenig aufzumuntern, ehe er wegreiste. Später befestigte ich von selbst hie und da eine lockere Sprosse im Gartenzaun oder richtete eine Scheunentür, die windschief in den Angeln hing. Schließlich begann ich, die Tennenbrücke mit ein paar neuen Balken auszubessern.

Wohin gehst du von hier aus? fragte mich der Kapitän.

Das weiß ich nicht. Ich werde wandern.

Ich könnte dich noch eine Zeitlang hier brauchen, es sollte noch so vieles geschehen.

Der Kapitän will vielleicht die Häuser frisch streichen lassen?

Das auch, ja. Nein, ich weiß nicht. Es würde viel kosten, alle diese Häuser anzustreichen. Ich dachte an etwas anderes. Verstehst du dich auf die Waldarbeit, kannst du Stämme auszeichnen?

Er tat also immer noch, als kennte er mich nicht wieder vom letztenmal, da ich in seinem Wald gearbeitet hatte. Aber hatte er überhaupt noch Wald zum Ausholzen?

O ja, mit der Waldarbeit kenne ich mich gut aus. Wo will der Herr Kapitän heuer fällen lassen?

Überall. Wo es geht. Es muß sich schon etwas finden.

Ja, ja.

Dann erneuerte ich die Balken in der Tennenauffahrt, und als ich damit fertig war, legte ich die Flaggenstange um und versah sie mit Leine und Kugel. Es wurde schon ordentlicher auf Övrebö, und Nils erklärte, daß er sich wohler fühle. Ich brachte ihn dazu, daß er zum Kapitän ging und ein gutes Wort für den Hausanstrich einlegte, der Kapitän jedoch hatte ihn bekümmert angesehen und geantwortet: Jawohl! Aber mit dem Streichen allein ist es nicht getan. Wir müssen jetzt erst sehen, was der Herbst für einen Ertrag bringt; wir haben heuer ja viel angesät.

Als aber die Flaggenstange frisch abgeschabt, mit einer neuen Leine und mit der Kugel auf der Spitze vor den alten Häusern stand, war auch der Kapitän aufmerksam geworden und telegraphierte um Farben. Doch hätte es ja nicht so geeilt, er hätte einen Brief mit der Post schicken können.

Zwei Tage vergingen, die Farben kamen, wurden jedoch beiseite gestellt. Wir hatten immer noch viel mit der Feldarbeit zu tun.

In dieser Zeit spannten wir sogar die beiden Wagenpferde des Kapitäns vor die Egge oder die Sämaschine, und als die Kartoffeln in die Erde kommen sollten, mußte Nils alle Mädchen auf dem Hof zur Hilfe anfordern. Der Kapitän sagte hierzu und zu allem anderen Ja und reiste auf den Übungsplatz. Dann waren wir allein.

Bevor er jedoch abreiste, hatte noch eine große Abrechnung zwischen den Eheleuten stattgefunden.

Wir alle auf dem Hof fühlten, daß etwas in der Luft lag, und Ragnhild und die Stallmagd gingen umher und sprachen darüber. Die Felder gediehen, die Wiesen wurden mit jedem Tag höher, und der Frühling brachte guten und fruchtbaren Regen; auf dem Kapitänshof aber war Streit. Die gnädige Frau sah man bisweilen mit verweintem Gesicht, bisweilen mit übertrieben froher Miene, als wolle sie niemand mehr ein unfreundliches Wort geben. Ihre Mutter kam; eine milde Dame mit einer Brille in einem weißen Mausgesicht – aber sie blieb nicht lange bei uns, nur einige Tage, dann reiste sie zurück nach Kristianssand, wo sie wohnte. Sie gab vor, daß sie unsere Luft nicht vertrage.

Oh, die große Abrechnung! Es war ein letzter bitterer Zusammenstoß gewesen, der eine Stunde lang dauerte. Ragnhild erzählte nachher uns allen davon; weder der Kapitän noch die gnädige Frau hatte laut gesprochen. Die Worte fielen sehr langsam und schwer: die beiden waren sich in ihrer Bitterkeit einig geworden, daß jeder seiner Wege gehen wolle. Wirklich? riefen alle in der Küche und schlugen die Hände zusammen.

Ragnhild machte sich wichtig und ahmte ihre Herrschaft nach: Warst du daran beteiligt, als die Türe zum Lusthaus wieder aufgebrochen wurde? sagte der Kapitän. Ja, antwortete die gnädige Frau. Was dann? fragte er. Alles! sagte die gnädige Frau. Da lächelte der Kapitän und meinte: Es ist etwas Klares und Deutliches in dieser Antwort, man versteht sie beinahe augenblicklich! Dazu schwieg die gnädige Frau. Welche Verdienste hat nun dieser junge Hund – wenn ich davon absehe, daß er mir einmal aus einer Verlegenheit geholfen hat? fragte der Kapitän. Die gnädige Frau sah ihn an und antwortete: Hat er dir geholfen? Ja, er hat einmal für mich gebürgt, erklärte der Kapitän. Und die gnädige Frau sagte: Das wußte ich nicht. Da aber fragte der Kapitän: Hat er dir das wirklich nicht erzählt? Die gnädige Frau schüttelte den Kopf. Aber was dann? fragte er wieder. Hätte es etwas geändert, wenn du das gewußt hättest? Ja, entgegnete sie zuerst. Nein, sagte sie dann. Hast du ihn gern? Hast du Elisabet gern? Ja, antwortete der Kapitän. Aber nachher saß er da und lächelte. Gut! sagte die gnädige Frau hart, als sie diese Antwort bekommen hatte. Dann war es lange still. Der Kapitän war der erste, der wieder sprach: Du hattest recht, ich hätte es mir überlegen sollen, jetzt habe ich es getan. Ich bin kein verkommener Kerl, und das Seltsame ist, daß es mir niemals Vergnügen gemacht hat, in Saus und Braus zu leben. Trotzdem habe ich es getan. Nun aber ist damit Schluß! Das ist gut für dich, erwiderte sie störrisch. Jawohl, sagte er, aber es wäre besser gewesen, wenn du dich ein wenig darüber gefreut hättest! Nein, sieh zu, daß Elisabet sich darüber freut, antwortete sie. Elisabet! sagte er nur und wiegte den Kopf. Dann sprachen sie lange Zeit nichts. Was willst du jetzt tun? fragte der Kapitän. Ach, kümmere du dich nur nicht um mich, antwortete sie ganz langsam, ich kann Krankenschwester werden, wenn du willst, ich kann mir das Haar abschneiden und Lehrerin werden, wenn du willst. Wenn ich will, antwortete er. Nein, entschließe dich selbst! Ich muß zuerst hören, was du willst, sagte sie. Ich will hier bleiben, wo ich bin, antwortete er, du aber hast dich selbst hinausgesetzt. Ja, ja, erwiderte sie und nickte. Oh, riefen alle in der Küche. Aber, Herrgott, das wird wohl wieder gut werden! sagte Knecht Nils und sah uns an, was wir meinten.

Nachdem der Kapitän abgereist war, spielte die gnädige Frau zwei Tage lang auf ihrem Flügel. Am dritten Tag fuhr Nils sie zur Station. Sie reiste zu ihrer Mutter nach Kristianssand. So waren wir noch einsamer. Die gnädige Frau hatte nichts von ihren Sachen mitgenommen. Vielleicht war sie der Ansicht, daß nichts ihr gehörte, vielleicht war alles von Anfang an Eigentum des Kapitäns, und da wollte sie wohl nichts davon haben. Oh, wie traurig alles war.

Ragnhild hatte von der gnädigen Frau Bescheid bekommen, nicht fortzugehen. Im übrigen war der Köchin die ganze Arbeit übertragen worden, und sie hatte alle Schlüssel in Verwahrung genommen. Und so war es für alle am besten. Samstag nahm der Kapitän Urlaub und kam wieder heim, und Nils sagte, daß er dies seit Jahren nicht mehr getan habe. Er hielt sich gut und aufrecht, obwohl seine Frau abgereist war, und er war nüchtern wie Wasser; mir gab er eine kurze und klare Instruktion wegen des Waldes, der gelichtet werden sollte. Er ging mit mir ins Holz und gab da und dort Anweisungen: Alles nur irgendwie Brauchbare sollte gefällt werden. Tausend Dutzend. Diesmal bleibe ich drei Wochen aus, sagte er. Sonntag nachmittag reiste er wieder ab. Er war in seinem Auftreten bestimmter geworden und wieder mehr der Alte.

*

Als wir endlich mit der Frühjahrsbestellung fertig waren und die Kartoffeln gelegt hatten, konnten Nils und der Bursche die tägliche Arbeit auf dem Hof allein verrichten. Da ging ich an die Waldarbeit.

Mir ging es die ganze Zeit über gut. Eine warme Regenzeit kam, die den Wald naß machte, aber ich ging trotzdem hinaus und blieb nicht zu Hause. Dann setzte die Hitze ein, und wenn ich an den hellen Abenden heimkam, machte ich mir ein Vergnügen daraus, bald eine Dachrinne, bald ein schiefes Fenster instand zu setzen. Schließlich legte ich die Feuerleiter an und machte mich daran, die alte, abgeblätterte Malerei der Scheunenwand an der Nordseite abzukratzen. Das wäre ein Spaß, wenn ich die Scheune doch noch während des Sommers anstreichen könnte; die Farbe war ja schon da.

Etwas aber begann mich bei der Arbeit und an dem ganzen Ort zu langweilen. Es ging mir nicht mehr so von der Hand, wie wenn die Herrschaft zu Hause war; meine alte Erfahrung, daß es gut ist, jemand über sich zu haben, wenn man nicht selbst als Vorarbeiter eingesetzt ist, wurde bestätigt. Die Mädchen gingen jetzt umher, und niemand hielt sie in Zucht, Ragnhild und die Stallmagd lärmten lustig während der Mahlzeiten und zankten sich dazwischen, und die Macht der Köchin reichte nicht immer aus, zwischen ihnen zu vermitteln. Dies war oft unerträglich. Außerdem mußte jemand mit meinem guten Kameraden Lars Falkenberg über mich gesprochen und Mißtrauen in sein Herz gesät haben.

Lars kam eines Abends auf den Hof, nahm mich beiseite und verbot mir, wieder auf die Rodung zu kommen. Er drohte mir und machte sich ein wenig lächerlich.

Ich war nur einige Male mit Wäsche in seinem Heim gewesen, vielleicht alles in allem ein halbes Dutzend Mal, und er selbst war nicht zu Hause gewesen, aber Emma und ich hatten über Altes und Neues gesprochen. Als ich zuletzt dort war, kam Lars plötzlich heim und gebrauchte sogleich grobe Worte, weil Emma im Unterrock auf einem Hocker saß. Es ist so warm, antwortete sie. Ja, und dein Haar hängt dir über den Rücken hinunter, das ist wohl auch wegen der Wärme? fragte er. Überhaupt war er schlecht auf sie zu sprechen. Als ich ging, sagte ich Gute Nacht, aber er antwortete nicht.

Seitdem war ich nicht mehr dort gewesen. Weshalb kam er nun heute abend her? Hier war wohl wieder Ragnhild mit ihrer Spionenzunge im Spiel.

Nachdem er mir kurz und bündig verboten hatte, noch einmal zu ihm zu kommen, nickte Lars und sah mich an. Seiner Meinung nach müßte ich jetzt vernichtet sein.

Ich höre, daß auch Emma hier unten gewesen ist, sagte er dann. Aber das wird sie in Zukunft unterlassen, denke ich.

Sie ist allerdings ein paarmal wegen der Wäsche hier gewesen.

Ja, du schiebst es auf die Wäsche. Und selbst kommst du mehrmals in der Woche mit der Wäsche zur Rodung. Einmal kommst du mit einem Hemd und das andere Mal mit einer Unterhose. Jetzt aber kann Ragnhild für dich waschen.

Ja, ja.

Nein, nein, Alter! Du gehst zu den Leuten und freundest dich an, wenn du sie allein zu Hause antriffst. Aber da danke ich schön.

Nils kommt dazu, er kann sich wohl denken, worum es sich handelt, und da er ein guter Kamerad ist, will er mir helfen. Er hört die letzten Worte und gibt mir auf der Stelle das Zeugnis, daß er die ganze Zeit, seit ich hier bin, nichts Unrechtes von mir gesehen habe.

Lars Falkenberg aber bläst sich gleich auf und mißt den Knecht mit Geringschätzung. Im Innersten hegt er einen alten Groll gegen den Knecht. So tüchtig sich Lars auch gezeigt hatte, seit er seinen eigenen kleinen Hof im Wald oben besaß, so war doch Nils ein weit besserer Knecht hier unten auf dem Kapitänshof gewesen. Und das kränkt Lars Falkenberg. Was willst denn du mit deinem Gefasel? fragte er.

Ich sage nur, was wahr ist, antwortet der Knecht.

So, was wahr ist, du Geißbock? Von dir werde ich mir etwas vormachen lassen!

Dann gingen Nils und ich unserer Wege, aber Lars rief uns noch einiges nach. Natürlich war Ragnhild zur Stelle und roch an den Fliederbüschen, als wir vorbeigingen.

An diesem Abend reifte in mir der Entschluß, weiterzuwandern, sobald ich im Walde fertig wäre. Der Kapitän kam, wie er gesagt hatte, nach drei Wochen, er sah, daß ich die Farbe an der Nordwand der Scheune abgekratzt hatte, und lobte mich. Es endet wohl damit, daß du sie auch wieder anstreichen wirst, sagte er. Ich gab an, was ich im Walde bezeichnet hatte, und meldete, daß nun nicht mehr viel zu tun sei. Merk weiter an! erwiderte er. Dann reiste der Kapitän zum Übungsplatz zurück und mußte wieder drei Wochen ausbleiben.

Aber so lange wollte ich mich nicht mehr auf Övrebö aufhalten. Ich merkte noch einige zwanzig Dutzend Stämme an und zählte das Ganze auf meinem Papier zusammen, – nun mochte es auf sich beruhen. Aber im Wald und in den Bergen konnte ich noch nicht leben. Es gab zwar dort Blumen, aber noch keine Beeren; Gezwitscher und Gesang der Vögel, die sich paarten, Schmetterlinge, Fliegen und Mücken gab es dort, aber keine Multebeere, keine Waldwurz.

*

Jetzt bin ich in einer Stadt.

Ich bin zum Ingenieur Lassen gekommen, dem Flößereiinspektor, der sein Versprechen gehalten und mir Arbeit gegeben hat, obwohl die Flößerei schon weit vorgeschritten ist. Ich soll damit anfangen, eine Wanderung am Fluß entlang zu machen und auf der Karte anzumerken, wo sich die Stämme gestaut haben. Der Ingenieur ist ein Mann, mit dem gut auszukommen ist. Er ist nur noch so jung und gibt mir überflüssig genaue Instruktionen über Dinge, von denen er glaubt, daß ich sie noch nicht wüßte. Das verleiht ihm etwas Altkluges.

Also von diesem Mann hatte der Kapitän sich aus einer Verlegenheit helfen lassen! Das bereut er vielleicht und will sich davon frei machen, deshalb läßt er nun bis aufs letzte ausholzen, dachte ich. Und ich gönnte es ihm, daß er sich frei machte, ich begann mir Vorwürfe zu machen, weil ich nicht noch einige Bäume angemerkt und ihm restlos geholfen hatte. Wie, wenn er ein ganz klein bißchen zu wenig bekäme!

Ingenieur Lassen war sicher ein vermögender Mann. Er wohnte im Hotel, hatte zwei Zimmer. Ich kam nicht weiter als bis in sein Bureau, aber sogar hier waren kostbare Dinge, Bücher und Zeitschriften, ein Schreibzeug aus Silber, ein vergoldeter Höhenmesser und anderes. Sein mit Seide gefütterter Sommerüberzieher hing an der Wand. Er galt hier am Ort sicher für einen reichen und hochstehenden Mann, ich sah ein großes Bild von ihm im Aushängkasten des Photographen.

Und an den Nachmittagen sah ich ihn mit den jungen Damen der Stadt spazierengehen. Da er der oberste Leiter des ganzen Flößereiwesens war, ging er meistens zu der großen, zweihundertunddreißig Ellen langen Brücke, die über den Wasserfall führte, hier blieb er stehen und spähte den Fluß hinauf und hinunter. Gerade bei den Brückenpfeilern und auf den flachen Felsen unterhalb sammelten sich die Stämme gern in großen Haufen, und der Ingenieur hatte beinah ständig eine Abteilung Arbeiter in der Stadt, nur dieser Stauungen wegen.

Wenn er auf der Brücke stand und die Flößer auf den Stämmen beobachtete, war er wie ein Admiral auf einem Schiff, jung und stark, das Kommando in seiner Macht. Die Damen, die er bei sich hatte, standen willig auf der Brücke still, obwohl es dort oft stark zog. Und um sich bei dem Rauschen des Wasserfalles zu verständigen, mußten sie die Köpfe zusammenstecken, wenn sie miteinander sprachen.

Aber gerade wenn der Ingenieur diesen Posten auf der Brücke einnahm und dort stand und sich drehte und wendete, erschien er klein und seine Gestalt unschön; die knappsitzende Jacke seines Sportanzuges spannte im Rücken und machte seinen Hintern unmäßig groß.

Noch am ersten Abend, als ich bereits meinen Auftrag bekommen hatte, am Morgen darauf den Fluß aufwärts zu gehen, traf ich ihn und zwei Damen auf einem Spaziergang. Als er mich sah, blieb er mit seiner Begleitung stehen und gab mir die gleiche Weisung noch einmal: Es ist gut, daß ich dich treffe, sagte er. Du mußt also morgen frühzeitig auf, nimm dir einen Flößerhaken mit und mache die Stämme frei, soweit es dir möglich ist. Sind die Anhäufungen zu groß, so merke sie auf der Karte ein; du hast doch die Karte bekommen? Und gehe aufwärts, bis du meinem anderen Mann begegnest, der dir von oben entgegenkommt. Aber vergiß nicht, daß du mit Rot einzeichnen mußt, nicht mit Blau. Nun will ich sehen, ob du diese Arbeit ordentlich ausführst. – Das ist ein Mann, den ich mir angestellt habe, erklärte er den Damen; ich möchte wirklich nicht alle diese Touren selbst machen.

Wie beschäftigt er war! Er schlug sogar in seinem Taschenbuch nach und schrieb etwas auf. Er war so jung, und es traf sich gut, daß er vor seinen schönen Begleiterinnen so auftreten konnte.

Am Morgen ging ich frühzeitig fort; als es um vier Uhr hell wurde, war ich bereits ein gutes Stück flußaufwärts gewandert. Ich hatte meinen Eßvorrat bei mir und meinen Flößerhaken, der genau wie ein Bootshaken aussah.

Hier gab es keinen üppigen Wald wie in der Gegend bei Kapitän Falkenberg, der Boden war unfruchtbar und steinig, Heidekraut und Tannennadeln bedeckten die Erde meilenweit. Hier war zu stark abgeholzt worden, die Holzschleifereien hatten zuviel verschlungen, nur noch Wurzelstöcke gab es hier, und da beinahe kein Jungwald zu sehen war, durchwanderte ich eine trostlose Landschaft.

Bis Mittag hatte ich einige kleine Anstauungen beseitigt und eine große eingezeichnet, dann hielt ich Mahlzeit und trank Wasser vom Fluß. Nachdem ich gerastet hatte, ging ich weiter, ging bis zum Abend und kam an eine große Triftstauung, auf der jemand arbeitete. Das war der Mann, den ich treffen sollte. Ich ging nicht ganz hin, sondern beobachtete ihn zuerst: äußerst vorsichtig war er, auf sein Leben bedacht und sogar ängstlich, nasse Füße zu bekommen. Er belustigte mich eine Weile. Wo die geringste Gefahr dafür bestand, daß er mit einem freigemachten Stamm in die Strömung hinausgetrieben werden könnte, sprang er rechtzeitig zurück. Dann ging ich zu ihm hin und sah ihn an – ja, es war mein guter Kamerad Grindhusen.

Grindhusen, mein Jugendfreund aus Skreia, er, mit dem ich vor sechs Jahren zusammen gearbeitet und einen Brunnen gemauert hatte.

Jetzt war er hier.

Wir begrüßten einander, setzten uns auf die Stämme und sprachen, fragten und antworteten wohl eine Stunde lang. Dann wurde es zu spät, noch etwas vorzunehmen, wir standen auf und gingen ein Stück weit flußaufwärts, dorthin, wo Grindhusen seine kleine Balkenhütte hatte. Wir krochen hinein, machten Feuer, kochten Kaffee und hielten Mahlzeit. Dann gingen wir wieder hinaus, zündeten unsere Pfeifen an und legten uns ins Heidekraut.

Grindhusen war alt geworden, er war ebenso übel zugerichtet wie ich selbst und liebte es nicht, an die lustigen Nächte erinnert zu werden, die wir in unserer Jugend durchtanzt hatten. Das also war der rothaarige Wolf, der den Mädchen so nachgestellt hatte! Jetzt war er von Alter und Mühsal ordentlich in die Zucht genommen worden, er lächelte nicht einmal mehr. Hätte ich ein wenig Branntwein bei mir gehabt, wäre er vielleicht aufgelebt, doch ich hatte nichts.

Grindhusen war in jüngeren Tagen ziemlich eigensinnig und rechthaberisch gewesen, nun war er sanft und dumm. Ja, das kann schon sein! sagte er zu allem; ja, da hast du recht! Er sagte das aber nicht, weil er es meinte, sondern weil das Leben ihn mürbe gemacht hatte. Dieses Wiedersehen war unerquicklich; so mürbe macht das Leben mit den Jahren uns alle!

Ein Tag vergehe wie der andere, meinte er; er aber sei nicht mehr der alte, die letzte Zeit habe ihm sowohl Gicht als auch Brustschmerzen gebracht. Die Schmerzen in der Brust wären Magenweh. Solange er aber diesen Posten bei Ingenieur Lassen behalten dürfe, ginge es noch an; flußaufwärts kenne er sich gut aus, und den ganzen Frühling und Sommer über wohne er hier in seiner Hütte. Und was die Kleider betreffe, so nütze er nichts anderes ab als Hose und Kittel, Sommer wie Winter. Nein, im vorigen Jahr sei er vom Glück begünstigt gewesen, erzählte Grindhusen plötzlich, er hätte ein herrenloses Schaf gefunden. Ob er Schafe im Wald fände? Dort oben! antwortete er und deutete hinauf. Weit über den Winter hinaus hätte er an Sonntagen Fleisch von diesem Schaf gehabt. Nun, es seien ja genug Verwandte von ihm in Amerika drüben, es komme ihm nicht so drauf an, – verheiratete Kinder, denen es gut gehe. In den ersten Jahren wäre wohl manchmal eine kleine Unterstützung von ihnen gekommen, seither hätten sie nichts mehr gesandt, es sei jetzt bald zwei Jahre her, daß eines von ihnen geschrieben hätte. Ach ja, das sei so eine Sache mit ihm und der Frau, die beide alt wären!

Grindhusen versank in Gedanken.

Im Wald und vom Fluß her rauscht es leise, als ströme ein unergründliches Nichts durch die Luft. Hier sind keine Vögel und keine hüpfenden Tiere; wenn ich aber einen Stein umdrehe, kann ich kleines Gewürm darunter finden. Kannst du begreifen, wovon solch kleines Zeug lebt? sage ich. Was für kleines Zeug? fragt Grindhusen; das sind ja nur Ameisen und Ähnliches! Es ist eine Art von Käfern, antworte ich, legt man sie auf den Rasen und deckt einen Stein darüber, so leben sie weiter. Grindhusen entgegnet: Ja, das kann schon sein! denkt aber nicht einen Augenblick über das nach, was ich sage. Da setze ich meinen Gedankengang für mich selbst fort: steckt man aber noch eine Ameise dazu unter den Stein, wird in kurzer Zeit kein Käfer mehr da sein.

Und Wald und Fluß rauschen weiter, es ist eine Ewigkeit, die sich mit einer anderen Ewigkeit vereint. In Stürmen und Gewittern aber liegen sie miteinander im Krieg.

Ja, so ist es also, sagt Grindhusen endlich, am 14. August werden es zwei Jahre, daß ich den letzten Brief bekommen habe. Es war eine feine Photographie darin, von Olea, sie wohnt in Dakota, wie man es nennt. Es war eine prächtige Photographie, aber niemand wollte mir etwas dafür geben. Ach ja, mit Gottes Hilfe wird es schon weitergehen! meint er dann und gähnt. Doch, was ich sagen wollte, wieviel bekommst du für den Tag?

Das weiß ich nicht.

Grindhusen aber sieht mich mißtrauisch an und meint, daß ich es nur nicht sagen wolle.

Ja, ja, für mich bleibt es sich ja gleich, sagt er. Ich fragte nur so.

Da versuche ich, eine Summe zu erraten, um ihn zufriedenzustellen:

Ich werde wohl ein paar Kronen bekommen, zwei, drei Kronen?

O ja, das wirst du wohl, erwidert er neidisch. Ich verdiene nicht mehr als zwei Kronen; ich, der ich ein alter Flößer bin.

Jetzt aber bekommt er gewiß Angst, ich könnte seine Unzufriedenheit weitertragen. Er beginnt den Ingenieur Lassen in den Himmel zu heben, – daß er in jeder Beziehung ein so braver Mann sei, der mich gewiß nicht übervorteilen würde. Nein, gewiß nicht. Er sei wie ein Vater für ihn gewesen, das müsse er ihm lassen.

Der Ingenieur, ein Vater für Grindhusen! Das klang mir so lächerlich aus diesem alten, zahnlosen Mund. Ich hätte von diesem Mann gewiß manches über den Ingenieur erfahren können, fragte aber nicht.

Sprach er nicht davon, daß ich zur Stadt hinunterkommen solle? fragte Grindhusen.

Nein.

Manchmal sendet er einen Boten nach mir, und dann will er weiter nichts, als nur ein wenig mit mir schwätzen. Ein prächtiger Kerl!

Es dämmert. Grindhusen gähnt wieder, kriecht in die Hütte und legt sich schlafen.

*

Am Morgen lösten wir die Stauung. Komm noch ein Stück mit mir flußaufwärts! sagte Grindhusen. Und ich ging mit. Nach einer Stunde sahen wir die Häuser und Äcker eines Berghofes oben im Wald. Durch eine Ideenverbindung fiel mir das Schaf ein.

Hast du das Schaf ungefähr hier gefunden? frage ich.

Grindhusen sieht mich an.

Hier? Nein. Das war weit weg von hier. Es war an der Grenze gegen Trovatn.

Liegt Trovatn nicht im Nachbarkirchspiel?

Ja. Also ganz weit von hier.

Jetzt will Grindhusen mich aber nicht noch weiter mitnehmen, und er bleibt stehen und bedankt sich für die Begleitung. Ich könnte gut noch bis zum Hof mitgehen, wende ich ein; aber Grindhusen will gar nicht auf den Hof, das sei ein Ort, den er nie aufsuche. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als zur Stadt zurückzuwandern.

Ich kehrte um und nahm den gleichen Weg, den ich gekommen war.

 

6

Das alles war keine rechte Arbeit für mich, es befriedigte mich nicht. Den Fluß aufwärts und abwärts zu wandern und die kleinen Stauungen zu beseitigen und ein Stück weiterzugehen, war mir zu wenig. Und nach jeder Tour mußte ich wieder nach meinem Logierhaus in der Stadt zurück. Während dieser Zeit hatte ich nur einen Menschen, mit dem ich schwätzen konnte: den Träger oder Laufburschen vom Hotel des Ingenieurs; ein mächtiger Kerl mit Kinderaugen und mit einem Paar Fäuste, die genau elf Zoll spannen konnten. Als Kind sei er gefallen und hätte sich am Kopf verletzt, erzählte er; nun war er in diesem Leben zu nichts anderem mehr zu gebrauchen, als schwer zu ziehen und zu tragen. Mit ihm unterhielt ich mich manchmal, sonst hatte ich niemand in der Stadt.

Ja, diese kleine Stadt!

Wenn der Fluß hoch ist, geht ein brüllendes Sausen mitten durch den Ort und teilt ihn in zwei Teile. Die Menschen wohnen südlich und nördlich von dem Rauschen in ihren Holzhäusern und haben gewiß ihr notdürftiges Auskommen von einem Tag zum andern. Von den vielen Kindern, die über die Brücke gehen, Einkäufe in den Läden zu machen, ist keines nackt; sicher leiden nicht viele von ihnen Not, und es sind lauter ordentliche Kinder. Und es gibt aufgeschossene kleine Mädchen darunter, die sind das Lustigste von allem, munter und mager und voneinander und ihrer eigenen kleinen Welt ganz in Anspruch genommen. Manchmal bleiben sie auf der Brücke stehen, sehen auf die Flößer bei der Stauung hinab und helfen denen, die an den Stämmen zerren, beim Singen: hoh, oh, hoh! Und dann kichern sie und stoßen einander in die Seite.

Aber es gibt hier keine Vögel.

Es ist merkwürdig, daß es hier keine Vögel gibt. An stillen Abenden, bei Sonnenuntergang, liegt der ganze ausgebaute Kanal unter einer glatten und unbeweglichen Oberfläche. Mücken und Schmetterlinge schwärmen darüber hin, und die Bäume am Ufer spiegeln sich, aber kein Vogel singt in den Bäumen. Das kommt vielleicht von dem Rauschen des Wasserfalls, das alles übertäubt; die Vögel verkümmern hier, weil sie einander nicht singen hören. Und so kommt es also, daß die einzigen beschwingten Wesen, die man hier sieht, Mücken und Fliegen sind. Gott aber mag wissen, warum sogar die Elstern und Krähen uns in unserer Stadt meiden.

Jede Kleinstadt hat ihr tägliches kleines Ereignis, bei dem die Leute zusammentreffen – übrigens auch die Großstadt, die ihre Promenade hat. An der Westküste ist es das Postschiff. Wie schwer fällt es doch im Westland, sich vom Kai fernzuhalten, wenn das Postschiff anlegt! Hier in dieser kleinen Stadt, mitten im Land, drei lange Meilen von der See entfernt und nur von Felsen und Hügeln umgeben, hier haben wir den Fluß. Ist der Fluß heute nacht gestiegen oder gesunken? Werden heute die Stämme von den Stauplätzen gelöst? Ach, wie uns dies alles beschäftigt! Wohl haben wir auch eine kleine Eisenbahn, aber damit ist nicht groß Staat zu machen; sie fährt, soweit sie kommen kann, endet hier, bleibt stecken wie der Kork in der Flasche. Und ihre winzigen Wagen sind so gemütlich, – die Leute aber schämen sich ihrer, so lächerlich alt und verkrüppelt sind sie, ja, man kann nicht einmal mit dem Hut auf dem Kopf aufrecht darin sitzen.

Aber es gibt hier wahrhaftig auch einen Markt und eine Kirche und Schulen und ein Posthaus. Und eine Säge und eine Holzschleiferei sind oben am Fluß. Kaufläden jedoch gibt es unglaublich viele.

Wir haben so vieles. Ich bin fremd hier – wie ich an allen Orten fremd bin –, aber ich könnte eine Menge Dinge aufzählen, die wir außer dem Fluß noch haben. War die Stadt einmal ein großer Ort? Nein, sie ist dreieinhalb Jahrhunderte lang klein gewesen. Auch hier war doch einmal ein Größerer über all den anderen Kleinen, ein Herr, der mit einem Diener ritt, in seiner Art ein Fürst – jetzt sind mir alle gleich. Es müßte denn sein, daß wir mit Ingenieur Lassen nicht gleich sind, mit diesem Flößereiinspektor von einigen zwanzig Jahren, der sich im Hotel zwei Zimmer leisten kann. Ich habe nichts zu tun und ertappe mich beim Grübeln über solche Dinge:

Hier steht ein großes Haus, ungefähr zweihundert Jahre alt, das Haus des Matadors Ole Olsen Ture. Seine Maße sind ungeheuer; es ist zwei Stockwerke hoch und füllt mit seiner Langseite ein Straßenviertel; jetzt wird es als Lagerhaus benutzt. Damals, als dieses Haus gebaut wurde, gab es noch genug Riesenstämme in dieser Gegend: drei Stämme erreichen Mannshöhe, sie sind hart wie Eisen, man kann nicht hineinhauen. Und innen im Gebäude sind Säle und Zellen wie in einer Burg. Hier herrschte der große Ture auf Fürstenart.

Andere Zeiten kamen, man baute die Häuser nicht mehr nur groß und nicht nur, um sich gegen Kälte und Regen zu schützen, sondern auch, um das Auge daran zu erfreuen. Auf der anderen Seite des Flusses steht ein altes, archaisches Gebäude mit wohldurchdachter Empireveranda, mit Säulen und Giebeldach. Es ist nicht fehlerfrei, aber trotzdem ist es schön und steht wie ein weißer Tempel vor der grünen Anhöhe. Und noch ein Haus habe ich gesehen und habe davor verweilt; es steht auf dem Markt. Seine Doppeltür nach der Straße hat alte Klinken und Rokokospiegel, aber die Rahmen dieser Spiegel sind im Stil Louis XVI. kanneliert. Auf der Kartusche über der Türe steht die Jahreszahl 1795 in arabischen Ziffern, – damals war die Übergangszeit hierher gekommen! In dieser kleinen Stadt haben einmal Leute gelebt, die ohne Telegraph und ohne Dampf mit ihrer Zeit Schritt gehalten haben.

Später aber erbaute man die Häuser zum Schutze gegen Schnee und Regen und aus keinem anderen Grund. Sie waren nicht groß und waren nicht schön. Es galt, nach Schweizerart für Weib und Kinder einen Verschlag zu schaffen, sonst nichts. Und wir lernten von diesem kleinen Scheißvolk in den Alpen oben, das in seiner ganzen Geschichte niemals etwas bedeutet und niemals etwas hervorgebracht hat, – wir lernten darauf pfeifen, wie sich eine menschliche Wohnung für das Auge ausnehmen soll, wenn sie nur von zigeunernden Touristen gutbefunden wird. Wozu braucht über dem weißen Gebäude dort bei den Waldhöhen Tempelschönheit und Ruhe zu liegen? Und warum steht das große, große Haus aus Ole Olsen Tures Tagen immer noch unangetastet da? Es könnten zwanzig Wohnungen daraus gemacht werden.

Bergab ist es mit uns gegangen, bergab bis aufs tiefste. Und jetzt freuen sich die Schuster – nicht, weil wir alle gleich groß geworden sind, sondern weil wir alle gleich klein sind. Meinetwegen!

Es geht sich gut auf der langen Brücke, sie hat einen Bretterbelag, ist eben wie ein Zimmerboden, ja, hier können alle die jungen Damen angenehm gehen. Die Brücke ist auch nach beiden Seiten hell und frei und der beste Aussichtspunkt für uns Neugierige.

Vom Stauplatz unten steigen Rufe zu uns auf; die Flößer mühen sich ab, einen Stamm frei zu machen, der sich zwischen Felsen und Steinen festgesetzt hat. Stamm auf Stamm kommt von oben her getrieben und häuft sich zu den anderen Stämmen, die hier schon aufgehalten wurden. Der Haufe wächst, wächst, etliche hundert Stämme können sich manchmal an einer Stelle im Fluß stauen. Wenn alles gut geht, bringen die Flößer sie in annehmbarer Zeit wieder los. Geht es schlecht, so kann wohl ein unglücklicher Flößer mit über den Wasserfall und in den Tod gerissen werden.

Zehn Mann mit Bootshaken sind am Stauplatz, alle mehr oder minder durchnäßt. Der Vorarbeiter bezeichnet den Stamm, der an der Reihe ist; aber bisweilen können wir auf der Brücke beobachten, daß unter den Flößern Uneinigkeit herrscht. Wir können in diesem Lärm nichts hören, aber wir sehen, wie darüber verhandelt wird, ob man nicht zuerst einen ganz anderen Stamm frei machen solle; ein erfahrener Flößer hat aufgemuckt. Ich, der seine Sprache kennt, glaube zu hören, wie er zäh und überlegend sagt: Es steht dahin, ob wir nicht diesen zuerst nehmen müssen! Die Blicke von zehn Paar Augen richten sich auf den neuen Stamm und verfolgen seine Lage in einem ganzen Elsternnest von anderen Stämmen; herrscht Einverständnis, so schlagen zehn Bootshaken in ihn ein. In diesem Augenblick stehen die Bootshaken wie die Saiten an einer Harfe vom Stamm ab. Alle Männer rufen: hoh! Sie ziehen an, und der Stamm gleitet ein Stück vorwärts. Sie sehen aus wie zehn Ameisen um einen Zweig. Endlich schießt der Stamm den Wasserfall hinunter.

Aber es gibt Stämme, die beinah nicht zu verrücken sind. Und doch muß oft gerade ein solcher und kein anderer zuerst frei gemacht werden. Die Flößer verteilen sich dann rund um ihn herum, und wo immer er in diesem Elsternnest zum Vorschein kommt, bohren sie ihre Bootshaken in ihn ein. Einige ziehen, andere schieben; ist er trocken, wird er mit Wasser überschüttet, um ihn glatt zu machen. Und die Bootshaken stehen nicht mehr regelmäßig wie Harfensaiten vom Stamm ab, sie liegen in allen Richtungen kreuz und quer über ihm, wie ein Spinngewebe.

Bisweilen können wir den zehnstimmigen Ruf der Flößer den ganzen Tag über vom Flusse her hören, nur von den Mahlzeiten unterbrochen. Ja, mitunter können wir ihn viele Tage hintereinander vernehmen. Dann wieder dringt plötzlich ein anderer Laut an unser Ohr, man hört Axtschläge: ein verteufelter Stamm hat sich wohl so verkehrt gelagert, daß er den ganzen Haufen hemmt und nicht herausgezogen werden kann; da muß er gekappt werden. Es bedarf nicht vieler Hiebe, der ungeheuere Druck, der auf ihm lastet, knickt ihn bald, das mächtige Gewirr löst sich und beginnt sich zu drehen. In diesem Augenblick halten alle Flößer inne und stehen nur da und beobachten scharf: löst sich der Teil des Haufens, auf dem sie stehen, müssen sie so flink sein wie Katzen und sich auf eine sichere Stelle retten. Ihre Arbeit birgt an jedem Tag und zu jeder Stunde eine fürchterliche Spannung, ihr Leben und ihr Tod hängen von ihnen selbst ab.

*

Die Stadt aber ist lebendig tot.

Es ist etwas Wehmütiges um eine tote Stadt, sie will sich den Anschein geben, als lebe sie. Es ist wie mit Brügge, dieser großen Stadt aus der Vergangenheit, ist das gleiche wie mit vielen Städten in Holland, Süddeutschland, Nordfrankreich, im Orient. Wenn man in einer solchen Stadt auf dem Marktplatz steht, sagt man sich: diese Stadt war einmal lebendig, und ich sehe, daß immer noch Menschen durch ihre Straßen gehen!

Es ist so sonderbar: unsere Stadt liegt ganz versteckt, ist in die Berge eingeschlossen; aber sicher gibt es auch hier weibliche Schönheit und männlichen Ehrgeiz, ebenso wie an allen anderen Orten. Nur so seltsam ist das Leben, das hier geführt wird, mit kleinen gekrümmten Fingern, mit Mausaugen und mit Ohren, die Tag und Nacht von dem ewigen Rauschen des Wasserfalles erfüllt sind. Ein Käfer kriecht durch das Heidekraut, irgendein gelber Strohhalm ragt in die Luft, das ist ein gewaltiger Baum für den Käfer! Zwei Kaufleute der Stadt gehen über die Brücke, sicherlich zur Post. Sie haben sich heute zusammengetan und wollen einen ganzen Bogen Briefmarken auf einmal kaufen, um den Rabatt zu erhalten.

Oh, die Kaufleute dieser Stadt!

Jeden Tag hängen sie ihre fertig genähten Kleider heraus und stellen ihre Waren im Fenster aus; selten aber sehe ich einen Kunden ihre Türen öffnen. Vielleicht kommt hie und da ein Bauer vom Tal herunter, der hier etwas zu besorgen hat, dachte ich anfangs. Ich hatte recht: heute sah ich einen Bauern, und wie lustig und merkwürdig war er anzusehen!

Er war wie die Leute in unseren Märchen gekleidet, trug eine Joppe mit Silberknöpfen und graue Hosen mit einem Hinterteil aus schwarzem Leder. Er lenkte einen winzigkleinen Heuwagen mit einem winzigkleinen Pferd davor, und im Wagen stand eine kleine rotgefleckte Kuh, die wohl zum Schlächter gebracht werden sollte. Alle diese drei Wesen, der Mann, das Pferd und die Kuh, waren so klein und steinzeitlich – sie waren wie Unterirdische auf einer Reise zu den Menschen, ich wartete darauf, sie vor meinen Augen verschwinden zu sehen. Plötzlich stößt die Kuh auf ihrem Liliputwagen ein Gebrüll aus. Und auch dieser unwahrscheinliche Laut klang wie aus einer anderen Welt.

Ein paar Stunden später sehe ich den Mann wieder, ohne Pferd und ohne Kuh, er wandert von einem Kaufmann zum andern und macht seine Einkäufe. Da begleite ich ihn zum Sattler- und Glasermeister Vogt, der gleichzeitig Lederhändler ist. Dieser vielseitige Kaufmann will zuerst mich bedienen, aber ich sage, daß ich mir einen Sattel und Leder und einige Gläser ansehen müsse, und daß es mit mir nicht eile. Da wendet der Kaufmann sich zu dem Unterirdischen.

Die beiden kennen sich.

Auch wieder in der Stadt?

Kann schon sein!

Das ganze Register: Wetter, Wind und Weg; Weib und Kindern geht es wie immer; – der Jahresertrag; der Fluß, der in einer Woche um ein Viertel gesunken ist; die Viehpreise; die schlechten Zeiten. Sie beginnen, das Leder zu befühlen und zu beurteilen, es zu drehen und zu wenden, sich darüber zu beugen und darüber zu sprechen. Und als endlich der Streifen abgeschnitten und gewogen wird, findet der Unterirdische, daß es doch elend schwer sei, das Stück! Ihr müßt abrunden, die kleinen Gewichte da zählen ja kaum! Darüber unterhandeln die beiden eine gute Weile hin und her, wie es Brauch und Sitte ist. Als schließlich bezahlt werden soll, kommt ein Lederbeutel wie aus dem Märchen zutage. Schilling auf Schilling wird vorsichtig und umständlich mit den Fingerspitzen herausgenommen, immer wieder wird von beiden Teilen nachgezählt, dann schließt der Unterirdische den Beutel mit einer ängstlichen Bewegung: jetzt hat er nichts mehr!

Du hast ja noch Kleingeld und Papiergeld? Ich habe einen Geldschein gesehen.

Einen Geldschein? Nein. Der soll ganz bleiben.

Neue Meinungsverschiedenheit, langes Gespräch, auf beiden Seiten geben sie ein wenig nach, sie teilen – und der Handel ist abgeschlossen.

Das ist ein schandbar teures Stück Leder, sagt der Käufer.

Und der Verkäufer erwidert:

Nein, du hast es zu billig gekriegt. Aber wenn du wieder einmal in die Stadt kommst, mußt du auch an mich denken.

Spät am Nachmittag sehe ich den Unterirdischen von seinem Ausflug zu den Menschen wieder heimkehren. Die Kuh ist beim Schlächter geblieben. Der kleine Mann hat Pakete und Säcke auf dem Wagen, selbst aber tappt er hinterher, und sein Ledersteck auf der Hose hinten bildet bei jedem Schritt einen Triangel. Ob es nun Gedankenlosigkeit ist, oder ob er Branntwein getrunken und zu viele Gedanken im Kopf hat, – er geht dahin und trägt einen zusammengerollten Streifen Sohlenleder wie einen Ring um den Arm.

So ist wieder Geld in die Stadt geströmt, ein Bauersmann ist hier gewesen, hat seine Kuh verkauft und hat die Schillinge wieder ausgegeben. Überall merkt man es gleich, sogar die drei Rechtsanwälte merken es, sogar die drei kleinen Zeitungen der Stadt merken es, der Geldumlauf hat zugenommen. Die Stadt lebt von unproduktiver Betriebsamkeit. Jede Woche werden in den kleinen Zeitungen Stadthäuser zum Verkauf angeboten, jede Woche erscheint dort auch von den Behörden eine Liste der Katasternummern, die als Steuerpfand verkauft werden sollen. Was dann? Oh, eine Menge Häuser werden auf diese Weise feil! Das unfruchtbare Gebirgstal mit seinem großen Fluß kann diese Stadt auf ihrem Siechenlager nicht ernähren, eine Kuh dann und wann reicht nicht aus. So kommt es, daß die Häuser, die Schweizerhäuser, die Verschläge, verkauft werden müssen. Wird in einer Kleinstadt im Westland ausnahmsweise ein Haus ausgeboten, so ist das eine große Begebenheit im Ort; die Einheimischen versammeln sich auf der Makrelenbrücke, stecken die Köpfe zusammen und flüstern. Hier in unserer kleinen Stadt, die ohne alle Hoffnung ist, erregt es keine Aufmerksamkeit, wenn einer ermatteten Hand ein Haus entgleitet. Jetzt bin ich an der Reihe, das nächste Mal ein anderer! Und alle Menschen bleiben davon gleich unberührt.

*

Ingenieur Lassen kam in mein Logis und sagte:

Nimm deine Mütze und komm mit mir zur Station; du mußt einen Koffer holen.

Nein, antworte ich. Das tu ich nicht.

Nicht?

Nein. Dazu ist der Träger im Hotel da. Ich gönne ihm den Verdienst.

Mehr brauchte es nicht, der Ingenieur war so jung, er sah mich nur an und schwieg. Da er aber draufgängerischer Natur war, gab er es nicht auf, sondern wechselte den Ton:

Ich möchte am liebsten dich dazu haben, sagte er, und du könntest mir den Gefallen wohl tun.

Das ist etwas anderes. Dann will ich gerne.

Ich setze die Mütze auf und bin bereit; er geht voran zur Station, und ich hinter ihm her. Zehn Minuten warten wir, dann kommt der Zug. Er besteht aus drei Wagen, klein wie Schachteln, ein paar Passagiere kriechen mühsam heraus, aus dem letzten Wagen kriecht eine Dame, der der Ingenieur hilfsbereit entgegenschreitet.

Ich gab nur wenig acht auf das, was vorging. Die Dame trug Schleier und Handschuhe; sie reichte dem Ingenieur einen gelben Sommermantel. Sie schien verlegen zu sein und sagte leise nur einige Worte; als aber der Ingenieur laut und frei heraussprach und sie außerdem bat, den Schleier hinaufzuschieben, wurde sie dreister und folgte ihm. Kennst du mich jetzt wieder? fragte sie. Da wurde ich plötzlich aufmerksam. Das war Frau Falkenbergs Stimme; ich wandte mich um und sah ihr ins Gesicht.

Wie schwer ist es doch, alt zu werden und abgedankt zu sein! Von dem Augenblick an, als ich wußte, vor wem ich stand, war ich nur noch von meiner eigenen gealterten Person in Anspruch genommen, – bemühte mich, schön zu stehen, tief zu grüßen. Nun besaß ich zwar Bluse und Hosen aus braunem geripptem Samt, wie sie die Arbeiter im Süden tragen, und dieses Habit war ausgezeichnet neu und schön, aber leider hatte ich es heute nicht an. Wie mich das ärgerte und verstimmte! Während die beiden dastehen und schwätzen, frage ich mich, warum der Ingenieur gerade mich zur Station mitgenommen hatte. Etwa um das kleine Trinkgeld für den Träger zu sparen? Um sich mit einem eigenen Diener zu brüsten? Oder sollte es Frau Falkenberg Freude bereiten, hier bekannte Leute zu treffen? Im letzteren Fall war seine Absicht mißglückt: als die gnädige Frau mich sah, ging ein Ruck des Unbehagens durch sie. Es war ihr unangenehm, mich hier, wo sie sich verborgen geglaubt hatte, zu treffen. Ich hörte den Ingenieur sagen: Siehst du den Mann dort? Der soll deinen Koffer tragen. Komm, gib mir den Schein! Ich aber grüßte Frau Falkenberg nicht, ich wandte mich ab.

Nachher erhob ich mich in meiner erbärmlichen Seele über den Ingenieur; ich dachte: Ei, wie er ihr wegen dieser Taktlosigkeit zuwider sein muß! Er hat ihr einen Mann vorgeführt, der bei ihr im Brot stand, als sie noch ein Heim hatte; aber dieser gleiche Mann ist von feinfühlender Art, er wandte sich ab und kannte sie nicht! Gott mochte wissen, warum die Damen diesem jungen Senkkreuz mit dem dicken Hintern so nachrannten!

Auf dem Bahnsteig verlaufen sich die Leute, das Personal fährt mit den Schachteln davon und beginnt sie zu einem neuen Zug zusammenzustellen; schließlich ist niemand mehr bei uns. Der Ingenieur und Frau Falkenberg bleiben noch stehen und schwätzen. Weshalb ist sie gekommen? Was weiß ich! Der junge Feuerbrand hatte wohl Verlangen nach ihr und will sie nun wieder haben. Oder sie ist von selbst gekommen, ihm ihre Lage zu erklären und sich mit ihm zu beraten. Das endet wohl damit, daß sie sich verloben und heiraten. Und Freude und Blumen werden sein bis ans Ende ihrer Tage!

Nein, das geht unmöglich! ruft der Ingenieur lachend. Wenn du nicht meine Tante sein willst, dann mußt du meine Cousine sein.

Still! antwortet sie. Kann der Mann nicht gehen?

Da kommt der Ingenieur mit dem Schein zu mir und sagt – und er tut sehr wichtig und spricht wie ein Flößereiinspektor zur Mannschaft:

Bring den Koffer ins Hotel hinauf!

Ja, antworte ich und greife zur Mütze.

Ich trage den Koffer und denke unterwegs: So, er mutet ihr zu, hier seine Tante zu spielen, seine ältere Tante! Wiederum hätte er taktvoller sein können; ich wäre es gewesen. Ich hätte zu allen und jedem gesagt: ein heller Engel ist zu König Hugo gekommen, seht, wie jung und herrlich sie ist! Ihre grauen Augen blicken so schwer, ja, sie hat einen tiefen Blick, Meeresleuchten aber schimmert in ihrem Haar, ich liebe sie, und seht sie nur an, wenn sie spricht! Ihr Mund ist gut und fein, und bisweilen ist er hilflos und lächelt. König Hugo bin ich heute, und sie ist meine Geliebte!

Der Koffer war nicht schwerer als manche andere Bürde, aber er war mit bronzierten Eisenbändern beschlagen, und diese Eisenbänder zerrissen mir den Kittel. Da segnete ich das Schicksal, daß ich nicht meinen Samtkittel anhatte.

 

7

Einige Tage vergingen. Ich war meiner nutzlosen Tätigkeit, bei der ich nichts Bestimmtes zu leisten hatte, sondern nur umherschlendern mußte, müde geworden, wandte mich an den Vorarbeiter der Flößer und bat um einen Platz in seiner Arbeitsgruppe. Aber es wurde mir abgeschlagen.

Solche Herren aus dem Proletariat sind große Leute; sie sehen auf die Feldarbeiter herab und dulden sie nicht in ihrer Nähe. Sie wandern von Wasserlauf zu Wasserlauf, führen ein freies Leben, bekommen bares Geld in die Hand und können ihren Wochenlohn mehr oder weniger vertrinken. Auch bei den Mädchen sind sie willkommener als die anderen. Ebenso ist es mit den Wegarbeitern, den Eisenbahnarbeitern und mit allen Fabrikleuten: selbst der Handwerker wird von ihnen für geringer gehalten, und der Feldarbeiter gar ist ein Sklave!

Nun wußte ich ziemlich sicher, daß ich jederzeit zu den Flößern hätte kommen können, wenn ich diesen Wunsch beim Flößereiinspektor geäußert hätte. Aber einerseits hatte ich keine Lust, diesem Mann zu besonderem Dank verpflichtet zu sein, andererseits hätte ich darauf vorbereitet sein müssen, daß die guten Flößer mir das Leben so sauer wie möglich machen würden – bis ich mir mühsam Respekt unter der Bande verschafft hätte. Und das konnte länger dauern, als mir die Sache wert war.

Außerdem kam der Ingenieur eines Tages mit einem Auftrag zu mir, an dessen guter Ausführung mir viel gelegen war.

Der Ingenieur sprach höflich und verständig:

Es herrscht jetzt eine lang anhaltende Trockenheit, der Fluß nimmt immer mehr ab, und die Stämme stauen sich. Ich bitte dich, dem Mann flußaufwärts und dem Mann flußabwärts ans Herz zu legen, sich in dieser Zeit alle nur mögliche Mühe zu geben; ich nehme natürlich an, daß du selbst das gleiche tust.

Es dürfte ja wohl bald Regen zu erwarten sein, erwiderte ich, um etwas zu sagen.

Einstweilen aber muß ich mich so einrichten, als käme niemals mehr Regen, antwortete er mit dem großen Ernst eines jungen Menschen. Merk dir jedes Wort, das ich dir gesagt habe. Ich kann nicht selbst überall zugegen sein, besonders jetzt nicht, da ich Besuch bekommen habe.

Da nahm ich ihn ebenso ernst, wie er sich selbst nahm, und versprach, mein Bestes zu tun.

Doch nun konnte ich mein Faulenzerleben noch nicht aufgeben, und so wanderte ich denn weiterhin flußaufwärts und -abwärts mit meinem Bootshaken und meinem Eßvorrat. Um mich nützlich zu machen, säuberte ich ganz allein immer größere Stauungen, sang mir selbst zu, als sei ich eine ganze Flößerschar, und mühte mich für viele ab. Grindhusen überbrachte ich den Auftrag des Ingenieurs, der ihn in ziemlichen Schrecken versetzte.

Dann aber kam der Regen.

Und jetzt tanzten die Stämme über den Wasserfall und die Stromschnellen hinweg. Sie eilten und eilten und glichen großen, hellen Schlangen, die manchmal die Schnauze, manchmal den Schwanz in die Lust streckten.

Da hatte der Ingenieur wohl sorglose Tage!

Was mich betraf, so fühlte ich mich in der Stadt und in meiner Unterkunft gar nicht behaglich; ich hatte zwar meinen eigenen kleinen Raum, aber es war dort von allen Seiten so laut, daß ich keine rechte Ruhe finden konnte. Außerdem wurde ich von den jungen Flößern, die in dem Haus wohnten, in allem ausgestochen. Während dieser Zeit wanderte ich häufig am Fluß entlang, obwohl ich wenig oder nichts mehr dort zu tun hatte. Ich schlich mich fort, saß versteckt unter einem Felsen und malte mir aus, ich sei alt und von allen Menschen verlassen; an den Abenden schrieb ich viele Briefe an meine Bekannten, um mich mit jemand aussprechen zu können, doch ich sandte die Briefe nicht ab. Es waren unfrohe Tage. Mein größtes Vergnügen war, umherzugehen und in der Stadt alle Kleinigkeiten, wie sie mir gerade in die Augen fielen, zu beobachten und über alles ein wenig nachzudenken. Hatte aber der Ingenieur weniger Kummer? Ich begann daran zu zweifeln.

Warum ging er nicht mehr früh und spät mit der fremden Cousine in den Straßen umher? Er konnte sogar eine andere junge Dame auf der Brücke anhalten und sie nach ihrem Befinden fragen; das hatte er zwei Wochen lang nicht mehr getan. Ein paarmal hatte ich ihn mit Frau Falkenberg gesehen; sie war so jung, ging schön gekleidet und schien glücklich zu sein, sie war auch ein wenig wild und lachte laut. So ist ein Weib, das vor kurzem gefallen ist, dachte ich, aber morgen oder übermorgen ist das vielleicht nicht mehr so! Als ich sie später wieder sah, ärgerte ich mich über sie, so leichtsinnig kam sie mir in Kleidung und Wesen vor, nein, es lag nicht mehr die alte Ausgeglichenheit über ihr, der frühere Reiz. Wo war jetzt das Zarte in ihrem Blick? Nur noch Frechheit. Wütend sagte ich zu mir: Ihre Augen sind wie zwei Laternen am Eingang eines Varietés.

Offenbar war das Zusammensein nicht mehr ganz so erfreulich wie früher, da der Ingenieur jetzt öfters allein ausging und Frau Falkenberg im Hotel an ihrem Fenster sitzen und hinausstarren konnte. Aus dem gleichen Grunde trat wohl auch der fette Kapitän Bruder wieder bei ihnen auf; er sollte vielleicht Humor und Freude nicht nur sich selbst, sondern auch anderen bringen. Und dieser übermäßig entstellte Bruder Lustig tat gewiß auch sein Bestes; eine ganze Nacht hindurch hörte die kleine Stadt sein schallendes Gelächter, dann lief sein Urlaub ab, und er mußte zum Übungsplatz zurück. Der Ingenieur und Frau Falkenberg waren wieder allein.

Als ich eines Tages in einem Laden stand, hörte ich, daß Ingenieur Lassen mit seiner Cousine einen kleinen unbedeutenden Zwist gehabt habe. Ein Handlungsreisender erzählte es dem Kaufmann. Aber so großes Ansehen genießt der reiche Ingenieur Lassen in unserer Stadt, daß der Kaufmann die Geschichte kaum glauben will; er stellt dem Schwätzer zweifelnde Fragen:

Sie werden wohl miteinander gescherzt haben. Haben Sie es denn selbst gehört? Wann war es?

Der Handlungsreisende wagte nun nicht mehr, viel daraus zu machen:

Ich wohne Wand an Wand mit dem Ingenieur, konnte also nicht vermeiden, es heute nacht zu hören, antwortete er. Doch, kein Zweifel, sie stritten sich; ich will nicht sagen, daß es schlimm war, im Gegenteil, es war so haarfein wie nur möglich. Sie meinte, er sei nicht mehr wie früher, er habe sich verändert, und er entgegnete, daß er hier in der Stadt nicht wage, so zu sein, wie er möchte. Dann bat sie ihn, einen Mann zu verabschieden, der ihr zuwider sei; das war wohl einer der Flößer. Und er versprach es.

Na, dann war es ja gar nichts, sagte der Kaufmann.

Der Handlungsreisende aber hatte sicher mehr gehört, als er nun zu sagen sich getraute, er sah ganz danach aus.

Und merkte ich nicht selbst, daß der Ingenieur verändert war? Er, der an der Bahnstation am ersten Tag laut und glücklich geredet hatte, konnte jetzt ganz hartnäckig schweigen, wenn er ein seltenes Mal Frau Falkenberg auf die Brücke mitnahm, ich sah wohl, wie die beiden nur dastanden und vor sich hinstarrten. Gott im Himmel, die Liebe ist flüchtig!

Im Anfang war alles gut. Sie sagte vielleicht: Wie nett es hier ist: der Fluß und der Wasserfall sind so groß und das Rauschen so seltsam, und hier ist eine kleine Stadt, Straßen und Menschen, und hier bist du! Und darauf antwortete er dann: Ja, und hier bist du! Oh, wie unentbehrlich sie einander waren! Dann aber wurden sie all des Guten satt, sie übertrieben, sie machten die Liebe zu einer Ware, die man nach Metern mißt, so dumm waren sie. Es wurde ihm immer klarer, daß alles eine schlimme Wendung nehmen würde; die Stadt war so klein und die Cousine eine Fremde. Auf die Dauer konnte es nicht angehen, daß er ihr ständiger Kavalier war, sie mußten sich manchmal voneinander losreißen, sie mußten vielleicht mitunter – nur ganz selten, versteh mich recht – im Hotel zu verschiedenen Zeiten speisen. Die Handlungsreisenden dachten sich sonst ihr Teil über diesen Vetter und seine Cousine. Denn du darfst nicht vergessen, es ist eine kleine Stadt! – Und sie – nein, wie sie es durchaus nicht verstehen konnte! die Stadt war doch jetzt nicht kleiner als im Anfang? Nein, mein Freund, du bist es, der sich verändert hat!

*

Obwohl es nun ordentlich geregnet hatte und die Flößerei vorzüglich vonstatten ging, begann der Ingenieur doch kleine Märsche flußauf- und -abwärts zu unternehmen. Es sah so aus, als sei er am liebsten von daheim fort, er bekam in dieser Zeit auch ein ganz vergrämtes Gesicht.

Eines Tages bat er mich, zu Grindhusen zu gehen und ihn in die Stadt herunterzuholen. Soll denn der verabschiedet werden? dachte ich; aber die gnädige Frau hat Grindhusen doch noch gar nicht gesehen, seit sie hier ist? Was sollte er ihr getan haben?

Ich holte Grindhusen in die Stadt, er meldete sich sogleich, und der Ingenieur machte sich zum Ausgehen bereit und ging mit ihm fort. Sie verschwanden flußaufwärts.

Im Lauf des Tages kam Grindhusen in mein Logierhaus und hatte Lust zu erzählen, ich fragte ihn jedoch nach nichts. Am Abend erhielt er von den Flößern Branntwein und begann mitteilsam zu werden: Was das für ein Geschwisterkind sei, das der Flößereiinspektor da bei sich habe? Würde sie nicht bald wieder abreisen? Niemand wußte es; warum sollte sie abreisen? Solche Geschwisterkinder seien nur eitel Teufelszeug und Verderbnis, erklärte Grindhusen. Es wäre viel besser, er nähme die zu sich, die er heiraten wolle – und das riet ich ihm auch! Das sagtest du ihm? fragten einige. Ja, das tat ich; ich schwätze mit dem Inspektor genau so wie mit einem von euch, sagte Grindhusen und brüstete sich, gut gelaunt wie er war. Warum, glaubt Ihr wohl, hat er einen Boten nach mir gesandt? Das könnt Ihr nicht erraten, und wenn Ihr bis morgen früh dasitzt. Ja, er ließ mich kommen, um sich mit mir zu unterhalten. Nur, um sich mit mir zu unterhalten. Na, schließlich hat er das früher auch getan, aber nun tat er es eben wieder. Worüber sprach er denn mit dir? wurde gefragt. Grindhusen tat sehr wichtig: Oh, ich bin doch wohl nicht so dumm, daß ich mich nicht mit jemand unterhalten könnte. Auch bin ich nicht gar so ungewandt, wie mir scheinen will. Du weißt doch Rat für allerlei, Grindhusen, sagte der Inspektor zu mir, und hier hast du zwei Kronen! sagte er. Genau so sprach er. Und wenn Ihr mir nicht glaubt, so könnt Ihr hier die zwei Kronen sehen. Hier sind sie! Aber worüber habt Ihr denn geredet? riefen mehrere auf einmal. Das darf Grindhusen wohl kaum wiedererzählen, warf ich ein.

Mir wurde klar, daß der Inspektor verzweifelt und gepeinigt gewesen sein mußte, als er mich Grindhusen holen ließ. Er war noch so jung in dieser Welt; kam ihm irgend etwas über den Weg, so entbehrte er sofort jemand, mit dem er sich aussprechen konnte. Nun ging er den ganzen Tag niedergeschlagen umher und hatte Mitleid mit sich selbst, es war, als wollte er allen zu verstehen geben, was Gott ihm antat, indem er ihn sich nicht nach Herzenslust austoben ließ. Dieser Sportsmann mit dem herausstehenden Hintern war doch nur das Zerrbild eines Jünglings, ein weinender Spartaner. Was für eine Erziehung hatte er wohl gehabt?

Oh, wäre der Ingenieur gesetzten Alters gewesen, hätte ich viele Entschuldigungen für ihn gefunden; jetzt haßte ich ihn wohl um seiner Jugend willen. Was weiß ich! Aber ich fand, daß er ein Zerrbild war.

Als ich die paar Worte gesagt hatte, sah Grindhusen mich an, und auch alle die anderen sahen auf mich.

Es kann schon sein, daß ich es nicht erzählen darf, sagte Grindhusen und fügte sich darein.

Die Flößer aber erhoben Widerspruch:

Warum soll er es nicht erzählen? Wir sagen es doch nicht weiter!

Nein, meinte ein anderer. Aber du bist vielleicht selbst einer von denen, die klatschen und alles dem Inspektor hinterbringen.

Jetzt bekam auch Grindhusen wieder mehr Mut:

Ich erzähle, was ich will, bemüh dich nur nicht, du! Ich erzähle genau das, was ich will. Ja. Denn ich sage nichts anderes, als was wahr ist. Und falls du es wissen willst, so wird dir der Inspektor schon selbst bei nächster Gelegenheit eine kleine Neuigkeit erzählen. Es hörte sich ganz so an. Mach dir nur keinen Kummer! Wenn ich auch das eine oder andere erzähle, so sage ich doch nicht mehr, als wahr ist. Merk dir das! Und wenn du es wissen willst: sie ist nichts als Hemmung und Ärgernis für den Inspektor, und er kann ihretwegen kaum in die Stadt gehen. Sieht so ein Geschwisterkind aus?

Nein doch, nein, antworteten die Flößer und beruhigten ihn.

Warum, glaubt ihr, hat er einen Boten nach mir geschickt? Da sitzt der Bote ja in eigener Person! Aber er wird wohl in den nächsten Tagen selbst eine Nachricht bekommen, wenn ich den Inspektor recht verstanden habe. Mehr sage ich nicht. Und wenn ich auch ein wenig erzähle – der Inspektor ist wie ein Vater gegen mich, und ich müßte ein Stein sein, wenn ich etwas anderes behaupten wollte. Ich bin jetzt immer so schwermütig und betrübt, weißt du ein Mittel dagegen, Grindhusen? fragte er mich. Nein, sagte ich, aber das weiß der Herr Inspektor sicher selbst. Genau diese Worte entgegnete ich ihm. Nein, ich weiß wahrhaftig nichts, meinte er, dieses elende Weibervolk ist daran schuld. Ja, wenn die Weiber mit im Spiel sind, dann ist es nicht mehr auszuhalten, sagte ich. Da hast du tatsächlich recht, antwortete er. Aber der Herr Inspektor kann sie doch nehmen und mit ihnen machen, was sein muß, und ihnen dann ein paar ordentliche über den Hintern ziehen, riet ich ihm. Ja, weiß Gott, da hast du recht, Grindhusen, erwiderte der Inspektor und wurde ganz aufgemuntert. Niemals habe ich jemand so aufleben und wieder so guter Laune werden sehen, nur um einiger weniger Worte willen. Das war wirklich ein Anblick. Und Ihr könnt mir den Kopf herunterreißen, wenn nicht jedes einzelne Wort wahr ist, das ich da erzähle. Ich saß so da, wie ich jetzt sitze, und der Inspektor saß dort –

Und Grindhusen fand kein Ende.

*

Am nächsten Morgen, noch bevor es richtig hell war, wurde ich von Ingenieur Lassen auf der Straße angehalten. Es war kaum vier Uhr vorbei.

Ich stand da, voll ausgerüstet zu einem Marsch den Fluß hinauf, mit Bootshaken und Mundvorrat. Grindhusen war noch hier und trank in der Stadt herum, ich wollte den Marsch auch durch seinen Bezirk ausdehnen, ganz bis in die Berge hinauf, und hatte doppelten Vorrat im Ranzen.

Der Ingenieur kam augenscheinlich aus einer Gesellschaft, er lachte und sprach laut mit zwei anderen Herren, die ihn begleiteten, sie waren alle ziemlich angeheitert. Geht nur voraus! rief er den beiden zu. Und er wandte sich zu mir und fragte: Wo willst du hin?

Ich gab ihm Auskunft.

Ja, davon weiß ich ja gar nichts, sagte er. Nein, du brauchst dich nicht zu bemühen, Grindhusen wird schon fertig damit. Außerdem sehe ich selbst später alles nach. Wie kannst du solche Touren unternehmen, ohne mir ein Wort davon zu sagen?

Im Grunde hatte er recht, und ich bat um Entschuldigung. Da ich außerdem wußte, wie gerne er Chef sein und umhergehen und uns kommandieren wollte, hätte ich klüger sein müssen.

Aber meine Entschuldigung gab ihm erst recht Wasser auf die Mühle, er fühlte sich sehr beiseite gesetzt und wurde heftig. Davon will ich nichts wissen. Meine Arbeiter haben nur das zu tun, was ich ihnen befehle. Ich habe dich hier angestellt, weil ich dir helfen wollte, hatte jedoch keine rechte Verwendung für dich und brauche dich jetzt überhaupt nicht mehr.

Ich blieb stehen und sah ihn nur an.

Du kannst heute auf mein Kontor kommen, dann rechnen wir ab, fuhr er fort. Und damit wollte er gehen.

Also war ich es, der entlassen werden sollte! Jetzt verstand ich auch Grindhusens verblümte Reden. Frau Falkenberg hatte wohl nicht ertragen können, mich hier zu sehen und dadurch an ihr Heim erinnert zu werden. Und so hatte sie es durchgesetzt, daß ich fortgeschickt wurde. Aber war ich ihr nicht auf der Station zartfühlend begegnet, und hatte ich mich nicht abgewandt, anstatt mir anmerken zu lassen, daß ich sie kannte? Und hatte ich sie jemals gegrüßt, wenn ich ihr in den Straßen begegnet war? War denn nicht eine Rücksichtnahme der anderen wert?

Und hier stand nun auch noch dieser junge Ingenieur und gab mir mit übertriebener Heftigkeit den Abschied. Ich glaubte ihn so gut zu verstehen: mehrere Tage lang war er umhergegangen und hatte sich vor dieser Arbeit gescheut, dann trank er sich eine ganze Nacht hindurch Mut an und schaffte es. Tat ich ihm unrecht? Vielleicht. Und ich widersprach meinem eigenen Gedankengang. Wieder mußte ich daran denken, daß er jung war und ich alt, und daß ich sicherlich nur Neid empfand. Deshalb antwortete ich ihm auch ohne jeden Spott und sagte nur:

Ja, ja, dann nehme ich eben den Vorrat wieder aus dem Ranzen.

Der Ingenieur aber wollte wohl die Gelegenheit, mich so schön zur Hand zu haben, benutzen, er erinnerte mich an die Geschichte mit dem Koffer:

Das war auch so eine Sache, nein zu sagen, wenn ich dir einen Befehl gebe. Das bin ich nicht gewohnt. Und da sich so etwas wiederholen könnte, ist es am besten, du kommst fort.

Jawohl, antwortete ich.

In einem Fenster des Hotels sah ich eine weißgekleidete Gestalt, und ich vermutete, daß es Frau Falkenberg sei, die dort stand und uns beobachtete. Deshalb antwortete ich nichts mehr.

Nun aber schien der Ingenieur zu fühlen, daß er mich ja noch nicht ganz los war, wir mußten noch abrechnen, wir mußten uns noch einmal begegnen. Deshalb wechselte er den Ton und fügte hinzu:

Na – komm dann heute gelegentlich um dein Geld. Hast du dir überlegt, was du haben willst?

Nein. Das muß der Herr Ingenieur selbst bestimmen.

Ja, ja, meinte er auf einmal milder. Eigentlich warst du ja gut zu gebrauchen, das muß man sagen. Aber verschiedene Umstände – und außerdem ist es nicht nur mein eigener Einfall, du weißt, die Weiber – ich meine die Damen –

Ja, er war jung. Und er versagte sich nichts.

Na – guten Morgen! nickte er plötzlich und ließ mich stehen.

*

Aber der Tag verging mir zu rasch, ich trieb mich im Wald umher und hielt mich dort in der Einsamkeit so lange auf, daß ich nicht mehr dazu kam, meinen Lohn beim Ingenieur zu holen. Es eilte auch nicht, ich hatte Zeit.

Was sollte ich jetzt anfangen?

Ich hatte für diese kleine Stadt nicht viel übrig gehabt, jetzt aber fing sie an, interessanter zu werden, und ich wäre gern noch einige Zeit hier geblieben. Verwicklungen begannen zwischen einem Menschenpaar zu entstehen, das ich einige Wochen lang aufmerksam beobachtet hatte; jederzeit könnte etwas geschehen, nichts war vorauszusehen. Ich dachte daran, bei einem Schmied in die Lehre zu gehen, um die Stadt nicht verlassen zu müssen; teils aber hätte mich diese Arbeit den ganzen Tag über festgehalten und mich in meiner Bewegungsfreiheit gehindert, teils hätte die Lehrzeit zu viele Jahre meines Lebens gekostet. Und gerade an Jahren begann ich nun so arm zu werden!

So ließ ich einen Tag nach dem anderen verstreichen. Es kam wieder Sonne und trockenes Wetter, ich wohnte im Logierhaus, flickte meine Sachen und ließ mir in einem Geschäft etwas Neues nähen. Eines der Mädchen im Hause kam eines Abends herauf und bot sich an, mir zu helfen. Ich aber war mehr zum Scherzen aufgelegt und zeigte ihr, wie geschickt ich selbst bei dieser Arbeit war: sieh hier den Fleck, und sieh diesen hier! Nach einer Weile kam ein Mann die Treppe herauf und rüttelte an meiner Türklinke: Macht auf da drinnen! rief er. Das ist Henrik, einer von den Flößern, sagte das Mädchen. Ist es dein Liebster? fragte ich. Nein, weit entfernt! antwortete sie, lieber will ich keinen haben als so einen. Aufmachen, sage ich! rief der Mann auf dem Gang. Das Mädchen aber war mutig und sagte: Laß ihn nur da draußen stehen! So ließen wir ihn stehen. Meine Türe aber bog sich manchmal stark, wenn er, wie von Sinnen, sich dagegen stemmte.

Als wir mit meiner Flickschneiderei und über ihren Liebsten genug Spaß getrieben hatten, mußte ich den Gang erst absuchen, ehe das Mädchen wieder zu gehen wagte. Niemand war da.

Es war nun spät geworden. Ich ging in die Stube hinunter; dort saß Grindhusen mit einigen Flößern und trank. Da ist er! sagte einer der Männer von mir. Es war wohl Henrik, er wollte seine Kameraden aufhetzen. Selbst Grindhusen machte es wie die anderen und versuchte mich zu ärgern.

Armer Grindhusen! Da ging er nun in einem ewigen Katzenjammer umher und konnte ihn nicht mehr los werden. Er hatte noch einmal eine Zusammenkunft mit Ingenieur Lassen gehabt, sie waren wie das erstemal flußaufwärts gewandert und hatten dort gesessen und eine Stunde lang geplaudert. Als Grindhusen von dieser Tour zurückkam, zeigte er ein neues Zweikronenstück, das er bekommen hatte. Und dann war er wieder betrunken gewesen und hatte mit dem Vertrauen des Ingenieurs geprahlt. Auch heute abend fühlte er sich groß und mächtig wie ein Robbenfänger nach einer Überwinterung im Eismeer. Er hätte es selbst mit dem König aufgenommen.

Komm und setz dich, sagte er zu mir.

Ich setzte mich.

Aber ein paar der Flößer wollten mich nicht in ihrer Gesellschaft dulden, und als Grindhusen das merkte, schlug er um, wollte mich ärgern und noch mehr von dem Ingenieur und seiner Cousine offenbaren.

Bist du entlassen worden? fragte er mich und blinzelte gleichzeitig den anderen zu, sie sollten jetzt aufpassen.

Ja.

Na! Das wußte ich schon seit langem, aber ich sagte nichts. Ich darf behaupten, daß ich es eher als irgend jemand in der ganzen Welt wußte, – aber habe ich etwa eine Silbe davon erzählt? Der Inspektor fragte mich und sagte: Gib mir einen Rat, Grindhusen, es handelt sich darum, ob du eine Weile hier in der Stadt unten bleiben willst, statt eines anderen Mannes, den ich verabschieden will. Ja, das kommt nur darauf an, was mir der Herr Inspektor in dieser Beziehung befiehlt, erwiderte ich. Genau diese Worte antwortete ich ihm, nicht mehr noch weniger. Aber habe ich etwa eine Silbe davon erzählt?

Bist du entlassen worden? fragte auch einer der Flößer.

Ja.

Was aber das Geschwisterkind betrifft, so hat mich der Inspektor auch danach gefragt, fuhr Grindhusen fort. Denn er fragt mich in allem um Rat. Und als wir nun das letztemal am Fluß oben waren, schlug er sich ihretwegen auf das Knie. Weshalb? Ja, daran könnt ihr nun wieder bis morgen früh herumraten. Großartig will sie es mit Essen und Trinken und sonst allem haben, das kostet jede Woche viel Geld; aber sie reist nicht ab. Pfui! Ja, das sag ich geradeheraus.

Nun aber schien die Tatsache, daß ich verabschiedet worden war, die Gesellschaft günstig für mich zu stimmen; einige hatten vielleicht Mitleid mit mir, andere freuten sich wohl, weil ich jetzt fortkam. Einer der Flößer wollte mir von seinem Branntwein einschenken und verlangte von dem Mädchen ein Glas – ein ganz reines Glas, wohl zu verstehen! Selbst Henrik trug keinen Groll mehr gegen mich, sondern stieß mit mir an, und lange Zeit blieben wir sitzen und schwätzten.

Aber jetzt mußt du dir deinen Lohn holen, sagte Grindhusen zu mir. Der Inspektor wird ihn dir kaum selbst bringen, soviel ich verstanden habe. Er hat noch Geld bei mir stehen, erzählte er mir. Er glaubt vielleicht, daß ich es ihm noch nachtragen soll und ihn bitten, es anzunehmen, sagte er.

 

8

Der Ingenieur kam trotzdem und bat mich, das Geld anzunehmen. Besser hätte es nicht gehen können. Übrigens war dies ein Sieg, den ich nicht angestrebt hatte, und es war nichts Besonderes daran.

Der Ingenieur kam zu mir ins Logierhaus und sagte:

Ich bitte dich, mit mir heimzukommen und dein Geld in Empfang zu nehmen. Und außerdem hat die Post einen Brief für dich gebracht.

Als wir in das Bureau des Ingenieurs eintraten, stand Frau Falkenberg da. Ich war sehr erstaunt, verbeugte mich aber und blieb bei der Türe stehen.

Setz dich, bitte! sagte der Ingenieur, er ging zum Tisch und suchte meinen Brief hervor. Bitte schön! Nein, setz dich nur und lies den Brief, ich werde inzwischen deinen Lohn zusammenrechnen.

Ja, sogar Frau Falkenberg deutete auf einen Stuhl.

Warum sahen die beiden so erwartungsvoll aus? Und warum waren sie bei jedem zweiten Wort eine Höflichkeit und ein Bitteschön? Ich sollte es gleich begreifen: Der Brief war von Kapitän Falkenberg.

Brauchst du das hier? fragte die gnädige Frau und reichte mir ein Papiermesser.

Ein kurzer und bündiger Brief und nichts weiter, der Anfang war sogar ein wenig scherzhaft:

Ich sei von Övrebö früher abgereist, als er gedacht hätte, und sei auf jeden Fall von meinem Geld weggereist. Wenn ich den Eindruck bekommen hätte, er sei in Verlegenheit und könne mich nicht vor dem Herbst bezahlen, und wenn ich ihn deshalb so plötzlich verlassen hätte, hoffe er, daß ich meinen Irrtum einsehe. Und nun möchte er mich sehr bitten, bei der nächsten Gelegenheit wieder zu ihm zurückzukommen, falls ich nicht bereits an einen anderen Platz gebunden sei. Er möchte seine Häuser und Wirtschaftsgebäude anstreichen lassen, später käme die Herbstbestellung, und schließlich lege er auch großen Wert darauf, mich zum Baumfällen zu haben. – Jetzt steht hier alles sehr schön, die Acker sind hoch und die Wiesen dicht! Ich bitte Dich, mir so bald wie möglich auf diesen Brief zu antworten. Freundlichst, Kapitän Falkenberg.

Der Ingenieur war mit der Abrechnung fertig, er drehte sich auf dem Stuhl um und sah die Wand an; dann tat er so, als fiele ihm etwas ein, und wandte sich wieder rasch dem Tisch zu. Das war nur Nervosität. Die gnädige Frau stand da und betrachtete ihre Ringe, aber ich hatte das Gefühl, als habe sie mich die ganze Zeit heimlich beobachtet. Wie aufgeschreckt die beiden waren!

Dann meinte der Ingenieur:

Was ich sagen wollte, ich sehe, der Brief ist von Kapitän Falkenberg, wie geht es ihm? Ich kenne die Handschrift.

Wollen Sie den Brief lesen? kam ich ihm zuvor und reichte ihm das Schreiben.

Nein. Nein danke, das ist nicht nötig. Es war nur –

Aber er nahm den Brief doch. Und die gnädige Frau ging zu ihm hin und spähte ihm über die Schulter, während er las.

Jaha, meinte der Ingenieur und nickte. Ja, dort steht also alles gut. Danke, sagte er und wollte mir den Brief zurückgeben.

Frau Falkenberg aber faßte die Sache anders auf, sie griff nach dem Brief und begann ihn auf eigene Faust zu studieren. Der Brief zitterte ein wenig in ihrer Hand.

Ja, und nun die Abrechnung, wandte sich der Ingenieur an mich. Bitte, hier ist dein Geld. Ich weiß nicht, ob du zufrieden bist?

Doch, danke schön, antwortete ich.

Der Ingenieur schien erleichtert, weil Kapitän Falkenbergs Brief nur mich und sonst niemand betraf, noch einmal wollte er mir die Kündigung ein wenig leichter machen und sagte: Ja, ja. Solltest du nun aber wieder einmal hierherkommen, so weißt du, wo du mich finden kannst. Mit dem Flößen ist es ja für heuer ohnehin zu Ende, in der letzten Zeit war wieder sehr viel trockenes Wetter.

Die gnädige Frau stand da und las. Dann las sie nicht mehr, denn ihre Augen bewegten sich nicht, sie starrte in den Brief und dachte nach. Woran dachte sie in diesem Augenblick?

Der Ingenieur sah ungeduldig zu ihr hin, halb lächelnd, und sagte:

Liebe, du willst doch wohl den Brief nicht auswendig lernen? Der Mann wartet darauf.

Entschuldige! sagte Frau Falkenberg und gab mir das Schreiben hastig und verlegen zurück. Ich vergaß mich ganz.

Ja, offenbar, bemerkte der Ingenieur.

Ich verbeugte mich und ging.

*

An den Sommerabenden ist die Brücke voll von Spaziergängern, von Lehrern und Kaufleuten, Haustöchtern, Kindern. Ich warte, bis es spät wird und die Brücke leer ist, dann schlendre auch ich dorthin und stelle mich ein oder zwei Stunden mitten in das Brausen. Eigentlich habe ich jetzt nichts anderes zu tun, als zu lauschen; aber mein Gehirn ist von all dem Müßiggang und dem vielen Schlafen so ausgeruht, daß es mich mit unzähligen Dingen beschäftigt. Gestern beschloß ich allen Ernstes, zu Frau Falkenberg zu gehen und zu sagen: Reisen Sie mit dem ersten Zug von hier fort, gnädige Frau! Heute habe ich mich wegen dieser einfältigen Idee verspottet und sie mit einer anderen vertauscht: Reisen Sie selbst mit dem ersten Zug von hier ab, mein Herr! Bist du ihresgleichen und ihr Ratgeber? Nein, und was man tut, darf nicht zu schlecht zu dem passen, was man ist!

Heute abend fahre ich fort, mich selbst nach Verdienst zu behandeln. Ich beginne zu summen, aber ich höre es kaum, mein Summen erstirbt im Rauschen des Wasserfalls. Du solltest immer an einen Wasserfall gehen, wenn du summen willst! sage ich in verletzendem Ton zu mir, und hinterher lache ich über mich. Mit solchen Kindereien vertreibe ich mir die Zeit.

Ein Wasserfall mitten im Land leistet dem Ohre den gleichen Dienst wie eine Brandung. Die Brandung wälzt sich in stärkeren und schwächeren Stößen vor, das Rauschen des Wasserfalls dagegen ist wie ein hörbarer Nebel, es ist unwahrscheinlich in seiner Eintönigkeit, ohne alle Vernunft, ein Mirakel an Idiotie. Wieviel Uhr ist es? Nein, durchaus nicht! Ist es Tag oder Nacht? Ja! Es ist, als lege man einen Stein auf zwölf Tasten einer Orgel und gehe dann seines Weges. Mit solchen Kindereien vertreibe ich mir die Zeit.

Guten Abend! sagt Frau Falkenberg und steht neben mir.

Es überraschte mich nicht, mir war, als hätte ich sie erwartet. Ihrem Betragen nach beim Lesen des Briefes von Övrebö konnte sie wohl noch weiter gehen.

Nun war als Grund für das Kommen der gnädigen Frau zweierlei denkbar: entweder war sie gut und sentimental geworden, als sie so unmittelbar wieder an ihr Heim erinnert wurde, oder sie wollte den Ingenieur eifersüchtig machen. Vielleicht stand er in diesem Augenblick an seinem Fenster und sah zu uns her. Ich war ja jetzt nach Övrebö zurückgerufen worden. Es war möglich, daß sie auch auf raffinierte Art schon gestern, als sie den Brief des Kapitäns so genau studierte, den Ingenieur hatte eifersüchtig machen wollen.

Aber es sah nicht so aus, als hätte ich mit irgendeiner meiner Spitzfindigkeiten recht. Ich war es, den Frau Falkenberg suchte, und sie wollte sich nur gewissermaßen entschuldigen, weil sie meine Entlassung bewirkt hatte. Wie gleichgültig ihr doch diese Kleinigkeit hätte sein müssen! Besaß sie denn nicht so viel Ernst, daß sie jetzt begriff, in welch erbärmlicher Lage sie sich befand? Was, zum Teufel, hatte sie mit mir zu tun? Erst wollte ich ein paar kurze Worte sagen und auf den Zug deuten; aber dann war ich doch mild wie zu einem unverantwortlichen Menschen, wie zu einem Kind:

Du reist jetzt wohl nach Övrebö, fing sie an, und da möchte ich gerne –. Hm. Es ist dir vielleicht arg, daß du von hier fort sollst –? Nicht? Nein, nein. Was du aber nicht weißt: – ich bin daran schuld, daß dir gekündigt wurde.

Das tut nichts.

Nein, nein. Aber nun weißt du es also. Und da du nun wieder nach Övrebö kommst, wollte ich es dir gern sagen. Du begreifst doch, es war ein wenig unbehaglich für mich, daß – Sie hielt inne.

Daß ich hier war. Ja, das war unbehaglich.

Daß ich dich sah. Ich meine, nur ein wenig unbehaglich. Denn du wußtest doch, woher ich war. Da fragte ich den Ingenieur, ob er dir nicht kündigen könne. Er wollte es nicht, aber dann tat er es doch. Es freut mich, daß du nach Övrebö kommst.

Ich sagte:

So? Ja, wenn nun aber die gnädige Frau wieder heimkommt, wird es wohl ebenso unbehaglich sein, mich auch dort wieder zu treffen.

Heim? antwortete sie. Ich komme nicht nach Övrebö.

Pause. Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen, als sie dies sagte. Dann nickte sie und lächelte sogar ein wenig und wollte gehen.

Ja, ja, du nimmst es mir also nicht übel, wenn ich recht verstehe, sagte sie.

Haben Sie irgend etwas dagegen, daß ich zum Kapitän reise? fragte ich.

Sie blieb stehen und sah mich voll an. Was war nun das Richtige? Dreimal hakte sie Övrebö genannt. Meinte sie, daß ich vielleicht bei Gelegenheit ein gutes Wort über sie fallen lassen könnte, wenn ich dorthin käme? Oder wollte sie für meine Bereitwilligkeit, nicht hinzureisen, nicht in meiner Schuld stehen?

Nein, nein, ich habe nichts dagegen! antwortete sie. Geh nur hin!

Dann verließ sie mich.

Sie schien weder sentimental noch berechnend gewesen zu sein. Vielleicht aber war sie beides gewesen.

Und was hatte ich jetzt von meinem Versuch zur Vertraulichkeit? Ich hätte es bester wissen müssen und diesen Versuch nicht erst machen sollen. Ob sie nun hier war oder wo anders – was ging es mich an? Meinetwegen!

Du gehst umher und lauerst, dachte ich von mir. Und du bildest dir ein, sie sei für dich nur Literatur. Aber deine welke Seele blühte doch ganz auf, als sie freundlich zu dir war und ihre Augen auf dir ruhen ließ. Ich bin bedrückt und beschämt deinetwegen, und morgen reist du ab!

Aber ich reiste nicht ab.

Und es war wahr, ich lauerte und lauschte überall, um irgend etwas über Frau Falkenberg zu erfahren. In mancher Nacht legte ich mir Rechenschaft darüber ab und strafte mich mit Verachtung. Vom frühen Morgen an dachte ich an sie: sie ist auf? hat sie gut geschlafen? reist sie heute wieder heim? Und gleichzeitig kamen mir so viele Pläne: vielleicht war es möglich, in dem Hotel, in dem sie wohnte, eine Zeitlang Arbeit zu bekommen? oder ich könnte mir einige Kleider von zu Hause schicken lasten, selbst zum Herrn werden und in ihr Hotel ziehen? Diese letzte Idee jedoch hätte mit einem Schlag jede Grundlage zerstört und mich mehr denn je von Frau Falkenberg entfernt. Aber auf diesen Plan war ich besonders versessen. Klüger war ich nicht. Ich hatte angefangen, mich mit dem Hotelburschen anzufreunden, und zwar nur, weil er ihr näher war als ich. Er war ein starker, großer Kerl, der bei Ankunft der Züge am Bahnhof zu sein pflegte und alle vierzehn Tage einen Handlungsreisenden in Empfang nahm. Er konnte mir keine Neuigkeiten erzählen, ich fragte ihn auch weder aus, noch veranlaßte ich ihn, von selbst etwas zu sagen; außerdem war er kein heller Kopf. Aber er wohnte unter einem Dach mit Frau Falkenberg, ach, das tat er. Und eines Tages hatte meine Bekanntschaft mit dem Burschen zur Folge, daß ich eine wichtige und gute Aufklärung erhielt, und noch dazu aus Frau Falkenbergs eigenem Mund. So waren diese Tage in der kleinen Stadt doch nicht alle gleich unfruchtbar.

Eines Morgens begleitete ich den Hotelknecht von der Station nach Hause. Ein Reisender mit viel Gepäck war mit dem Morgenzug angekommen, und der Bursche mußte Wagen und Pferde nehmen, um die schweren, grauen Koffer heimzufahren.

Ich hatte ihm unten auf der Station beim Aufladen geholfen. Als wir nun vor dem Hotel hielten, sah er mich an und sagte: Du könntest so freundlich sein und mir noch einmal mit diesen Koffern helfen; dann will ich dir heute abend eine Flasche Bier dafür stiften!

Wir packten an und trugen die Koffer hinein. Sie sollten sofort in das große Ausstellungszimmer der Handlungsreisenden im ersten Stock hinaufkommen, wo der Gast schon darauf wartete. Es war keine schwere Arbeit für uns, groß und stark, wie wir beide waren, der Träger sowohl als auch ich.

Als wir nur noch einen Koffer auf dem Karren hatten, wurde der Träger einen Augenblick im Ausstellungszimmer zurückgehalten, der Reisende gab ihm einen Auftrag. Ich ging inzwischen hinaus, blieb auf dem Gang stehen und wartete; als Fremder im Haus wollte ich mich nicht allein auf der Treppe herumtreiben.

Da öffnete sich die Türe zum Bureau des Ingenieurs Lassen, und sowohl er als auch Frau Falkenberg kamen heraus. Sie schienen gerade aufgestanden zu sein, beide waren barhäuptig und wohl auf dem Wege zum Frühstück. Ob sie mich nun gar nicht sahen oder mich nur für den Hotelburschen hielten – auf jeden Fall setzten sie ein Gespräch fort, das sie drinnen begonnen hatten, und er sagte:

Ja, unbedingt. Und daran wird sich nichts ändern. Ich verstehe nicht, warum du dich so verlassen fühlst.

Doch, das verstehst du gut, antwortete sie.

Nein. Und ich finde, du solltest anfangen, heiterer zu werden.

Das findest du nicht. Du siehst es gerne, daß ich so bleibe, daß ich ständig umhergehe und traurig bin, weil du mich nicht haben willst.

Nein, bist du verrückt? rief er und blieb auf der Treppe stehen.

Ja, wahrscheinlich, antwortete sie.

Das war nun wieder recht ungeschickt von ihr, bei einem Streit kam sie immer zu kurz! Warum nahm sie sich nicht zusammen und antwortete ihm verletzend, vernichtend!

Er blieb stehen, strich mit der Hand über das Geländer und sagte:

Du glaubst also, ich möchte, daß es so weiterging? In Wirklichkeit peinigt es mich ganz außerordentlich, aber – Und es hat mich seit lange gequält.

Mich auch, erwiderte sie. Und jetzt soll es ein Ende haben.

So. Das hast du schon früher gesagt. Vergangene Woche hast du das auch gesagt.

Ja, aber jetzt reise ich wirklich.

Er sah auf:

Du fährst?

Ja, bald.

Dann wollte er es wohl wieder abschwächen, daß er so begehrlich zugegriffen, ja sogar Freude gezeigt hatte, er sagte:

Nein, du sollst eine muntere und frische Cousine sein, und dann brauchst du nicht abzureisen.

Doch, jetzt werde ich abreisen, sagte sie und ging an ihm vorbei die Treppe hinunter.

Er folgte ihr nach.

Dann kam der Hotelbursche zu mir heraus, und wir gingen zusammen hinunter. Der letzte Koffer war leichter als die anderen, ich sagte, er könne ihn wohl allein hinauftragen und gab vor, mir die Hand verstaucht zu haben. Ich half ihm noch, den Koffer auf den Rücken zu laden und ging heim. Jetzt konnte ich am nächsten Tag abreisen.

Gegen Abend aber war auch Grindhusen verabschiedet worden. Der Ingenieur hatte einen Boten nach ihm gesandt und ihm vorgeworfen, daß er nichts täte, sondern nur in der Stadt herumlungerte und tränke; er habe keine Verwendung mehr für ihn.

Ich dachte: Merkwürdig rasch hat der Ingenieur schon wieder neuen Mut gefaßt. Er war so jung, er hatte jemand gebraucht, der ihn tröstete und ihm zum Gefallen schwätzte; jetzt aber wollte eine gewisse lästige Cousine abreisen, und er brauchte keinen Trost mehr. Tat ihm meine alte Seele unrecht?

Grindhusen war sehr niedergeschlagen. Er hatte geglaubt, den Sommer über hier in der Stadt umhergehen und die rechte Hand des Flößereiinspektors sein zu können, nun aber war nichts daraus geworden. Nein, der Flößereiinspektor war nicht mehr wie ein Vater für ihn, und Grindhusen ertrug seine Enttäuschung sehr schwer. Bei der Abrechnung hatte der Inspektor die beiden Zweikronenstücke, die er ihm gegeben hatte, abziehen wollen, indem er behauptete, daß sie nur als Vorschuß gedacht wären. Grindhusen setzte sich in unsere Stube, erzählte dies und fügte hinzu, daß der Inspektor sowieso schon erbärmlich genug zahle. Da brach einer in Gelächter aus und fragte:

Aber tat er das wirklich? So weit kam es doch wohl nicht?

Nein, antwortete Grindhusen, mehr als das eine Geldstück wagte er nicht abzuziehen.

Da wurde das Gelächter noch größer, und einer fragte Grindhusen:

Welche zwei Kronen hat er dir nun abgezogen, die ersten oder die zweiten? Hahahaha, das ist das Lustigste, was ich je gehört habe!

Grindhusen aber lachte nicht, sondern grämte sich immer mehr. Was sollte er jetzt anfangen? Die Ernteleute waren schon alle gedungen, und da stand er nun! Er fragte mich, wohin ich reise, und als ich es ihm erzählte, bat er mich, bei Kapitän Falkenberg ein gutes Wort für ihn einzulegen, vielleicht könne er ihm den Sommer über Arbeit geben. Er wollte solange in der Stadt bleiben und auf einen Brief von mir warten.

Wohin aber käme Grindhusens Geld, wenn er in der Stadt bliebe? Deshalb nahm ich ihn sogleich mit mir und meinte, so sei es am besten. Er verstand sich ja unter anderem so gut aufs Anstreichen, mein Kamerad Grindhusen; hatte ich doch gesehen, wie schön er die Stube von Mutter Gunhild auf der Insel hergerichtet hatte! Vorläufig könnte er mir helfen. Und später fände sich schon ein Ausweg; bei der Feldarbeit könnte man ihn ja auf dem Kapitänshof den ganzen Sommer über zu allem möglichen verwenden.

*

Am sechzehnten Juni stand ich wieder auf Övrebö! Immer besser merke ich mir die Daten, teils weil ich älter geworden bin und sich bei mir ein seniles Interesse für Daten eingestellt hat, teils weil ich Arbeiter bin und meine Arbeitstage im Kopfe haben muß. Während aber der Alte umhergeht und seine Daten genau weiß, vergißt er unbekümmert wichtigere Dinge. Bis zu diesem Augenblick habe ich zu erzählen vergessen, daß der Brief von Kapitän Falkenberg an Ingenieur Lassen adressiert gewesen war. Jawohl. Und das war mir sofort bedeutungsvoll vorgekommen. Der Kapitän hatte sich also danach erkundigt, bei wem ich arbeitete. Ich dachte damals im stillen: vielleicht weiß der Kapitän auch Bescheid darüber, wer sonst noch im Sommer beim Ingenieur Lassen gewesen ist!

Der Kapitän war noch nicht vom Übungsplätze zurückgekehrt, in einer Woche sollte er kommen; aber Grindhusen wurde trotzdem gut aufgenommen. Der Knecht Nils war sehr zufrieden, weil ich einen Kameraden mitgebracht hatte, und wollte ihn mir nicht als Hilfe beim Malen und Anstreichen überlassen, sondern ihn auf eigene Verantwortung auf die Kartoffel- und Rübenfelder schicken. Oh, es gab eine Menge Arbeit mit dem Häufeln und Auslichten. Außerdem war Nils mitten in der Heuernte.

Immer noch war er der gleiche Landmann wie früher. Bei der ersten Arbeitspause, während die Pferde fraßen, nahm er mich aufs Feld hinaus und zeigte mir Acker und Wiesen. Alles stand schön; da wir aber einen späten Frühling gehabt hatten, war das Lieschgras noch nicht so recht gewachsen, und der Klee setzte eben erst Blüten an. Beim letzten Regen nun war ein Teil des ersten Grases zu Boden gedrückt worden und hatte sich nicht wieder aufrichten können, so daß der Knecht es gleich mit der Maschine abmähen mußte.

Durch wogende Wiesen und Äcker gingen wir wieder heim, es flüsterte im Winterroggen und in der dicken, sechszeiligen Gerste, und Nils entsann sich noch aus seiner Amtsschulzeit des unvergleichlichen Verses von Björnson:

Wie ein Rauschen durchs Korn am Sommertag –

Nein – jetzt muß ich die Pferde wieder einspannen, sagte Nils und machte lange Schritte. Dann deutete er zum letztenmal über die Felder hinaus: Oh, was für eine Ernte das geben wird, wenn wir alles gut einbringen!

So kam Grindhusen also zur Feldarbeit, und ich begann mit dem Anstreichen. Zuerst nahm ich die Scheune vor und alles, was rot werden sollte, später grundierte ich die Flaggenstange und das Lusthaus im Syringenwäldchen mit Öl. Mit dem Hauptgebäude wollte ich bis zuletzt warten. Dies war im guten, alten Richterhausstil erbaut, mit schweren, reichen Sparren und einem geschnitzten Mäander über der Haupttür. Das Gebäude war jetzt gelb, und es war neue gelbe Farbe dafür bestellt worden, ich aber nahm mir vor, diese Farbe auf eigene Faust zurückzuschicken und sie gegen eine andere umzutauschen. Das Haus mußte meiner Meinung nach steingrau, und die Rahmen, Windbretter und Türen daran mußten weiß werden. Doch das sollte der Kapitän selbst bestimmen.

Obwohl nun alle Menschen hier so ordentlich waren, wie sie nur sein konnten, die Köchin ein mildes Regiment führte und Ragnhild noch ebenso blankäugig war wie früher, vermißte doch ein jedes die Herrschaft. Nur Grindhusen, der gute Mann, vermißte nichts. Als er ordentliche Arbeit und gutes Essen bekam, wurde er in wenigen Tagen dick und zufrieden. Sein einziger Kummer war jetzt, ob der Kapitän, wenn er zurückkehrte, ihn entlassen würde.

Aber nein, Grindhusen durfte bleiben.

 

9

Der Kapitän kam heim.

Ich war gerade dabei, die Scheune zum zweiten Mal zu streichen. Als ich seine Stimme hörte, stieg ich von der Leiter herunter. Er hieß mich auf dem Hof wieder willkommen.

Na, du bist ja ohne deinen Lohn abgereist! sagte er. Und ich hatte den Eindruck, daß er mich mißtrauisch ansehe, als er fragte: Warum denn?

Ich erwiderte kurz und sachlich, ich hätte in keiner Weise daran gedacht, dem Herrn Kapitän gegenüber als Wohltäter aufzutreten. Mein Geld sei ja in guten Händen.

Da klärte sich sein Gesicht auf, und er sagte:

Nein, nein, natürlich. Ja, es ist wirklich gut, daß du gekommen bist. Die Flaggenstange werden wir wohl weiß streichen müssen?

Ich wagte nicht gleich zu sagen, was ich alles weiß streichen wollte, sondern antwortete nur:

Ja. Und ich habe auch schon weiße Farbe kommen lassen.

So? Das ist schön. – Du hast einen Kameraden mitgebracht, wie ich höre?

Ja. Es kommt darauf an, was der Herr Kapitän dazu sagt?

Er kann bleiben. Nils hat ihn ja bereits aufs Feld geschickt. Ihr macht ja ohnedies alle miteinander, was ihr wollt, fügte er als Scherz hinzu. Du bist seitdem bei der Flößerei gewesen?

Ja.

Das war wohl nichts für dich? – Aber als fürchte er, es könne scheinen, daß er mich über meine Arbeit beim Ingenieur ausfrage, schlug er plötzlich um und sagte: Wann fängst du mit dem Hauptgebäude an?

Ich dachte, heute nachmittag. Ich muß die Farbe erst da und dort abkratzen.

Jawohl. Nagle auch die Verschalung fest, wo sie sich gelöst hat. Warst du schon auf den Feldern draußen?

Ja.

Schön steht es. Ihr habt tüchtig geschafft heuer im Frühjahr. Nun könnte es den höher gelegenen Feldern nicht schaden, wenn Regen käme.

Grindhusen und ich sind über weite Strecken gekommen, die den Regen nötiger haben als die Felder des Herrn Kapitäns. Hier ist ja noch hoch oben an den Abhängen Lehmgrund.

Ja, das ist wahr. Woher weißt du das übrigens?

Ich sah mich im Frühjahr hier ein wenig um, entgegnete ich. Und an einzelnen Stellen grub ich auch etwas nach. Ich dachte mir, der Herr Kapitän werde früher oder später eine Wasserleitung zum Hof herunterlegen wollen, und suchte nach einer Quelle.

Eine Wasserleitung? Ja, daran habe ich wohl einmal gedacht, aber – Ja, vor einigen Jahren habe ich mich auch schon deshalb umgesehen. Aber alles auf einmal konnte ich nicht machen, und immer wieder kam etwas dazwischen. Und jetzt im Herbst habe ich andere Verwendung für das Geld.

Einen Augenblick legte sich eine Furche zwischen seine Brauen, er stand da, sah zu Boden und dachte nach.

Na, mit dem Tausend Dutzend Stämmen werde ich es schaffen und vielleicht noch etwas übrigbehalten! sagte er plötzlich. Eine Wasserleitung? Sie müßte ins Haus und in die Wirtschaftsgebäude führen. Ein ganzes Netz.

Aber Sie brauchen keine Felsen zu sprengen.

So? Ja, ja, wir werden sehen. Was ich sagen wollte, hat es dir in der Stadt gefallen? Es ist ja keine größere Stadt, aber es sind doch viele Menschen dort, und manchmal kommt mit dem Zug auch ein Fremder an.

Ja, dachte ich, er weiß gut, wer heuer im Sommer zum Ingenieur Lassen gekommen ist! Ich antwortete der Wahrheit gemäß, daß ich nicht besonders gern in der Stadt gewesen sei.

So. Nicht?

Und als gäbe ihm das zu denken, starrte er geradeaus und begann leise vor sich hin zu pfeifen. Dann ging er.

Der Kapitän war guter Laune und mitteilsamer gewesen als jemals; als er ging, nickte er. Nun war er wieder wie früher, rasch und bestimmt, wieder auf seinen Vorteil bedacht, nüchtern wie Wasser. Ich selbst wurde davon ganz aufgemuntert. Er war kein verkommener Kerl. Eine Zeitlang hatte er der Lustigkeit und Torheit die Tür geöffnet; aber ein erster ernsthafter Vorsatz konnte dem ein Ende machen. Im Wasser sieht ein Ruder wie gebrochen aus, und doch ist es ganz.

*

Regen kam, und ich mußte mit dem Anstreichen aufhören. Nils war so glücklich gewesen, das gemähte Heu unter Dach zu bringen. Jetzt gingen wir alle, Männer wie Frauen, gemeinsam zum Kartoffelhäufeln.

Unterdessen hielt sich der Kapitän zu Hause auf, er war allein und schlug in seiner Langeweile dann und wann einen Ton auf dem Flügel seiner Frau an. Manchmal kam er zu uns auf das Feld hinaus und ließ sich tropfnaß regnen. Das ist jetzt ein herrliches Wetter für die Felder! konnte er sagen, das verspricht heuer ein Kronjahr zu werden! Aber wenn er wieder heimging, kehrte er nur zu sich selbst und zur Einsamkeit zurück. Nils, der Knecht, sagte: Wir anderen haben es bester als er!

So häufelten wir die Kartoffeln, und als wir damit fertig waren, gingen wir an die Rüben. Und als wir auch mit diesen fertig waren, begann der Regen nachzulassen. Wie auf Wunsch, ein Kronjahr! Sowohl Nils wie ich waren so stolz und zufrieden, als wären wir die Besitzer von Övrebö.

Und nun wurde es ernst mit der Heuernte, auch die Mädchen waren draußen, gingen hinter der Maschine her und breiteten das Gras aus, und Grindhusen mußte überall dort mit der Sense mähen, wo die Maschine nicht hinkommen konnte. Ich aber strich das Hauptgebäude mit steingrauer Farbe an. Der Kapitän kam und fragte:

Was für eine Farbe benutzt du da?

Was sollte ich antworten! Ein wenig feig war ich, aber vor allem hatte ich Angst, der Kapitän würde mir geradeheraus verbieten, das Haus grau zu streichen. So sagte ich:

Ach, das ist nur so eine Farbe – ich weiß nicht – es ist die gleiche Farbe, wie wir sie zum Grundieren benutzen –

So hatte ich auf jeden Fall noch Spielraum, der Kapitän sagte nichts mehr.

Als ich das Hauptgebäude grau und Türen und Windbretter weiß gestrichen hatte, nahm ich das Lusthaus in Angriff und strich auch dieses genau so an. Aber es entstand eine häßliche Farbe, das Gelb schlug noch durch und machte die Häuser fahl. Ich legte die Flaggenstange um und malte sie weiß. Dann ging ich wieder zu Nils aufs Feld und half einige Tage bei der Heuernte. Es war nun schon August geworden.

Als das Hauptgebäude an der Reihe war, wollte ich so früh am Morgen beginnen, daß ich mit dem Anstrich schon ein gutes Stück weit vorgeschritten wäre, wenn der Kapitän aufstände – sozusagen unwiderruflich weit! Ich begann frühmorgens um drei Uhr, es lag Tau, und ich mußte die Wände mit einem Sack abreiben. Ich arbeitete bis vier Uhr, trank Kaffee und arbeitete wieder bis acht Uhr. Um diese Zeit pflegte der Kapitän aufzustehen. Da stahl ich mich weg und half Nils eine Stunde lang. Ich war mit dem Anstreichen so weit gekommen, wie ich wollte, und schlich mich weg, dem Kapitän Zeit zu lassen, sich über meine steingraue Farbe zu beruhigen, falls er am Morgen noch ein wenig verdrießlich sein sollte.

Nach dem Frühstück stieg ich wieder auf die Leiter, malte und war fleißig und tat unschuldig. Dann kam der Kapitän. Streichst du noch einmal mit Grau? fragte er herauf.

Guten Morgen. Ja? Aber ich weiß nicht –

Ja zum Teufel, was soll denn das? Komm herunter!

Ich stieg hinunter. Aber ich war durchaus nicht mehr schüchtern, ich hatte mir ein paar Worte ausgedacht, die, wenn der Augenblick kam, vielleicht wirken könnten. Oder sollten mich meine Wahrnehmungen irregeführt haben?

Zunächst versuchte ich geltend zu machen, daß man auch das zweitemal mit der gleichen Farbe malen könnte, da aber unterbrach mich der Kapitän und sagte:

Unsinn! Gelb auf dieses Grau hier, da wird alles miteinander dreckig, begreifst du das nicht?

Dann könnten wir vielleicht zweimal mit Gelb überstreichen?

Vier Lagen – nein. Und das viele Zinkweiß, das du jetzt verschwendest! Zinkweiß ist viel teurer als Ocker.

Damit war er im Recht, und die ganze Zeit hatte ich diesen Einwand befürchtet. Ich erwiderte gerade heraus:

Sie sollten mich das Haus grau anstreichen lassen, Herr Kapitän.

So? fragte er erstaunt.

Wegen des Hauses selbst. Und wegen seiner Lage, mit den grünen Wäldern dahinter. Nein, ich weiß nicht, aber das Haus hat einen Stil –

Den grauen Stil?

Ungeduldig ging er einige Schritte weg und kam wieder.

Da tat ich noch unschuldiger als zuvor, – wahrscheinlich kam mir Hilfe von oben und brachte mich auf einen Gedanken! Ich sagte:

Jetzt erinnere ich mich! Die ganze Zeit mußte ich mir das Hauptgebäude so grau wie einen Herrenhof vorstellen, seit einmal – Von der gnädigen Frau habe ich das.

Ich beobachtete ihn, ein ordentlicher Stoß durchzuckte ihn, und eine Sekunde lang sah er mich groß an; dann nahm er das Taschentuch heraus und fuhr sich über die Augen, als sei ihm etwas hineingeflogen.

So? Hat sie das gesagt?

Ja, ich glaube mich bestimmt daran zu erinnern. Es ist lange her, aber –

Ach, das ist Unsinn! brach er ab und drehte sich um. Ich hörte ihn im Hof sich einmal laut räuspern.

Einige Zeit verging, ich stand da und wußte nicht, was ich anfangen sollte. Mit dem Anstreichen fortzufahren und den Kapitän noch ärgerlicher zu machen, wagte ich doch nicht. Als ich eine Stunde lang im Schuppen Brennholz gehackt hatte und wieder zur Leiter zurückging, streckte der Kapitän den Kopf zu einem offenen Fenster im ersten Stock heraus und rief herunter:

Jetzt kannst du auch ebensogut weitermachen, da du schon einmal so weit gekommen bist. So etwas ist mir doch noch nicht vorgekommen!

Dann warf er das Fenster heftig zu, obwohl es vorher offen gestanden hatte.

Und ich strich an.

Eine Woche verging, ich hörte auf zu malen und arbeitete beim Heuen mit. Grindhusen war zum Kartoffelhäufeln und Heurechen gut zu gebrauchen, zum Ausladen jedoch taugte er nicht viel. Nils, der Knecht, aber war mit Feuereifer bei der Arbeit.

Während ich das Hauptgebäude zum drittenmal anstrich und die feine graue Farbe zusammen mit dem weißgestrichenen Rahmenwerk den Hof zu einem Herrschaftssitze machte, kam der Kapitän eines Nachmittags den Weg heraufgegangen. Eine Weile sah er mir zu, dann zog er das Taschentuch heraus, als sei er sehr von der Hitze geplagt, und sagte:

Ja, da du nun so weit damit gekommen bist, wollen wir es dabei lassen. Ich muß übrigens gestehen, daß sie keinen schlechten Geschmack hatte, als sie das sagte. Aber das ist ja alles Unsinn. Hm.

Ich antwortete nicht.

Dann wischte sich der Kapitän wieder mit dem Taschentuch ab und fuhr fort:

Das war heute ein warmer Tag, puh. Was ich sagen wollte, – nein, es wird übrigens nicht häßlich, gar nicht. Sie hatte also doch recht damit – ich meine, du hast die richtige Farbe genommen. Ich sah es jetzt vom Feld aus und fand, daß es sich geradezu schön ausnimmt. Außerdem bist du nun auch schon zu weit gekommen.

Ich bin der gleichen Ansicht wie der Herr Kapitän, sagte ich. Es schmückt das Haus.

Ja, es schmückt das Haus gewissermaßen. Hat sie das vom Walde auch gesagt? Ich meine die gnädige Frau. Ob sie das von der Lage auch gesagt hat?

Es ist so lange her, aber ich glaube sicher –

Na, es ist ja gleich. Ich muß sagen, ich hatte nicht gedacht, daß es so werden könnte – so ordentlich. Aber du hast wohl nicht genug weiße Farbe?

Hm. Doch. Ich habe die gelbe umgetauscht.

Da lächelte der Kapitän, schüttelte den Kopf und ging.

O nein, meine Wahrnehmungen hatten mich nicht irregeführt.

Dann nahm die Heuernte bis zum Schluß meine ganze Zeit in Anspruch, als Gegenleistung half mir Nils an den Abenden und strich das Lusthaus an. Selbst Grindhusen packte mit an und nahm einen Pinsel. Er sei weiter kein Maler, meinte er, durchaus nicht; aber eine Wand anstreichen, das könnte man ihm schon anvertrauen. Oh, Grindhusen war gar kein kläglicher Kerl mehr.

Und schließlich standen die Häuser in ihrem neuen Putz fertig da und waren nicht wieder zu erkennen. Nachdem wir auch im Syringenwäldchen und in dem kleinen Park ein wenig aufgeräumt und gesäubert hatten, war Övrebö ein anderer Hof. Der Kapitän drückte uns seinen besonderen Dank aus. Als wir mit der Roggenernte begannen, kam auch der Herbstregen; aber wir hörten nicht auf zu mähen, und dazwischen gab es doch auch manchmal Sonne. Wir setzten alles auf Heinzen. Und große Äcker mit dickem, vollem Roggen und dazu weite Äcker mit Gerste und Hafer begannen erst noch, zu reifen. Wir arbeiteten in einer reichen Landschaft. Der Saatklee hatte schon Samen angesetzt, aber die Rüben waren nicht groß. Die Wurzeln wollen nicht dick werden, meinte Nils.

Der Kapitän ließ mich öfters die Post fortbringen und holen, und eines Tages war ein Brief von ihm an seine Frau dabei. Er hatte mir mehrere Briefe auf einmal ausgehändigt, der an seine Frau lag in der Mitte; er war an ihre Mutter in Kristianssand adressiert. Als ich am Abend mit der Post wieder heimkam, sagte der Kapitän als erstes: Hast du die Briefe gut abgeliefert? Ja, antwortete ich.

Einige Zeit verging. Dann wollte der Kapitän, daß ich an regnerischen Tagen, wenn wir auf den Feldern nicht viel ausrichten konnten, innen im Haus verschiedenes anstreichen sollte. Er zeigte mir die Lackfarben, die er angeschafft hatte, und sagte:

Da ist vor allem die Treppe. Sie soll weiß werden, ich habe einen dunkelroten Läufer dazu bestellt. Dann sind noch einige Türen und Fenster da. Aber es eilt eigentlich mit dieser Arbeit, ich habe es allzulange vernachlässigt.

Dies war ohne Zweifel ein guter Einfall von ihm. Viele Jahre hatte er in Saus und Braus gelebt, ohne sich um das Aussehen seines Hauses zu kümmern; jetzt hatte er wieder einen Blick dafür bekommen, es war eine Art Erwachen. Er führte mich oben und unten umher und zeigte mir, was gestrichen werden sollte. Auf dieser Wanderung sah ich Bilder und Büsten und in der Stube einen großen Löwen aus Marmor, sowie Gemälde von Askevold und dem großen Dahl. Es waren wohl ererbte Sachen. Das Zimmer der gnädigen Frau im ersten Stock sah wie bewohnt aus, allerhand Kleinigkeiten lagen immer noch an ihrem Platz, und an den Haken hingen Kleider. Das ganze Haus war alt und vornehm, mit Stuckwerk an den Decken. Die Wände waren teilweise kostbar tapeziert. Der Anstrich aber war überall vergilbt oder abgefallen. Die Treppe war breit und behäbig, mit Absätzen und Geländer aus Mahagoni.

Während ich mit dem Malen beschäftigt war, kam der Kapitän eines Tages und sagte:

Ja, jetzt ist ja freilich Getreideernte, aber mit dem Anstreichen eilt es auch, meine Frau kommt bald. Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Es wäre nett, wenn auch hier alles fertig werden könnte.

So hat er wohl die gnädige Frau in dem Brief zurückgerufen! dachte ich. Aber weiter dachte ich: es ist eine ganze Reihe von Tagen her, seit er geschrieben hat, und ich bin seitdem auf der Poststation gewesen, aber von der gnädigen Frau ist keine Antwort gekommen, ich kenne ihre Schrift noch von vor sechs Jahren. Der Kapitän glaubt wohl, wenn er sagt: Komm! – dann kommt sie auch gleich. Na, vielleicht hat er recht, und sie macht sich nur noch reisefertig. Was weiß ich!

So große Eile hatte es mit dem Anstrich, daß der Kapitän persönlich zur Rodung hinaufging und Lars zur Hilfe auf den Feldern an meiner Statt holte. Nils, der Knecht, war allerdings mit diesem Tausch nicht zufrieden: dem guten Lars Falkenberg fiel es so schwer, hier, wo er selbst Großknecht gewesen war, einem Befehl zu gehorchen.

Mit dem Malen aber hätte es nicht geeilt. Der Kapitän sandte den Jungen ein- und zweimal nach der Post. Ich lauerte ihm auf, doch nie hatte er einen Brief von Frau Falkenberg. Nein, sie würde möglicherweise überhaupt nicht kommen, so schlimm stand es vielleicht. Oder sie fühlte sich unwürdig und war zu störrisch und stolz, mit Ja zu antworten, wenn der Mann rief. Vielleicht verhielt es sich so.

Es wurde aber alles angestrichen, die Farbe trocknete, der rote Läufer kam, wurde mit Messingstangen auf der Treppe befestigt, und diese sah nun wunderschön aus. Und ebenso waren die Fenster und Türen oben in den Zimmern ganz wunderschön geworden; aber die gnädige Frau kam nicht. Nein.

Wir ernteten den Roggen und begannen zeitig die Gerste zu schneiden. Aber die gnädige Frau kam nicht. Der Kapitän ging umher, starrte vor sich hin und pfiff. Er sah mager aus. Kam er hie und da zu uns auf die Felder, folgte er uns lange bei der Arbeit und sah uns zu, ohne ein Wort zu sagen. Und wenn Nils ihn nach etwas fragte, schien er mit seinen Gedanken von weither zurückzukommen, antwortete aber sogleich und verständig. Er war nicht niedergebeugt, und sein mageres Aussehen kam vielleicht daher, daß Nils ihm das Haar geschnitten hatte.

Dann wurde wieder ich nach der Post gesandt, und jetzt kam ein Brief von Frau Falkenberg. Er trug den Stempel von Kristianssand. Ich eilte mit dem Brief nach Hause, legte ihn mitten unter die Postsachen und lieferte diese dem Kapitän auf dem Hof draußen ab. Danke! sagte er nur und sah nicht gespannt aus, er hatte sich daran gewöhnt, enttäuscht zu werden. Haben die Nachbarn schon eingefahren? Wie ist der Weg? fragte er mich, indem er Brief für Brief ansah. Während ich ihm über den Weg und die Nachbarn Auskunft gab, kam er zu dem Brief seiner Frau, da klappte er alle Postsachen zusammen und begann, mich noch genauer über den Weg und die Ernte der Leute auszufragen. Er hielt sich in Zucht und wollte keine Bewegung zeigen. Als er hineinging, sagte er noch einmal danke und nickte.

Am nächsten Tag wusch und schmierte der Kapitän selbst den Landauer. Aber zwei Tage vergingen, ehe er ihn brauchte. Eines Abends, als wir Mahlzeit hielten, kam der Kapitän in die Küche und sagte, es müsse morgen ein Mann zur Station mitfahren. Er hätte selbst kutschieren können, da er aber die gnädige Frau, die wieder vom Ausland heimkehre, abholen solle, so müsse er den Landauer nehmen, für den Fall, daß es regnen sollte. Der Knecht Nils stellte schließlich fest, daß er am ehesten Grindhusen als Kutscher für den Kapitän entbehren könne.

Wir Zurückbleibenden arbeiteten auf dem Feld. Es war so viel zu tun, außer Roggen und Gerste, die noch nicht unter Dach waren, mußten die Kartoffeln gehäufelt und die Rüben gelichtet werden. Doch sowohl die Stallmagd als auch Ragnhild halfen tüchtig mit, und sie waren beide jung und stürmisch.

Es hätte lustig sein können, wieder mit meinem alten Freund Lars Falkenberg zusammen zu arbeiten, da aber er und Nils sich so schlecht vertrugen, kam keine gute Laune auf, eher herrschte trübes Schweigen auf den Feldern. Lars schien seinen Widerwillen gegen mich, vom letztenmal her, ein wenig überwunden zu haben, aber er war kurz angebunden und mürrisch gegen uns alle, des Knechtes wegen.

Schließlich bestimmte Nils, daß Lars die beiden Braunen nehmen und mit dem Herbstpflügen beginnen solle. Da fühlte Lars sich gekränkt und sagte eigensinnig Nein. Er habe noch nie gehört, daß man mit dem Pflügen beginne, bevor man eingeerntet habe! Nein, sagte Nils auch, aber wir werden schon ein halbes Tausend Maal für dich finden, wo ganz abgeerntet ist.

Da entstand wieder ein Wortgefecht. Lars fand, daß auf Övrebö alles so unerquicklich geworden sei. In früheren Tagen habe er seine Arbeit getan und danach der Herrschaft Volkslieder vorgesungen, jetzt aber gäbe es hier nur noch Widerwärtigkeiten und Schweinerei. Meinst du das Herbstpflügen? Na, schönen Dank! Das verstehst du nicht besser, sagte Nils, du weißt nicht, daß inan heutzutage zwischen Heinzen und Getreidegarben pflügt? Nein, das verstehe ich allerdings nicht, erwiderte Lars und verdrehte die Augen; aber wer das versteht, das bist du. So ein Geißbock!

Schließlich endete es doch damit, daß Lars auf die Dauer nicht wagte, dem Knecht den Gehorsam zu verweigern, er entschloß sich, zu pflügen, bis der Kapitän zurückkäme.

Mir fiel ein, daß ich bei Emma oben noch ein wenig Wäsche hatte. Aber ich wollte sie vorläufig, solange Lars so wenig umgänglich war, doch lieber nicht von der Rodung holen.

 

10

Am nächsten Tag kam der Kapitän mit seiner Frau an. Nils und ich hatten miteinander beraten, ob wir die Flagge hissen sollten; ich wagte nicht, es zu entscheiden, aber der Knecht hatte weniger Bedenken und zog sie auf. Groß und schön wehte sie an der weißen Stange.

Ich war in der Nähe, als die Herrschaften aus dem Landauer stiegen. Die gnädige Frau ging weit in den Hof hinein, betrachtete die Häuser und schlug die Hände zusammen. Ich hörte auch einige laute, erstaunte Worte von ihr, da sie in den Gang kam, das war wohl, als sie die Treppe mit dem roten Läufer erblickte.

Kaum hatte Grindhusen die Pferde in den Stall gebracht, kam er zu mir, überwältigt von Erstaunen; – er zog mich auf die Seite:

Das kann unmöglich in Ordnung sein, das ist nicht Frau Falkenberg. Ist der Kapitän mit ihr verheiratet?

Doch, Grindhusen, der Kapitän ist mit seiner Frau verheiratet. Warum fragst du danach?

Aber das ist ja das Geschwisterkind. Du kannst mir den Kopf abreißen, wenn das nicht die gleiche Frau ist. Das ist das Geschwisterkind des Flößereiinspektors.

Nein, du Grindhusen! Aber es ist vielleicht die Schwester.

Den Kopf kannst du mir abreißen! Ich habe sie doch oft beim Inspektor gesehen.

Ja, ja, sie kann deshalb doch auch sein Geschwisterkind sein. Was geht uns das an?

Ich erkannte sie sogleich, als sie aus dem Zuge stieg. Sie sah mich an, und da gab es auch ihr einen Ruck. Lange Zeit stand sie da und atmete heftig. Komm mir du nicht daher und erzähle mir – Aber dann begreife ich nicht – Ist sie von hier?

War die gnädige Frau froh oder niedergeschlagen?

Das weiß ich nicht. Ja, das war sie gewiß! Grindhusen schüttelte den Kopf und konnte nicht verstehen, daß dies die gnädige Frau sein sollte. Du hast sie doch wohl auch beim Inspektor gesehen? meinte er, erkennst du sie nicht wieder?

War sie froh?

Froh? Ach ja, das war sie wohl. Ich weiß es nicht. Sie sprachen so merkwürdiges Zeug im Wagen, begannen schon auf der Station so sonderbar zu reden. Manchmal verstand ich eine Zeitlang gar nichts. Nun kommt es darauf an, ob ich die richtigen Worte finde, sagte sie, aber ich bitte dich so innig für alles um Verzeihung. Ja, das tue auch ich, antwortete er darauf. Hast du schon so etwas gehört! Und sicher weinten sie alle beide im Wagen. Ich habe die Häuser streichen und alles ein bißchen richten lassen, erzählte der Kapitän. Hast du das? fragte sie. Dann sprachen sie über alle ihre Sachen, und daß sie noch unberührt an ihrem Platze lägen. Ich weiß nicht, was für Sachen er meinte. Ich glaube behaupten zu dürfen, daß sie noch alle auf dem gleichen Platze liegen, sagte er. Hast du so etwas gehört! Deine Sachen, sagte er. Und der Kapitän sprach von einer, die er Elisabet nannte, versicherte, daß sie nicht in seinen Gedanken wäre und auch niemals in seinen Gedanken gewesen sei. So klang es. Da weinte sie heftig und war ganz außer sich. Aber sie sprach nicht davon, daß sie im Ausland gewesen wäre, wie der Kapitän erzählt hatte. O nein, die kommt schon vom Inspektor!

Ich machte mir Gedanken. Es war wohl ungeschickt von mir gewesen, Grindhusen mit nach Övrebö zu nehmen. Nun war es geschehen, aber ich bereute es. Und das sagte ich ihm auch kurz und bündig. Die gnädige Frau hier auf dem Hof hat noch jedem das Beste getan, soweit es in ihrer Macht lag, und der Kapitän ebenso, merk dir das. Und noch an dem gleichen Tag, an dem du hier klatschen und ratschen willst, wirst du hinausgeprügelt. Ich glaube, du solltest es dir überlegen! Hier hast du einen guten Platz, mit gutem Lohn und gutem Essen. Merk dir das. Und halt deinen Mund!

Ja, du hast recht, antwortete Grindhusen ausweichend. Ich behaupte ja auch nichts weiter, ich sage nur, sie gleicht dem Geschwisterkind auf ein Haar. Habe ich etwas anderes gesagt? So ein Mensch ist mir auch noch nicht vorgekommen! Vielleicht ist ihr Haar sogar etwas heller als das des Geschwisterkindes, ich will also nicht behaupten, daß es das gleiche Haar ist. Und das habe ich niemals gesagt. Und wenn du wissen willst, was ich mir sofort dachte, so kann ich das wohl auch geradeheraus sagen. Ich dachte, daß sie zu gut dazu sei, das Geschwisterkind zu sein. Genau das dachte ich. Denn es wäre doch zu traurig gewesen, daß sie das Geschwisterkind eines solchen Mannes hätte sein sollen, und ich glaube nicht, daß irgend jemand in der Welt dies sein möchte. Nicht wegen des Geldes. Denn das weißt du ebensogut wie ich, daß wir beide ein Zweikronenstück verschmerzen können. Aber es war schäbig, mir erst das Geld in diese Hand zu drücken und es dann bei der Abrechnung wieder abzuziehen. Ja. Mehr sage ich nicht. Aber so wie du in der letzten Zeit bist, so etwas habe ich noch nie erlebt, kaum sagt man etwas, so fährst du auf einen los! Was habe ich denn gesagt? Er war so geizig, mir nur zwei Kronen am Tag zu geben, und dabei mußte ich mich noch selbst beköstigen, und bei jedem Ding feilschte er. Ja. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, aber genau das dachte ich mir, falls du es wissen willst –

Aber alles Geschwätz Grindhusens konnte es nicht verdecken, daß er Frau Falkenberg wiedererkannt hatte und seiner Sache sicher war.

*

Und jetzt war alles in Ordnung, die Herrschaft wieder daheim, helle Tage und eine reiche Ernte. Was konnten wir noch mehr verlangen!

Frau Falkenberg begrüßt mich freundlich und sagt:

Övrebö ist ja nicht mehr wiederzuerkennen, seit du alles so schön angestrichen hast. Der Kapitän freut sich so sehr darüber.

Sie schien ruhiger zu sein als damals, da ich sie zuletzt auf der Hoteltreppe in der Stadt gesehen hatte. Sie atmete durchaus nicht so erregt wie bei der Begegnung mit Grindhusen, als sie vor mir stand. Das kommt wohl davon, daß sie nichts dagegen hat, mich wiederzusehen! dachte ich mit Freude. Warum aber hatte sie ihre neue Gewohnheit, die Augen flackern zu lassen, noch nicht abgelegt? Das würde ich ihr sagen, wenn ich der Kapitän wäre. Übrigens hatte sie an den Schläfen einige komische, kleine Flecken bekommen, aber das tat nichts, sie war ebenso schön wie immer.

Leider aber habe nicht ich diese hübsche graue Farbe für die Häuser herausgefunden, fährt sie fort. Du hast dich getäuscht.

Dann verstehe ich nicht – Aber es ist gleich, auf jeden Fall entschied sich der Herr Kapitän dafür.

Die Treppe ist auch ganz wunderschön und ebenso die Zimmer oben. Sie sind doppelt so hell –

Es war wohl die gnädige Frau selbst, die noch einmal so hell und doppelt so gut sein wollte, das verstand ich schon. Sie glaubte, mir aus irgendeinem Grund diese Freundlichkeit schuldig zu sein, und ich dachte: Gut, jetzt aber ist es genug, laß es nun auf sich beruhen!

Es wird Herbst, der Jasmin duftet stark und unbändig im Syringenwäldchen, und das Laub auf den Höhenzügen ist schon lange gelb und rot. Niemand ist hier auf dem Hof, der sich nicht darüber freute, daß die gnädige Frau wieder heimgekommen ist, auch die Flagge tut das Ihre, es ist wie an einem Sonntag und die Mädchen haben frische Schürzen an.

Als es Abend wird, gehe ich die Steinstufen zum Syringenwäldchen hinunter und setze mich dort hin. Und der Jasmin überschüttet mich nach dem warmen Tag mit seinem Duft. Da kommt auch Nils herunter, er hat mich gesucht und sagt:

Jetzt sind keine Fremden mehr auf dem Hofe. Und jetzt ist auch kein Lärm mehr. Hast du noch einmal Lärm in den Nächten gehört, seit der Kapitän vom Übungsplatz zurück ist?

Nein.

Es ist nun volle zehn Wochen her. Was meinst du, kann ich dieses hier jetzt abtrennen? fragt Nils und deutet auf sein Abstinenzlerzeichen. Der Kapitän trinkt nicht mehr; die gnädige Frau ist nun auch daheim, und ich brauche nicht mehr umherzugehen und gegen irgendeines von ihnen unangenehm zu sein.

Dann reicht er mir sein Messer, und ich löse das Zeichen ab. Wir schwätzen eine Weile, die Landwirtschaft – die Landwirtschaft steckt ihm im Kopf: Ja, morgen abend haben wir wohl Gott sei Dank den größten Teil der Ernte unter Dach, sagt er. Dann säen wir den Winterroggen. Ist es nicht ganz merkwürdig, Lars war jahrelang hier und säte mit der Maschine und glaubte, das sei richtig. O nein, wir müssen mit der Hand säen.

Warum das?

Aber ein Gelände wie unseres! Schau den Nachbar an, vor drei Wochen säte er mit der Maschine, teilweise ist es aufgegangen, teilweise nicht! Die Maschine sät zu tief.

Nein, riech doch, wie der Jasmin heute abend duftet!

Ja. Mit der Gerste und dem Hafer sind wir jetzt in wenigen Tagen ein gutes Stück vorwärtsgekommen. Na, es ist wohl am besten, ins Bett zu gehen.

Nils erhebt sich, ich aber bleibe sitzen. Nils sieht nach dem Wetter aus und prophezeit einen klaren Morgen, dann spricht er davon, das gute Gras hier im Garten mähen zu lassen.

Bleibst du noch sitzen? fragt er plötzlich.

Ja? Warum? Nein, ich kann ja wohl auch gehen.

Nils macht einige Schritte, kommt aber wieder zurück und sagt:

Du solltest nicht mehr länger hier sitzen bleiben. Du solltest mit mir kommen.

Meinst du? sage ich und erhebe mich sogleich, ich verstehe, daß Nils nur hierher gekommen ist, mich fortzuholen. Und er hat eine Absicht dabei.

Hat er mich durchschaut? Was aber war zu durchschauen? Wußte ich selbst, warum ich in das Syringenwäldchen gegangen war? – Jetzt entsinne ich mich, daß ich damals auf dem Bauche lag und an einem Strohhalm kaute. In einem gewissen Zimmer im ersten Stock im Hauptgebäude brannte Licht, dorthin sah ich. Und das war alles.

Ich will nicht neugierig sein, aber was ist denn los? fragte ich Nils.

Nichts, antwortet er. Die Mädchen sagten, du lägest hier, und da ging ich herunter. Nein, was sollte auch los sein!

Dann haben wohl die Mädchen mich durchschaut, dachte ich mit Mißbehagen. Gewiß war es Ragnhild; dieses Teufelsmädchen hat ein so scharfes Mundwerk und hat wohl mehr gesagt, als der Knecht nun verraten will. Und wenn die gnädige Frau selbst mich gesehen hat! Vom Fenster aus!

Ich beschloß, für den Rest meines Lebens gleichgültig zu sein und kalt wie Eis.

*

Ragnhild hat es jetzt besser denn je. Der dicke Läufer auf der Treppe dämpft ihre Tritte. Sie kann jederzeit hinaufgehen und kann, wenn nötig, in einem Augenblick lautlos wieder im Gang unten sein.

Ich verstehe mich nicht mehr auf die gnädige Frau, sagte Ragnhild. Jetzt ist sie zurückgekommen und sollte froh und freundlich sein, aber sie weint und heult. Der Kapitän sagte heute zu ihr: Sei nun ein wenig vernünftig, Louise! Verzeihung, ich werde es nie mehr tun! antwortete die Gnädige und weinte, weil sie unvernünftig gewesen war. Aber daß sie es nie mehr tun würde, das hat sie jeden Tag gesagt, seit sie heimgekommen ist, aber dann hat sie es doch wieder getan. Die Arme, heute hatte sie solches Zahnweh, daß sie laut hinausweinte –

Geh jetzt und grab wieder Kartoffeln aus, Ragnhild! unterbricht Nils sie. Wir haben heute keine Zeit zum Schwätzen. So geht es wieder aufs Feld hinaus. Oh, wir haben viel zu tun! Der Knecht befürchtet, das Korn könnte auswachsen, lieber will er es ein wenig feucht einfahren. Gut! das aber hat zur Folge, daß wir einen großen Teil sofort dreschen und das Korn auf allen Böden der Wirtschaftsgebäude ausbreiten müssen. Sogar in der großen Gesindestube liegt eine Lage Getreide zum Trocknen. Haben wir sonst kein Eisen im Feuer? Doch, noch viele, viele, und alle glühen weiß. Es ist schlechtes Wetter eingetreten, und es kann noch schlimmer werden, Nils darf mit keiner Arbeit aussetzen. Wenn wir gedroschen haben, müssen wir das Stroh hacken und es in Kasten einlegen, sonst verdirbt es. Fertig? Keineswegs, noch immer glühen viele Eisen. Grindhusen und die Mädchen graben die Kartoffeln aus. Nils nützt nach ein paar trockenen Tagen die kostbare Zeit, um noch einige Dutzend Maal Roggenland anzusäen und läßt den Jungen darübereggen; Lars Falkenberg pflügt immer noch. Der gute Lars hat sich gefügt und ist ein großer Pflüger geworden, seit die Herrschaft heimgekommen ist; wenn der Acker zu weich ist, bricht er Wiesenland um. Nach einigen sonnigen und windigen Tagen pflügt er wieder die Felder.

Alles geht gleichmäßig und sicher vom Fleck. Nachmittags ist auch der Kapitän selbst auf dem Acker und hilft mit. Wir fahren das letzte Getreide ein.

Kapitän Falkenberg ist kein Kind bei der Arbeit, groß und stark ist er und hat außerdem eine geschickte Hand, er lädt den Hafer auf. Jetzt ist er schon bei der zweiten Fuhre.

Da kommt die gnädige Frau des Wegs gegangen und quer zu uns herüber. Ihre Augen sind blank, sie freut sich gewiß, ihren Mann bei dieser Arbeit zu sehen.

Gesegnete Arbeit! sagt sie.

Danke! antwortet der Kapitän.

So sagten wir im Nordland, fährt sie fort. Nicht wahr?

Jawohl.

Der Kapitän arbeitet, und da es in den Strohhalmen raschelt, hört er nicht immer, was sie sagt, sondern muß immer wieder fragen. Das macht beide ungeduldig.

Ist der Hafer reif? fragt sie.

Ja, Gott sei Dank.

Aber er ist wohl nicht trocken?

Ich höre nicht – was sagst du?

Nein, nichts.

Lange, stumme Mißstimmung. Der Kapitän versucht, hie und da ein lustiges Wort anzubringen, bekommt aber keine Antwort.

Soso, du bist hier draußen und inspizierst? sagt er dann zum Scherz. Bist du auf dem Kartoffelland drüben gewesen?

Nein, antwortet sie. Aber ich kann gern dort hingehen, wenn dir mein Anblick nicht zusagt.

Es wurde so ungemütlich. Ich habe wohl mit den Augenbrauen gezuckt, Unbehagen gezeigt. Plötzlich denke ich daran, daß ich aus gewissen Gründen so kalt wie Eis sein wollte, und runzle deshalb die Brauen noch mehr.

Die gnädige Frau sah mir ins Gesicht und fragte:

Warum machst du solche Grimassen?

Was – du machst Grimassen? sagt auch der Kapitän und zwingt sich, zu lachen.

Augenblicklich hängt sich seine Frau daran ein und sagt:

Siehst du, jetzt konntest du hören!

Nein, aber Louise! antwortet der Kapitän.

Da fließen ihre Augen über, einen Augenblick steht sie da, dann läuft sie vornübergebeugt hinter die Garben und schluchzt.

Der Kapitän geht ihr nach und fragt:

Was ist denn, Louise; kannst du es mir nicht sagen?

Nein, nichts! Geh fort! antwortet sie.

Ich höre, daß sie sich hinter den Garben erbricht, daß sie jammert und klagt: Ach Gott, hilf mir!

Meine Frau ist zur Zeit nicht recht wohl, aber wir werden beide nicht klug daraus, meint der Kapitän zu mir gewendet. In der Gemeinde soll eine Krankheit umgehen, antworte ich, um etwas zu sagen. Eine Art Herbstfieber. Ich hörte es auf der Post.

So? Da hörst du's, Louise, rief er, es ist eine Seuche in der Gemeinde, sicherlich ist das dein Übel.

Die gnädige Frau antwortete nicht.

Wir fuhren fort, den Hafer aufzuladen, und die gnädige Frau ging stets weiter und weiter weg, immer, wenn wir uns ihr wieder näherten; schließlich nahmen wir ihr das letzte Versteck, und sie stand da, wie ertappt. Sie war sehr bleich nach ihrer Übelkeit.

Soll ich dich heimbegleiten? fragte der Kapitän.

Nein, danke. Durchaus nicht! antwortete sie und begann zu gehen.

Und der Kapitän blieb bei uns und half bei der Arbeit bis zum Abend.

*

Aber so war ja doch wieder alles in Unordnung. O wie schwer war es für den Kapitän und seine Frau!

Und natürlich war dies nicht etwas, was man mit ein wenig gutem Willen von beiden Seiten wieder zurechtrücken konnte, wie alle gescheiten Leute sagen würden. Etwas Unüberwindliches war es, etwas von Grund auf Verwirrtes. Es endete damit, daß die gnädige Frau in ihrer Ehe meuterte und am Abend die Tür versperrte. Ragnhild hatte gehört, wie der Kapitän beleidigt durch die Türe sprach.

Heute abend aber, bevor sie zur Ruhe ging, hatte der Kapitän eine Unterredung mit seiner Frau auf ihrem Zimmer verlangt und auch gehabt, und es hatte eine neue Abrechnung gegeben. Gewiß war auf beiden Seiten der beste Wille vorhanden, alles wieder gutzumachen, aber es ging nicht, es war zu spät. Wir sitzen in der Küche und hören Ragnhild zu, sowohl Nils als auch ich. Niemals früher habe ich den Knecht so verzagt gesehen.

Geht es jetzt wieder schlecht aus, dann ist es vorbei, sagt er. Im Sommer habe ich mir gedacht, ob nicht die gnädige Frau eigentlich richtige Prügel verdiente. Aber ich begreife jetzt, daß es nur Verrücktheit ist. Hat sie gesagt, daß sie wieder ihres Weges gehen wolle?

Ja, das deutete sie an, antwortet Ragnhild und erzählt ungefähr so: Es begann damit, daß der Kapitän fragte, ob sie nicht glaube, diese Seuche bekommen zu haben. Darauf antwortete aber Frau Falkenberg, der Widerwille, den sie gegen ihn habe, sei wohl keine Seuche. – Hast du einen solchen Widerwillen gegen mich? – Ja, ich könnte gerade hinausschreien. Du hast den Fehler, so entsetzlich viel zu essen. – Ich? fragte der Kapitän. Ich weiß nicht, ob das gerade ein Fehler ist, das ist eine Eigenschaft, es gibt keine bestimmten Grenzen für den Hunger. – Aber wenn ich dich dabei so lange anschaue, muß ich hinausgehen und mich erbrechen. Deshalb erbreche ich mich. – Aber auf jeden Fall trinke ich nicht mehr so viel, sagte er, es ist also doch ein wenig besser als früher. – Nein, denke, es ist viel schlimmer als früher. – Da meinte der Kapitän: Geradeheraus gesagt, ich finde, daß du wohl ein wenig nachsichtig mit mir sein könntest, als Vergeltung dafür, daß ich – als Vergeltung für das, was du im Sommer getan hast. – Ja, du hast recht! antwortete die gnädige Frau und begann zu weinen. – Das frißt und nagt und zerrt an mir Tag und Nacht, aber ich habe jedenfalls nichts davon gesagt. – Nein, antwortete sie und weinte noch mehr. – Und ich war es auch, der dich bat, wieder zurückzukommen, sagte er. Da aber fand sie wohl, daß er ihr zuviel vorrechnete, sie weinte nicht mehr, sondern warf den Kopf in den Nacken und antwortete: Es wäre viel besser gewesen, du hättest mir gar nicht geschrieben, wenn du mich doch zu nichts anderem zurückholen wolltest! – Wozu wollte ich dich zurückholen? fragte er. Du tust, was du willst, jetzt wie früher, aber du kümmerst dich um nichts, du rührst nicht einmal deinen Flügel an; du gehst nur umher und bist schwierig zu behandeln, und nichts scheint dir gut genug zu sein. Und abends sperrst du die Tür vor mir zu. Ja, bitte schön, sperr sie nur zu! – Nein, du bist schwierig zu behandeln, das kann ich dir sagen, erwiderte sie. Nie lege ich mich nieder und nie stehe ich auf, ohne mit meinem ganzen Wesen darauf bedacht zu sein, daß du nicht an das im Sommer erinnert werden sollst. Du sprichst kein Wort davon, sagst du? Nein? O doch, mein Freund, es vergeht niemals lange Zeit, ohne daß du es mir an den Kopf wirfst. Eines Tages versprach ich mich und sagte: Hugo; was tatest du da? Du hättest mich wohl ein wenig streicheln können und mir darüber weghelfen, aber du hast nur das Gesicht verzogen und geantwortet: ich heiße nicht Hugo! Nein, ich wußte schon, daß du nicht Hugo heißt, und es war mir selbst schlimm genug, daß ich mich versprochen hatte. – Das ist es eben, entgegnete der Kapitän. Tut dir das mit diesem Hugo denn auch wirklich leid? – Ja, antwortete Frau Falkenberg, ich mache mir genug Kummer darüber. – Das finde ich nicht, du bist eigentlich noch ebenso obenauf. – Ja, und du? Hast du dir vielleicht keine Vorwürfe zu machen? – Noch heute stehen die Photographien von Hugo auf deinem Flügel, und du hast noch keine Anstalten gemacht, sie zu entfernen, obwohl ich dich nicht nur einmal, sondern ein halbes hundertmal habe verstehen lassen, wie lieb mir das wäre. Ja, geradezu gebettelt habe ich darum. – Ach, immer kommst du mit den Photographien! antwortete sie. – Ja, verstehe mich recht, wenn du sie jetzt auch entfernst, hat es doch keinen Wert mehr für mich, denn nun habe ich schon ein halbes hundertmal darum betteln müssen. Es hätte nur ein bißchen weniger Schamlosigkeit bewiesen, wenn du an dem gleichen Tag, an dem du zurückkamst, diese Bilder aus eigenem Antrieb verbrannt hättest. Statt dessen liegen in deinem Zimmer hier immer noch Bücher mit seinem Namen umher. Und das Taschentuch da ist mit seinen Buchstaben gezeichnet, wie ich sehe. – Das ist nur Eifersucht von dir, ich verstehe nicht, was so etwas zu sagen haben sollte, entgegnete die gnädige Frau. Ich kann ihn nicht vollkommen auslöschen, wie du möchtest, und auch Mama und Papa geben mir darin recht. Ich habe doch mit ihm gelebt und war mit ihm verheiratet. – Mit ihm verheiratet? – Ja, so nenne ich es. Nicht alle sehen so auf Hugo und mich wie du. – Da blieb der Kapitän eine lange Weile still sitzen und wiegte den Kopf hin und her. – Und übrigens ist alles deine eigene Schuld, fing Frau Falkenberg wieder an, du fuhrst damals mit Elisabet weg, obwohl ich zu dir kam und dich bat, zu Hause zu bleiben. Da geschah es. Und wir hatten am Abend viel getrunken, alles drehte sich vor meinen Augen. – Eine Zeitlang antwortete der Kapitän immer noch nichts, dann meinte er: Ja, es war falsch von mir, daß ich damals wegfuhr. – Ja, das war es, erwiderte die gnädige Frau und begann wieder zu weinen. Du wolltest auf nichts hören. Und immer wirfst du mir das mit Hugo an den Kopf, denkst aber nicht an das, was du selbst getan hast. – Der Unterschied ist nur, sagte der Kapitän, daß ich mit dieser Dame, an die du denkst, niemals zusammengelebt habe, niemals mit ihr verheiratet gewesen bin, wie du es nennst. – Frau Falkenberg seufzte nur auf. – Niemals! sagte der Kapitän und schlug mit der Hand auf den Tisch. Seine Frau zuckte heftig zusammen und sah ihn lange an. Dann aber verstehe ich nicht, weshalb du beständig an ihr hingst und mit ihr im Lusthaus warst und in allen Ecken standest? – Nein, du warst ja doch im Lusthaus, antwortete er. – Ja, immer bin ich es! erwiderte sie, und niemals du! – Daß ich Elisabet nachlief, geschah, geradeheraus gesagt, um dich wiederzugewinnen, antwortete der Kapitän. Du warst mir entglitten, und ich wollte dich wiedergewinnen. – Einen Augenblick dachte Frau Falkenberg darüber nach, dann sprang sie auf und schlang die Arme um ihn: Ja, aber dann hast du mich ja doch liebgehabt! Ich hatte geglaubt, es sei alles vorbei. Auch mir warst du seit vielen Jahren fremd geworden, erinnerst du dich? Das war alles so verkehrt. Ich glaubte nicht – ich wußte nicht – Nein, aber so hattest du mich ja also doch lieb! Aber Lieber, dann ist ja alles gut! – Setz dich wieder, sagte er. Nur ist jetzt eben etwas dazugekommen. – Etwas dazugekommen? – Siehst du wohl, jetzt hast du es vergessen. Darf ich dich nun fragen, ob es dir auch wirklich leid tut, daß etwas dazugekommen ist? – Da wurde Frau Falkenberg wieder ganz straff und sagte: Ach, du meinst Hugo. Das ist nun einmal geschehen. – Das ist keine Antwort auf meine Frage. – Ob es mir wirklich leid tut? Und du, bist denn du vollkommen frei von aller Schuld? – Da erhob sich der Kapitän und begann auf und ab zu gehen. – Das Schlimme ist, daß wir keine Kinder haben, sagte die gnädige Frau zu ihm. Ich habe keine Tochter, die ich lehren könnte, besser zu sein, als ich bin. – Darüber habe ich auch schon nachgedacht, antwortete der Kapitän, es kann sein, daß du recht hast! Und dann schritt er gerade auf sie zu und sagte: Eine arge Lawine ist da über uns hingegangen, Louise. Sollen wir beiden Überlebenden aber nicht anpacken und Steine und Stämme und Geröll und alles, was seit Jahren auf uns gelegen und uns begraben hat, wegräumen, um wieder frei atmen zu können! Du kannst ja doch noch eine Tochter haben! – Da stand die gnädige Frau auf und wollte etwas sagen, brachte es aber nicht heraus. Ja, sagte sie nur. Ja, sagte sie wieder. – Du bist nervös und müde, aber denk ein wenig darüber nach. Gute Nacht, Louise! – Gute Nacht! sagte sie.

 

11

Der Kapitän spielte bei Nils darauf an, daß er die ganze Waldarbeit vergeben oder die Stämme auf der Wurzel verkaufen wolle. Nils meinte, dem Kapitän sei es darum zu tun, nicht noch mehr fremde Menschen auf den Hof zu ziehen. Gewiß steht es wieder ebenso schlimm mit ihm und seiner Frau wie früher, sagte Nils.

Wir nehmen jetzt die Kartoffeln heraus, und da wir nun einmal so weit sind, brauchen wir nicht mehr so zu hetzen. Wir haben aber doch immer noch viel zu tun. Mit dem Pflügen sind wir im Rückstand, und sowohl Lars Falkenberg als auch ich pflügen jetzt Äcker und Wiesen um.

Nils, der Knecht, dieser seltsame Mensch, fand es wiederum so unerträglich auf Övrebö, daß er am liebsten seinen Platz aufgesagt hätte und abgereist wäre. Aber dann schämte er sich doch, den Dienst zu verlassen. Er hatte seine bestimmten Ehrbegriffe, seine von vielen Generationen ererbten Ehrbegriffe. Ein Bursche von einem großen Hof benimmt sich anders als ein Häuslerssohn. Und außerdem war er noch nicht lange genug hier. Övrebö war heruntergekommen gewesen, als er hier in Dienst trat, es erforderte viele Jahre, es wieder in die Höhe zu bringen. Und erst als er heuer mehr männliche Hilfe bekommen hatte, war es ihm möglich geworden, den Hof mit einigem Nutzen zu bewirtschaften. Von jetzt an konnte er aber auch die guten Früchte seiner Wirksamkeit sehen. Welch ein Ertrag heuer, was für Ähren! Zum erstenmal seit vielen Jahren hatte auch der Kapitän mit Erstaunen und Dank die reiche Ernte betrachtet. Er konnte große Mengen verkaufen.

Dann aber war es doch sinnlos von Nils, Övrebö zu verlassen. Er mußte nur notwendigerweise auf einen kurzen Besuch zu seinen Leuten nördlich in der Gemeinde, und er nahm sich dazu zwei Tage Urlaub, nachdem die Kartoffeln alle eingeerntet waren. Er hat wohl eine wichtige Angelegenheit, vielleicht will er sein Mädchen treffen, dachten wir anderen. Als er zurückkam, war er umgänglich und eifrig wie früher und nahm seine Arbeit wieder auf.

Eines Mittags, als wir in der Küche saßen, sahen wir die gnädige Frau in der größten Erregung aus dem Haupteingang und den Weg hinunter laufen. Der Kapitän kam hinterher und rief: Louise, nein aber Louise, wo willst du denn hin? Frau Falkenberg antwortete nur: Laß mich!

Wir alle sahen einander an. Ragnhild stand vom Tisch auf, um der gnädigen Frau nachzugehen.

Ja, das ist recht, sagte Nils ruhig wie immer. Geh aber zuerst in die Stube und sieh nach, ob sie die Photographien weggenommen hat.

Die stehen noch dort, erwiderte Ragnhild und ging hinaus.

Auf dem Hof hörten wir den Kapitän zu ihr sagen:

Geh und sieh nach der gnädigen Frau, Ragnhild.

Niemand überließ Frau Falkenberg ihrem Schicksal, alle waren um sie besorgt.

Wir gingen wieder aufs Feld. Nils sagte zu mir:

Sie sollte die Photographien wegnehmen. Es ist nicht recht von ihr, sie immer noch dort zu lassen. Sie ist rein wie umgewandelt.

Was weißt du davon! dachte ich. Ach, ich verstand mich so gut auf die Menschen und hatte auf meinen Wanderungen so viel gelernt, ich wollte den Knecht ein wenig auf die Probe stellen, vielleicht machte er sich nur wichtig:

Ich finde es merkwürdig, daß der Kapitän nicht schon lange die Bilder fortgenommen und verbrannt hat, sagte ich.

Nein, entgegnete Nils. Das hätte ich auch nicht getan.

So?

Das wäre nicht meine, sondern ihre Sache.

Wir gingen eine Weile nebeneinander her. Da ließ Nils einige Worte fallen, die seinen sicheren und tiefen Instinkt zeigten:

Die arme Frau! Sie hat wohl diesen ihren Fehltritt im Sommer nicht gut überstanden, sie hat Schaden dabei gelitten. Ich kann es nicht anders betrachten. Es gibt einige, die einen Fall überstehen, sie können mit blauen und gelben Flecken weiter durchs Leben gehen. Andere aber können sich nicht wieder erheben.

Es hat aber doch ausgesehen, als nähme sie es ziemlich leicht, sagte ich und prüfte den Knecht noch immer.

Das wissen wir nicht. Ich finde, sie ist in dieser ganzen Zeit wie umgewandelt gewesen, antwortete er. Selbstverständlich muß sie weiterleben, vielleicht aber hat sie keine innere Harmonie mehr. Ich verstehe mich nicht darauf, aber es ist Harmonie, was ich meine. O nein, freilich kann sie essen und lachen und schlafen, aber – Als ich jetzt daheim war, nahm ich an einem Begräbnis teil, von einer, die auch so gewesen ist.

Da konnte ich mich nicht länger mehr steif und klug stellen, sondern war dumm und beschämt, ich sagte nur:

Warst du? Ist sie gestorben?

Ja. So war es ihr auch am liebsten! Plötzlich sagt Nils: Ja, pflügt ihr jetzt nur weiter, du und Lars. Es ist jetzt nicht mehr viel übrig.

Damit ging er seinen Weg, und ich ging den meinen.

Ich dachte: Vielleicht war es eine Schwester, mit der es irgendwie schlimm gegangen und bei deren Begräbnis er gewesen ist? Ach, Herrgott, ja, es gibt einige, die überstehen es nicht, es erschüttert sie in ihren Grundfesten, es ist eine Revolution. Es kommt darauf an, wie roh die Menschen sind! Blaue und gelbe Flecken, sagte Nils – Da überwältigte mich ein Gedanke, und ich blieb auf der Stelle stehen: Vielleicht war es nicht seine Schwester gewesen, sondern sein Mädchen!

Durch eine Ideenverbindung fiel mir meine Wäsche ein. Ich beschloß, sie durch den Jungen von der Rodung holen zu lassen.

*

Es war Abend.

Ragnhild kam zu mir und bat mich, aufzubleiben, es sei wieder so schlecht um die Herrschaft bestellt. Sie war stark erregt und wagte jetzt in der Dämmerung nirgends zu sitzen als auf meinen Knien. So war es immer, bei Gemütsbewegungen wurde sie furchtsam und zärtlich, furchtsam und zärtlich.

Kannst du denn hier bleiben, ist jemand an deiner Stelle in der Küche? fragte ich.

Ja, die Köchin paßt auf, ob es läutet. Du, ich halte es mit dem Kapitän, erklärte sie, ich habe es die ganze Zeit mit ihm gehalten.

Ja, weil er ein Mann ist.

O nein.

Du solltest es lieber mit der gnädigen Frau halten.

Das sagst du nur, weil sie eine Frau ist, gibt Ragnhild zurück. Aber du weißt nicht alles so gut wie ich. Die gnädige Frau ist so unvernünftig. Wir machten uns nichts aus ihr, behauptete sie, und wir ließen sie einfach verkommen, sagte sie. Hast du so etwas schon gehört? Ich ging ihr doch nach! Nein, und wie schrecklich sie sich aufgeführt hat!

Ich will nichts hören, erwiderte ich.

Aber ich habe ja nicht gelauscht, ich glaube, du bist verrückt.

Ich stand im gleichen Zimmer und hörte sie ganz offen sprechen.

Gut, so bleiben wir hier, bis du ein wenig ruhiger geworden bist, dann gehen wir zu Nils hinunter.

Und so furchtsam und zärtlich war Ragnhild, daß sie die Arme um mich schlang, weil ich so freundlich gegen sie war. Sie war ein merkwürdiges Mädchen.

Dann gingen wir zu Nils hinunter.

Ich sagte:

Ragnhild meint, daß einer von uns noch eine Zeitlang wach bleiben solle.

Ja, es ist so traurig da drüben, bestätigte Ragnhild, so schlimm ist es noch nie gewesen. Gott weiß, was der Kapitän tut, vielleicht legt er sich nicht einmal zu Bett. Oh, sie hat den Kapitän gern, und er hat wiederum sie gern, es ist nur so arg geworden. Als sie heute hinauslief, stand der Kapitän auf dem Hof und sagte zu mir: Geh der gnädigen Frau nach, Ragnhild! Da ging ich ihr nach. Sie stand neben dem Weg hinter einem Baum, sie stand nur da und weinte und lächelte mir zu. Ich wollte sie veranlassen, wieder hineinzugehen, sie aber erwiderte, wir kümmerten uns nicht um sie, es sei gleich, wo sie sich aufhalte. – Der Herr Kapitän hat mich nach der gnädigen Frau geschickt, sagte ich. – Hat er das? fragte sie, jetzt? Dich eben jetzt geschickt? – Ja, antwortete ich. – Wart ein wenig! sagte sie. Dann blieb sie eine gute Weile stehen. Willst du die abscheulichen Bücher, die in meinem Zimmer liegen, verbrennen, sagte sie; ach nein, ich werde es selbst tun, fügte sie hinzu, aber nach dem Abendessen will ich dir klingeln, und da mußt du sofort heraufkommen. – Ja, erwiderte ich. Dann ging sie mit mir.

Denkt euch, sie ist in der Hoffnung, sagte Ragnhild plötzlich. Wir sahen einander an. Über das Gesicht des Knechtes legte sich gleichsam eine Schicht von Undeutlichkeit, es wurde welk, und seine Augen schienen zu schlafen. Warum ging ihm das so nah? Um etwas zu sagen, fragte ich:

Und die gnädige Frau sagte, sie würde dir klingeln?

Ja, und dann klingelte sie auch. Sie wollte dem Kapitän etwas sagen, aber sie war ängstlich und wollte mich bei sich haben. – Zünde dir eine Kerze an und such alle diese tausend Knöpfe zusammen, die mir hinuntergefallen sind, sagte sie zu mir. Und dann rief sie den Kapitän, der in seinem Zimmer war. Ich zündete das Licht an und begann, die Knöpfe aufzulesen; es waren viele Dutzend und alle möglichen Sorten. Der Kapitän kam. – Ich wollte dir nur sagen, fing Frau Falkenberg sofort an, daß es sehr lieb von dir war, mir heute Ragnhild nachzuschicken. Gott segne dich dafür! – Nun, nun, meinte er und lächelte, du warst ja so nervös, mein Kind. – Ja, ich bin nervös, erwiderte sie, aber es wird wohl besser werden. Nein, der Fehler ist, daß ich keine Tochter habe, die ich zu einem guten Menschen erziehen könnte. Ich habe so gar keinen Wert mehr! – Der Kapitän setzte sich auf einen Stuhl. Doch, doch, sagte er. – Doch, doch, sagst du? Ja, in diesem Buch da steht allerdings – oh, diese elenden Bücher, Ragnhild, nimm sie weg und verbrenn sie! Nein, nun will ich sie wahrhaftig in Stücke zerreißen und hier in den Ofen schüren, fügte sie hinzu. Und dann zerriß sie die Bücher und warf jedesmal viele Blätter auf einmal in den Ofen. Sei doch nicht so nervös, Louise! sagte der Kapitän. – Ins Kloster, stand darin, ja, das wäre das Beste. Aber ich kann ja nicht ins Kloster gehen. Für mich gibt es keinen Ausweg mehr. Du glaubst, ich lache, wenn ich lache, wandte sie sich an den Kapitän, aber es ist mir nicht zum Lachen zumute. – Ist das Zahnweh besser geworden? fragte er. – Nein, du weißt ja gut, daß bei mir das Zahnweh noch lange nicht besser werden wird. – Nein, das wußte ich nicht. – Nicht? – Nein. – Herrgott, siehst du denn nicht, wie es um mich steht? rief die gnädige Frau. – Der Kapitän sah sie nur an und antwortete nichts. – Ich bin doch – du sagtest heute, daß ich vielleicht eine Tochter bekommen könnte, erinnerst du dich nicht? – Ich sah auf, und mein Blick fiel auf den Kapitän.

Ragnhild lächelte und schüttelte den Kopf, dann fuhr sie fort: Gott verzeih mir, wenn ich lache, aber der Kapitän machte ein so sonderbares Gesicht, er sah aus wie ein Schaf. – Hast du das nicht eher bemerkt? fragte die gnädige Frau. – Der Kapitän warf einen Blick auf mich und fragte: Was treibst du denn da so lange? – Ich habe sie gebeten, alle die Knöpfe wieder aufzulesen, antwortete Frau Falkenberg. – Jetzt bin ich fertig, sagte ich. – So? erwiderte sie und stand auf; laß sehen! Und als sie die Schachtel nahm, ließ sie die Knöpfe wieder alle auf den Boden fallen. Oh, sie rollten überall hin, unter Tisch und Bett und Ofen. – Nein, so etwas! sagte die gnädige Frau. Aber sie begann sofort wieder von ihrer Sache zu sprechen: Daß du nicht begriffen hast, wie es – wie es um mich steht! – Können die Knöpfe nicht bis morgen liegen bleiben? fragte der Kapitän. – Doch, vielleicht, gab Frau Falkenberg nach. Aber dann trete ich darauf, ich bin nicht mehr sehr gewandt – bald kann ich mich nicht mehr bücken – aber freilich, laß sie liegen! sagte sie und wollte seine Hand streicheln. Lieber, Lieber du! – Da zog er seine Hand an sich. – Ja, so, du bist böse auf mich, aber weshalb hast du mir dann geschrieben? – Liebe Louise, wir sind hier nicht allein, entgegnete er. – Du mußt doch wissen, weshalb du mir geschrieben hast? – Das geschah wohl, weil ich hoffte, daß alles wieder gut werden würde. – Aber das wurde es nicht? – O nein. – Aber an was hast du denn gedacht, als du schriebst? An mich? Daß du mich wiederhaben wolltest? Ich verstehe nicht, an was du dachtest. – Ragnhild ist jetzt fertig, wie ich sehe, sagte der Kapitän. Gute Nacht, Ragnhild!

Und dann gingst du?

Ja, aber ich wagte nicht, mich weit von der gnädigen Frau zu entfernen. Ihr dürft mir glauben, es ging ihr nicht gut, als ich das Zimmer verließ, da mußte ich bei der Hand sein. Und wäre der Kapitän zu mir gekommen und hätte etwas darüber gesagt, so hätte ich ganz offen geantwortet, daß ich jetzt nicht weggehen könne, so wie es um die gnädige Frau stehe. Er kam ja nicht; drinnen sprachen sie immer weiter: Ich weiß schon, was du sagen willst, begann Frau Falkenberg wieder, und du bist ja vielleicht auch nicht – ja vielleicht bist du nicht der Vater. Ach ja, es könnte übrigens doch sein. Aber bei Gott im Himmel, ich weiß nicht, welche Worte ich jetzt gebrauchen soll, damit du mir vergeben kannst! – Sie weinte. Ach, Lieber, vergib mir, vergib mir! bat sie und kniete nieder. Du hast jetzt gesehen, daß ich alle Bücher fortgeworfen habe, und das Taschentuch mit den Buchstaben habe ich schon früher verbrannt, und dort liegen jetzt die Bücher, siehst du – Ja, und dort liegt ein anderes Taschentuch mit den gleichen Buchstaben, erwiderte der Kapitän; ach, du guter Gott, wie du mit mir umgehst, Louise! – Frau Falkenberg war ganz unglücklich: Es tut mir leid, daß du das sehen mußtest, es ist wohl aus der Stadt mit herausgekommen, im Sommer, ich habe meine Wäsche seitdem noch nicht durchgesehen. Ach, das kann doch nicht soviel ausmachen? Nicht wahr? – O nein, antwortete er. – Und wenn du nur ein wenig auf mich hören wolltest, fuhr sie fort, dann bist doch du – dann ist es doch dein Kind. Warum sollte es das nicht sein? Ich kann es nur nicht richtig ausdrücken. – Setz dich wieder! sagte der Kapitän. – Die gnädige Frau aber verstand ihn wohl falsch, sie antwortete: Ja, siehst du, du willst nicht auf mich hören. Aber dann muß ich wahrhaftig fragen, warum du mir geschrieben hast und mich nicht in Frieden ließest? – Darauf sprach der Kapitän von einem Menschen, der in einem Gefängnis aufgewachsen sei, wie er es nannte: Nimm ihn aus dem Gefängnis heraus, und er wird sich wieder dorthin zurücksehnen, sagte er. Das sei etwas Ähnliches. – Ja, aber ich war bei Papa und Mama, und die waren nicht so hart wie du, sie sagten, ich sei mit ihm verheiratet gewesen, und waren durchaus nicht verständnislos gegen mich. Nicht alle sehen dies so an wie du. – Du könntest jetzt die Kerze ausblasen, da Ragnhild fort ist, meinte der Kapitän; ich finde, sie brennt so beschämt neben der Lampe dort. – Um meinetwillen? fragte sie. Das meintest du doch? Du aber hast auch viel Schuld. – Ja, versteh mich nicht falsch, ich habe viel Schuld, antwortete er sofort; darauf aber darfst du nicht pochen. – Ja, das willst du nicht zugeben. Das ist doch –! Trifft dich denn keine Schuld? – Doch, sage ich! Nicht die Schuld, die du meinst, sondern andere Schuld, alte und neue Schuld. Ja! Aber ich bringe dir keinen Bastard unter dem Herzen mit heim. – Nein, entgegnete Frau Falkenberg, aber du warst es doch wirklich, der die ganze Zeit nicht wollte, daß ich – daß wir Kinder bekommen sollten, und ich wollte es ja auch nicht, aber du hättest es besser wissen sollen. Und das fanden sie zu Hause auch. Denn hätte ich eine Tochter gehabt – Du kannst dir dieses Feuilleton sparen, unterbrach sie der Kapitän, dieses Feuilleton aus einer Zeitung oder sonstwoher. Dies könne sie sich sparen. – Ja, aber es ist doch wahr, antwortete sie, ich begreife nicht, wie du das leugnen kannst. – Nein, ich leugne nichts. Bleib nun sitzen und hör mich an, Louise: die Kinder und die Tochter, die dir nun auf einmal so notwendig erscheinen, sind etwas, was du erst kürzlich gehört hast. Aber das ist schließlich gleich, es kann gut sein, daß es uns mit Kindern besser ergangen wäre. Das ist mir nun auch klar geworden, aber leider zu spät. Und da sitzt du nun in diesem Zustand hier vor mir! – Ja, Herr, du mein Gott! Aber vielleicht bist du der – ich weiß nicht – ach nein – Ich? sagte der Kapitän und schüttelte den Kopf. Eigentlich müßte ja die Mutter so etwas wissen; in diesem Fall aber weiß es die Mutter also nicht. In meiner Ehe weiß es die Mutter nicht. Oder weißt du es? – Dazu schwieg die gnädige Frau. – Weißt du es, frage ich? – Ach nein, auch dazu schwieg Frau Falkenberg, aber sie kniete sich auf den Boden und weinte. Nein wirklich, ich weiß nicht, vielleicht halte ich es trotzdem mit der gnädigen Frau, es war so fürchterlich für sie. Und schließlich hätte ich beinahe angeklopft und wäre hineingegangen, da aber sagte der Kapitän: Du schweigst. Das ist auch eine Antwort. Das ist ebenso deutlich wie ein lauter Ruf. – Ich kann nicht mehr sagen, antwortete sie und weinte nur. – Ich habe dich um vieler Eigenschaften willen lieb, Louise, fuhr der Kapitän fort, unter anderem auch deshalb, weil du so ehrlich bist. – Danke! antwortete sie. – Sie haben dir das Lügen noch nicht beibringen können. Steh auf! – Der Kapitän hob sie selbst auf und half ihr, sich zu setzen, und es war jammervoll, wie die gnädige Frau weinte. – Sei jetzt still, ich will dich etwas fragen: Sollen wir abwarten, wie es aussieht, was für Augen es hat und so weiter? – Ja, Gott segne dich, laß uns das tun! Ach Lieber, Lieber, Gott segne dich! – Und dann will ich versuchen, es zu ertragen. Es nagt und mahnt, nagt und mahnt; aber – Und auch ich habe schuld daran. – Gott segne dich! Gott segne dich! sagte sie wieder. – Auch dich! antwortete er. Gute Nacht bis morgen. – Da warf sich Frau Falkenberg über den Tisch und weinte ganz schrecklich. – Weshalb weinst du jetzt? – Weil du gehst, erwiderte sie. Vorher hatte ich Angst vor dir, wenn du kamst, jetzt weine ich, weil du gehst. Kannst du nicht ein wenig hier bleiben? – Hier? bei dir, jetzt? fragte er. – Nein, ich meinte nicht – das war es nicht, sagte sie; aber ich bin so allein. Nein doch, ich meinte nicht, was du glaubst. – Ja, aber ich geh jetzt. Du begreifst gewiß, daß ich nicht dazu aufgelegt bin, länger hierzubleiben. Klingle dem Mädchen.

Da lief ich fort, schloß Ragnhild.

Nach einer Weile fragte der Knecht:

Sind sie jetzt schlafen gegangen?

Das wußte Ragnhild nicht. Doch, vielleicht waren sie das; und übrigens saß die Köchin drüben und paßte auf. Aber du meine Güte, was hat sich die gnädige Frau da angetan! Sie kann wohl nicht schlafen.

Du mußt nach ihr sehen.

Ja, sagte Ragnhild und erhob sich. Aber nein, ich halte es wahrhaftig doch mehr mit dem Kapitän, was ihr auch sagen mögt. Doch, das tu ich.

Es ist doch nicht so leicht zu wissen, was man soll.

Denkt euch, von ihm in die Hoffnung zu kommen! Nein, daß sie das tat! Und danach war sie bei ihm in der Stadt, hörte ich. Hat das noch einen Sinn? Sie hat so viele von seinen Taschentüchern, das habe ich gesehen, und viele von den ihren fehlen, sie haben sie wohl gegenseitig benutzt. Mit ihm gelebt, sagte sie. Wo sie doch einen Mann hatte!

 

12

Der Kapitän hat mit seiner Absicht, die Waldarbeit zu vergeben, Ernst gemacht; nun kracht und dröhnt es im Wald. Es ist ein milder Herbst, und die Erde noch nicht gefroren. Man kann noch gut pflügen, und Nils nützt die Zeit wie ein Geizhals, um die Arbeit im nächsten Frühjahr leichter zu haben.

Nun handelt es sich darum, ob Grindhusen und ich im Wald arbeiten sollen. Da denke ich daran, daß ich eigentlich zu den Beeren, den Multebeerenmooren und in die Berge hinauf wollte; was wird aus dieser Wanderung? Und außerdem war Grindhusen kein Holzarbeiter mehr, mit dem dem Kapitän gedient gewesen wäre, er konnte nur noch mit dabeistehen und die Säge halten.

Nein, Grindhusen war schwächlich geworden; wer, zum Teufel, mochte das verstehen? Noch hatte er alle seine Haare, und sie waren noch rot. Er hatte sich auf Övrebö gut erholt, und das Essen schmeckte ihm immer vortrefflich. Und ob es ihm gut ging! Den ganzen Sommer und Herbst hindurch hatte er seiner Familie ordentlich Geld heimgeschickt, und er hielt große Lobreden auf den Kapitän und dessen Frau, die so anständig bezahlten und eine so gute Herrschaft seien. Das war etwas anderes als der Inspektor. Der feilschte um jeden armseligen Schilling und zog einem schließlich, so wahr mir Gott helfe, zwei Kronen ab, die man ehrlich und redlich von ihm – pfui! Grindhusen konnte ja leicht zwei Kronen verschmerzen, wenn es einen greifbaren Nutzen und Sinn hatte; aber, pfui Teufel! Ob der Kapitän so etwas tat?

Aber Grindhusen war nun so nachgiebig geworden und konnte nicht einmal mehr richtig zornig werden. Er würde vielleicht doch wieder für zwei Kronen im Tag beim Flößereiinspektor arbeiten und ihm nach dem Mund reden. Das Alter, die Zeit hatten ihn eingeholt.

Sie holt uns alle ein. –

Der Kapitän sagte:

Du sprachst einmal von der Wasserleitung, ist es dieses Jahr zu spät dafür?

Ja, antwortete ich.

Der Kapitän nickte und ging.

Ich pflügte noch einen Tag, dann kam der Kapitän wieder zu mir. Er war in diesen Zeiten überall zugegen, arbeitete viel, beaufsichtigte alles. Er schlang kaum sein Essen hinunter, dann ging er wieder hinaus, war in Scheune und Stall, auf den Äckern, im Wald bei den Holzfällern.

Du mußt die Wasserleitung in Angriff nehmen, sagte er. Die Erde ist weich und kann noch lange weich bleiben. Wen willst du zur Hilfe haben?

Grindhusen kann mir helfen, antwortete ich. Aber –

Ja, und Lars. Was wolltest du sagen?

Es kann jetzt doch jederzeit Frost kommen.

Es kann aber auch Schnee kommen. Und dann friert die Erde nicht. Hier ist der Boden durchaus nicht in jedem Jahr gefroren, erwiderte der Kapitän. Du mußt mehrere Leute mitnehmen und die einen beim Graben, die anderen beim Ausmauern anstellen. Du kennst ja die Arbeit von früher?

Ja.

Ich habe Nils schon unterrichtet, du brauchst also keine Unannehmlichkeiten zu befürchten, sagte er und lächelte. Stell die Pferde wieder in den Stall.

Er hakte es so eilig und steckte auch mich an, so daß ich gleich anpacken wollte und mit den Pferden eher heimlief als ging. Der Kapitän hatte jetzt wohl auf diese Wasserleitung Lust bekommen, nachdem der ganze Hof angestrichen und so schön geworden und die Ernte so reich ausgefallen war. Und nun ließ er tausend Dutzend Stämme schlagen und konnte seine Schulden bezahlen und noch mehr!

So ging ich den Hang hinaus und fand die Stelle wieder, die ich vor langer Zeit für das Sammelbecken bestimmt hatte, schätzte das Gefäll zum Hof hinunter ab, schritt die Strecke aus und vermaß alles. Es kam hier ein Bach von ganz oben herunter, er ging so tief und hatte einen so starken Fall, daß er im Winter niemals zufror. Hier müßten wir einen kleinen Damm mauern und Abflußlöcher für das Überwasser im Frühling und Herbst frei lassen. Oh, das sollte eine Wasserleitung nach Övrebö werden! Die Mauersteine könnten wir an Ort und Stelle Herausbrechen, der Granit war hier Schicht auf Schicht gelagert.

Um die Mittagszeit des nächsten Tages waren wir in voller Arbeit. Lars Falkenberg hob den Graben für die Leitung aus. Grindhusen und ich sprengten die Steine. Und uns beiden war dies altgewohnt und vertraut von der Wegarbeit in Skreia her.

Gut.

Vier Tage lang arbeiteten wir, dann kam der Sonntag. Ich entsinne mich noch dieses Sonntages. Hoch und klar war der Himmel, und alles Laub in den Wäldern abgefallen. Die Höhenzüge standen ruhig und grün, und von der Rodung stieg der Rauch aus dem Kamin zum Himmel auf. Am Nachmittag hatte Lars Falkenberg Wagen und Pferd vom Kapitän geliehen bekommen, um sein großes Schwein zur Station zu fahren. Es war geschlachtet worden und sollte nun in die Stadt geschickt werden. Auf dem Heimweg wollte Lars die Post für den Kapitän mitnehmen.

Mir fiel ein, daß ich heute abend den Jungen nach meiner Wäsche zur Rodung hinaufschicken könnte; Lars war fort, und niemand mehr würde durch die Wäsche verärgert werden.

Ja, siehst du, du hast jetzt die beste Absicht, sagte ich zu mir selbst, du läßt den Jungen die Wäsche holen. Aber dies ist sicher weder gute Absicht noch irgend etwas anderes, es ist nur das Alter!

Dies ließ ich mir wohl eine Stunde lang durch den Kopf gehen. Das Ganze aber war wahrscheinlich nur Unsinn. Es war ein wunderbar milder Abend und noch dazu Sonntag, nichts zu tun, und die Gesindestube ganz leer. Altersschwäche? Wird es mir schon zu schwer, hinaufzusteigen?

Da ging ich hinauf.

Zeitig am Montag morgen war Lars Falkenberg wieder auf dem Hof. Wie früher schon einmal, nahm er mich beiseite, und es handelte sich um das gleiche wie damals: ich sei gestern auf der Rodung gewesen. Das war aber das letzte Mal! Merk dir das!

Es war auch die letzte Wäsche, sagte ich.

Ja, Wäsche und immer wieder Wäsche! Hätte ich dir dieses elende Hemd denn nicht im Laufe des Herbstes hundertmal selbst mitbringen können?

Ich wollte dich nicht mehr an die Wäsche erinnern.

Das war wieder einmal wie verhext. Er hatte also schon von meinem kleinen Spaziergang gestern abend gehört! Diese unmögliche Ragnhild mußte wieder geklatscht haben, niemand sonst konnte es gewesen sein.

Nun wollte der Zufall, daß der Knecht Nils auch diesmal wieder auf der Bildfläche erschien. Ahnungslos kam er von der Küche über den Hof, und augenblicklich richtete sich Lars Unwille mehr gegen ihn als gegen mich.

Da kommt der andere Kerl auch, rief er. Und der sieht noch lächerlicher aus als du.

Was sagst du da? fragte Nils.

Was sagst du da? antwortete Lars. Spül dir erst den Mund ordentlich aus und rede so, daß man dich auch verstehen kann.

Der Knecht blieb stehen, um zu hören, was es eigentlich gäbe, und fragte: Was ist denn hier los? Ich verstehe nicht –

Du verstehst nicht? Nein! Aber das Herbstpflügen auf ungeschnittenem Acker, das verstehst du, erwiderte Lars. Das versteht freilich niemand so gut wie du.

Da aber wurde der Knecht endlich einmal zornig. Mit bleichen Wangen entgegnete er:

Du bist doch ein greulicher Dummkopf, Lars! Kannst du nicht endlich aufhören mit deinem Gewäsch?

Dummkopf? Nein, hör doch diesen Geißbock! wandte Lars sich an mich, wie fein er sich ausdrückt! Greulich! sagt er, und dabei wird er bleich! – Ich bin länger als du auf Övrebö gewesen und habe öfters als an einem Abend der Herrschaft vorgesungen, kann ich dir sagen. Seit der Zeit aber gibt es nichts als Unfug und Aufschneiderei hier. Ja, du erinnerst dich, wandte er sich wieder an mich, wie es hier in alten Zeiten aussah! Da hieß es Lars hier und Lars dort, und die Arbeit kam dabei nicht zu kurz. Und mein Nachfolger, der Knecht Albert, war anderthalb Jahre hier. Dann kamst du, Nils. Und jetzt heißt es nur noch schaffen und pflügen und Tag und Nacht Dünger fahren, daß einer davon dünn wird wie ein räudiger Kuhschwanz, kann ich dir sagen!

Hier mußten der Knecht und ich lachen. Und Lars fühlte sich durch dieses Lachen keineswegs verletzt. Er war stolz, daß er so unterhaltend war, wurde gleich besänftigt und lachte mit.

Ja, das sag ich frei heraus! fuhr er fort. Und wärst du nicht zuweilen ein gemütlicher Bursche – nein, gemütlich, das will ich nicht behaupten, aber du bist offen und ehrlich und in einer Weise ganz umgänglich. Und wäre das nicht, dann – Ja was würde dann geschehen?

Lars war immer besserer Laune geworden, er lachte und meinte:

Ach, ich könnte dich wohl jederzeit packen und dich in deine eigenen Stiefel stopfen.

Willst du meinen Arm anfühlen! sagte der Knecht.

Was ist da los? fragt der Kapitän und kommt zu uns her. Er war schon auf, obwohl es erst sechs Uhr war.

Nichts, antworteten Lars und Nils.

Wie steht es mit dem Damm? fragt mich der Kapitän. Aber noch bevor er Antwort erhalten hat, wendet er sich an Nils: Der Junge soll mich zur Station fahren. Ich muß nach Kristiania.

Dann machten Grindhusen und ich uns wieder an unsere Dammarbeit, und Lars Falkenberg ging an seinen Graben. Es hatte sich jedoch eine kleine Mißstimmung über uns gelegt.

Es ist schade, daß der Kapitän verreist, bemerkte sogar Grindhusen.

Dieser Meinung war auch ich. Aber der Kapitän mußte vielleicht in Geschäften fort, er hatte sowohl Stämme als auch Getreide zu verkaufen. Aber weshalb reiste er so früh am Tage, den Morgenzug könnte er ja doch nicht mehr erreichen? Hatte es wieder Streit gegeben, und wollte er fort sein, bevor seine Frau aufstand?

Ja, es gab oft Streit.

Jetzt war es wieder so weit gekommen, daß der Kapitän und die gnädige Frau nicht mehr zusammen sprachen, sondern nur gleichgültig waren und aneinander vorbeisahen, wenn sie einmal ein kurzes Wort wechseln mußten.

Dann und wann aber konnte der Kapitän doch wieder seiner Frau ins Gesicht sehen und ihr raten, in das schöne Wetter hinauszugehen. Und einmal rief er sie vom Hof herein und bat sie, ein wenig auf dem Flügel zu spielen; aber das tat er vielleicht nur der Leute wegen und aus keinem anderen Grunde.

Es war so traurig.

Die gnädige Frau war still und schön, und manchmal stand sie draußen auf der Treppe und sah zu den Höhen hinauf; sie hatte so weiche Züge, und das Haar war rötlich blond. Sie sah schon wie eine junge und gute Mutter aus. Aber wie einsam es für sie war! Keine Gäste mehr, nicht Spiel und Musik, keine Freuden, nur Trauer und Scham.

Der Kapitän hatte ja versprochen, seine Bürde zunächst noch zu tragen, und er trug gewiß alles, was er vermochte. Aber mehr konnte er nicht. Auf dem Hof war das Unglück eingezogen, und ein Unglück ist schwerer zu tragen als sieben Bürden. Wenn Frau Falkenberg ein einziges Mal etwas heftiger wurde und dankbar zu sein vergaß, senkte der Kapitän den Blick zu Boden, und es dauerte nicht lange, so nahm er seinen Hut und ging fort. Alle Mädchen konnten davon erzählen, und ich selbst sah es einige Male. Natürlich konnte er ihren Fehltritt niemals vergessen, niemals, aber er hätte davon schweigen können. War es ihm aber auch möglich, zu schweigen, wenn sie sich vergaß und sagte: du weißt doch, ich bin nicht wohl; du weißt doch, ich kann nicht mehr so viel gehen wie früher? – Still, Louise! antwortete er dann wohl und zog die Brauen zusammen. Und der Streit war in vollem Gange: Willst du mich wieder daran erinnern? – Nein, du erinnerst mich daran, du hast deine Schamhaftigkeit verloren, dein Fall hat dich frech gemacht. – Ach, daß ich wieder hierhergekommen bin! Daheim hatte ich es viel bester. – Ja, oder bei dem jungen Hund. – Du sagtest doch, er habe dir einmal geholfen? Ja, bei Gott, ich sehne mich oft zu ihm zurück, Hugo ist viel bester als du.

Sie war so hemmungslos, so verantwortungslos und sagte wohl oft mehr, als sie meinte. Sie war für uns alle nicht wieder zu erkennen und war verderbt geworden. Frau Falkenberg verderbt? Nein, vielleicht nicht. Gott mag es wissen! Sie entblödete sich auf jeden Fall nicht, am Abend in die Küche herauszukommen und Nils schöne Worte über seine Jugend und Stärke zu sagen. Ich war wohl wieder ein wenig eifersüchtig und neidisch auf den Knecht, um seiner Jugend willen, und ich dachte: sind denn alle Menschen verrückt geworden, müßte man denn nicht uns Ältere vorziehen! War es vielleicht die Unschuld des Knechtes, die ihr in die Augen stach? Oder wollte Frau Falkenberg nur sich selbst ein wenig obenauf halten und versuchen, jünger zu sein, als sie war? Eines Tages aber kam sie auch zum Damm hinauf, zu Grindhusen und mir, blieb eine Weile dort sitzen und sah uns zu. Diese halbe Stunde lang ging die Arbeit so leicht, der Granit wurde nachgiebig und fügte sich unserem Willen, wir bauten an den Mauern wie richtige Kraftmenschen. Ach, die gnädige Frau saß da, war auch jetzt unbedacht und ließ die Augen spielen. Warum legte sie diese neue Gewohnheit nicht ab? Ihr Blick war zu schwer für dieses Spiel, es stand ihr nicht. Ich dachte: entweder will sie nun ihre Dummheiten mit dem Knecht bei Grindhusen und mir wieder ausgleichen, oder sie treibt hier ein neues Spiel. Was war das Richtige? Ich konnte mir nicht klar darüber werden, und Grindhusen hatte für so etwas gar kein Verständnis. Als Frau Falkenberg gegangen war, sagte er nur: Sie ist doch ein ganz wunderbarer und guter Mensch, diese Frau; eigentlich wie eine Mutter. Kam sie doch wahrhaftig hierher und fühlte, ob das Wasser nicht zu kalt für uns sei!

Eines Tages, als ich an der Küchentreppe stand, sagte sie zu mir:

Erinnerst du dich der früheren Zeiten hier auf dem Hofe? – Als du zum erstenmal hier warst?

Nie noch hatte sie auf diese Zeit hingewiesen, und mir fiel nichts anderes ein, als zu antworten: Ja, ich erinnere mich.

Du fuhrst mich einmal zum Pfarrhof, sagte sie.

Da dachte ich so halb und halb, daß sie vielleicht nichts dagegen habe, ein wenig mit mir zu sprechen und sich zu zerstreuen. Ich wollte ihr helfen und ihr es erleichtern, ins Gespräch zu kommen; ein wenig gerührt war ich wohl auch. Ich erwiderte:

Ja, ich erinnere mich. Es war eine herrliche Fahrt. Aber zum Schluß wurde es so kalt für die gnädige Frau.

Nein, für dich wurde es kalt, antwortete sie. Du hattest mir deine eigene Decke vom Bock geliehen. Armer Kerl!

Da wurde ich noch bewegter, und leider begann ich mich ein wenig aufzuspielen: Ei, sie hatte mich nicht ganz vergessen, und die wenigen Jahre seit damals hatten mich vielleicht noch nicht so mitgenommen!

Die gnädige Frau erinnert sich an die Geschichte mit der Decke sicher nicht mehr genau, sagte ich; aber wir aßen in einer Hütte, eine Frau kochte uns Kaffee, und ich bekam Essen von Ihnen.

Ich schlang die Arme um einen Pfahl und lehnt mich an das Geländer.

Dies verletzte sie wohl, sie bekam den Eindruck, daß ich mich auf ein längeres Gespräch mit ihr einrichte; auch hatte ich gesagt: wir aßen in einer Hütte. Natürlich war ich zu weit gegangen; aber nach allen diesen Wandermonaten war ich es nicht mehr gewohnt, mich in acht zu nehmen.

Als ich ihr Unbehagen sah, richtete ich mich sofort auf, doch war es zu spät. Nicht daß sie unfreundlich gewesen wäre, aber sie war durch ihre schlimmen Erlebnisse empfindlich und mißtrauisch geworden und sah sogar in der Unbeholfenheit eine Unhöflichkeit.

Ja, ja, sagte sie, ich hoffe, du fühlst dich jetzt auf Övrebö ebenso wohl wie damals.

Dann nickte sie und verließ mich.

*

Einige Tage vergingen. Der Kapitän war nicht zurückgekehrt, doch hatte er seiner Frau eine freundliche Karte gesandt: er hoffe, in der nächsten Woche wieder daheim zu sein. Gleichzeitig schicke er Röhren, Wasserhähne und Zement für die Wasserleitung nach Hause.

Sieh hier, sagte Frau Falkenberg zu mir und kam mit der Karte. Der Kapitän sendet dir diese Sachen und bittet dich, sie auf der Station holen zu lasten.

Wir lasen beide die Karte; es war Mittag, und wir befanden uns mitten im Hof. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll: ich stand dicht neben ihr, den Kopf zu ihrem hinabgebeugt, und dies tat mir bis ins Innerste gut. Als sie fertig gelesen hatte, sah sie auf und sah mich an. Sie spielte nicht, aber sie gewahrte wohl einen anderen Ausdruck in meinem Gesicht, sie fuhr fort mich anzusehen. Fühlte auch sie meine Nähe so, wie ich die ihre? Diese beiden schweren Augen, die aufgeschlagen wurden und auf mich gerichtet blieben, waren bis zum Rande mit Liebe erfüllt. Sie konnte nicht zurechnungsfähig sein, ihr Blick war pathologisch tief, bis in den letzten Winkel ihres Wesens getränkt mit dem Leben, das sie unter dem Herzen trug. Sie begann schwerer zu atmen, und ihr Antlitz verdunkelte sich über und über in Röte, dann drehte sie sich um und ging langsam fort.

Ich stand da, mit der Karte in der Hand. Hatte sie sie mir gegeben? Hatte ich sie genommen?

Ihre Karte, sagte ich, hier, ich komme –

Sie streckte die Hand nach rückwärts aus, ohne sich umzuwenden, und schritt weiter.

Dieses Geschehnis nahm mich mehrere Tage sehr in Anspruch. Hätte ich ihr folgen sollen, als sie ging? Oh, ich hätte einen Versuch machen können, ihre Türe war nicht weit weg. Pathologisch. Warum aber war sie überhaupt mit der Karte zu mir gekommen? Sie hätte mir ja mündlich Bescheid geben können. Es kam mir nun auch wieder in den Sinn, daß wir vor sechs Jahren in genau der gleichen Weise beieinander gestanden und zusammen ein Telegramm des Kapitäns gelesen hatten. Suchte sie diese Situationen auf, und taten sie ihr wohl?

Als ich sie wieder sah, nahm ich keine Verlegenheit an ihr wahr, sie war freundlich und kühl. So mußte ich das Ganze fallen lassen. Was wollte ich auch von ihr? Nein wohl!

Sie bekam Besuch, von einer Nachbarin und deren Tochter. Sie hatten vielleicht gehört, daß der Kapitän verreist war, und wollten die gnädige Frau jetzt ein wenig zerstreuen; vielleicht waren sie auch aus Neugierde gekommen. Sie wurden gut bewirtet, Frau Falkenberg war immer freundlich gegen sie und spielte ihnen schließlich auf dem Flügel vor. Als sie gingen, begleitete die gnädige Frau sie zum Weg hinunter und schwätzte ganz vergnügt mit ihnen, obschon sie wohl andere Dinge im Kopfe haben mochte als Haushalt und Schlachttag. Oh, sie war so angeregt und herzlich. Kommt bald wieder; auf jeden Fall du, Sofie! – Ja, danke schön. Aber kommen Sie nie mehr nach Nedrebö? – Doch. Wäre es heute nicht schon so spät, würde ich euch jetzt begleiten. – Aber morgen ist auch ein Tag. – Ja, es kann schon sein, daß ich morgen komme. Bist du es? sagte sie zu Ragnhild, die ihr mit einem Schal nachgegangen war. Nein, aber es ist doch zum Lachen, du glaubst wohl, ich friere!

Im großen und ganzen war die Stimmung auf dem Hofe bei uns allen besser geworden, und es drückte uns kein Unbehagen mehr. Grindhusen und ich bauten an unserem stolzen Wasserbecken, und Lars Falkenberg kam mit dem Graben immer weiter herauf. Da der Kapitän so lange fortblieb, wollte ich alles beschleunigen und wenn möglich den größten Teil der Wasserleitung bis zu seiner Rückkehr fertigmachen. Das würde eine Freude sein, wenn wir die Arbeit ganz beendet hätten! Er konnte eine kleine angenehme Überraschung brauchen, denn am Abend, bevor er abreiste, hatte es ganz richtig wieder Streit gegeben. Er war aufs neue an das Unglück seines Hauses erinnert worden, vielleicht trieb sich noch immer ein unverbranntes Buch im Zimmer seiner Frau umher. Der Kapitän hatte mit diesen Worten geschlossen: Jetzt holze ich den Wald aus, um die Schuld zu bezahlen. Und außerdem habe ich noch für viel Geld Getreide liegen. Dann mag Gott mir verzeihen – wie ich auch ihm verzeihe. Gute Nacht, Louise!

Als wir den letzten Stein auf den Damm gelegt hatten und mit dem Zementieren fertig waren, gingen Grindhusen und ich zu Lars hinunter, und jeder von uns übernahm ein Stück des Grabens. Es ging gut und leicht, ab und zu mußte ein Stein gesprengt werden, ab und zu fiel weiter oben im Wald ein Baum; aber wir kamen hinauf, schließlich zog sich eine lange schwarze Linie vom Becken bis zum Hof. Dann gingen wir wieder zurück und gruben bis zur richtigen Tiefe hinunter. Schließlich brauchte der Graben kein Staatswerk zu sein, sondern nur ein unterirdisches Lager für die Wasserrohre, die sofort zugedeckt werden sollten. Es galt nur unter Frosttiefe zu kommen, das war alles, und es galt, damit fertig zu sein, bevor der Frost einsetzte. Das obere Erdreich gefror bereits in den Nächten. Nils ließ alles andere im Stich und kam uns zu Hilfe.

Aber ob ich nun mauerte oder grub, es war doch nur eine Arbeit für die Hände, und mein unbeschäftigtes Gehirn tummelte sich mit allen möglichen Einfällen herum. So oft ich an den Vorgang mit der Karte des Kapitäns dachte, ging es wie ein Schimmer durch mein Inneres. Weshalb jedoch wollte ich mich länger darum bekümmern? Nein. Und ich war ihr ja auch nicht bis zur Tür nachgegangen.

Aber hier stand sie, und dort standest du. Ihr Atem wehte dir entgegen, er roch nach Fleisch. Sie kam aus einer tiefen Dunkelheit, nein, sie war nicht von dieser Erde. Siehst du noch ihre Augen?

Und jedesmal drehte sich alles in mir, und es würgte mich. In sinnloser Reihenfolge strömten wilde und zärtliche Namen auf mich ein, von Orten, von denen sie vielleicht einmal gekommen sein mochte: Uganda, Tananarivo, Honolulu, Venezuela, Atacama. Waren es Verse? Waren es Farben? Ich wußte es nicht.

 

13

Die gnädige Frau will angespannt haben, sie fährt zur Station.

Sie hat keine Eile und gibt der Köchin Anweisung, wie sie den Mundvorrat herrichten soll, und als der Knecht fragt, ob sie die kleine Kutsche oder den Landauer wünsche, denkt sie einen Augenblick nach und wählt den Landauer mit zwei Pferden.

Dann fuhr sie ab. Nils kutschierte selbst.

Am Abend kamen sie wieder. Sie hatten auf halbem Wege umgedreht.

Hatte die gnädige Frau etwas vergessen? Jetzt verlangte sie andere Pferde und neuen Proviant, sie wollte sofort wieder losfahren. Nils machte Einwände, es gehe auf die Nacht zu, es würde dunkel; Frau Falkenberg aber wiederholte ihren Befehl. Sie saß vollkommen angekleidet in der Stube und wartete, sie hatte nichts vergessen und tat auch nichts, sondern saß nur da und stierte vor sich hin. Ragnhild ging zu ihr und fragte, ob sie ihr nicht bei irgend etwas helfen könne? Nein, danke. Frau Falkenberg saß vorgebeugt da, wie von einer maßlosen Trauer beschwert.

Es war angespannt, und die gnädige Frau kam heraus.

Als sie sah, daß der Knecht wieder fahren wollte, tat er ihr leid, und sie sagte, Grindhusen solle fahren. Während sie auf Grindhusen wartete, saß sie auf der Treppe.

Dann fuhren sie ab. Es war ein schöner Abend und angenehm kühl für die Pferde.

Nein, sie ist so verwandelt, sagte Nils, ich verstehe das nicht. Ich ahnte nichts, bis sie an die Scheibe klopfte und mich bat, umzukehren. Das war ungefähr auf halbem Wege. Sie sagte aber kein Wort davon, daß sie sofort wieder wegfahren wolle.

Sie muß doch etwas vergessen haben?

Nein, sagte Ragnhild. Sie war in der Stube, und ich dachte gleich an die Photographien, ob sie die nicht fortnehmen und verbrennen würde, aber sie stehen noch da. Nein, sie tat nicht das geringste daheim.

Ich ging mit dem Knecht über den Hofplatz, und er seufzte:

Ach, das ist arg geworden mit der gnädigen Frau, sie hat keine Ruhe mehr. Wo reist sie jetzt hin, was glaubst du wohl?

Gott weiß es; aber es hörte sich nicht so an, als wäre sie sich selbst darüber im klaren. Als wir rasteten, sah sie vor sich hin: Ich habe so viel zu tun, Nils, überall müßte ich eigentlich zu gleicher Zeit sein, aber von daheim sollte ich auch nicht fort! – Die gnädige Frau sollte sich nicht so viel vornehmen, antwortete ich, die gnädige Frau braucht nichts als Ruhe. – Aber du weißt ja, wie sie geworden ist, sie duldet nicht, daß man etwas sagt. Sie sah nur auf die Uhr und wollte wieder fahren.

War das auf dem Weg zur Station?

Nein, jetzt auf dem Heimweg. Da war sie beinahe am aufgeregtesten.

Hat ihr der Kapitän vielleicht geschrieben?

Der Knecht schüttelte den Kopf:

Nein. Aber Gott mag es wissen. Was ich sagen wollte – ja, morgen ist Sonntag?

Ja? Warum?

Nein, nur so. Ich wollte nur den Sonntag dazu benützen, mir einen Holzweg für den Winter auszusuchen. Ich habe seit langem darüber nachgedacht. Jetzt ist das leichter, als wenn Schnee liegt.

Beständig hatte er seine Arbeit im Kopf. Er setzte seine Ehre darein und wollte sich jetzt außerdem erkenntlich zeigen, weil ihn der Kapitän nach der Herbstbestellung aufgebessert hatte.

 

Es ist Sonntag.

Ich bin ein Stück aufwärts gegangen und besehe mir den Damm und den Graben: Noch einige schöne Tage, und wir haben die Leitung gelegt. Ich war in großer Spannung und konnte kaum erwarten, bis der Sonntag vorbei wäre und ich wieder anpacken dürfte. Der Kapitän hatte sich ja mit keinem Wort in meinen ganzen Plan eingemischt, sondern alles mir überlasten, und es konnte mir durchaus nicht gleichgültig sein, ob Frost eintrat und etwas zerstörte oder nicht.

Als ich von diesem Spaziergang wieder nach Hause komme, sehe ich den Landauer im Hofe stehen. Aber die Pferde waren ausgespannt. Um diese Zeit etwa konnte Frau Falkenbergs Fuhrwerk zurück sein; weshalb aber hat Grindhusen wieder vor der Haupttreppe gehalten? denke ich und gehe in die Küche.

Die Mädchen kommen mir entgegen: die gnädige Frau säße im Landauer, sie sei noch einmal heimgekommen. Sie sei fast auf der Station gewesen, und jetzt wolle sie noch einmal dorthin. Ob ich aus der gnädigen Frau klug werden könne?

Sie ist wohl etwas nervös, beruhige ich. Wo ist Nils?

Im Wald. Er würde lange fortbleiben, hat er gesagt. Nur wir sind hier, und wir können ihr nicht noch mehr zureden, als wir schon getan haben.

Und Grindhusen?

Er ist im Stall und wechselt die Pferde. Und die gnädige Frau sitzt im Landauer und will nicht heraus. Geh du jetzt hin und sprich mit ihr.

Na, und wenn sie auch ein bißchen spazieren fährt! – Das ist nicht so schlimm. Nur ruhig Blut.

Ich ging zu Frau Falkenberg hinaus. Mein Herz schlug stark. Wie angegriffen sie war. Wie verzweifelt alles für sie aussehen mußte! Ich öffnete den Wagenschlag, grüßte und sagte:

Erlauben Sie, daß diesmal ich fahre?

Sie sah mich ruhig an und erwiderte:

Nein, warum?

Grindhusen ist vielleicht etwas müde, ich weiß nicht –

Er versprach, mich zu fahren, sagte sie. Nein, er ist nicht müde. Kommt er nicht bald?

Ich sehe ihn nirgends, antwortete ich.

Schließ die Türe wieder und bitte ihn zu kommen! befahl sie; gleichzeitig hüllte sie sich fester in ihren Mantel ein.

Ich ging in den Stall zu Grindhusen, er schirrte die frischen Pferde an.

Was ist los? fragte ich. Sollst du wieder fort?

Ja? Oder nicht? antwortete Grindhusen und hielt einen Augenblick inne.

Das alles ist so sonderbar. Wohin will Frau Falkenberg reisen, weißt du es?

Nein. Heute nacht wollte sie plötzlich bei der Station umkehren, da aber sagte ich, daß weder wir noch die Pferde das aushalten würden. Dann übernachtete sie im Hotel. Aber heute morgen wollte sie wieder heim. Und jetzt will sie wieder zur Station. Ich kenne mich nicht aus.

Grindhusen schirrt weiter an.

Frau Falkenberg läßt dir sagen, du sollst dich beeilen.

Ja, gleich bin ich fertig. Diese Bauchgurten soll der Teufel holen!

Bist du nicht zu müde, die Fahrt noch einmal zu machen?

Nein, ich schaffe es schon. Und sie hat mir ein gutes Trinkgeld gegeben.

Hat sie das?

Ja. Oh, sie ist einzig in ihrer Art!

Dann sage ich zu Grindhusen:

Ich finde, du solltest jetzt nicht wieder wegfahren.

Er hält jäh inne:

Was sagst du? Nein, du könntest recht haben.

Da rief Frau Falkenberg draußen – sie war bis zur Stalltür gekommen:

Nun, bist du noch nicht fertig? Soll ich noch lange dasitzen und warten?

Ich komme jetzt auf der Stelle! erwiderte Grindhusen und beeilte sich noch mehr. Nur die Bauchgurten noch!

Sie wandte sich wieder zum Landauer zurück. Sie lief fast; der dicke Pelz war zu schwer für sie, und sie ruderte mit den Armen, um sich im Gleichgewicht zu halten. Das Ganze war ein so trauriger Anblick, sie sah aus wie ein Huhn, das über den Hofplatz flüchten will und mit den Flügeln nachhelfen muß.

Wieder ging ich zu Frau Falkenberg und war höflich, ja demütig, nahm die Mütze ab und bat sie, von dieser neuen Fahrt abzustehen.

Du sollst mich nicht fahren, antwortete sie.

Nein. Aber wenn die gnädige Frau sich entschließen wollte, daheim zu bleiben!

Da wurde sie ärgerlich, maß mich mit ihrem Blick und sagte: Verzeih, aber das geht dich nichts an. Wenn ich auch einmal daran schuld war, daß du entlassen wurdest –

Nein, nein, nicht deshalb! sagte ich verzweifelt und kam nicht weiter. Wenn sie es in dieser Weise auffaßte, machte sie mich zunichte.

Einen einzigen Augenblick lang schoß die Wut in mir auf; ich konnte doch in den Wagen greifen und dieses Küken, dieses jämmerliche Huhn, herausheben! Es muß ein Zucken durch meine Arme gegangen sein, sie machte eine erschrockene Bewegung und rückte fort. Da trat plötzlich ein Umschlag bei mir ein, ich wurde dumm und weich und machte noch einen Versuch:

Es wird hier so unheimlich, wenn Sie fortfahren, wir alle finden das. Lieber wollen wir uns etwas ausdenken, was Sie zerstreuen könnte; ich kann ein wenig lesen, vielleicht laut vorlesen, und Lars ist ja ein so guter Sänger. Ich könnte auch Geschichten erzählen oder etwas Ähnliches. Da kommt Grindhusen, darf ich ihm sagen, daß er wieder abschirren kann?

Sie war milder geworden, sah mich an und überlegte ein wenig. Dann erwiderte sie:

Du verstehst das Ganze gewiß falsch. Ich will den Kapitän treffen. Er kam vorgestern nicht, und er kam gestern nicht, aber einmal kommt er wohl. Ich will ihm entgegenfahren.

Oh!

Also geh nun deines Weges. Ist Grindhusen schon da?

In diesem Augenblick war ich wie auf den Mund geschlagen. Sie hatte recht, es klang so glaubhaft, oh, ich hatte mich wieder wie ein Narr betragen!

Ja, Grindhusen ist da, brachte ich heraus.

Und ich setzte die Mütze wieder auf und half Grindhusen sogar beim Einspannen. Ich war so verstört und beschämt, daß ich keine Entschuldigung vorbrachte, sondern nur herumrannte und überall nachsah, ob das Geschirr in Ordnung wäre.

Also du fährst mich, Grindhusen? fragte Frau Falkenberg.

Ich? Ja freilich! antwortete er.

Dann warf sie mit einem Knall die Türe zu, und der Landauer rollte aus dem Hof.

*

Ist sie abgefahren? fragten die Mädchen und schlugen die Hände zusammen.

Ja, gewiß ist sie das. Sie will ihren Mann treffen.

Wieder ging ich zum Damm hinauf. Da Grindhusen uns verlassen hatte, waren wir um einen Mann weniger zur Arbeit; nun kam es darauf an, ob wir anderen dies ausgleichen könnten.

Ich war mir aber bereits vollkommen klar darüber geworden, daß Frau Falkenberg mich mit einem erlogenen Vorwand überrumpelt hatte, als sie erklärte, ihren Mann treffen zu wollen. Es war ja an sich gleichgültig. Die Pferde waren ausgeruht, wir hatten sie in den Tagen, in denen der Knecht mit uns im Graben gearbeitet hatte, nicht gebraucht; aber auf jeden Fall war ich recht dumm gewesen. Hätte ich mich nicht einfach selbst auf den Bock setzen sollen? Ja, aber was dann? Nun, dann hätten die zu erwartenden späteren Verrücktheiten zu einem Teil nicht ohne mich geschehen können, und ich hätte sie aufzuhalten vermocht. Hehe, du verliebter alter Mann! Frau Falkenberg verfolgte vielleicht eine bestimmte Absicht, wollte dem Kapitän Gleiches mit Gleichem vergelten und fort sein, wenn er käme. Sie schwankte beständig, wollte und wollte nicht, wollte und wollte wieder nicht, die ganze Zeit hindurch; aber die Absicht war vorhanden. Und ich unschuldsvolle Seele war doch nicht nur auf die Wanderung gegangen, um die bürgerlichen Interessen von Eheleuten in ihren Liebesangelegenheiten zu verwalten. Meinetwegen! Frau Falkenberg war so verderbt geworden. Sie hatte wirklich Schaden gelitten und war ganz zerstört, jetzt war es bald gleichgültig, was sie mit sich anfing. Oh, sie hatte nun auch zu lügen begonnen. Von den Varietéaugen ging es weiter zur Lüge. Heute war es Notlüge, morgen würde sie zum Vergnügen lügen; eines zog das andere nach sich. Was dann aber? Dem Leben kommt es auf sie nicht an.

Drei Tage lang arbeiteten wir am Graben und hatten nur noch einige Meter vor uns. Es gab jetzt oft drei Grad Kälte in den Nächten, aber das behinderte uns nicht, wir drangen ständig vor. Grindhusen war zurückgekommen und mußte den Tunnel für das Rohr unter der Küche graben, ich selbst grub unter Kuh- und Pferdestall hindurch, was am wichtigsten war; der Knecht und Lars Falkenberg arbeiteten am Graben weiter, bis zum Damm hinauf.

Heute endlich fragte ich Grindhusen nach Frau Falkenberg. Dieses letzte Mal ist sie also nicht wieder mit dir heimgekommen, die gnädige Frau?

Nein, sie stieg in den Zug.

Ja, sie ist wohl zu ihrem Manne gereist?

Grindhusen ist mir gegenüber so vorsichtig geworden, zwei Tage lang hat er kein Wort gesagt, und jetzt antwortet er nur:

So hatte sie es vor. Doch, das hat sie gewiß getan, das kannst du dir denken, zu ihrem eigenen Mann –

Ich dachte, sie reise vielleicht zu ihren Eltern nach Kristianssand.

Ja, das kann sein, sagt Grindhusen und findet, daß dies besser klingt. Das ist ja doch klar wie die Sonne, daß sie dorthin fuhr. Ja, ja, sie kommt wohl bald wieder heim.

Hat sie das gesagt?

Es klang auf jeden Fall so. Er ist ja auch noch nicht gekommen, der Kapitän. Ja, das ist wirklich ein ganz großartiges Frauenzimmer: Hier hast du Geld, sorg für dich und die Pferde, sagte sie, und da hast du noch etwas obendrein. Oh, eine solche Frau findet man nicht wieder!

Den Mädchen aber, gegen die er zutraulicher war, hatte Grindhusen erzählt, daß es sehr fraglich sei, ob Frau Falkenberg wieder heimkäme. Sie hätte Grindhusen während des ganzen Weges nach dem Ingenieur Lassen ausgefragt und sei sicher zu ihm gereist. Ach ja, bei dem Manne würde sie nicht verkommen, dort seien nur Reichtum und Herrlichkeit!

Dann kam wieder eine Postkarte vom Kapitän an seine Frau, auf der nur stand, sie möchte so gut sein, ihn am Freitag durch Nils auf der Station abholen zu lassen und den Pelz nicht zu vergessen. Die Karte hatte sich verspätet: es war schon Donnerstag. Dieses Mal war es übrigens ein Glück, daß es Ragnhild eingefallen war, auf die Rückseite der Karte zu schauen.

Wir blieben im Schlafraum des Knechtes sitzen und schwätzten über den Kapitän. Wie er jetzt das alles aufnehmen würde, was wir sagen sollten, ob wir überhaupt etwas sagen sollten? Alle drei Mädchen waren bei dieser Beratung zugegen. Frau Falkenberg konnte schon lange in Kristiania angekommen sein, als der Kapitän seine Karte an sie schrieb. Also war sie nicht hingereist. Das alles war mehr als traurig.

Der Knecht fragte:

Hat sie keinen Brief hinterlassen?

Nein, es lag kein Brief da. Dagegen hatte Ragnhild auf eigene Faust etwas getan, wovon sie meinte, daß sie es vielleicht besser nicht getan hätte: Sie hatte die Photographien auf dem Flügel ins Feuer geworfen. Ob das schlimm wäre?

Gewiß nicht, Ragnhild, gewiß nicht.

Sie erzählte weiterhin, daß sie auch Frau Falkenbergs Wäsche durchgesehen und alle Taschentücher, die nicht ihr gehörten, herausgesucht habe. Oh, sie hätte Verschiedenes in ihrem Zimmer gefunden. Eine gestickte Tasche mit den Buchstaben vom Ingenieur Lassen, ein Buch mit seinem vollen Namen, ein paar Süßigkeiten, die in einem Umschlag mit seinem Aufdruck eingepackt waren, und alles habe sie verbrannt.

Ja, Ragnhild war ein merkwürdiges Mädchen. Dieser Instinkt! War sie ein Teufel, der ins Kloster gegangen war? Sie, die den roten Läufer auf der Treppe und die vielen Schlüssellöcher so notwendig brauchte.

Für mich und meine Arbeit paßte es ganz gut, daß der Kapitän das Fuhrwerk nicht eher verlangt hatte; der Graben war nun in seiner ganzen Länge fertig, und um die Röhren zu legen, brauchte ich Nils nicht. Dagegen mußte ich alle Leute haben, wenn der Graben zugeschüttet werden sollte. Es war übrigens wieder Regen und warmes Wetter eingetreten.

In diesen Zeiten kam es mir sehr zugute, daß die Wasserleitung mich in Spannung hielt; sie verscheuchte mir manche Grillen, die mir sonst wohl gekommen wären. Mitunter ballte ich die Fäuste und litt sehr, und wenn ich allein am Damm stand, konnte ich in den Wald hineinschreien; aber es war mir unmöglich, jetzt fortzureisen. Wo sollte ich auch hin?

 

Der Kapitän kam.

Er machte sofort einen Rundgang durch das Hauptgebäude, war in der Stube, in der Küche, ging in die Zimmer oben und kam wieder herunter, alles in Pelz und Überschuhen.

Wo ist meine Frau? fragte er.

Die gnädige Frau ist dem Herrn Kapitän entgegengereist, erwiderte Ragnhild. Wir glaubten, sie würde jetzt wieder mitkommen.

Der Kopf des Kapitäns begann sich vorzuneigen. Dann fragte er vorsichtig:

Sie ist also mit zur Bahn gefahren? Es ist doch ärgerlich, daß ich auf der Station nicht besser nachgesehen habe.

Ragnhild sagte:

Nein, die gnädige Frau ist schon am Sonntag abgereist.

Da wurde der Kapitän wieder Herr über sich und fragte:

Am Sonntag? Dann wollte sie mich in Kristiania treffen. Hm. Wir sind aneinander vorbeigefahren, es fiel mir gestern ein, einen Abstecher zu machen; ich war in Drammen – ich meine in Fredriksstad. Hast du etwas zu essen, Ragnhild?

Ja, bitte, es ist gedeckt.

Übrigens, es war vorgestern, daß ich diesen Abstecher machte. Ja ja, nun, so hat sie wenigstens eine kleine Reise unternommen! Ist auf dem Hof alles in Ordnung? Graben die Burschen an der Leitung?

Sie sind gewiß schon fertig damit.

Dann ging der Kapitän hinein.

Und sofort kam Ragnhild gelaufen und wiederholte uns seine Worte, damit wir uns danach richten könnten und das Übel nicht noch größer machten.

Später kam der Kapitän zu uns heraus; er grüßte auf Offiziersart: Guten Tag, Jungen! und war überrascht, die Röhren schon gelegt zu sehen. Ja, wir hatten sogar schon mit dem Zuschütten begonnen.

Großartige Kerle! sagte er. Ihr braucht nicht so lange zu einer Arbeit wie ich!

Und von uns weg ging er zum Damm hinauf. Als er von dort zurückkam, waren seine Augen nicht mehr so starr, eher verzagt; vielleicht hatte er dort in der Einsamkeit gesessen und über verschiedenes nachgedacht. Jetzt stand er da, die Hand am Kinn, und sah uns zu. Das dauerte einen Augenblick, dann sagte er zu Nils:

Ja, jetzt habe ich die Stämme verkauft.

Und der Herr Kapitän hat vielleicht auch einen guten Preis dafür bekommen?

Ja, das habe ich. Einen guten Preis. Aber ich habe diese ganze Zeit dazu gebraucht. Ihr hier seid rascher fertig gewesen.

Wir waren auch zu mehreren, erwiderte ich, oft zu viert.

Da versuchte er zu scherzen:

Ja, ich weiß, daß du mir teuer zu stehen kommst!

Aber er sah nicht spaßhaft aus, und sein Lächeln war beinahe nicht zu erkennen. Jetzt hatte ihn die Abspannung ernstlich gepackt. Nach einer Weile setzte er sich auf einen Stein, den wir aus dem Graben ausgehoben hatten, und der mit feuchtem Lehm bedeckt war. Von dort folgte er uns mit den Blicken.

Da trat ich mit dem Spaten in der Hand zu ihm hin und fragte, weil mir seine Kleider leid taten:

Soll ich nicht den Lehm ein wenig abkratzen?

Nein, das tut nichts, antwortete er.

Aber er erhob sich doch und ließ mich den Stein ein bißchen säubern.

Da sahen wir Ragnhild den Graben entlang auf uns zulaufen; sie hielt etwas Weißes in der Hand, ein Papier. Und sie lief und lief. Der Kapitän saß da und sah ihr entgegen.

Ein Telegramm, rief sie atemlos. Ein Eilbote kam damit.

Der Kapitän stand auf und hastete diesem Telegramm ein paar Schritte entgegen. Dann riß er es auf und las.

Wir sahen sofort, daß es etwas Wichtiges sein mußte; er holte einmal tief Atem. Dann begann er zu gehen, nach Hause zu gehen, zu laufen. Als er ein Stück weit gekommen war, drehte er sich um und rief Nils zu:

Spann sogleich an. Ich muß zur Station.

Dann lief er wieder.

*

Und der Kapitän reiste ab. Er hatte sich nur wenige Stunden zu Hause aufgehalten.

Ragnhild erzählte, wie gehetzt der arme Mann gewesen sei: ohne Pelz hatte er in den Wagen springen wollen; er vergaß den Reiseproviant, der für ihn hergerichtet worden war, und das Telegramm lag offen auf der Treppe.

Unglück, stand dort – Ihre Gattin – der Polizeimeister. Was hatte das alles zu bedeuten?

Ich dachte es mir gleich, als ich den Eilboten sah! sagte Ragnhild mit fremder Stimme und wandte sich ab. Ja, es wird wohl ein großes Unglück geschehen sein.

Ach nein! entgegne ich und lese das Telegramm immer wieder. Sieh her, es ist nicht so gefährlich, hör doch zu: Ersuche Sie, sofort zu kommen, Ihre Gattin verunglückt. Der Polizeimeister.

Es war ein Eiltelegramm und kam aus der kleinen Stadt, der toten Stadt. Ja, so war es. Ein Rauschen ging durch diese Stadt, eine lange Brücke war dort, ein Wasserfall. Jeder Schrei erstarb, wohin man auch schrie, niemand hörte es. Und keine Vögel gab es dort.

Alle Mädchen aber kommen und sprechen in fremdem Tonfall mit mir; es herrscht nur Jammer unter uns, und ich muß gewichtig und sicher auftreten: Die gnädige Frau konnte gefallen sein und sich verletzt haben, sie war nicht mehr sehr gewandt. Aber vielleicht hätte sie von selbst wieder aufstehen können und sich kaum weh getan, vielleicht hätte sie nur ein wenig geblutet. Oh, diese Polizeimeister sind so schnell mit dem Telegraphieren bei der Hand!

O nein, o nein! sagte Ragnhild. Du weißt sehr gut: wenn der Polizeimeister telegraphiert, hat man gewiß die gnädige Frau irgendwo tot aufgefunden. Nein, es ist nicht – ist nicht auszuhalten –

Schlimme Tage kamen. Ich arbeitete schwerer denn je, aber wie ein Schlafwandler, ohne Spannung und ohne Lust. Kam der Kapitän noch nicht bald zurück?

Drei Tage danach traf er ein, still und allein – die Leiche war nach Kristianssand gebracht worden. Der Kapitän wollte sich nur andere Kleider holen und gleich wieder abreisen, um beim Begräbnis zugegen zu sein.

Dieses Mal war er höchstens eine Stunde lang daheim, – dann mußte er wieder fort, um noch den Morgenzug zu erreichen. Ich selbst sah ihn nicht einmal, denn ich war auf dem Feld.

Ragnhild fragte ihn, ob er seine Frau am Leben getroffen habe?

Er sah sie an und runzelte die Brauen.

Aber das Mädchen hatte nicht nachgelassen, sondern ihn um Gottes willen gebeten, so freundlich zu sein, es zu sagen! Und die beiden anderen Mädchen hatten hinter ihr gestanden und waren ebenso verzweifelt gewesen.

Sie war schon mehrere Tage tot, als ich kam. Es war ein Unglücksfall; sie wollte über den Fluß, und das Eis war zu dünn. Nein, es war gar kein Eis, aber die Steine waren so glatt – Übrigens war auch Eis da.

Da begannen die Mädchen zu jammern; das aber ertrug der Kapitän nicht. Er erhob sich vom Stuhl, räusperte sich hart und sagte:

Ja, schon gut, geht wieder hinaus! – Hör einmal, Ragnhild! Er wollte sie unter vier Augen sprechen: Was ich sagen wollte, hast du einige Photographien vom Flügel hier weggenommen? Ich verstehe nicht, wo sie hingekommen sind.

Da wurde Ragnhild wieder klar und lebendig und antwortete – und Gott segne sie für ihre Lüge:

Ich? Nein, das hat die gnädige Frau eines Tages getan.

So. Ja, ja. Ich wußte nur nicht, wo sie hingekommen sind.

Der Kapitän atmete auf – atmete auf, als er diese Erklärung erhielt.

Als er sich erhob, gab er Ragnhild den Bescheid, ich solle Övrebö nicht verlassen, bevor er zurückgekommen sei.

 

14

Nein, ich ging nicht fort.

Ich arbeitete; ich stapfte die schlaffsten Tage meines Lebens zu Ende und machte die Wasserleitung fertig. Es gab eine kleine Abwechslung auf dem Hof, als wir zum erstenmal das Wasser laufen lassen konnten, und uns allen tat es not, über etwas Neues sprechen zu können.

Lars Falkenberg hatte uns jetzt verlassen. Zwischen ihm und mir hatte es keine Verstimmung mehr gegeben; es war wieder wie in alten Zeiten, als wir noch von Ort zu Ort wanderten und gute Kameraden waren.

Er hatte es besser als manch ein anderer, sein Sinn war leicht und sein Kopf leer; außerdem war seine Gesundheit unverwüstlich. Allerdings war es jetzt mit seinen Liedern unten aus dem Hofe für immer vorbei; aber in den letzten Jahren hatte er sicher selbst einen kleinen Verdacht gegen seine Stimme gefaßt, und meistens prahlte er nur noch damit, wie er einmal – seinerzeit – beim Tanz und vor den Herrschaften gesungen habe. Nein, um Lars Falkenberg stand es nicht so schlecht; er hatte sein kleines Stück Land für zwei Kühe und ein Schwein, hatte außerdem seine Frau und die Kinder.

Was aber sollten Grindhusen und ich unternehmen? Ich konnte wandern, wohin ich wollte, aber der gute Grindhusen konnte nicht wandern. Er konnte an einem Platz immer nur so lange wohnen und arbeiten, bis ihm aufgesagt wurde. Und stets, wenn diese harte Nachricht kam, war er so verstört, daß er es nicht auf die leichte Achsel nehmen konnte, sondern glaubte, nun würde es ganz schlimm für ihn werden. Eine Weile danach erhielt er Vertrauen und Kinderglauben wieder zurück – nicht zu sich selbst, aber zum Schicksal, zur Vorsehung; er wurde wieder träge und sagte: Ach ja, mit Gottes Hilfe wird es schon wieder gehen!

Aber auch er hatte es gut. Er besaß eine unvergleichliche Art, sich überall, wohin er auch kam, zurechtzufinden. Wenn es auf ihn ankäme, könnte er dort bis zu seinem Tode bleiben. Nach Hause zu gehen brauchte er nicht; die Kinder waren erwachsen, und der Frau bedurfte er nicht. O nein, dieser alte rothaarige Heißsporn der früheren Zeiten brauchte jetzt nur noch Unterkunft und Arbeit.

Wohin gehst du von hier? fragte er mich.

Ich gehe weit, ich will ins Gebirge, nach Trovatn, in einen Wald.

Und trotzdem er mir keineswegs glaubte, sagte er still und nachgiebig:

Das kann schon sein.

Nachdem die Wasserleitung fertig war, ließ der Knecht Grindhusen und mich Brennholz im Walde machen, bis der Kapitän kam. Wir räumten den Wald auf und sammelten die Äste zusammen, die seit dem Baumfällen noch dalagen. Es war eine ruhige und angenehme Arbeit.

Wenn der Kapitän zurückkommt, werden wir wohl beide entlassen, sagte Grindhusen.

Du könntest hier Winterarbeit übernehmen, schlug ich vor. Von diesen tausend Dutzend Stämmen ist noch eine Menge Brennholz übrig, das du gegen angemessene Bezahlung kleinsägen könntest.

Ja, sprich du mit dem Kapitän darüber, erwiderte er.

Und die Hoffnung auf eine lange Winterarbeit machte diesen Mann wieder zu einer zufriedenen Seele. Er konnte sich selbst gut leiden. Also, um Grindhusen war es auch nicht so schlecht bestellt.

Jetzt aber kam die Reihe an mich. Ich konnte mich nun nicht mehr so gut leiden. Gott mochte es bessern.

*

Am Sonntag streifte ich ruhelos umher. Ich wartete auf den Kapitän, er sollte kommen. Um ein letztes Mal alles zu prüfen, ging ich eine lange Strecke an dem Bach, der unser Wasserbecken füllte, aufwärts; ich wollte noch einmal die beiden kleinen Weiher in den waldigen Höhen sehen, »die Quellen des Nils«.

Als ich auf dem Heimweg durch den Wald hinunterging, traf ich Lars Falkenberg, der von unten heraufkam und nach Hause wollte. Rot und gewaltig ging eben der Vollmond auf. Überall wurde es hell; auch war ein wenig Schnee gefallen und Frost eingetreten, es atmete sich leicht. Lars war sehr freundlich; er hatte sich unten im Ort ein wenig Branntwein geleistet und sprach nun viel und gern. Aber ich hätte ihn am liebsten nicht getroffen.

Lange Zeit hatte ich zwischen den waldigen Höhenzügen gestanden und dem Rauschen des Himmels und der Erde gelauscht, und nichts anderes war zu hören gewesen. Wenn etwas raschelte, war es ein verdorrtes und zusammengerolltes Laubblatt, das durch die gefrorenen Zweige herunterrieselte. Das war, als höre man eine kleine Quelle. Dann rauschten wieder Himmel und Erde. Milde legte sich über meine Seele, eine Sordine dämpfte meine Saiten.

Lars Falkenberg wollte wissen, woher ich käme und wohin ich ginge. Vom Bach? Vom Wasserbecken? Das sei ja alles miteinander nur dummes Zeug, die Leute könnten selber ihr Wasser tragen. Der Kapitän führe so viele neumodische Erfindungen ein, die Herbstpflügerei und all das andere, daß er nächstens einmal unversehens um Haus und Hof kommen werde. Reiche Ernte, behaupteten sie. Ja, ja. Aber sie bedächten nicht alle die Ausgaben für die Maschinen und die vielen Leute, die sie zu jeder Maschine brauchten. Was hätten allein Grindhusen und ich während des Sommers gekostet! Und was hätte er selbst im Herbst gekostet! – In früheren Tagen war Reichtum und Musik auf Övrebö; da gab es einen, der saß in der Stube und sang vor – ich will nicht davon sprechen! sagte Lars. Und jetzt ist bald kein einziger gerader Stamm mehr im Walde.

In einigen Jahren steht der Wald wieder ebenso dicht.

In einigen Jahren? Das dauert viele Jahre, glaub es mir. Ach nein, alter Freund, es gehört mehr dazu, als nur Kapitän zu sein und zu kommandieren rr – dann steht schon alles da! Und Bürgermeister ist er auch nicht mehr, und nie mehr sehe ich jemand kommen und sich bei ihm einen kleinen Rat in irgendeiner Angelegenheit holen –

Hast du den Kapitän unten getroffen? Ist er jetzt da? unterbreche ich.

Ja, er ist gekommen. Er sah aus wie ein Skelett. Woran dachte ich doch eben – wann gehst du nun fort?

Morgen, antwortete ich.

Schon morgen! Da zeigte sich Lars voller Wohlwollen und nahm Abschied von mir. Er hatte nicht gemeint, daß ich so schnell fortgehen würde.

Es ist fraglich, ob ich dich vorher noch einmal sehe, begann er. Jetzt aber will ich dir etwas sagen: du solltest nicht noch mehr von deinem Leben so vergeuden, sondern solltest trachten, zur Ruhe zu kommen. Das möchte ich dir hier auf diesem Weg zum letztenmal sagen, denk daran. Ich habe es ja auch nicht gar so gut, aber ich kenne nicht viele unseresgleichen, denen es besser ginge, – und du gehörst schon gar nicht dazu. Ich habe doch ein Dach über dem Kopf. Das habe ich. Frau und Kinder, zwei Kühe, die eine kalbt im Herbst, und die andere im Frühjahr – und dann ein Schwein, ja, das ist mein ganzer Besitz. Ich will mich also nicht damit brüsten. Aber wenn wir es genau bedenken, so habe ich doch ein Anwesen; so ist es.

Ja, dir kann es freilich nicht fehlen, du hast dich so gut heraufgearbeitet, sage ich.

Bei dieser Anerkennung wird Lars noch freundlicher, er ist eitel Wohlwollen gegen mich und meint:

Was das betrifft, so brauchst du hinter keinem zurückzustehen. Denn du taugst nicht allein zu jeder Art Arbeit, sondern kannst auch gut rechnen und schreiben. Aber es ist deine eigene Schuld. Du hättest es so machen sollen, wie ich dir vor sechs, sieben Jahren geraten habe, und hättest dir eins von den anderen Mädchen auf dem Hof nehmen sollen, so wie ich Emma, und dich für immer hier niederlassen. Dann müßtest du jetzt nicht von Ort zu Ort ziehen. Heute noch rate ich dir das gleiche.

Es ist zu spät, antworte ich.

Ja, du bist so abscheulich grau geworden, daß ich allerdings nicht wüßte, wen du hier aus der Gegend bekommen solltest. Wie alt bist du?

Ach pfui, frag nicht danach.

Eine ganz junge dürfte es ja gerade nicht sein, aber – Ich wollte dir noch irgend etwas sagen, komm ein wenig mit hinauf, dann fällt es mir vielleicht wieder ein.

Ich kam mit, und Lars schwätzte während des ganzen Weges. Er erbot sich, mir beim Kapitän zu helfen, damit auch ich eine Rodung bekäme.

Es ist doch merkwürdig, daß ich so vollständig vergessen konnte, worüber ich jetzt im Gehen nachgedacht hatte, sagte er. Geh mit mir heim, dann komme ich gewiß wieder darauf. Er war voller Wohlwollen. Aber ich hatte noch meine Sachen zusammenzupacken und wollte nicht mehr weiter mitgehen.

Du triffst den Kapitän heute abend doch nicht mehr.

Nein, aber es ist zu spät, Emma ist zu Bett, ich bringe nur Unruhe ins Haus.

Ach keineswegs! entgegnete Lars. Und sollte sie wirklich schon schlafen gegangen sein, dann ist es eben auch nicht zu ändern. Ich glaube, du hast auch noch ein Hemd bei uns liegen. Komm und nimm es mit. Dann braucht Emma nicht den weiten Weg damit hinunterzugehen.

Nein, aber grüß Emma von mir! wagte ich jetzt zu sagen.

Ja, das werde ich. Und wenn du wirklich durchaus keine Zeit mehr hast, in meine bescheidene Hütte mitzukommen – Gehst du morgen in aller Frühe?

Ich bedachte nicht, daß ich den Kapitän an diesem Abend nicht mehr treffen könnte, und antwortete: Ja, ich würde ganz früh weggehen.

Dann werde ich Emma gleich jetzt mit deinem Hemd hinunterkommandieren, nickte Lars. Und leb wohl für dieses Mal! Denk daran, was ich dir gesagt habe!

So trennten wir uns.

Als ich ein Stück weit hinabgekommen war, verlangsamte ich meinen Schritt, es eilte im Grund nicht so sehr mit dem Packen und Zusammenrichten. Ich kehrte um, ging im Mondschein wieder hinauf und pfiff vor mich hin. Es war ein schöner Abend, keine Kälte, nur eine weiche und stille Ruhe über allen Wäldern. Eine halbe Stunde verging, dann überraschte mich Emma, die mit dem Hemd kam.

*

Am Morgen gingen weder Grindhusen noch ich in den Wald. Grindhusen war unruhig und fragte mich:

Hast du schon mit dem Kapitän über mich gesprochen?

Ich habe ihn noch nicht getroffen.

Ich bin sicher, daß ich entlassen werde. Wenn er etwas taugte, ließe er mich dieses Brennholz aufarbeiten; aber der! Er kann sich kaum einen Knecht halten.

Das sagst du, Grindhusen? Du mochtest den Kapitän Falkenberg doch früher ganz gut leiden?

Ja, das weißt du. Doch, es versteht sich, der Mann kann ganz gut sein. Hm. Es sollte mich übrigens wundern, wenn der Flößereiinspektor nicht irgend etwas für mich zu tun hätte. Denn er ist ja ein schwerreicher Mann, der Inspektor – Um acht Uhr traf ich den Kapitän und sprach eine Weile mit ihm; dann kamen ein paar Nachbarn auf den Hof, sie wollten wohl ihre Teilnahme bezeugen. Der Kapitän sah angegriffen aus, aber keineswegs gebrochen, sein Wesen war fest und bestimmt. Er fragte mich um Rat wegen einer großen Scheune, die er bauen wollte.

Und jetzt war wohl keine Unordnung mehr auf Övrebö, keine Aufregung, keine verirrte Seele! Ich dachte beinahe mit Wehmut daran: Niemand stellt freche Photographien auf den Flügel in der Stube, aber es spielt auch niemand mehr auf dem Flügel, er steht dort und schweigt nach dem letzten Ton. Denn Frau Falkenberg ist nicht mehr hier und fügt weder sich noch anderen Schlimmes zu. Nichts von dem Alten ist mehr da. Nun fragt es sich, ob es später wieder einmal Freude und Blumen auf Övrebö geben wird.

Wenn er jetzt nur nicht wieder zu trinken anfängt, sage ich zu Nils.

O nein, antwortet er. Ich glaube sogar, daß er niemals richtig getrunken hat. Das Leben, das er eine Zeitlang führte, entsprach gar nicht seiner Natur. Um aber von einem auf das andere zu kommen, bist du im Frühjahr wieder hier?

Nein, erwidere ich, jetzt kehre ich nicht mehr zurück.

Da sagen der Knecht und ich einander Lebewohl.

Immer werde ich an das Gleichgewicht dieses Mannes und an seine rechtschaffene Gesinnung denken. Ich stehe da und sehe ihm nach, während er über den Hofplatz geht. Da wendet er sich um und fragt:

Warst du gestern im Wald? Liegt so viel Schnee, daß ich heute den Schlitten nehmen und Holz herunterfahren kann?

Ja, antworte ich.

Da geht er erleichtert zum Stall, um anzuschirren.

Und Grindhusen kommt auch und will in den Stall. Einen Augenblick bleibt er bei mir stehen und berichtet, daß ihm der Kapitän von selbst Arbeit im Walde angewiesen habe: Säg das ganze Brennholz auf – was du eben fertigbringst. Bleib noch eine Zeitlang hier, über den Lohn werden wir schon einig werden. Dank und Ehre, Herr Kapitän! sagte ich. Melde dich bei Nils, erwiderte er. Oh, welch ein Prachtkerl! So einen findet man nicht wieder!

Eine Weile später schickt der Kapitän nach mir, und ich gehe in sein Zimmer hinauf. Er dankt mir für die Arbeit, die ich sowohl draußen auf den Feldern wie auf dem Hofe geleistet habe, und rechnet mit mir ab. Nun waren wir eigentlich fertig miteinander, aber er stellt wieder etliche Fragen wegen der Scheune an mich, und wir sprechen noch eine ziemliche Weile darüber. Auf jeden Fall müsse das alles bis nach Weihnachten liegen bleiben, sagte er; wenn es aber an der Zeit wäre, würde er mich gerne wieder hier sehen. Gleichzeitig richtete er die Augen auf mich:

Aber du kommst nun wohl nie wieder hierher?

Ich stutzte, gab ihm jedoch den Blick zurück und antwortete: Nein.

Im Hinuntergehen dachte ich über seine Worte nach: hatte er mich durchschaut? In diesem Falle hatte er mir ein Vertrauen bewiesen, das ich zu schätzen wußte. Er war doch ein Mann von Lebensart.

Vertrauen? Aber was kostete ihn das? Ich war ein abgedankter Mensch. Er ließ mich hier tun und lassen, was ich wollte, und verließ sich auf meine gänzliche Unschädlichkeit. So war es wohl. Übrigens war ja auch gar nichts zu durchschauen.

Und ich nahm Abschied von allen, von Ragnhild und von den Mädchen. Als ich dann mit dem Ranzen über den Hofplatz ging, sagte der Kapitän von der Treppe aus:

Mir fällt eben ein – wenn du zur Station willst, kann dich ja der Junge fahren.

Ein Mann von Lebensart! Aber ich dankte und schlug das Anerbieten aus. Ich fühlte mich noch nicht so abgedankt, daß ich nicht dieses Stück Weges zu Fuß hätte gehen können.

*

Nun bin ich wieder in meiner kleinen Stadt. Und ich bin hierhergekommen, weil die Stadt an meinem Wege nach Trovatn und zu den Bergen liegt.

Hier ist es wie früher, nur daß oberhalb und unterhalb des Wasserfalles eine dünne Eisdecke auf dem Fluß liegt. Und auf dem Eis liegt Schnee.

Ich kaufe mir in der Stadt Kleider und Ausrüstung, und nachdem ich gute Schuhe bekommen habe, gehe ich mit den alten zum Schuster, um diese sohlen zu lassen. Der Schuster unterhält sich mit mir und lädt mich zum Sitzen ein. Wo kommst du denn her? fragte er. Und mit einemmal werde ich wieder in den Geist dieser Stadt versetzt.

Ich gehe zum Friedhof hinauf. Auch hier hat man sich für den Winter gerüstet. Um Pflanzen und Büsche ist Stroh gebunden, und über viele empfindliche Grabsteine sind große Bretterverschläge gedeckt. Und die Verschläge wiederum sind mit einem Anstrich geschützt. Es ist, als habe man sich gedacht: sieh, ich habe nun diesen Grabstein; wenn ich vorsichtig damit umgehe, kann er nicht nur für mich, sondern auch für meine Nachkommen durch viele Geschlechter hier stehen.

Auch Weihnachtsmarkt ist gerade, und ich schlendere dorthin. Hier gibt es Rodel und Schneeschuhe, hier gibt es kleine Buttertonnen und aus einem Stamm geschnitzte Bauernstühle wie im Märchen, wie aus der Unterwelt, rosa Fäustlinge, Manghölzer, Fuchsbälge. Und auch Pferdehändler und Viehtreiber sind da, die sich unter die Bauern aus dem Tale mischen. Ja, hier sind sogar Juden, die hergekommen sind, den Leuten eine oder auch zwei ausgeleierte Taschenuhren aufzuschwindeln, obwohl die Stadt kein Geld hat. Und die Uhren sind aus dem Land da oben in den Alpen, wo Böcklin – nicht her war, wo niemand und nichts her ist.

Ach, unser Weihnachtsmarkt!

An den Abenden aber gibt es biedere Belustigungen für alle. In zwei Sälen wird getanzt, Meister der Hardangerfiedel spielen auf, und das ist unerhört schön, nicht mehr noch weniger. Auf der Fiedel sind Stahlsaiten aufgezogen, die machen keine Phrasen. Es ist eine Musik mit Takt und Schlag. Auf verschiedene Menschen wirkt sie verschieden, die einen fühlen sich von nationaler Süßigkeit durchschauert, andere fletschen die Zähne und fangen vor Wehmut zu brüllen an. Niemals noch haben Takt und Schlag eine stärkere Wirkung ausgeübt. Und der Tanz geht weiter.

In einer Pause singt der Schullehrer das Lied:

Du alte Mutter, du hast dich gequält
Für uns, dein Schweiß ward Blut –

Aber einige der närrischen Burschen wollen Tanz und nichts als Tanz. Was soll das heißen, da stehen sie, die Mädchen um den Leib gefaßt, und nun wird gesungen statt getanzt! Und sie wollen mit dem Gesang verschont sein! Der Sänger hält inne: Was, verschont sein von Vinje, dem großen Volksdichter! Stimmen dafür und dagegen werden laut, Gezank, Geschrei. Niemals noch haben Gesang und Gedicht eine stärkere Wirkung ausgeübt.

Und der Tanz geht weiter.

Die Mädchen aus dem Tal sind fünf rosenrote Unterröcke dicht; aber das macht ihnen nichts aus, sie sind es gewohnt, schwer zu tragen. Und der Tanz geht weiter, das Gedröhn geht weiter, der Branntwein heizt ein, Dampf steigt aus dem Hexenkessel auf. Morgens um drei Uhr kommt die Polizei und klopft mit dem Stock auf den Boden. Punktum. Die Paare gehen in den Mondschein hinaus und zerstreuen sich in Stadt und Umgebung. Neun Monate später liefern die Mädchen aus dem Tal oben den Beweis, daß sie doch noch um einen Unterrock zu wenig dicht waren. Niemals noch haben undichte Röcke eine stärkere Wirkung ausgeübt.

Nun ist der Fluß still, es lohnt sich nicht mehr, ihn anzusehen, er hat sich dem Winter ergeben. Zwar treibt er die Holzschleifereien, Sägen und Mühlen, die an den Ufern liegen, denn er ist und bleibt ein großer Fluß; aber er ist ohne Leben, er hat sich selbst die Decke übergezogen.

Und dem Wasserfall geht es ganz schlecht. Früher einmal sah ich hinunter, hörte ihm zu und dachte: welche Folgen würde es schließlich für mein Gehirn haben, wenn ich beständig in dieser Welt des Rauschens da unten lebte? Jetzt ist der Wasserfall klein und murmelt zahm, es wäre eine Schande, dies mit Rauschen zu bezeichnen. Herrgott, das ist ja geradezu die Ruine eines Wasserfalls! Er ist in Armut hinabgesunken, überall ragen große Steine heraus, hie und da hat sich ein Stamm quer darübergelegt, trockenen Fußes könnte man über Steine und Stämme springen.

Dann bin ich in der Stadt fertig und stehe, den Ranzen auf dem Rücken, zum Weitergehen bereit. Es ist Sonntag und klares Wetter.

Ich gehe zum Hotelburschen und sage ihm, daß ich fertig bin. Er will mich ein Stück flußaufwärts begleiten. Der große gutmütige Kerl will auch meinen Ranzen tragen – als ob ich ihn nicht selbst tragen könnte.

Wir wandern am rechten Ufer entlang, aber der eigentliche Weg ist auf der linken Seite, wir gehen nur auf einem Sommerweg, einem Flößersteig, mit ein paar frischen Spuren im Schnee. Mein Begleiter begreift nicht recht, warum wir nicht den eigentlichen Weg einschlagen, er ist nicht sehr klug; aber ich bin an den vorhergehenden Tagen zweimal diesen Steig gegangen und will ihn noch einmal gehen. Es sind meine eigenen Spuren, die wir vor uns sehen.

Ich fragte:

Die Dame, von der du einmal sprachst – die ertrunken ist – war das hier irgendwo?

Ach, die hier umkam – ja, jetzt sind wir da. Das war schrecklich, wir waren schließlich wohl zwanzig Leute und die Polizei, und alle suchten.

Habt ihr mit den Haken gesucht?

Ja, mit den Haken. Wir legten Bretter und Leitern hinaus, aber die brachen mit uns ein, da konnten wir ebensogut das ganze Eis aufschlagen. Dort kannst du noch sehen, wo wir gearbeitet haben, sagt der Knecht und bleibt stehen.

Ich sehe die dunkle Fläche im Eis, wo die Leute mit den Booten umhergerudert waren, das Eis aufgeschlagen und im Master gesucht hatten; jetzt war es wieder zugefroren.

Der Knecht erzählt weiter:

Endlich fanden wir sie. Ein wahres Glück, muß ich wirklich sagen, daß der Fluß so seicht war. Sie war sofort auf den Grund gesunken und dort zwischen zwei Steinen hängen geblieben. Der Fluß hatte dort keine Strömung. Wäre es Frühjahr gewesen, hätte das Wasser sie weit mitgeführt.

So hat sie über den Fluß gewollt?

Ja, alle Leute müssen doch auf das Eis, sobald das Wasser zufriert, das ist eine alte üble Gewohnheit. Schon vorher war jemand hinübergegangen, aber das war zwei Tage früher gewesen. Sie kam, genau wie wir jetzt, von dieser Seite her, und der Ingenieur kam auf der anderen Seite den Weg herunter, er war mit seinem Rad fortgewesen. Sie erblicken einander und geben sich Zeichen, wie um sich zu grüßen oder so ähnlich, denn die beiden waren miteinander verwandt. Da hat die Dame eines der Zeichen mißverstanden und geglaubt, er winke ihr, so sagt der Ingenieur, denn sie schickte sich an, über den Fluß zu gehen. Und der Ingenieur schrie ihr zu, aber das hörte sie nicht, und er hatte das Rad bei sich und konnte nicht hin; und übrigens war ja schon vorher einmal jemand hinübergegangen. Der Ingenieur erzählte der Polizei, wie alles zugegangen war, und jedes Wort wurde aufgeschrieben. Als sie nun mitten auf dem Fluß war, da brach sie ein. Sie war wohl auf eine ganz dünne Stelle im Eis getreten. Und der Ingenieur fährt auf seinem Rad wie der Blitz in die Stadt und heim ins Hotel und fängt an zu klingeln. Niemals habe ich ein solches Klingeln gehört. Es ist jemand in den Fluß gefallen, rief er. Meine Cousine! Wir hinaus, und der Ingenieur wieder mit. Wir hatten Stricke und Bootshaken dabei, aber es war umsonst; nach einiger Zeit kam die Polizei, die Feuerwehr kam, sie nahmen ein Boot und trugen es, bis sie zu uns kamen, dann setzten sie es ins Wasser und begannen zu suchen. Aber am ersten Tage fanden wir sie nicht, erst tags darauf fanden wir sie. Ja, das war wirklich ein häßliches Unglück.

Sagtest du nicht, daß auch ihr Mann, der Kapitän, kam?

Ja, der Kapitän kam. Und du kannst dir denken, wie angegriffen er war. Und das waren wir eigentlich alle und die ganze Stadt. Der Ingenieur war lange Zeit ganz außer sich, sagten sie bei uns im Hotel, und als der Kapitän eintraf, ging er auf eine Inspektionsreise flußaufwärts, nur weil er es nicht ertragen konnte, noch mehr über das Unglück zu sprechen.

So hat der Kapitän ihn also nicht getroffen?

Nein. Hm. Doch; ich weiß es nicht, erwiderte der Träger und sah sich um.

Er antwortete so schwankend, und ich begriff, daß er es wußte. Aber es war unwichtig, und ich fragte ihn nicht weiter aus.

Ja, ja, hab nun Dank für die Begleitung! sage ich und, gebe ihm ein wenig Geld zu einem Winterrock oder sonst etwas. Und ich nahm Abschied von ihm und wollte ihn veranlassen, umzukehren.

Aber er wollte mich noch ein Stück begleiten. Und damit ich darauf eingehe, sagt er plötzlich: Doch, der Kapitän hat den Ingenieur noch zu fassen bekommen, während er hier war! – Diese gute und dumme Seele hatte aus dem Geklatsch der Mädchen in der Küche herausgehört, daß es mit dem Ingenieur und dieser Cousine, die zu ihm kam, kaum ganz richtig bestellt sein konnte; aber mehr verstand er nicht. Dagegen hatte er selbst den Kapitän flußaufwärts zum Ingenieur begleitet.

Der Kapitän mußte unbedingt den Ingenieur treffen, erzählte er, und ich ging mit ihm flußaufwärts. Was kann der Ingenieur auf einem zugefrorenen Fluß inspizieren? fragte der Kapitän unterwegs. Das verstehe ich auch nicht, antwortete ich. Dann gingen wir den ganzen Tag bis gegen Abend. Es ist möglich, daß er in dieser Blockhütte ist, sagte ich, denn ich habe gehört, daß auch seine Flößer sich hier aufhalten. Der Kapitän wollte nicht, daß ich ihn weiter begleite, sondern meinte, ich solle warten. Dann ging er selbst in die Hütte. Er war nicht länger als ein paar Minuten drinnen, dann kamen sowohl er als auch der Ingenieur heraus. Sie sagten einige Worte zueinander, die ich nicht hören konnte, aber plötzlich sah ich, wie der Kapitän die Arme in die Luft warf – so – und auf den Ingenieur losging, und sah, daß dieser zu Boden fiel. Oh, Gott bewahre mich, der mag seinen Kopf gespürt haben! Aber nicht genug damit, jetzt hob er selbst den Ingenieur wieder auf und schlug noch einmal auf ihn ein. Dann kam er zu mir und sagte: Laß uns heimgehen.

Ich verfiel in Gedanken. Es wunderte mich, daß der Träger, dieser Mensch, der keinen Feind hatte und niemand etwas nachtrug, den Ingenieur ohne Hilfe bei der Hütte zurückgelassen hatte. Und aus seiner Erzählung klang kein Unbehagen über die Abstrafung. So sei wohl der Ingenieur auch gegen ihn geizig gewesen und hätte ihm seine Dienstleistungen nie bezahlt, dachte ich; sondern hätte nur den Kommandeur gespielt, ihn ausgelacht und sich wie ein junger Hund betragen. So war es wohl gewesen! Und jetzt war meine Eifersucht wohl nicht mehr mit im Spiel.

Der Kapitän aber, das war ein Kerl, der gab Trinkgelder! sagte der Träger schließlich. Ich habe meine ganzen Schulden damit bezahlt, jawohl, das hab ich.

Als ich den Träger endlich losgeworden war, überquerte ich den Fluß, und das Eis war stark genug. Jetzt war ich auf dem großen Weg. Und ich wanderte weiter und dachte an die Erzählung des Knechtes. Der Überfall an der Blockhütte, – welchen Sinn konnte er haben? Er bewies nur, daß der eine groß und stark und der andere ein kleiner Sportsmann mit einem großen Hintern war. Der Kapitän aber war Offizier. Das mochte ihm wohl vorgeschwebt haben. Vielleicht hätte ihm, als es noch Zeit war, etwas anderes vorschweben sollen; was weiß ich! Seine Frau war ertrunken, der Kapitän konnte jetzt machen, was er wollte, aber niemals wieder würde sie zurückkommen.

Und wenn sie auch käme, was dann? Sie war wohl zu ihrem Schicksal geboren. Beide Gatten hatten versucht, den Riß wieder zu flicken, es war mißglückt. Ich erinnere mich der gnädigen Frau von vor sechs, sieben Jahren. Sie langweilte sich und war sicher auch damals dann und wann ein klein wenig verliebt; aber sie war treu und fein. Und die Zeit ging weiter. Sie hatte keine Aufgabe zu erfüllen, sondern hatte drei Mädchen auf ihrem Hof; sie hatte keine Kinder, sondern einen Flügel. Sie hatte keine Kinder.

Und das Leben darf verschwenden.

Mutter und Kind gingen zugrunde.

 

Nachschrift

Ein Wanderer dämpft seine Saiten, wenn er ein halbes Jahrhundert alt wird. Da spielt er mit gedämpften Saiten. Ich könnte es auch so ausdrücken:

Kommt er im Herbst zu spät in den Beerenwald, dann ist er eben zu spät gekommen. Und sieht er sich eines schönen Tages nicht mehr imstande, lustig zu sein und vor Freude über das Leben aus vollem Halse zu lachen, dann ist er wohl alt. Legt ihm das nicht zur Last! Im übrigen bedarf es zweifellos eines gewissen Grades von Hohlköpfigkeit, ständig mit sich selbst und allem zufrieden zu sein. Freundliche Stunden aber hat ein jeder. Ein Gefangener sitzt auf seinem Karren und fährt zum Schafott. Auf dem Sitzbrett quält ihn ein Nagel, er rückt zur Seite und fühlt sich behaglicher.

Es ist nicht recht von einem Kapitän, Gott zu bitten, er möge ihm vergeben – wie er selbst Gott vergeben habe. Das ist nur Theater. Ein Wanderer, der nicht jeden Tag Essen und Trinken hat, und dem nicht Kleider und Schuhe, Haus und Hof für seinen Bedarf bereit stehen, empfindet nur ein leises Bedauern, wenn alle diese Herrlichkeiten ausbleiben. Geht das eine nicht, so geht das andere. Geht aber auch das andere nicht, dann vergibt man nicht Gott, man übernimmt selbst die Verantwortung. Man stemmt die Schulter gegen das Verhängnis, das heißt, man beugt den Rücken. Dem Fleisch und Blut tut das ein wenig weh, das Haar wird grau; ein Wanderer aber dankt Gott für das Leben, es war lustig zu leben!

So könnte ich es ausdrücken.

Warum auch alle diese großen Forderungen? Was hat man erreicht? Alle Schachteln mit Süßigkeiten, die ein Leckermaul begehren kann? Gut! Aber hat man denn nicht jeden Tag die Welt gesehen und das Rauschen des Waldes gehört? Es gibt nichts Herrlicheres als das Rauschen des Waldes.

In einem Syringenwäldchen duftete es nach Jasmin, und ich kenne einen Menschen, den Freude durchbebte, nicht über den Jasmin, sondern über alles, über ein erleuchtetes Fenster, über eine Erinnerung, über das ganze Leben. Als er dann aber von diesem Syringenwäldchen abgerufen wurde, hatte er ja schon die Vorausbezahlung für diese Unannehmlichkeit bekommen.

Und so ist es: die bloße Gnade, daß man das Leben erhält, ist die reiche Vorausbezahlung für alle Erbärmlichkeiten des Lebens, für jede einzelne.

Nein, man darf nicht glauben, daß man auf mehr Süßigkeiten Anspruch habe, als man erhält. Ein Wanderer rät von allem Aberglauben ab. Was gehört dem Leben? Alles. Was aber gehört dir? Ist dein der Ruhm? Oh, sage uns, weshalb! Man soll sich nicht auf das »Seine« versteifen, das ist so komisch, und ein Wanderer lacht über den, der so komisch ist. Ich erinnere mich eines solchen Mannes, der sich von dem »Seinen« nicht trennen konnte: er heizte am Mittag seinen Ofen, und am Abend brachte er endlich das Feuer zum Brennen. Da konnte er sich nicht entschließen, die Wärme zu verlassen und ins Bett zu gehen, sondern blieb sitzen, um das Feuer auszunützen, bis die anderen wieder aufstanden. Das war ein norwegischer Schauspieldichter.

Ich bin nun ziemlich weit umhergewandert in meinem Leben und bin jetzt dumm und verblüht. Wer ich habe nicht den perversen Glauben der Greise, daß ich weiser geworden sei, als ich war. Und ich hoffe auch, daß ich niemals weise werde. Es ist das Zeichen des Verfalls. Wenn ich Gott für das Leben danke, so geschieht das nicht kraft einer höheren Reife, die mit dem Alter gekommen ist, sondern weil ich immer Freude am Leben gehabt habe. Das Alter schenkt keine Reife, das Alter schenkt nichts als Alter.

*

In diesem Jahr bin ich zu spät in den Beerenwald gekommen, trotzdem aber setze ich meine Wanderung fort. Ich erlaube mir dieses kleine Vergnügen zum Lohn für meine Tüchtigkeit im Sommer. Und ich erreiche mein Ziel am zwölften Dezember.

Freilich hätte ich auch unten bei den Menschen bleiben können; es hätte sich wohl auch für mich etwas gefunden, wie für alle anderen, die sich zur rechten Zeit niedergelassen haben. Und von Lars Falkenberg, meinem Freund und Kameraden, hatte ich ja den Rat bekommen, mir eine Rodung zu verschaffen, auf der ich eine Frau, zwei Kühe und ein Schwein füttern könnte. Das war ein Freundesrat, die Stimme des Volkes. Und sieh, dann hätte die eine Kuh ein verschnittener Reitochse sein können, und ich hätte in meinen alten Tagen ein Tragtier gehabt. Aber es mißlang, es mißlang! Bei mir ist die Weisheit nicht mit dem Alter gekommen, ich gehe nach Trovatn und in die weiten Forste und lebe in einer Blockhütte.

Was für ein Vergnügen dabei sein kann? Ei, Lars Falkenberg und all ihr anderen, fürchtet nichts, jede Woche bringt mir ein Mann meinen Lebensbedarf.

So wandere ich denn allein mit mir umher und fühle mich in der Einsamkeit behaglich. Ich vermisse das Petschaft des Bischofs Paul. Ich habe dieses Petschaft von einem seiner Nachkommen erhalten, und ich trug es im Sommer in der Westentasche; wie ich aber jetzt danach fühle, bemerke ich, daß ich es verloren habe. Ja, ja. Aber daß ich das Petschaft einmal besessen hatte, war schon die Vorausbezahlung für diesen Verlust gewesen.

Literatur aber vermisse ich nicht.

Oh, wie gut ich mich noch an den zwölften Dezember und an alle Daten erinnere. Aber wichtigere Dinge vergesse ich unbekümmert. Jetzt erst fällt mir bei dem Gedanken an die Literatur ein, daß Kapitän Falkenberg und seine Frau viele Bücher in ihrem Hause hatten, Romane und Schauspiele, einen ganzen Schrank voll. Ich sah es, als ich Fenster und Türen auf Övrebö anstrich. Sie hatten ganze Reihen von Schriftstellern, und von den einzelnen Schriftstellern hatten sie ganze Reihen von Büchern, dreißig Bücher. Warum die ganze Reihe? Das weiß ich nicht. Bücher, eins, zwei, drei, zehn, dreißig. Zu jedem Weihnachtsfest war eins gekommen, Romane, dreißig Bände – immer die gleiche Geschichte. Die lasen sie wohl, der Kapitän und seine Frau. Sie wußten jedesmal, was sie bei diesen Dichtern für Haus und Familie finden würden, es stand immer darin, wie alles wieder gut wurde. Deshalb lasen sie sie wohl. Was weiß ich! Mein Gott, wieviel Literatur war das doch! Als ich die Wand streichen wollte, konnten zwei Männer den Schrank nicht einmal um ein kleines Stück verrücken, drei Männer waren dazu nötig und eine Köchin. Der eine Mann war Grindhusen, er wurde rot unter dem Gewicht der Dichter für Haus und Familie, und er sagte: ich begreife nicht, was die Leute mit einem solchen Haufen Bücher anfangen!

Als ob Grindhusen irgend etwas begriffen hätte! Der Kapitän und seine Frau hatten alle diese Bücher wohl nur, damit keines fehle, sie waren komplett. Es wäre eine Lücke entstanden, wenn man eines entfernt hätte. Sie waren so gleichartig, alle untereinander verheiratet, homogene Poesie, immer die gleiche Geschichte.

*

Ein Elchjäger ist bei mir in der Hütte gewesen. Das war weiter nichts Besonderes. Und sein Hund war die verkörperte Bosheit. Ich freute mich, als der Elchjäger wieder ging. Er nahm meine Kupferpfanne von der Wand herunter, kochte darin und machte sie mir rußig.

Es ist nicht meine Kupferpfanne, sie ist in der Hütte von einem zurückgelassen worden, der früher hier gewesen ist. Ich hatte sie mit Asche gescheuert und sie als Wetteranzeiger an die Wand gehängt. Jetzt sitze ich da und putze sie wieder, denn sie ist gut zu gebrauchen, sie läuft unfehlbar an, bevor das Wetter umschlägt.

Wäre nun Ragnhild hier, so hätte sie angepackt und die Kupferpfanne geputzt, denke ich. Aber dann denke ich wieder, daß ich mir am liebsten selbst meinen Wetteranzeiger in Ordnung bringe, Ragnhild kann etwas anderes tun. Und wenn dieser Platz im Wald unsere Rodung wäre, hätte sie ja die Kinder, die Kühe und das Schwein. Aber auf meine Kupferpfannen will ich selbst aufpassen, Ragnhild!

Ich erinnere mich einer Frau, die paßte auf nichts auf, am allerwenigsten auf sich selbst. Es ging ihr so schlecht. Vor sechs, sieben Jahren aber hätte ich niemals geglaubt, daß jemand so fein und reizend gegen einen anderen sein könnte wie sie. Ich fuhr sie auf einer Reise, und sie war schamhaft gegen mich, obwohl sie meine Herrin war, sie errötete und sah nieder. Und das Merkwürdige war, daß auch ich durch sie schamhaft wurde, obwohl ich ihr Diener war. Wenn sie mir auch nur einen Auftrag gab und ihre beiden Augen mich anblickten, deckte sie neue Schönheit und Reichtümer auf hinter all denen, die ich schon kannte, ich erinnere mich dessen noch heute. Ja, hier sitze ich und erinnere mich dessen noch und wiege den Kopf hin und her und sage mir: Wie seltsam war es, nein, nein, nein! Dann starb sie. Was weiter? Weiter nichts. Ich bin noch da. Daß sie aber starb, darf mir keine Trauer bereiten, dafür habe ich wohl die Vorausbezahlung erhalten, damals, als mich ihre beiden Augen so unverdient anblickten. So ist es wohl!

Das Weib – was wissen die Weisen vom Weibe?

Ich entsinne mich eines Weisen, er schrieb über das Weib. In dreißig Bänden schrieb er homogene Theaterpoesie über das Weib, ich zählte die Bände einmal in einem großen Schrank. Schließlich schrieb er von einer Frau, die ihre eigenen Kinder verließ, um – das Wunderbare zu suchen! Aber was waren dann die Kinder? Ach, es war so komisch, und ein Wanderer lacht über das, was so komisch ist.

Der Weise, was weiß er vom Weibe?

Erstens ist er nicht weise, ehe er alt geworden ist, und dann kennt er das Weib nur noch aus der Erinnerung. Zweitens aber hat er gar keine Erinnerung an sie, da er sie niemals gekannt hat.

Der Mann, der Anlage zur Weisheit hat, beschäftigt sich geizig nur mit dieser Anlage, pflegt sie und nährt sie, trägt sie vor sich her und lebt von ihr. Man geht nicht zum Weibe, um weise zu werden. Die vier weisesten Köpfe der Welt, die ihre Gedanken über die Frau niedergelegt haben, erfanden sie nur bei sich selbst, es waren junge oder alte Greise, die auf verschnittenen Ochsen ritten. Sie kannten nicht die Frau in ihrer Heiligkeit, die Frau in ihrer Süßigkeit, die Frau in ihrer Unentbehrlichkeit, sondern sie schrieben und schrieben über die Frau. Denkt, ohne ihr je zu begegnen!

Gott bewahre mich davor, weise zu werden! Und den Menschen, die einst mein Sterbebett umstehen, werde ich noch mit bebenden Lippen zuflüstern: Gott bewahre mich davor, weise zu werden.

*

Heute ist ein angenehm kühler Tag, um den geplanten Ausflug von der Hütte aus zu machen, die Schneegipfel liegen rosenrot in der Sonne da, und meine Kupferpfanne prophezeit klares Wetter. Es ist acht Uhr morgens.

Einen großen Mundvorrat in den Ranzen, ein Stück Bindfaden in die Tasche, falls etwas entzwei gehen sollte, und einen Zettel auf den Tisch für den Mann, der vielleicht mit Lebensmitteln zu mir kommt, während ich fort bin.

Ach, ich habe mir selbst vorgesagt, daß ich weit fort solle, daß ich mich sorgfältig ausrüsten müsse und meine ganze Geistesgegenwart und Ausdauer brauche. So darf sich wohl der anstellen, der weit fort muß, aber das muß ich ja nicht. Ich habe keinen Auftrag und muß nirgends hin, ich bin nur ein Wanderer, der von einer Blockhütte aus aufbricht und wieder zu ihr zurück will, es ist gleich, wo ich bin.

Der Wald steht still und verlassen, alles ist mit Schnee bedeckt und hält den Atem vor mir an. Gegen Mittag sehe ich von einer Höhe aus, weit hinter mir, die Schneedecke auf Trovatn. Weiß und flach liegt der See da, eine Meile weit wie mit Kreide bestreut, eine Schneewüste. Nachdem ich Mahlzeit gehalten habe, gehe ich wieder weiter und steige höher und höher, ich nähere mich den Bergen, aber langsam und nachdenklich, die Hände in den Taschen. Es eilt nicht, ich muß ja nur irgendwohin, wo ich für die Nacht Obdach finde. Gegen Abend setze ich mich hin und esse wieder, als brauchte ich Essen und hätte es verdient. Aber ich tue das nur, um mich mit irgend etwas zu beschäftigen, meine Hände sind müßig und mein Gehirn ist zu allerhand Einfällen aufgelegt. Es dunkelt frühzeitig, glücklicherweise finde ich hier an der waldigen Höhe eine geschützte Felsspalte; windgebrochene Kiefern für ein Feuer gibt es hier genug.

Davon erzähle ich nun und spiele mit gedämpften Saiten.

Am nächsten Morgen war ich auf, sobald der Tag ein wenig graute. Still und warm begann es zu schneien, und in der Luft klang es wie Sausen. Schlechtes Wetter, dachte ich; aber wer konnte das ahnen? Weder ich noch mein Wetteranzeiger hatten das am Tag vorher geahnt. Ich verließ meine Herberge und ging über Heideland und Moore, wieder wurde es Mittag, und es schneite. Mein Unterschlupf war nicht sonderlich gut gewesen, es hatte dort zwar genug Reisig für das Lager gegeben, und ich hatte nicht gefroren, aber der Rauch vom Feuer war zu mir herübergetrieben worden und hatte mir den Atem benommen.

Am Nachmittag aber fand ich einen besseren Platz, eine weite und vornehme Höhle mit Wänden und Dach. Sowohl das Feuer als auch ich hatten hier Platz, und der Rauch zog gut ab. Hier nickte ich zustimmend und ließ mich nieder, obwohl es früh und noch heller Tag war. Deutlich sah ich noch Höhen und Täler und die Felsen an einem nackten Berg, der nur einige Gehstunden entfernt gerade vor mir lag. Aber hier nickte ich, als sei ich an meinem Ziel, und begann Holz und Zweige für die Nacht zu sammeln.

Wie fühlte ich mich hier daheim! Nicht ohne Grund hatte ich genickt und den Ranzen abgenommen. Wolltest du hierher? sage ich im Scherz zu mir selbst und schwätze mit mir. Ja, antworte ich.

Jetzt rauschte es stärker in der Luft, es schneite nicht mehr, sondern es regnete. Das war sonderbar, große nasse Regentropfen fielen draußen vor der Höhle auf die Bäume, und doch war es im kalten Weihnachtsmonat Dezember. Einer Wärmewelle war es eingefallen, uns zu besuchen.

Die Nacht hindurch regnete und regnete es, und es rauschte in allen Wäldern. Es war wie im Frühling, und das erfüllte schließlich meinen Schlummer mit so tiefem Behagen, daß ich gut und fest bis weit in den Tag hinein schlief.

Es ist zehn Uhr.

Der Regen hat aufgehört, aber es ist immer noch warm. Ich sitze in der Höhle und sehe hinaus und höre dem Walde zu, der sich biegt und rauscht. Da löst sich ein Stein am Berge, gerade über mir, er schlägt gegen ein Felsstück und löst auch dieses, es klingt wie ein paar ferne Schläge. Dann beginnt es zu dröhnen. Ich spähe umher, sehe nach, was es sein mag, und das Dröhnen weckt Widerhall in mir; der Felsen hat wieder andere Felsen gelöst, es kommt eine Lawine, Steine und Schnee und Erde donnern über den Berg herab, und Staub raucht auf nach diesem gewaltigen Zug. Der Strom von grauen Steinen erscheint zottig, er schiebt sich vor und reißt alles mit sich, wirbelt, strömt, strömt, füllt einen Abgrund im Tal – und hält an. Die letzten Steine kommen langsam zur Ruhe, dann ist es still, der Donner da draußen schweigt, und in meinem Innern atmet es nur noch wie ein langsam sinkender Baßton.

Dann sitze ich wieder da und höre dem Rauschen im Walde zu. Ist es das Ägäermeer, das dort liegt und tönt, ist es der Meeresstrom Glimma? Ich werde schwach vom Sitzen und Lauschen, Erinnerungen aus meinem Leben steigen in mir auf, tausend Freuden, Musik und Augen, Blumen. Es gibt nichts Herrlicheres als das Rauschen des Waldes, es ist wie ein Schaukeln, ist wie Tollheit: Uganda, Tananarivo, Honolulu, Atacama, Venezuela –

Aber es sind wohl die Jahre, die mich so schwach machen, und es sind meine Nerven, die zittern und mittönen. Ich erhebe mich und stelle mich an die Flammen, um es zu überwinden. Ich könnte übrigens ein wenig mit dem Feuer sprechen, eine Rede halten, während die Flammen sterben. Ich stehe in einem feuerfesten Haus, und die Akustik hier ist gut. Da verdunkelt sich meine Höhle, und der Elchjäger erscheint wieder mit seinem Hund –

Während ich wieder heimwärts zu meiner Blockhütte wandere, fängt es zu frieren an, der Frost bedeckt alle Moore und Sümpfe und macht das Gehen leicht. Langsam und gleichgültig, die Hände in den Taschen, schlendre ich dahin. Es eilt mir nicht, es ist gleichgültig, wo ich bin.


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