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Erster Abschnitt

Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist ...

Ich lag wach in meiner Dachstube und hörte eine Uhr unter mir sechsmal schlagen; es war schon ziemlich hell, und die Menschen fingen an, die Treppen auf und nieder zu steigen. Unten bei der Türe, wo mein Zimmer mit alten Nummern des »Morgenblattes« tapeziert war, konnte ich ganz deutlich eine Bekanntmachung des Leuchtfeuerdirektors sehen, und ein wenig links davon eine fette, geschwollene Anzeige von frischgebackenem Brot des Bäckers Fabian Olsen.

Sowie ich die Augen aufschlug, begann ich aus alter Gewohnheit nachzudenken, ob ich heute etwas hätte worauf ich mich freuen könnte. In der letzten Zeit war es mir ziemlich schlecht ergangen; eins nach dem anderen meiner Besitztümer hatte ich zum »Onkel« bringen müssen, ich war nervös und unduldsam geworden; ein paarmal mußte ich auch wegen Schwindels einen Tag lang im Bett bleiben. Hie und da, wenn das Glück mir günstig war, hatte ich fünf Kronen für ein Feuilleton von irgendeinem Blatt ergattern können.

Es tagte mehr und mehr, und ich begann, die Anzeigen unten bei der Türe zu lesen; ich konnte sogar die mageren grinsenden Buchstaben »Leichenwäsche bei Jungfer Andersen, rechts im Torweg« unterscheiden. Dies beschäftigte mich eine lange Weile, ich hörte die Uhr unter mir acht schlagen, bevor ich aufstand und mich anzog.

Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Von meinem Platz aus sah ich eine Wäscheleine und ein freies Feld; weit draußen lag noch der Schutt einer abgebrannten Schmiede, den einige Arbeiter forträumten. Ich legte mich mit den Ellbogen ins Fenster und starrte in die Luft hinaus. Es wurde ganz gewiß ein heller Tag. Der Herbst war gekommen, die feine, kühle Jahreszeit, in der alles die Farbe wechselt und vergeht. Der Lärm in den Straßen hatte schon begonnen und lockte mich ins Freie: dieses leere Zimmer, dessen Boden bei jedem Schritt, den ich darüber hinging, auf und nieder schwankte, war wie ein feuchter, unheimlicher Sarg; kein ordentliches Schloß an der Türe und kein Ofen im Raum. Ich pflegte in der Nacht auf meinen Strümpfen zu liegen, um sie bis zum Morgen ein wenig trocken zu bekommen. Das einzige Erfreuliche, was ich hier hatte, war ein kleiner roter Schaukelstuhl, in dem ich an den Abenden saß und döste und an allerhand Dinge dachte. Wenn der Wind stark blies, und die Türen unten offenstanden, tönte vielfältiges seltsames Pfeifen durch den Boden herauf und durch die Wände herein, und das »Morgenblatt« unten bei der Türe bekam Risse so lang wie eine Hand.

Ich erhob mich und suchte in einem Bündel in der Ecke beim Bett, ob noch etwas zum Frühstück darin wäre, fand aber nichts und kehrte wieder zum Fenster zurück.

Gott weiß, dachte ich, ob es mir jemals etwas nützen wird, nach einer Beschäftigung zu suchen! Diese vielen Absagen, diese halben Versprechungen, glatte Nein, genährte und getäuschte Hoffnungen, neue Versuche, die jedesmal in nichts verliefen, hatten meinen Mut erdrosselt. Zuletzt hatte ich einen Platz als Kassenbote gesucht, war aber zu spät gekommen; und außerdem konnte ich nicht die fünfzig Kronen Sicherheit schaffen. Es gab immer das eine oder andere Hindernis. Ich hatte mich auch bei der Feuerwehr gemeldet. Wir standen ein halbes Hundert Mann in der Vorhalle und streckten die Brust heraus, um den Eindruck von Kraft und großer Kühnheit zu erwecken. Ein Bevollmächtigter ging umher und besah diese Bewerber, befühlte ihre Arme und stellte ihnen diese oder jene Frage, und an mir ging er vorbei, schüttelte nur den Kopf und sagte, daß ich wegen meiner Brille untauglich sei. Ich kam wieder, ohne Brille, ich stand mit gerunzelten Brauen da und machte meine Augen so scharf wie Messer, und der Mann ging wiederum an mir vorbei, und er lächelte – er hatte mich wohl wiedererkannt. Das Schlimmste von allem war, daß meine Kleider anfingen, schlecht zu werden, und ich mich nirgends mehr als anständiger Mensch vorstellen konnte.

Wie gleichförmig und regelmäßig war es die ganze Zeit mit mir abwärts gegangen! Ich stand zuletzt so sonderbar entblößt von allem möglichen da, ich hatte nicht einmal mehr einen Kamm – hatte kein Buch mehr, um darin zu lesen, wenn mir traurig zumute wurde. Den ganzen Sommer über war ich auf die Kirchhöfe hinausgegangen oder hinauf in den Schloßpark, wo ich mich dann hinsetzte und Artikel für die Zeitungen verfaßte, Spalte auf Spalte, über die verschiedensten Dinge, seltsame Erfindungen, Launen, Einfälle meines unruhigen Gehirns; in der Verzweiflung hatte ich oft die entferntesten Themen gewählt, die mich die Anstrengung langer Stunden kosteten, und die dann niemals angenommen wurden. Wenn ein Stück fertig war, nahm ich ein neues in Angriff, und ich ließ mich selten von dem Nein des Redakteurs niederschlagen; ich sagte ständig zu mir selbst, daß es doch einmal glücken müsse. Und wirklich, zuweilen, wenn ich das Glück auf meiner Seite hatte und das Ganze mir gut geriet, konnte ich fünf Kronen für die Arbeit eines Nachmittags bekommen.

Ich trat wieder vom Fenster weg, ging zu dem Stuhl, auf dem das Waschwasser stand, und sprengte ein bißchen Wasser auf meine blanken Hosenkniee, um sie zu schwärzen und sie ein wenig neuer aussehen zu machen. Als ich das getan hatte, steckte ich wie gewöhnlich Papier und Bleistift in die Tasche und ging aus. Um nicht die Aufmerksamkeit meiner Wirtin zu erwecken, glitt ich sehr leise die Treppe hinunter. Es waren schon ein paar Tage vergangen, seit meine Miete fällig gewesen, und ich besaß nun nichts mehr, sie zu zahlen.

Es war neun Uhr. Wagengerassel und Stimmen erfüllten die Luft, ein ungeheurer Morgenchor, vermischt mit den Schritten der Fußgänger und dem Knallen der Kutscherpeitschen. Dieses lärmende Treiben überall belebte mich sofort, und ich begann mich mehr und mehr zufrieden zu fühlen. Nichts lag meinen Gedanken ferner als nur ein Morgengang in frischer Luft. Was ging die Luft meine Lungen an? Ich war stark wie ein Riese und konnte einen Wagen mit meiner Schulter aufhalten. Eine feine, seltsame Stimmung, das Gefühl der hellen Gleichgültigkeit, hatte sich meiner bemächtigt. Ich beobachtete die Menschen, die mir begegneten und an denen ich vorbeiging, las die Plakate an den Wänden, empfing den Eindruck eines Blickes, der aus einer vorbeifahrenden Trambahn auf mich fiel, ließ jede Bagatelle in mich eindringen, alle die kleinen Zufälligkeiten, die meinen Weg kreuzten und wieder verschwanden ...

Wenn man nur ein wenig zu essen bei sich hätte, an einem so hellen Tag! Der Eindruck des frohen Morgens überwältigte mich, ich wurde unbändig zufrieden und fing an, ohne einen bestimmten Grund vor Freude zu summen ... Bei einem Metzgerladen stand eine Frau mit einem Korb am Arm und spekulierte auf Würste zu Mittag; als ich an ihr vorüberging, sah sie mich an. Sie hatte nur einen Zahn, und der saß ganz vorne. Nervös und leicht empfänglich, wie ich in den letzten Tagen geworden war, machte das Gesicht der Frau sofort einen widerlichen Eindruck auf mich; der lange, gelbe Zahn sah aus wie ein kleiner Finger, der aus dem Kiefer ragte, und ihr Blick war noch voll von Wurst, als sie sich zu mir drehte. Ich verlor mit einemmal den Appetit und fühlte Würgen. Als ich zu den Basaren kam, ging ich zum Brunnen hin und trank ein wenig Wasser; ich sah empor – auf der Turmuhr der Erlöserkirche war es zehn Uhr.

Ich ging weiter durch die Straßen, trieb mich umher, ohne mich um irgend etwas zu bekümmern, blieb grundlos an einer Ecke stehen, bog ab und ging in eine Seitenstraße, ohne dort etwas zu tun zu haben. Ich ließ es darauf ankommen, ließ mich durch den frohen Morgen treiben, wiegte mich sorgenfrei vor und zurück unter anderen glücklichen Menschen; die Luft war leer und hell, und mein Gemüt war ohne einen Schatten.

Zehn Minuten lang hatte ich nun beständig einen alten hinkenden Mann vor mir gehabt. Er trug ein Bündel in der Hand und ging mit seinem ganzen Körper, arbeitete mit aller Macht, um schnell vorwärts zu kommen. Ich hörte, wie er vor Anstrengung schnaufte, und es fiel mir ein, daß ich ihm sein Bündel tragen könnte. Oben in der Graensenstraße begegnete ich Hans Pauli, der grüßte und vorbeihastete. Weshalb hatte er solche Eile? Ich hatte durchaus nicht im Sinn, ihn um eine Krone zu bitten, ich wollte ihm auch in der allernächsten Zeit die Decke zurücksenden, die ich vor einigen Wochen von ihm geliehen hatte. Sobald ich ein wenig obenauf gekommen wäre, wollte ich keinem Menschen mehr eine Decke schuldig sein; vielleicht begann ich schon heute einen Artikel über die Verbrechen der Zukunft oder über die Freiheit des Willens, irgend etwas, etwas Lesenswertes, wofür ich mindestens zehn Kronen bekommen würde ... Und bei dem Gedanken an diesen Artikel fühlte ich mich mit einemmal von dem Drang durchströmt, sofort anzufangen und aus meinem vollen Gehirn zu schöpfen; ich wollte mir einen passenden Platz im Schloßpark suchen und nicht ruhen, bevor ich den Artikel fertig hätte.

Aber der alte Krüppel vor mir auf der Straße machte immer noch die gleichen zappelnden Bewegungen. Es begann zuletzt mich zu ärgern, die ganze Zeit diesen gebrechlichen Menschen vor mir zu haben. Es schien, als würde seine Reise nie ein Ende nehmen; vielleicht hatte er sich zu eben dem gleichen Ort entschlossen wie ich, und ich sollte ihn den ganzen Weg vor meinen Augen haben. In meiner Erregung schien es mir, als zögere er bei jeder Querstraße einen Augenblick und warte gleichsam darauf, welche Richtung ich nehmen würde, worauf er das Bündel wieder hoch in die Luft schwang und mit äußerster Macht weiterging, um einen Vorsprung zu bekommen. Ich gehe und sehe auf dieses verquälte Wesen und werde immer mehr mit Erbitterung erfüllt; ich fühlte, wie es nach und nach meine helle Stimmung zerstörte und den reinen, schönen Morgen mit einemmal mit sich in Häßlichkeit hinunterzog. Er sah wie ein großes humpelndes Insekt aus, das sich mit Gewalt und Macht zu einem Platz in der Welt durchschlagen und den Gehsteig für sich allein behalten wollte. Auf der Höhe angekommen, wollte ich mich nicht mehr länger dareinfinden. Ich wandte mich einem Schaufenster zu und blieb stehen, um ihm Gelegenheit zu geben, fortzukommen. Als ich nach Verlauf einiger Minuten wieder zu gehen anfing, war der Mann wieder vor mir, auch er war wie angenagelt stillgestanden. Ich machte, ohne mich zu bedenken, drei, vier rasende Schritte vorwärts, holte ihn ein und schlug ihn auf die Schulter.

Er hielt mit einemmal an. Wir starrten beide einander ins Gesicht.

Einen kleinen Schilling für Milch! sagte er endlich und legte den Kopf auf die Seite.

So, nun war ich schön hereingefallen! Ich suchte in den Taschen und sagte:

Für Milch, ja. Hm. Es sieht schlecht aus mit Geld in diesen Zeiten, und ich weiß nicht, wie bedürftig Sie sind.

Ich habe seit gestern in Drammen nichts gegessen, sagte der Mann; ich besitze nicht einen Ör und habe noch keine Arbeit bekommen.

Sind Sie Handwerker?

Ja, ich bin Nadler.

Was?

Nadler. übrigens kann ich auch Schuhe machen.

Das ändert die Sache, sagte ich. Warten Sie hier ein paar Minuten, so werde ich etwas Geld für Sie holen, einige Öre.

In größter Eile ging ich den Pilestraede hinunter, wo ich einen Pfandleiher im ersten Stock wußte; ich war im übrigen nie vorher bei ihm gewesen. Als ich ins Tor hineingekommen war, zog ich eiligst meine Weste aus, rollte sie zusammen und steckte sie unter den Arm, darauf ging ich die Treppe hinauf und klopfte an die Bude. Ich verbeugte mich und warf die Weste auf den Tisch.

Anderthalb Kronen, sagte der Mann.

Ja ja, danke, antwortete ich. Verhielte es sich nicht so, daß sie mir zu knapp wird, würde ich mich nicht von ihr trennen.

Ich bekam das Geld und den Schein und begab mich zurück. Es war das im Grund ein ausgezeichneter Einfall, das mit der Weste; ich würde sogar Geld zu einem reichlichen Frühstück übrig behalten und bis zum Abend könnte dann meine Abhandlung über die Verbrechen der Zukunft fertig sein. Ich begann auf der Stelle das Dasein freundlicher zu finden, und eilte zu dem Mann zurück, um ihn loszuwerden.

Hier bitte! sagte ich zu ihm. Es freut mich, daß Sie sich zuerst an mich gewandt haben.

Der Mann nahm das Geld und begann mich mit den Augen zu mustern. Was stand er da und starrte? Ich hatte den Eindruck, daß er besonders meine Hosenkniee untersuchte, und ich wurde dieser Unverschämtheit müde. Glaubte der Schlingel, ich sei wirklich so arm, wie ich aussah? Hatte ich nicht schon sozusagen damit begonnen, an einem Artikel für zehn Kronen zu schreiben? Überhaupt fürchtete ich nicht für die Zukunft, ich hatte viele Eisen im Feuer. Was ging es da einen wildfremden Menschen an, ob ich an einem so hellen Tag ein Trinkgeld fortgab? Der Blick des Mannes ärgerte mich, und ich beschloß, ihm eine Zurechtweisung zu geben, bevor ich ihn verließ. Ich zuckte mit den Schultern und sagte:

Mein guter Mann, Sie haben die häßliche Gewohnheit, einem auf die Kniee zu glotzen, wenn man Ihnen eine Krone gibt.

Er legte den Kopf ganz gegen die Mauer zurück und sperrte den Mund auf. Hinter seiner Bettlerstirne arbeitete es, er dachte ganz gewiß, daß ich ihn auf die eine oder andere Weise narren wolle, und er reichte mir das Geld zurück.

Ich stampfte auf das Pflaster und fluchte, er müsse es behalten. Bildete er sich ein, daß ich alle die Beschwerlichkeiten für nichts gehabt haben wollte? Alles in allem genommen schuldete ich ihm vielleicht diese Krone, ich wäre so beschaffen, daß ich mich einer alten Schuld erinnerte, er stünde vor einem rechtschaffenen Menschen, ehrlich bis in die Fingerspitzen. Kurz gesagt, das Geld wäre sein ... Oh, nichts dafür zu danken, es war mir eine Freude. Lebwohl.

Ich ging. Endlich hatte ich diesen gichtbrüchigen Plagegeist aus dem Weg geschafft und konnte ungestört sein. Ich ging wieder durch den Pilestraede hinunter und hielt vor einem Lebensmittelladen an. Das Fenster war voll von Eßwaren, und ich beschloß hineinzugehen und mir etwas mit auf den Weg zu nehmen.

Ein Stück Käse und ein Franzbrot! sagte ich und schmiß meine halbe Krone auf den Ladentisch.

Käse und Brot für alles zusammen? fragte die Frau ironisch, ohne mich anzusehen.

Für die ganzen fünfzig Öre, ja, antwortete ich unbeirrt.

Ich erhielt meine Sachen, sagte äußerst höflich guten Morgen zu der alten, fetten Frau und begab mich spornstreichs über den Schloßberg hinauf in den Park. Ich fand eine Bank für mich allein und begann gierig von meinem Vorrat abzubeißen. Das tat mir gut; es war lange her, seit ich eine so reichliche Mahlzeit genossen hatte, und ich fühlte nach und nach die gleiche satte Ruhe in mir, wie man sie nach langem Weinen empfindet. Mein Mut wuchs stark; es war mir nicht mehr genug, einen Artikel über etwas so Einfaches und Selbstverständliches wie die Verbrechen der Zukunft zu schreiben, die außerdem jeder beliebige selbst erraten, ja sich aus der Geschichte herauslesen konnte. Ich fühlte mich zu größeren Anstrengungen imstande, ich war in der Stimmung, Schwierigkeiten zu überwinden, und ich entschloß mich zu einer Abhandlung in drei Abschnitten über die philosophische Erkenntnis. Natürlich würde ich Gelegenheit finden, einige von Kants Sophismen jämmerlich zu zerknicken ... Als ich meine Schreibsachen herauszog und die Arbeit beginnen wollte, entdeckte ich, daß ich meinen Bleistift nicht mehr bei mir hatte, ich hatte ihn in der Pfandleiherbude vergessen, der Bleistift steckte in der Westentasche.

Herrgott, wie doch alles verkehrt ging! Ich fluchte ein paarmal, erhob mich von der Bank und trieb in den Wegen auf und ab. Es war überall sehr still; weit weg, beim Lusthaus der Königin, rollten ein paar Kindermädchen ihre Wagen umher, sonst war nirgends ein Mensch zu sehen. Ich war in meinem Innern sehr verbittert und ging wie ein Rasender vor meiner Bank auf und ab. Wie merkwürdig verkehrt ging es doch in jeder Beziehung! Ein Artikel in drei Abschnitten sollte an dem simplen Umstand scheitern, daß ich nicht ein Stück eines Zehnörebleistiftes in der Tasche hatte! Wenn ich nun wieder in den Pilestraede ginge und mir meinen Bleistift ausliefern ließe? Es würde trotzdem noch Zeit bleiben, ein gutes Teil fertig zu bekommen, bis die Spaziergänger anfingen den Park zu füllen. Es gab auch so vieles, was von dieser Abhandlung über die philosophische Erkenntnis abhing, vielleicht das Glück vieler Menschen, niemand konnte das wissen. Ich sagte zu mir selbst, sie könne vielleicht eine große Hilfe für manchen jungen Menschen werden. Wenn ich es recht bedachte, wollte ich mich nicht an Kant vergreifen; ich konnte das ja umgehen, ich brauchte nur eine unmerkliche Schwenkung zu machen, wenn ich an die Frage von Zeit und Raum käme; aber für Renan wollte ich nicht einstehen, für den alten Landpfarrer Renan ... Unter allen Umständen galt es, einen Artikel von so und so vielen Spalten herzustellen; die unbezahlte Miete, der lange Blick der Wirtin am Morgen, wenn ich sie auf der Treppe traf, peinigten mich den ganzen Tag und tauchten sogar in meinen frohen Stunden auf, wenn ich sonst keinen dunklen Gedanken hatte. Diesem mußte ich ein Ende machen. Ich ging schnell aus dem Park, um meinen Bleistift beim Pfandleiher zu holen.

Als ich den Schloßhügel hinunterkam, holte ich zwei Damen ein, an denen ich vorbeiging. Indem ich sie überholte, streifte ich den Ärmel der einen, ich sah auf, sie hatte ein volles, ein wenig bleiches Gesicht. Mit einemmal erglüht sie und wird merkwürdig schön, ich weiß nicht weshalb, vielleicht wegen eines Wortes, das sie von einem Vorübergehenden hört, vielleicht nur wegen eines stillen Gedankens bei sich selbst. Oder sollte es sein, weil ich ihren Arm berührt hatte? Ihre hohe Brust wogt einige Male heftig, und sie preßt die Hand hart um den Schirmstock. Was war ihr?

Ich blieb stehen und ließ sie wieder vorausgehen, ich konnte im Augenblick nicht weitergehen, das Ganze kam mir so sonderbar vor. Ich war in einer reizbaren Laune, ärgerlich auf mich selbst wegen des Vorfalls mit dem Bleistift und in hohem Maß erregt von all dem Essen, das ich mit leerem Magen genossen hatte. Auf einmal nehmen meine Gedanken durch eine launenhafte Vorstellung eine merkwürdige Richtung, ich fühle mich von einer seltsamen Lust ergriffen, dieser Dame Angst zu machen, ihr zu folgen und sie auf irgendeine Weise zu ärgern. Ich hole sie wieder ein und gehe an ihr vorbei, wende mich plötzlich um und begegne ihr, Antlitz in Antlitz, um sie zu beobachten. Ich stehe und sehe ihr in die Augen und erfinde auf der Stelle einen Namen, den ich niemals gehört hatte, einen Namen mit einem gleitenden, nervösen Laut: Ylajali. Als sie mir nah genug gekommen war, richte ich mich auf und sage eindringlich:

Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein.

Ich konnte vernehmen, wie mein Herz hörbar schlug, als ich das sagte.

Mein Buch? fragt sie ihre Begleiterin. Und sie geht weiter.

Meine Bosheit nahm zu und ich folgte ihnen. Ich war mir in diesem Augenblick voll bewußt, daß ich verrückte Streiche beging, ohne daß ich dagegen etwas hätte tun können; mein verwirrter Zustand ging mit mir durch und gab mir die wahnsinnigsten Einflüsterungen, denen ich der Reihe nach gehorchte. Wie sehr ich mir auch vorsagte, daß ich mich idiotisch benehme, machte ich doch die dümmsten Grimassen hinter dem Rücken der Dame und hustete einige Male rasend, während ich an ihr vorbeiging. Auf diese Weise ganz langsam vorwärtsgehend, immer um einige Schritte im Vorsprung, fühlte ich ihre Augen in meinem Rücken, und ich duckte mich unwillkürlich nieder vor Scham darüber, sie belästigt zu haben. Nach und nach hatte ich die seltsame Wahrnehmung, weit fort zu sein, an anderen Orten, ich hatte halb unbestimmt das Gefühl, daß gar nicht ich es sei, der hier auf den Steinfliesen ging und sich niederduckte.

Einige Minuten später ist die Dame zu Paschas Buchladen gekommen. Ich war bereits beim ersten Fenster stehen geblieben, und als sie vorbeigeht, trete ich vor und wiederhole:

Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein.

Nein, welches Buch? sagt sie ängstlich. Begreifst du, von welchem Buch er spricht?

Und sie bleibt stehen. Ich ergötze mich grausam an ihrer Verwirrung, diese Ratlosigkeit in ihren Augen berückt mich. Ihr Denken kann meine kleine desperate Anrede nicht fassen; sie hat durchaus kein Buch dabei, nicht ein einziges Blatt eines Buches, und trotzdem sucht sie in ihren Taschen, sieht sich wiederholt in die Hände, wendet den Kopf und untersucht die Straße hinter sich, strengt ihr kleines, empfindliches Gehirn auf das äußerste an, um herauszufinden, von welchem Buch ich spreche. Ihr Gesicht wechselt die Farbe, hat bald den einen, bald den andern Ausdruck, und sie atmet hörbar; selbst die Knöpfe an ihrem Kleid scheinen mich wie eine Reihe erschreckter Augen anzustarren.

Ach laß' ihn doch, sagt ihre Begleiterin und zieht sie am Arm; er ist ja betrunken; siehst du denn nicht, daß der Mann betrunken ist!

So fremd ich mir in diesem Augenblick auch selbst war, so vollständig eine Beute unsichtbarer Einflüsse, ging doch um mich herum nichts vor sich, ohne daß ich es bemerkte. Ein großer brauner Hund sprang quer über die Straße, gegen die Anlagen zu und hinunter nach Tivoli; er hatte ein schmales Halsband aus Neusilber um. Weiter oben in der Straße wurde im ersten Stock ein Fenster geöffnet, und ein Mädchen mit aufgestülpten Ärmeln lehnte sich heraus und begann die Scheiben auf der Außenseite zu putzen. Nichts entging meiner Aufmerksamkeit, ich war klar und geistesgegenwärtig, alle Dinge strömten mit einer leuchtenden Deutlichkeit auf mich ein, als verbreitete sich plötzlich ein starkes Licht um mich her. Die Damen vor mir hatten beide blaue Vogelflügel auf dem Hut und schottische Seidenbänder um den Hals. Es schien mir, daß es Schwestern seien.

Sie bogen ab und hielten bei Eislers Musikalienhandlung an und sprachen zusammen. Auch ich blieb stehen. Darauf kamen sie zurück, nahmen den gleichen Weg, den sie gekommen waren, gingen wieder an mir vorbei, schwenkten um die Ecke bei der Universitätsstraße und gingen direkt hinauf zum Sankt Olafsplatz. Ich war ihnen die ganze Zeit so dicht auf den Fersen, wie ich nur wagte. Einmal wandten sie sich um und sandten mir einen halb erschreckten, halb neugierigen Blick zu, und ich sah in ihren Mienen keinen Unwillen und keine gerunzelten Brauen. Diese Geduld mit meinen Belästigungen machte mich sehr beschämt, und ich schlug die Augen nieder. Ich wollte ihnen nicht länger zum Verdruß sein, ich wollte aus reiner Dankbarkeit ihnen nur mit den Augen folgen, sie nicht aus dem Gesicht verlieren, ganz, bis sie irgendwo hineingehen und verschwinden würden.

Vor Nummer zwei, einem großen dreistöckigen Haus, wandten sie sich noch einmal um, dann traten sie ein. Ich lehnte mich an einen Laternenpfahl beim Springbrunnen und lauschte ihren Schritten auf der Treppe nach; sie erstarben im ersten Stock. Ich trete vom Licht weg und sehe am Haus hinauf. Da geschieht etwas Sonderbares, die Vorhänge bewegen sich hoch oben, einen Augenblick später wird ein Fenster geöffnet, ein Kopf schaut heraus, und zwei seltsam blickende Augen ruhen auf mir. Ylajali! sagte ich halblaut und fühlte, daß ich rot wurde. Warum rief sie nicht um Hilfe? Warum stieß sie nicht an einen der Blumentöpfe, so daß er mir auf den Kopf fiel, oder schickte jemand herunter, um mich wegzujagen? Wir stehen da und sehen einander in die Augen, ohne uns zu rühren; das dauert eine Minute. Gedanken schießen zwischen dem Fenster und der Straße hin und her, und kein Wort wird gesagt. Sie wendet sich um, es gibt mir einen Ruck, einen zarten Stoß durch den Sinn; ich sehe eine Schulter, die sich dreht, einen Rücken, der ins Zimmer verschwindet. Dieses langsame Weggehen vom Fenster, die Betonung in dieser Bewegung mit der Schulter, war wie ein Nicken zu mir; mein Blut vernahm diesen feinen Gruß, und ich fühlte mich im selben Augenblick wunderbar froh. Dann kehrte ich um und ging die Straße hinunter.

Ich wagte nicht zurückzusehen und wußte nicht, ob sie abermals ans Fenster gekommen war; ich wurde immer unruhiger und nervöser, je mehr ich diese Frage überlegte. Vermutlich stand sie in diesem Augenblick am Fenster und verfolgte genau meine Bewegungen, und sich so von hinten beobachtet zu wissen, war in keiner Weise auszuhalten. Ich straffte mich auf, so gut ich konnte und ging weiter; es begann in meinen Beinen zu zucken, mein Gang wurde unsicher, weil ich ihn mit Absicht schön machen wollte. Um ruhig und gleichgültig zu scheinen, schlenkerte ich sinnlos mit den Armen, spuckte auf die Straße und streckte die Nase in die Luft; aber nichts half. Ich fühlte ständig die verfolgenden Augen in meinem Nacken, es lief mir kalt durch den Körper. Endlich rettete ich mich in eine Seitenstraße, von wo ich den Weg zum Pilestraede hinunter nahm, um meinen Bleistift zu holen.

Es machte mir keine Mühe, ihn zurückzuerhalten. Der Mann brachte mir die Weste selbst und bat mich, gleich alle Taschen zu untersuchen; ich fand auch ein paar Pfandscheine, die ich zu mir steckte, und dankte dem freundlichen Mann für sein Entgegenkommen. Er nahm mich mehr und mehr für sich ein, es war mir im selben Augenblick sehr darum zu tun, diesem Menschen einen besonders guten Eindruck von mir zu geben. Ich wandte mich zur Türe und kehrte wieder zum Ladentisch zurück, als hätte ich etwas vergessen; ich glaubte ihm eine Erklärung schuldig zu sein, eine Auskunft, und ich begann zu summen, um ihn aufmerksam zu machen. Dann nahm ich den Bleistift in die Hand und hielt ihn in die Luft.

Es könne mir nicht einfallen, sagte ich, weite Wege wegen irgendeines beliebigen Bleistiftes zu gehen; mit diesem hier aber sei es eine andere Sache, eine eigene Sache. So gering er auch aussah, hatte dieser Bleistiftstumpf mich schlechthin zu dem gemacht, was ich in der Welt war, hatte mich sozusagen auf meinem Platz im Leben gestellt ...

Mehr sagte ich nicht. Der Mann kam ganz nahe zum Ladentisch her.

Soso? meinte er und sah mich neugierig an.

Mit diesem Bleistift, fuhr ich kaltblütig fort, habe ich meine Abhandlung in drei Bänden über die philosophische Erkenntnis geschrieben. Ob er nicht davon reden gehört habe?

Und dem Mann schien es wirklich, daß er den Namen, den Titel gehört habe.

Ja, sagte ich, das sei von mir, das! Da dürfe es ihn schließlich nicht wundern, wenn ich dieses kleine Ende von einem Bleistift zurückhaben wolle. Es habe allzu großen Wert für mich, es sei mir beinahe wie ein kleiner Mensch, übrigens sei ich ihm für sein Wohlwollen aufrichtig dankbar, und ich wolle mich seiner dafür erinnern – doch, doch, ich wolle mich wirklich dafür seiner erinnern; ein Mann ein Wort, so sei ich, und er verdiene es. Lebwohl.

Ich ging mit einer Haltung zur Türe, als könnte ich ihn in einer hohen Stellung unterbringen. Der freundliche Pfandleiher verbeugte sich zweimal vor mir, als ich mich entfernte, und ich wandte mich noch einmal um und sagte Lebwohl.

Auf der Treppe begegnete ich einer Frau, die eine Reisetasche in der Hand trug. Sie drückte sich ängstlich zur Seite, um mir Platz zu machen, weil ich mich so aufblies, und ich griff unwillkürlich in die Tasche, wollte ihr etwas geben, als ich nichts fand, wurde ich herabgestimmt, und ich ging mit gesenktem Kopf an ihr vorbei. Kurz darauf hörte ich, daß auch sie an die Bude klopfte; es war ein Drahtgitter an der Tür, ich erkannte sogleich den klirrenden Laut wieder, den es von sich gab, wenn eines Menschen Knöchel es berührte.

Die Sonne stand im Süden, es war ungefähr zwölf Uhr. Die Stadt fing an auf die Beine zu kommen, die Promenadezeit näherte sich, und grüßendes und lachendes Volk wogte in der Karl-Johan-Straße auf und nieder. Ich drückte die Ellbogen an die Seite, machte mich klein und schlüpfte unbemerkt an einigen Bekannten vorbei, die eine Ecke bei der Universität in Beschlag genommen hatten, um die Vorübergehenden zu betrachten. Ich wanderte den Schloßberg hinauf und fiel in Gedanken.

Diese Menschen – leicht und lustig wiegten sie ihre hellen Köpfe und schwangen sich durch das Leben wie durch einen Ballsaal! In keinem einzigen Auge war Sorge, keine Bürde auf irgendeiner Schulter, vielleicht nicht ein einziger trüber Gedanke, nicht eine einzige kleine heimliche Pein in einem dieser fröhlichen Gemüter. Und ich ging hier dicht neben diesen Menschen, jung und vor kurzem erschlossen, und ich hatte schon vergessen, wie das Glück aussah. Ich liebkoste diesen Gedanken bei mir selbst und fand, daß mir ein grausames Unrecht geschehen war. Warum waren die letzten Monate so merkwürdig hart gegen mich gewesen? Ich kannte meinen hellen Sinn nicht wieder. An allen Ecken und Enden litt ich an den sonderbarsten Plagen. Ich konnte mich nicht einmal allein auf irgendeine Bank setzen oder meinen Fuß irgendwohin bewegen, ohne von kleinen, bedeutungslosen Zufälligkeiten überfallen zu werden, von jämmerlichen Bagatellen, die sich in meine Vorstellungen eindrängten und meine Kräfte in alle Winde zerstreuten. Ein Hund, der an mir vorbeistrich, eine gelbe Rose im Knopfloch eines Herrn, konnten meine Gedanken in Schwingungen versetzen und mich für längere Zeit beschäftigen. Was fehlte mir? Hatte der Finger des Herrn auf mich gedeutet? Aber warum gerade auf mich? Warum nicht ebensogut auf einen Mann in Südamerika, wenn es schon so sein mußte? Überlegte ich die Sache recht, wurde es mir immer unbegreiflicher, daß gerade ich zum Probierstein für die Laune der Gnade Gottes ausersehen sein sollte. Es war dies eine höchst eigentümliche Art vorzugehen, eine ganze Welt zu überspringen, um mich zu erreichen; der Antiquarbuchhändler Pascha und der Dampfschiffexpediteur Hennechen waren doch auch noch da.

Ich ging weiter und prüfte diese Sache und wurde nicht fertig mit ihr; ich fand die gewichtigsten Einwände gegen diese Willkür des Herrn, mich die Schuld aller entgelten zu lassen. Sogar nachdem ich eine Bank gefunden und mich niedergesetzt hatte, fuhr diese Frage fort, mich zu beschäftigen und mich zu hindern, an andere Dinge zu denken. Seit dem Tag im Mai, da meine Widerwärtigkeiten begonnen hatten, konnte ich ganz deutlich eine allmählich zunehmende Schwäche bemerken, ich war gleichsam zu matt geworden, um mich dahin zu steuern und zu leiten, wohin ich wollte. Ein Schwarm von kleinen schädlichen Tieren hatte sich in mein Inneres gedrängt und mich ausgehöhlt. Wie, wenn nun Gott geradezu im Sinn hätte, mich ganz zu zerstören? Ich stand auf und trieb vor meiner Bank hin und her.

Mein ganzes Wesen befand sich in diesem Augenblick im höchsten Grad der Pein; ich hatte sogar in den Armen Schmerzen und konnte es kaum ertragen, sie auf gewöhnliche Art zu halten. Auch von meiner letzten schweren Mahlzeit her fühlte ich ein starkes Unbehagen, ich war übersättigt und erregt und spazierte auf und ab, ohne aufzusehen; die Menschen, die um mich her waren, kamen und glitten an mir vorbei wie Schatten. Schließlich wurde meine Bank von ein paar Herren besetzt, die ihre Zigarren anzündeten und laut schwätzten. Ich geriet in Zorn und wollte sie anreden, kehrte aber um und ging ganz hinüber zur anderen Seite des Parkes, wo ich eine andere Bank fand. Ich setzte mich.

Der Gedanke an Gott begann mich wieder in Anspruch zu nehmen. Ich fand es höchst unverantwortlich von ihm, mir jedesmal in den Weg zu treten, wenn ich einen Posten suchte, und alles zu zerstören, obwohl es doch nur die Nahrung des Tages war, um die ich bat. Ich hatte es ganz deutlich bemerkt, immer wenn ich längere Zeit hungerte, war es gleichsam, als rinne mein Gehirn langsam aus dem Kopf, und als würde er leer. Das Haupt wurde leicht und abwesend, ich fühlte seine Schwere nicht mehr auf meinen Schultern, und ich hatte das Gefühl, daß meine Augen allzuweit geöffnet glotzten, wenn ich jemand ansah.

Ich saß da auf der Bank und dachte über all dieses nach und wurde immer bitterer gegen Gott wegen seiner andauernden Quälereien. Wenn er glaubte, mich näher an sich zu ziehen und mich besser zu machen, indem er mich peinigte und mir Widerstand auf Widerstand in den Weg legte, griff er ein wenig fehl, das konnte ich ihm versichern. Und ich sah zum Himmel auf, weinend fast vor Trotz, und sagte ihm das im stillen ein für allemal.

Bruchstücke meines Kinderglaubens kamen mir ins Gedächtnis, der Tonfall der Bibel sang in meinen Ohren, ich sprach leise mit mir selbst und legte den Kopf spöttisch auf die Seite. Weshalb bekümmerte ich mich darum, was ich fressen sollte, was ich saufen sollte, und in was ich diesen elenden Madensack, meinen irdischen Leib genannt, kleiden sollte? Hatte nicht mein himmlischer Vater für mich gesorgt wie für die Sperlinge unter dem Himmel und mir die Gnade erwiesen, auf seinen geringen Diener zu deuten? Gott hatte seinen Finger in mein Nervennetz gesteckt und behutsam, ganz obenhin, ein wenig Unordnung in die Drähte gebracht. Und Gott hatte seinen Finger zurückgezogen und siehe, es waren Fäden, feine Wurzelfäden von den Fasern meiner Nerven an dem Finger. Und es blieb ein offenes Loch von seinem Finger zurück, der Gottes Finger war, und Wunden blieben in meinem Gehirn von den Wegen seines Fingers. Aber als Gott mich mit dem Finger seiner Hand berührt hatte, entließ er mich und berührte mich nicht mehr und ließ mir nichts Böses widerfahren. Vielmehr durfte ich in Frieden gehen und durfte mit dem offenen Loch gehen. Und nichts Böses widerfährt mir von Gott, der der Herr ist, in alle Ewigkeit ...

Stöße von Musik wurden vom Wind aus dem Studentenhain zu mir heraufgetragen, es war also zwei Uhr vorbei. Ich zog meine Papiere hervor und versuchte etwas zu schreiben, gleichzeitig fiel mein Barbierabonnement aus der Tasche. Ich öffnete es und zählte die Blätter, es waren noch sechs Karten übrig. Gott sei Dank! sagte ich unwillkürlich; ich konnte mich noch einige Wochen rasieren lassen und anständig aussehen! Und gleich kam ich in eine bessere Gemütsstimmung durch dieses kleine Eigentum, das ich noch besaß; ich glättete die Karten sorgfältig und verwahrte das Buch in der Tasche.

Aber schreiben konnte ich nicht. Nach ein paar Linien wollte mir nichts mehr einfallen; meine Gedanken waren anderswo, ich konnte mich zu keiner bestimmten Anstrengung aufraffen. Alle Dinge wirkten auf mich ein und zerstreuten mich, alles, was ich sah, gab mir neue Eindrücke. Fliegen und kleine Mücken setzten sich auf dem Papier fest und störten mich; ich blies sie an, um sie wegzubringen, blies fester und fester, aber ohne Erfolg. Die kleinen Biester legen sich nach hinten, machen sich schwer und kämpfen dagegen an, so daß ihre dünnen Beine sich ausbauchen. Sie sind durchaus nicht vom Fleck zu bringen. Sie finden immer etwas, um sich daran festzuhaken, stemmen die Fersen gegen ein Komma oder eine Unebenheit im Papier und stehen unverrückbar still, bis sie selbst es für gut finden, ihren Weg zu gehen.

Eine Zeitlang fuhren diese kleinen Untiere fort, mich zu beschäftigen, ich legte die Beine übers Kreuz und ließ mir gute Weile, sie zu beobachten. Mit einem Mal schmetterten ein oder zwei hohe Klarinettentöne aus den Anlagen zu mir herauf und gaben meinen Gedanken einen neuen Anstoß. Mißmutig darüber, daß ich meinen Artikel nicht zustande bringen konnte, steckte ich die Papiere wieder in die Tasche und lehnte mich auf der Bank zurück. In diesem Augenblick ist mein Kopf so klar, daß ich die feinsten Gedanken denken kann, ohne zu ermüden. Während ich in dieser Stellung liege und meine Blicke über Brust und Beine hinuntergleiten lasse, bemerke ich die zuckende Bewegung, die mein Fuß bei jedem Pulsschlag macht. Ich richte mich halb auf und sehe auf meine Füße nieder, und ich durchlebe in dieser Zeitspanne eine phantastische und fremde Stimmung, die ich niemals früher gefühlt hatte. Es gab mir einen feinen und wunderbaren Ruck durch die Nerven, wie wenn Schauer von Licht sie durchzuckten. Als ich die Blicke auf meinen Schuhen weilen ließ, war es, als hätte ich einen guten Bekannten getroffen oder einen losgerissenen Teil meiner selbst zurückerhalten; ein Gefühl des Wiedererkennens durchzittert meine Sinne, die Tränen kommen mir in die Augen, und ich empfinde meine Schuhe wie einen leise sausenden Ton, der auf mich eindringt. Schwachheit! sagte ich hart zu mir selbst, ich ballte die Hände und sagte: Schwachheit. Ich nannte mich selbst einen Narren wegen dieser lächerlichen Gefühle, hielt mich mit vollem Bewußtsein zum besten; ich sprach sehr streng und verständig und kniff die Augen heftig zusammen, um die Tränen zurückzudrängen. Als ob ich nie zuvor meine Schuhe gesehen hätte, beschäftige ich mich jetzt damit, ihr Aussehen zu studieren, ihre Mimik, wenn ich den Fuß bewege, ihre Form und die abgenützten Oberteile, und ich entdecke, daß die Falten und weißen Nähte ihnen Ausdruck verleihen, ihnen Physiognomie geben. Es war etwas von meinem eigenen Wesen in diese Schuhe übergegangen, sie wirkten auf mich wie ein Hauch gegen mein Ich, ein atmender Teil meiner selbst ...

Ich saß da und fabelte mit diesen Wahrnehmungen eine lange Weile, vielleicht eine ganze Stunde. Ein kleiner alter Mann kam und nahm das andere Ende meiner Bank ein; während er sich setzte, schnaufte er ein über das andere Mal schwer und sagte:

Ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja, so ist's!

Sowie ich seine Stimme hörte, war es mir, als fege ein Wind durch meinen Kopf, ich ließ die Schuhe Schuhe sein, und es kam mir bereits so vor, als ob die verwirrte Gemütsstimmung, die ich eben erlebt hatte, sich aus einer längst entschwundenen Zeit herschriebe, vielleicht ein Jahr oder zwei zurückläge und sachte im Begriff sei, aus meiner Erinnerung ausgewischt zu werden. Ich setzte mich zurecht, um den Alten anzusehen.

Was ging er mich an, dieser kleine Mann? Nichts, nicht das geringste! Nur, daß er eine Zeitung in der Hand hielt, eine alte Nummer mit dem Anzeigenteil nach außen, in der irgend etwas eingepackt zu sein schien. Ich wurde neugierig und konnte meine Augen nicht von der Zeitung losbringen; ich bekam die wahnsinnige Idee, dies könne eine besonders merkwürdige Zeitung sein, einzig dastehend in ihrer Art; meine Neugier stieg und ich begann auf der Bank hin und her zu rutschen. Es konnten Dokumente sein, gefährliche Akten, aus einem Archiv gestohlen. Und es schwebte mir etwas von einem heimlichen Traktat vor, einer Verschwörung.

Der Mann saß still und dachte. Weshalb trug er auch seine Zeitung nicht wie jeder andere Mensch eine Zeitung trägt, mit dem Titel nach außen? Was war das für eine Hinterlistigkeit? Er sah nicht so aus, als wolle er sein Paket aus der Hand lassen, nicht um alles in der Welt, er wagte vielleicht nicht einmal es seiner eigenen Tasche anzuvertrauen. Ich hätte mein Leben verwetten mögen, daß da etwas dahintersteckte.

Ich sah in die Luft. Gerade dies, daß es so unmöglich war, in diese mystische Sache einzudringen, machte mich vor Neugierde ganz verstört. Ich kramte in meinen Taschen nach irgend etwas, das ich dem Mann hätte geben können, um ins Gespräch mit ihm zu kommen und erwischte mein Barbierabonnement, steckte es aber wieder ein. Plötzlich kam es mir in den Sinn, äußerst frech zu sein, ich schlug mir auf meine leere Brusttasche und sagte:

Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?

Danke, der Mann rauchte nicht, er hatte damit aufhören müssen, um seine Augen zu schonen, er war beinahe blind, übrigens vielen Dank!

Ob es lange her sei, daß seine Augen Schaden gelitten hatten? Dann könne er vielleicht auch nicht lesen? Nicht einmal Zeitungen?

Nicht einmal Zeitungen, leider!

Der Mann sah mich an. Die kranken Augen hatten beide ein dünnes Häutchen, das ihnen ein glasartiges Aussehen gab, sein Blick wurde weiß und machte einen widerlichen Eindruck.

Sie sind fremd hier? sagte er.

Ja. – Ob er nicht einmal den Titel der Zeitung lesen könne, die er in der Hand halte?

Kaum. – übrigens hätte er sofort gehört, daß ich fremd sei; es sei etwas in meinem Tonfall, das ihm das sage. Dazu brauche es wenig, er höre so gut; in der Nacht, wenn alle schliefen, könne er die Menschen im Nebenzimmer atmen hören ... Was ich sagen wollte, wo wohnen Sie?

Mit einemmal stand eine Lüge fertig in meinem Kopf. Ich log unfreiwillig, ohne Vorsatz und ohne Hintergedanken, ich antwortete: Auf dem Sankt Olafsplatz, Nummer 2.

Wirklich? Der Mann kannte jeden Pflasterstein auf dem Sankt Olafsplatz. Dort sei ein Springbrunnen, seien einige Laternenpfähle, ein paar Bäume, er erinnerte sich des Ganzen ... Welche Nummer haben Sie?

Ich wollte ein Ende machen und erhob mich, von meiner fixen Idee mit der Zeitung zum Äußersten getrieben. Das Geheimnis sollte aufgeklärt werden, koste es, was es wolle.

Wenn Sie diese Zeitung nicht lesen können warum ...

Nummer 2, sagten Sie doch? fuhr der Mann fort, ohne meine Unruhe zu beachten. Ich kannte seinerzeit alle Menschen in Nummer 2. Wie heißt Ihr Hausherr?

Um ihn los zu werden, erfand ich in Eile einen Namen, bildete diesen Namen im Augenblick und schleuderte ihn heraus, um meinem Plagegeist Einhalt zu tun.

Happolati, sagte ich.

Happolati ja, nickte der Mann, und er verlor nicht eine Silbe dieses schwierigen Namens.

Ich sah ihn erstaunt an; er saß sehr ernsthaft da und hatte eine nachdenkliche Miene. Kaum hatte ich diesen dummen Namen, der mir gerade eingefallen war, ausgesprochen, als der Mann sich schon damit zurechtfand und tat, als habe er ihn schon früher gehört. Mittlerweile legte er sein Paket auf die Bank, und ich fühlte meine ganze Neugierde durch die Nerven zittern. Ich bemerkte, daß ein paar Fettflecken auf der Zeitung waren.

Ist er nicht Seemann, Ihr Hausherr? fragte er, und es war keine Spur von Ironie in seiner Stimme. Ich glaube mich zu erinnern, daß er Seemann war?

Seemann? Verzeihung, Sie meinen wahrscheinlich den Bruder; hier handelt es sich nämlich um den I. A. Happolati, Agent.

Ich glaubte, das würde der Sache ein Ende machen; aber er ging willig auf alles ein.

Es soll ein tüchtiger Mann sein, habe ich gehört? sagte er tastend.

Oh, ein verschlagener Kerl, antwortete ich, ein tüchtiger Geschäftsmann, Agent für alles mögliche, Preiselbeeren nach China, Federn und Daunen aus Rußland, Häute, Holzmasse, Schreibtinte ...

Hehe, zum Teufel! unterbrach mich der Greis in hohem Grad ermuntert.

Dies begann interessant zu werden. Die Situation ging mit mir durch, und eine Lüge nach der anderen entstand in meinem Kopf. Ich setzte mich wieder, vergaß die Zeitung, die merkwürdigen Dokumente, wurde eifrig und fiel dem anderen in die Rede. Die Leichtgläubigkeit des kleinen Zwerges machte mich dummdreist, ich wollte ihn rücksichtslos anlügen, ihn grandios aus dem Feld schlagen.

Ob er von dem elektrischen Psalmenbuch gehört habe, das Happolati erfunden hatte?

Was, elek...?

Mit elektrischen Buchstaben, die im Dunkeln leuchteten! Ein ganz großartiges Unternehmen. Millionen Kronen in Bewegung, Gießereien und Druckereien in Arbeit, Scharen von festbesoldeten Mechanikern beschäftigt, ich hätte etwas von siebenhundert Mann gehört.

Ja, ich sag's ja! meinte der Greis leise. Mehr sagte er nicht; er glaubte jedes Wort, das ich erzählte, und fiel trotzdem nicht in Erstaunen. Das enttäuschte mich ein wenig, ich hatte erwartet, ihn durch meine Einfälle ratlos zu machen.

Ich erfand noch ein paar desperate Lügen, trieb es bis zum Hasard, flüsterte davon, daß Happolati neun Jahre Minister in Persien gewesen sei. – Sie haben vielleicht keine Ahnung, was es sagen will, Minister in Persien zu sein? fragte ich. Das sei mehr als König hier, oder ungefähr soviel wie Sultan, wenn er wisse, was das sei. Aber Happolati habe alles bewältigt und sich niemals festgerannt. Und ich erzählte von Ylajali, seiner Tochter, einer Fee, einer Prinzessin, die dreihundert Sklavinnen hatte und auf einem Lager von gelben Rosen lag; sie sei das schönste Wesen, das ich je gesehen hätte. Gott straf mich, wenn ich in meinem Leben jemals einen ähnlichen Anblick erlebt hätte.

So, war sie so schön? äußerte der Alte mit einer abwesenden Miene und sah auf den Boden.

Schön? Sie war herrlich, sie war sündhaft süß! Augen wie Rohseide, Arme aus Bernstein. Ein einziger Blick nur von ihr sei verführerisch wie ein Kuß, und wenn sie mich rief, jagte ihre Stimme wie ein Strahl Weines bis an mein Herz. Weshalb sollte sie nicht so herrlich sein? Hielt er sie etwa für einen Kassenboten oder für einen Mann von der Feuerwehr? Sie war einfach eine Herrlichkeit des Himmels, könne ich ihm sagen, ein Märchen.

Jaja! sagte der Mann ein wenig verdutzt.

Seine Ruhe langweilte mich. Ich war von meiner eigenen Stimme erregt worden und sprach in vollem Ernst. Die gestohlenen Archivsachen, der Traktat mit dieser oder jener fremden Macht waren nicht mehr in meinen Gedanken. Das kleine flache Paket lag zwischen uns auf der Bank, und ich hatte nicht mehr die geringste Lust, es zu untersuchen und zu sehen, was es enthielt. Ich war ganz von meinen eigenen Gedanken in Anspruch genommen, seltsame Gesichte trieben an meinen Augen vorbei, das Blut stieg mir zu Kopf, und ich lachte aus vollem Halse.

In diesem Augenblick schien der Mann gehen zu wollen. Er tastete an sich herum und fragte, um nicht schroff abzubrechen:

Er soll schwere Besitzungen haben, dieser Happolati?

Wie konnte dieser blinde, widerwärtige Greis es wagen, mit einem Namen, den ich erdichtet hatte, umzugehen, als sei es ein gewöhnlicher Name und stünde auf jedem Krämerschild der Stadt? Er stolperte über keinen Buchstaben und vergaß keine Silbe; dieser Name hatte sich in seinem Gehirn festgebissen und im selben Augenblick Wurzeln geschlagen. Ich wurde ärgerlich, eine innere Verbitterung begann in mir gegen diesen Menschen zu entstehen, den nichts in Verlegenheit bringen konnte und nichts mißtrauisch machte.

Davon weiß ich nichts, erwiderte ich störrisch; ich weiß durchaus nichts davon. Lassen Sie es sich nun übrigens ein für allemal sagen, daß er Johan Arendt Happolati heißt, nach seinen eigenen Vorbuchstaben zu urteilen.

Johan Arendt Happolati, wiederholte der Mann, erstaunt über meine Heftigkeit. Dann schwieg er.

Sie sollten seine Frau sehen, sagte ich rasend; einen dickeren Menschen ... Ja, Sie glauben vielleicht gar nicht, daß sie so besonders dick ist?

Doch, das glaube er wohl – ein solcher Mann –

Der Greis antwortete auf jeden meiner Ausfälle sanftmütig und still und suchte nach Worten, als sei er besorgt, sich zu vergehen und mich zornig zu machen.

Zum Satan, Mensch, glauben Sie etwa, daß ich hier dasitze und Ihnen die Ohren vollüge? rief ich außer mir. Sie glauben vielleicht nicht einmal, daß es einen Mann namens Happolati gibt? Niemals noch habe ich so viel Trotz und Bosheit bei einem alten Mann gesehen! Was zum Teufel ist mit Ihnen los? Sie haben vielleicht obendrein bei sich gedacht, ich sei ein äußerst armer Kerl, der hier in seinem besten Staat sitzt und überhaupt kein Etui voll Zigaretten in der Tasche hat? Eine solche Behandlung, wie Sie mir bieten, bin ich nicht gewöhnt, das will ich Ihnen sagen, und ich dulde sie, bei Gott, weder von Ihnen noch von irgendeinem anderen, das dürfen Sie glauben!

Der Mann hatte sich erhoben. Mit offenem Mund stand er da, stumm, und hörte meinen Ausbruch an, bis ich zu Ende war, dann ergriff er schnell sein Paket auf der Bank und ging, lief beinahe über den Weg mit seinen kleinen Greisenschritten.

Ich blieb zurück und sah seinen Rücken an, der mehr und mehr fortglitt und immer mehr zusammenzusinken schien. Ich weiß nicht, woher ich den Eindruck bekam, aber es schien mir, als hätte ich niemals einen unehrlicheren und lasterhafteren Rücken gesehen als diesen, und ich bereute nicht, daß ich diesen Menschen ausgescholten hatte, bevor er mich verließ ...

Der Tag ging zur Neige, die Sonne sank, in den Bäumen ringsumher fing es an, ein wenig zu sausen, und die Kindermädchen, die ein Stück weiter weg in Gruppen bei der Balancierstange saßen, begannen ihre Wagen heimzurollen. Ich war ruhig und wohlgemut. Die Erregung, in der ich eben gewesen war, legte sich nach und nach, ich fiel zusammen, wurde schlaff und begann mich schläfrig zu fühlen. Die große Menge Brotes, die ich gegessen hatte, war mir auch nicht mehr besonders lästig. In bester Stimmung lehnte ich mich auf der Bank zurück, schloß die Augen und wurde immer schlaftrunkener, ich schlummerte und war nahe daran, in festen Schlaf zu fallen, als ein Parkwächter seine Hand auf meine Schulter legte und sagte:

Sie dürfen hier herinnen nicht schlafen.

Nein, sagte ich und erhob mich sogleich. Und mit einem Schlag stand meine traurige Lage mir wieder klar und deutlich vor den Augen. Ich mußte etwas tun, irgend etwas ausfindig machen! Stellungen zu suchen hatte mir nichts genützt; die Empfehlungen, die ich vorzeigte, waren alt geworden und schrieben sich von allzu unbekannten Personen her, um kräftig zu wirken; außerdem hatten die ständigen Absagen während des ganzen Sommers mich verzagt gemacht. Na – unter allen Umständen war meine Miete fällig, und ich mußte einen Ausweg dafür finden. Dann konnte das übrige einstweilen auf sich beruhen.

Ganz unwillkürlich hatte ich wieder Bleistift und Papier in die Hände genommen und saß und schrieb mechanisch die Jahreszahl 1848 in alle Ecken. Wenn jetzt nur ein einziger brausender Gedanke mich gewaltig erfassen und mir die Worte in den Mund legen wollte! Es war dies doch früher geschehen, es war wirklich geschehen; daß solche Stunden über mich gekommen waren, in denen ich ohne Anstrengung ein langes Stück schreiben und es glänzend durchführen konnte.

Ich sitze hier auf der Bank und schreibe dutzende Male 1848, schreibe diese Zahl kreuz und quer in allen möglichen Formen und warte darauf, daß mir eine brauchbare Idee einfalle. Ein Schwarm loser Gedanken schwirrt in meinem Kopf umher, und die Stimmung des sinkenden Tages macht mich mißmutig und sentimental. Der Herbst ist gekommen und hat schon angefangen, alles in Erstarrung zu legen, Fliegen und kleine Insekten haben den ersten Stoß bekommen, und in den Bäumen und unten auf der Erde hört man den Laut des kämpfenden Lebens, raschelnd, sausend, unruhig arbeitend, um nicht zu vergehen. Alles Gewürm rührt sich noch einmal, streckt seine gelben Köpfe aus dem Moos, hebt seine Beine, tastet sich mit langen Fäden vor und sinkt dann plötzlich zusammen, fällt um und wendet den Bauch in die Luft. Jedes Gewächs hat sein eigenes Gepräge bekommen, einen feinen, hinatmenden Hauch der ersten Kälte; die Halme starren bleich zur Sonne auf, und das abfallende Laub zischelt über die Erde mit einem Laut wie von wandernden Seidenraupen. Es ist die Zeit des Herbstes, es ist mitten im Karneval der Vergänglichkeit; das Rot der Rosen ist krank, ein hektischer wunderbarer Schein liegt über der blutroten Farbe.

Ich fühlte mich selbst wie ein kriechendes Tier im Untergang, von der Zerstörung ergriffen, mitten in dieser schlafbereiten Allwelt. Ich erhob mich von Schrecken besessen und tat ein paar gewaltsame Schritte über den Weg. Nein! rief ich und ballte meine beiden Hände, dies muß ein Ende haben! Und ich setzte mich wieder, nahm wieder den Bleistift in die Hand und wollte Ernst mit einem Artikel machen. Es konnte gar nichts nützen, sich nachzugeben, wenn man mit einer unbezahlten Miete vor Augen dastand.

Langsam begannen meine Gedanken sich zu sammeln. Ich paßte auf und schrieb sacht und wohlüberlegt ein paar Seiten als eine Einleitung zu irgend etwas; das konnte ein Anfang zu allem möglichen sein, zu einer Reiseschilderung, einem politischen Artikel, je nachdem ich es selbst für gut hielt. Es war ein ganz vortrefflicher Anfang zu allem möglichen.

Dann fing ich an, nach einer bestimmten Frage zu suchen, die ich behandeln könnte, einen Mann, ein Ding, irgend etwas, worüber ich mich werfen konnte, aber ich vermochte nichts zu entdecken. Während dieser fruchtlosen Anstrengungen kam von neuem Unordnung in meine Gedanken, ich fühlte, wie mein Gehirn förmlich versagte, mein Kopf leer und leerer wurde, – er saß leicht und ohne Inhalt auf meinen Schultern. Ich empfand diese klaffende Leere in meinem Kopf mit dem ganzen Körper, erschien mir selbst von oben bis unten ausgehöhlt.

Herr, mein Gott und Vater! rief ich vor Schmerz, und ich wiederholte diesen Ruf in einem Zug mehrere Male, ohne etwas hinzuzufügen.

Der Wind raschelte im Laub, es zogen sich Wolken zusammen. Ich saß noch eine Weile und starrte verloren auf meine Papiere, legte sie dann zusammen und steckte sie langsam in die Tasche. Es wurde kühl, und ich hatte keine Weste mehr; ich knöpfte den Rock bis zum Hals hinauf zu und steckte die Hände in die Tasche. Dann stand ich auf und ging.

Wenn es mir nur dieses eine Mal geglückt wäre, dieses eine Mal. Wiederholt hatte mich bereits meine Hauswirtin mit den Augen nach der Bezahlung gefragt, und ich hatte mich niederducken und mich mit einem verlegenen Gruß an ihr vorbeischleichen müssen. Ich konnte das nicht wieder tun; wenn ich das nächste Mal diesen Augen begegnete, würde ich mein Zimmer aufsagen und ehrlich Rechenschaft ablegen; es konnte auf die Dauer doch nicht in dieser Weise weitergehen.

Als ich zum Ausgang des Parkes kam, sah ich den alten Zwerg wieder, den ich mit meiner Raserei in die Flucht gejagt hatte. Das mystische Zeitungspaket lag weit aufgeschlagen neben ihm, voll von Eßwaren verschiedener Art, von denen er abbiß. Plötzlich wollte ich gerade auf ihn zugehen und ihn für mein Betragen um Vergebung bitten, aber seine Art zu essen stieß mich zurück; die alten Finger, die wie zehn runzlige Krallen aussahen, umfaßten ekelhaft die fetten Butterbrote, ich fühlte Würgen und ging an ihm vorbei, ohne ihn anzureden. Er erkannte mich nicht, seine Augen starrten mich an, trocken wie Horn, und sein Gesicht verzog keine Miene. Und ich setzte meinen Weg fort.

Nach Gewohnheit blieb ich vor jeder ausgehängten Zeitung, an der ich vorbeikam, stehen, um die Bekanntmachungen von ledigen Stellen zu studieren, und ich war so glücklich, eine zu finden, die ich übernehmen konnte: Ein Kaufmann im Grönlandsler suchte einen Mann, der ihm jeden Abend für ein paar Stunden die Bücher führen könnte; Lohn nach Übereinkunft. Ich notierte mir die Adresse des Mannes und betete im stillen zu Gott um diesen Platz; ich wollte für die Arbeit weniger verlangen als irgendein anderer, fünfzig Öre waren reichlich, oder vielleicht vierzig Öre; ganz gleich, wie es sich eben gab.

Als ich heimkam, lag auf meinem Tisch ein Zettel von meiner Hauswirtin, worauf sie mich bat, meine Miete im voraus zu bezahlen oder auszuziehen, sobald ich könnte. Ich möge das nicht ärgerlich aufnehmen, es sei einzig und allein ein notwendiges Verlangen. Freundschaftlichst Madame Gundersen.

Ich schrieb ein Gesuch an den Kaufmann Christie im Grönlandsler Nummer 31, legte es in einen Umschlag und brachte es hinunter zum Briefkasten an der Ecke. Dann ging ich wieder in mein Zimmer hinauf, setzte mich in den Schaukelstuhl und begann nachzudenken, während das Dunkel dichter und dichter wurde. Nun fing es an schwierig zu werden, sich über Wasser zu halten.

Gegen Morgen erwachte ich sehr früh. Es war noch ziemlich dunkel, als ich die Augen aufschlug, und erst lange danach hörte ich die Uhr in der Wohnung unter mir fünfmal anschlagen. Ich wollte wieder einschlafen, aber es gelang mir nicht mehr, ich wurde immer munterer und lag wach und dachte an tausend Dinge.

Plötzlich fallen mir ein oder zwei gute Sätze ein, zu einer Skizze, einem Feuilleton, feine sprachliche Glückstreffer, wie ich noch nie ihresgleichen gefunden hatte. Ich liege da und wiederhole diese Worte vor mich hin und finde, daß sie ausgezeichnet sind. Bald fügen sich mehr hinzu, ich werde mit einemmal vollkommen wach und stehe auf und greife nach Papier und Bleistift, die auf dem Tisch hinter meinem Bett liegen. Es war, als sei eine Ader in mir aufgesprungen, ein Wort folgt dem anderen, die Worte ordnen sich im Zusammenhang, bilden sich zu Situationen; Szene häuft sich auf Szene, Handlungen und Repliken quellen in meinem Gehirn auf, und wundervolles Behagen erfaßt mich. Ich schreibe wie ein Besessener und fülle eine Seite nach der anderen, ohne einen Augenblick Pause. Gedanken kommen so plötzlich über mich und strömen weiterhin so reichlich, daß ich eine Menge Nebensächlichkeiten verliere, weil ich sie nicht schnell genug niederschreiben kann, obwohl ich aus allen Kräften arbeite. Immer noch dringt es auf mich ein, ich bin von meinem Stoff erfüllt, und jedes Wort, das ich schreibe, wird mir in den Mund gelegt.

Es dauert, dauert so gesegnet lange, ehe dieser seltsame Augenblick aufhört; ich habe fünfzehn, zwanzig beschriebene Seiten vor mir auf den Knien liegen, als ich endlich anhalte und den Bleistift weglege. War da nun wirklich irgendein Wert in diesen Papieren, so war ich gerettet! Ich springe aus dem Bett und kleide mich an. Es wird immer heller, ich kann die Bekanntmachung des Leuchtfeuerdirektors unten an der Türe halbwegs unterscheiden, und beim Fenster ist es bereits so hell, daß ich zur Not zum Schreiben sehen könnte. Und ich mache mich sogleich daran, meine Papiere reinzuschreiben.

Ein seltsam dichter Dampf von Licht und Farben schlägt aus diesen Phantasien empor. Überrascht bäume ich vor einem guten Einfall nach dem anderen zurück und sage zu mir selbst, daß dies das beste sei, was ich jemals gelesen hätte. Ich werde trunken vor Zufriedenheit, die Freude bläht mich auf, und ich fühle mich großartig gehoben; ich wäge meine Schrift in der Hand und taxiere sie auf der Stelle auf fünf Kronen, nach losem Schätzen. Es würde keinem Menschen einfallen, bei fünf Kronen zu feilschen, im Gegenteil müßte zugestanden werden, es wäre ein Raubkauf, dies für fünf Kronen zu erwerben, sofern es auf die Beschaffenheit des Inhaltes ankam. Ich hatte nicht im Sinn, eine so eigentümliche Arbeit umsonst herzugeben; soviel ich wußte, fand man Romane dieser Art nicht auf der Straße. Und ich entschloß mich zu zehn Kronen.

Es wurde heller und heller im Zimmer, ich warf einen Blick an der Türe hinunter, und konnte ohne besondere Mühe die feinen, skelettartigen Buchstaben von Jungfer Andersens Leichenwäsche, rechts im Torweg, lesen; es war nun auch eine gute Weile vergangen, seit es sieben Uhr geschlagen hatte.

Ich erhob mich und stellte mich mitten ins Zimmer. Wenn ich alles wohl überlegte, kam Madam Gundersens Kündigung ziemlich gelegen. Dies war eigentlich kein Zimmer für mich; hier waren recht simple grüne Vorhänge an den Fenstern, – und sonderlich viele Nägel für die Garderobe waren auch nicht an den Wänden. Der arme Schaukelstuhl dort in der Ecke war im Grund nur ein Witz von einem Schaukelstuhl, über den man sich leicht zu Tode lachen konnte. Er war viel zu niedrig für einen erwachsenen Mann, außerdem war er so eng, daß man sozusagen den Stiefelknecht brauchte, um wieder herauszukommen. Kurz gesagt, das Zimmer war nicht dazu eingerichtet, sich darin mit geistigen Dingen zu beschäftigen, und ich hatte nicht vor, es länger zu behalten. Auf gar keinen Fall wollte ich es behalten! Ich hatte allzulange geschwiegen und geduldet und es in diesem Schuppen ausgehalten.

Aufgeblasen von Hoffnung und Zufriedenheit, ständig in Anspruch genommen von meiner merkwürdigen Skizze, die ich jeden Augenblick aus der Tasche zog, darin zu lesen, wollte ich sogleich Ernst damit machen und den Umzug in Gang bringen. Ich nahm mein Bündel hervor, ein rotes Taschentuch, das ein paar reine Kragen und etwas zusammengeknülltes Zeitungspapier, in dem ich mein Brot heimgetragen, enthielt, rollte meine Bettdecke zusammen und steckte meinen Vorrat an weißem Schreibpapier zu mir. Darauf untersuchte ich der Sicherheit halber alle Winkel, um mich zu vergewissern, daß ich nichts hinterlassen hatte, und als ich nichts fand, ging ich zum Fenster und sah hinaus. Der Morgen war dunkel und naß; es war niemand bei der abgebrannten Schmiede draußen, und das Waschseil, das sich unten im Hof von Wand zu Wand spannte, war von der Nässe gestrafft. Ich kannte alles zusammen von früher, trat deshalb vom Fenster weg, nahm die Decke unter den Arm, verbeugte mich vor der Bekanntmachung des Leuchtfeuerdirektors, verbeugte mich vor Jungfer Andersen Leichenwäsche und öffnete die Türe.

Mit einemmal kam mir meine Wirtin in den Sinn, – sie mußte doch von meinem Auszug unterrichtet werden, damit sie sehen konnte, daß sie es mit einem ordentlichen Menschen zu tun gehabt hatte. Ich wollte ihr auch für die paar Tage, die ich das Zimmer über die Zeit hinaus benützt hatte, schriftlich danken. Die Gewißheit, nun für längere Zeit gerettet zu sein, drang so stark auf mich ein, daß ich meiner Hausfrau sogar fünf Kronen versprach, wenn ich nächster Tage vorbeikäme; ich wollte ihr bis zum Übermaß zeigen, was für einen honetten Menschen sie unter dem Dach gehabt hatte.

Den Zettel hinterließ ich auf dem Tisch.

Abermals hielt ich an der Türe an und kehrte um. Dieses strahlende Gefühl, nun obenauf zu sein, entzückte mich und machte mich dankbar gegen Gott und die ganze Welt, und ich kniete beim Bett nieder und dankte Gott mit lauter Stimme für seine große Güte gegen mich an diesem Morgen. Ich wußte es, oh, ich wußte es, daß der Rausch von Inspiration, den ich eben durchlebt und niedergeschrieben hatte, eines wunderbaren Himmels Tat an meinem Geiste war, eine Antwort auf meinen Notruf von gestern. Das ist Gott! Das ist Gott! rief ich mir zu, und ich weinte vor Begeisterung über meine eigenen Worte; dann und wann mußte ich innehalten und einen Augenblick horchen, ob jemand auf der Treppe sei. Endlich erhob ich mich und ging; ich glitt lautlos alle diese Stockwerke hinunter und erreichte ungesehen das Tor.

Die Straßen waren blank vom Regen, der in den Morgenstunden gefallen war, der Himmel hing rauh und tief über der Stadt, und es war nirgends ein Sonnenstrahl zu sehen. Wie spät mochte es sein? Ich ging wie gewöhnlich in der Richtung des Rathauses und sah, daß es halb neun Uhr war. Ich hatte also noch ein paar Stunden vor mir; es nützte nichts, vor zehn, vielleicht elf Uhr, in die Redaktion zu kommen, ich mußte mich einstweilen herumtreiben und inzwischen spekulieren, wie ich zu einem kleinen Frühstück gelangen konnte. Ich hatte übrigens keine Angst davor, an diesem Tag hungrig ins Bett zu gehen; diese Zeiten waren Gott sei Lob vorüber! Das war ein zurückgelegtes Stadium, ein böser Traum; von nun an ging es aufwärts!

Indessen wurde mir die grüne Bettdecke beschwerlich; ich konnte mich auch wirklich nicht mit einem solchen Bündel vor allen Leuten sehen lassen. Was würde man von mir glauben! Und ich ging weiter und überlegte, wo ich sie bis auf weiteres aufbewahrt bekommen konnte. Da fiel mir ein, ich könne damit zu Semb gehen und sie in Papier einschlagen lassen; dies würde gleich besser aussehen, und es wäre keine Schande mehr, sie zu tragen. Ich trat in den Laden und trug mein Verlangen einem der Gehilfen vor.

Er sah zuerst die Decke an, dann mich; es schien mir, daß er im stillen ein wenig geringschätzig die Schultern zuckte, als er das Paket entgegennahm. Das verletzte mich.

Tod und Teufel, seien Sie ein bißchen vorsichtig! rief ich. Es sind zwei teure Glasvasen darin; das Paket soll nach Smyrna.

Das half, das half großartig. Der Mann bat mit jeder Bewegung, die er machte, um Verzeihung dafür, daß er nicht sofort wichtige Dinge in der Decke geahnt hatte. Als er mit dem Einpacken fertig war, dankte ich ihm für die Hilfe wie ein Mann, der schon früher kostbare Sachen nach Smyrna gesandt hatte; er öffnete mir sogar die Türe als ich ging.

Ich wanderte unter den Menschen auf dem Stortorv umher und hielt mich am liebsten in der Nähe der Weiber auf, die Topfpflanzen zu verkaufen hatten. Die schweren, roten Rosen, die blutig und rot im feuchten Morgen glommen, machten mich begehrlich, führten mich in Versuchung, sündhaft rasch eine mitgehen zu lassen, und ich fragte nach dem Preis, nur um ihnen so nah wie möglich kommen zu können. Würde mir Geld übrigbleiben, wollte ich sie kaufen, gehe es, wie es wolle; ich konnte es ja reichlich da und dort an meiner Lebensweise einsparen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

Es wurde zehn Uhr, und ich ging zur Redaktion hinauf. Ein Mann, die Schere genannt, durchwühlt einen Stoß alter Zeitungen, der Redakteur ist noch nicht gekommen. Auf Aufforderung liefere ich mein großes Manuskript ab, lasse den Mann ahnen, daß es von mehr als gewöhnlicher Bedeutung sei, und lege ihm inständig ans Herz, es dem Redakteur persönlich zu geben, wenn er käme. Ich wolle mir dann später am Tag selbst den Bescheid holen.

Gut! sagte die Schere und fing wieder mit den Zeitungen an.

Ich fand, daß er es etwas zu ruhig nahm, sagte aber nichts, nickte ihm nur gleichgültig mit dem Kopf ein wenig zu und ging.

Nun hatte ich Zeit. Wenn es nur aufklaren wollte! Es war ein rein elendes Wetter, ohne Wind und ohne Frische; die Damen benützten der Sicherheit halber Regenschirme, und die Wollmützen der Herren sahen komisch und traurig aus. Ich machte abermals einen Schlag zum Markt hinüber und sah mir Gemüse und Rosen an. Da fühle ich eine Hand auf meiner Schulter und wende mich um, die »Jungfer« wünscht mir guten Morgen.

Guten Morgen? antwortete ich fragend, um gleich sein Vorhaben zu erfahren. Ich hielt nicht viel von der »Jungfer«.

Er sieht neugierig auf das große, nagelneue Paket unter meinem Arm und fragt: Was haben Sie da drin?

Ich bin bei Semb gewesen und habe Stoff zu einem Anzug gekauft, entgegne ich in gleichgültigem Ton; es paßte mir nicht mehr, weiterhin so schäbig herumzugehen, man kann doch auch zu geizig gegen sein Äußeres sein.

Er sieht mich an und stutzt.

Wie geht es übrigens? fragt er langsam.

Ja über Erwarten.

Haben Sie nun etwas zu tun?

Etwas zu tun? antworte ich und bin sehr erstaunt; ich bin doch Buchhalter bei der Großhändlerfirma Christie, ja.

Ach so, sagt er und weicht ein wenig zurück. Du lieber Gott, wie sehr ich Ihnen das gönne! Wenn man Ihnen nur jetzt das Geld, das Sie verdienen, nicht abbettelt! Guten Morgen.

Kurz darauf dreht er sich um und kommt zurück; er deutet mit dem Stock auf mein Paket und sagt:

Ich würde Ihnen meinen Schneider empfehlen. Sie bekommen keinen feineren Schneider als Isaksen. Sagen Sie nur, daß ich Sie sende.

Was steckte er da seine Nase in meine Sachen? Ging es ihn etwas an, welchen Schneider ich nahm? Ich wurde zornig; der Anblick dieses leeren, geputzten Menschen machte mich erbittert, und ich erinnerte ihn ziemlich brutal an zehn Kronen, die er von mir geliehen hatte. Noch ehe er antworten konnte, bereute ich jedoch, ihn gemahnt zu haben, ich wurde flau, und ich sah ihm nicht in die Augen; als im gleichen Augenblick eine Dame vorbeikam, trat ich schnell zurück, um sie vorüberzulassen, und benützte die Gelegenheit, meiner Wege zu gehen.

Was sollte ich nun anfangen, während ich wartete? Ein Café konnte ich mit leeren Taschen nicht besuchen, und ich wußte keinen Bekannten, zu dem ich um diese Tageszeit hätte gehen können. Instinktmäßig schlenderte ich die Stadt hinauf, vertrieb einen Teil der Zeit auf dem Weg zwischen dem Markte und Graensen, las »Aftenposten«, die soeben an die Tafel gehängt worden war, machte einen Schwung zur Karl-Johan-Straße hinunter, kehrte dann um und ging geradeaus zum Erlöserfriedhof, wo ich einen ruhigen Platz auf dem Hügel neben der Kapelle fand.

Ich saß dort in aller Stille und döste in der nassen Luft, dachte, schlief halb und halb und fror. Und die Zeit ging. War es nun auch gewiß, daß das Feuilleton ein kleines Meisterstück inspirierter Kunst war? Gott weiß, ob es nicht da und dort seine Fehler hatte! Wenn ich alles wohl überlegte, brauchte es nicht einmal angenommen zu werden, nein, nicht einmal angenommen, ganz einfach! Es war vielleicht ziemlich mittelmäßig, vielleicht geradezu schlecht; welche Sicherheit hatte ich dafür, daß es nicht schon jetzt in diesem Augenblick im Papierkorb lag ... Meine Zufriedenheit war erschüttert, ich sprang auf und stürmte aus dem Kirchhof hinaus.

Unten in der Akerstraße guckte ich in ein Ladenfenster und sah, daß es erst wenig über zwölf Uhr war. Das machte mich noch verzweifelter. Ich hatte so sicher gehofft, es sei weit über Mittag, und vor vier Uhr hatte es keinen Sinn, nach dem Redakteur zu fragen. Das Schicksal meines Feuilletons erfüllte mich mit dunklen Ahnungen; je mehr ich daran dachte, desto unwahrscheinlicher kam es mir vor, daß ich so plötzlich etwas Brauchbares geschrieben haben könnte, beinahe im Schlaf, das Gehirn voller Fieber und Freude. Natürlich hatte ich mich selbst betrogen und war den ganzen Morgen über froh gewesen, um nichts und wieder nichts. Natürlich! ... Ich bewegte mich in raschem Gang den Ullevaalsweg hinauf, vorbei an St. Hanshaugen, kam auf offene Felder, in die engen, seltsamen Gassen bei Sagene, über Bauplätze und Äcker und befand mich zuletzt auf einer Landstraße, deren Ende ich nicht absehen konnte.

Hier blieb ich stehen und beschloß umzukehren. Ich war von dem Marsch warm geworden und ging langsam und sehr niedergedrückt zurück. Ich begegnete zwei Heuwagen, – die Fuhrleute lagen flach oben auf der Last und sangen, beide barhäuptig, beide mit runden, sorglosen Gesichtern. Ich ging weiter und dachte bei mir selbst, daß sie mich anreden würden, mir die eine oder andere Bemerkung zuwerfen oder mir einen Streich spielen würden, und als ich ihnen nahe genug gekommen war, rief der eine mich an und fragte, was ich unter dem Arm trage.

Eine Bettdecke, antwortete ich.

Wieviel Uhr ist es? fragte er.

Ich weiß es nicht genau, ungefähr drei Uhr, glaube ich.

Da lachten die zwei und zogen vorbei. Im selben Augenblick fühlte ich den Hieb einer Peitsche an meinem Ohr. Mein Hut wurde heruntergerissen. Die jungen Menschen konnten mich nicht vorbeilassen, ohne mir einen Schabernack anzutun. Ich griff mir wütend ans Ohr, klaubte den Hut vom Straßengraben auf und setzte meinen Weg fort. Unten bei St. Hanshaugen begegnete ich einem Mann, der mir sagte, daß es vier Uhr vorbei sei.

Vier Uhr vorbei! Es war schon vier Uhr vorbei! Ich schritt aus, der Stadt und der Redaktion zu. Der Redakteur war vielleicht schon lange dagewesen und war wieder fortgegangen. Ich ging und sprang, stolperte, stieß gegen Wagen, ließ alle Spaziergänger hinter mir, nahm es mit den Pferden auf, mühte mich ab wie ein Verrückter, um noch rechtzeitig hinzukommen. Ich wand mich beim Tor hinein, nahm die Treppe mit vier Sätzen und klopfte an.

Niemand antwortet.

Er ist fort! Er ist fort! denke ich. Ich versuche die Türe zu öffnen, sie ist nicht verschlossen, ich klopfe noch einmal an und trete ein.

Der Redakteur sitzt an seinem Tisch, mit dem Gesicht gegen das Fenster und die Feder in der Hand, bereit zu schreiben. Als er meinen atemlosen Gruß hört, dreht er sich halb um, sieht mich kurz an, schüttelt den Kopf und sagt:

Ja, ich habe noch keine Zeit gehabt, Ihre Skizze zu lesen.

Vor Freude darüber, daß er sie dann auf jeden Fall noch nicht abgelehnt hat, antworte ich:

Nein, mein Lieber, das verstehe ich gut. Es eilt ja auch nicht so. In ein paar Tagen vielleicht. Oder ...?

Ja, ich will sehen. Im übrigen habe ich ja Ihre Adresse.

Und ich vergaß, ihn darüber aufzuklären, daß ich keine Adresse mehr hatte.

Die Audienz ist vorbei, ich trete, mich verbeugend, zurück und gehe. Die Hoffnung glüht wieder in mir auf, noch war nichts verloren, im Gegenteil, ich konnte noch alles gewinnen. Und mein Gehirn begann von einem großen Rat im Himmel zu fabeln, von dem eben beschlossen worden war, daß ich gewinnen solle, ganze zehn Kronen gewinnen, für ein Feuilleton ...

Wenn ich jetzt nur eine Zuflucht für die Nacht wüßte! Ich überlege, wo ich mich am besten verkriechen könnte, werde so stark von dieser Frage in Anspruch genommen, daß ich mitten in der Straße stillstehe. Ich vergesse, wo ich bin, stehe da wie ein einzelnes Seezeichen mitten im Meer, während die Wasser rings strömen und lärmen. Ein Zeitungsjunge reicht mir den »Wiking«: Der ist lustig! – da! Ich sehe auf und fahre zusammen – ich bin wieder vor dem Laden von Semb.

Schnell mache ich kehrt, verdecke das Paket mit meinem Körper und eile die Kirchenstraße hinunter, flau und ängstlich davor, daß man mich von den Fenstern aus gesehen haben könnte. Ich passiere Ingebret und das Theater, drehe bei der Loge ab und gehe zum Fjord und zur Festung hinunter. Wieder setze ich mich auf eine Bank und fange von neuem an zu spekulieren.

Wie in aller Welt sollte ich heute nacht ein Obdach finden? Gab es denn kein Loch, in das ich schlüpfen und in dem ich mich verstecken konnte, bis es Morgen wurde? Mein Stolz verbot mir, in mein Zimmer zurückzukehren; es konnte mir niemals einfallen, von meinen Worten abzugehen, ich wies diesen Gedanken mit Ingrimm zurück und lächelte im stillen überlegen über den kleinen roten Schaukelstuhl. Durch Ideenassoziationen befand ich mich plötzlich in einem großen zweifenstrigen Zimmer auf Haegdehaugen, in dem ich einmal gewohnt hatte; ich sah ein Brett auf dem Tisch, beladen mit einer Menge von Butterbroten, sie wechselten das Aussehen, sie wurden zu einem Beefsteak, einem verführerischen Beefsteak, einer schneeweißen Serviette, Brot in Masse, Silberbesteck. Und die Türe ging auf: meine Hausfrau kam und bot mir noch einmal Tee an ...

Gesichte und Träume! Ich sagte mir: bekäme ich jetzt Essen, würde mein Kopf wieder verstört werden, ich würde das gleiche Fieber im Gehirn wieder bekommen und viele wahnsinnige Einfälle, mit denen ich kämpfen müßte. Ich vertrug kein Essen, ich war nicht so eingerichtet; es war dies eine Sonderbarkeit an mir, eine Eigenheit.

Vielleicht fand sich Rat für ein Obdach, wenn es auf den Abend zuging. Es hatte keine Eile; im schlimmsten Fall konnte ich im Wald draußen einen Platz suchen, ich hatte die ganze Umgebung der Stadt zur Verfügung, und es gab noch keine Kältegrade.

Die See wiegte sich da draußen in schwerer Ruhe, Schiffe und plumpe, breitnasige Prahme wühlten Furchen auf in ihrer bleiartigen Fläche, sprengten Streifen nach rechts und links aus und glitten weiter, während der Rauch sich wie Daunenbetten aus den Schornsteinen wälzte, und der Kolbenschlag der Maschinen matt durch die feuchtkalte Luft drang. Es war keine Sonne und kein Wind, die Bäume hinter mir standen naß, und die Bank, auf der ich saß, war kalt und feucht. Die Zeit ging; ich wurde schlaftrunken, wurde müde und fror ein wenig über den Rücken hinab; eine Weile später fühlte ich, daß meine Augen zufallen wollten. Und ich ließ sie fallen ...

Als ich erwachte, war es dunkel um mich herum, ich sprang betäubt und fröstelnd auf, ergriff mein Paket und begann zu gehen. Ich ging schneller und schneller, um warm zu werden, schlug mit den Armen, strich an den Beinen hinunter, die ich beinahe nicht mehr fühlte und kam zur Brandwache hinauf. Es war neun Uhr; ich hatte mehrere Stunden geschlafen.

Was jedoch sollte ich mit mir anfangen? Irgendwo mußte ich doch sein. Ich stehe da und glotze an der Brandwache empor und denke darüber nach, ob es nicht glücken könnte, in einen der Gänge zu gelangen, – einen Augenblick abzupassen, da die Patrouille den Rücken wendet. Ich gehe die Treppe hinauf und will mich ins Gespräch mit dem Mann einlassen, er hebt sofort seine Axt zur Ehrenbezeugung und wartet darauf, was ich sagen werde. Diese erhobene Axt, die mir die Schneide zuwendet, fährt mir wie ein kalter Hieb durch die Nerven, ich werde angesichts dieses bewaffneten Mannes stumm vor Schrecken und ziehe mich unwillkürlich zurück. Ich sage nichts, gleite nur mehr und mehr von ihm weg; um den Schein zu wahren, fahre ich mir mit der Hand über die Stirne, als hätte ich das eine oder andere vergessen; und schleiche dann fort. Als ich mich wieder auf dem Gehsteig befand, fühlte ich mich so erlöst, als sei ich eben einer großen Gefahr entronnen. Und ich beeilte mich wegzukommen.

Kalt und hungrig und immer verstörter trieb ich die Karl-Johan-Straße hinauf; ich begann ganz laut zu fluchen und kümmerte mich nicht darum, daß jemand es hören könnte. Unten beim Storting, gleich beim ersten Löwen, erinnerte ich mich plötzlich durch eine neue Ideenassoziation eines Malers, den ich kannte, eines jungen Menschen, den ich einmal vor einer Ohrfeige im Tivoli gerettet hatte, und bei dem ich später einmal zu Besuch gewesen war. Ich knipse mit den Fingern und begebe mich in die Tordenskjoldstraße hinunter, finde eine Türe, an der C. Zacharias Bartel auf einer Karte steht, und klopfe an.

Er kam selbst heraus; er roch nach Bier und Tabak, daß es ein Graus war. Guten Abend! sagte ich.

Guten Abend! Sind Sie es? Nein, warum zum Teufel, kommen Sie so spät? Es nimmt sich bei Lampenlicht gar nicht gut aus. Ich habe seit dem letztenmal einen Heuschober dazu gesetzt und ein paar Veränderungen vorgenommen. Sie müssen es bei Tag sehen, jetzt hat es keinen Sinn.

Lassen Sie es mich trotzdem jetzt sehen! sagte ich; übrigens wußte ich nicht, von welchem Bild er da sprach.

Ganz ausgeschlossen! antwortete er. Es würde alles gelb! Und dann ist auch noch etwas anderes im Weg – er kam flüsternd näher –, ich habe heute abend ein kleines Mädchen bei mir, so daß es sich rein nicht machen läßt.

Ja, wenn es sich so verhält, dann kann ja keine Rede davon sein.

Ich zog mich zurück, sagte gute Nacht und ging.

Es blieb mir wohl kein anderer Ausweg, als irgendwohin in den Wald zu gehen. Wenn nur der Erdboden nicht so feucht gewesen wäre! Ich klopfte auf meine Decke und machte mich immer vertrauter mit dem Gedanken, im Freien schlafen zu müssen. So lange hatte ich mich damit geplagt, eine Unterkunft in der Stadt zu finden, daß ich des Ganzen müde und überdrüssig geworden war; es schien mir ein Behagen und ein Genuß, zur Ruhe zu kommen, mich dem Schicksal überlassen zu dürfen und in den Straßen dahinzuschlendern, ohne einen Gedanken im Kopf. Ich ging zur Universitätsuhr und sah, daß es zehn Uhr vorbei war; von dort aus nahm ich den Weg in die Stadt hinauf. Irgendwo auf Haegdehaugen stand ich vor einem Lebensmittelladen still, in dessen Fenster verschiedene Eßwaren aufgestellt waren. Eine Katze lag dort und schlief neben einem Franzbrot, gleich dahinter stand ein Topf Schmalz und mehrere Gläser Grütze. Ich stand da und sah eine Weile auf diese Eßwaren, da ich aber kein Geld besaß, wandte ich mich ab und setzte den Marsch fort. Ich ging sehr langsam, kam an Majorstuen vorbei, ging weiter, immer weiter, ging Stunde auf Stunde und kam endlich in den Bogstadtwald hinaus.

Hier bog ich vom Weg ab und setzte mich nieder, um auszuruhen. Dann sah ich mich nach einem passenden Platz um, scharrte ein wenig Heidekraut und Wacholder zusammen und bereitete mir auf einer kleinen Anhöhe, wo es einigermaßen trocken war, ein Lager, öffnete mein Paket und nahm die Decke heraus. Ich war müde und verquält von dem langen Weg und legte mich gleich schlafen. Ich warf und wandte mich lange hin und her, bis ich endlich die richtige Lage gefunden hatte; mein Ohr schmerzte ein bißchen, war von dem Schlag des Mannes auf dem Heuwagen ein wenig aufgeschwollen, und ich konnte nicht darauf liegen. Meine Schuhe zog ich aus und legte sie unter den Kopf und auf sie das große Einwickelpapier.

Und die Dunkelheit brütete rund um mich, alles war still, alles. Aber in der Höhe oben sauste der ewige Sang, die Luft, das ferne, tonlose Summen, das niemals schweigt. Ich lauschte so lange auf dieses endlose kranke Sausen, daß es mich zu verwirren begann; es waren sicherlich Symphonien von den rollenden Welten über mir, Sterne, die einen Gesang intonierten ...

Das ist doch auch zum Teufel! sagte ich und lachte laut, um mir Mut zu machen; es sind die Nachteulen in Kanaan.

Und ich stand auf und legte mich wieder hin, zog die Schuhe an und trieb in der Dunkelheit umher und legte mich von neuem nieder, kämpfte und stritt mit Zorn und Furcht bis zum Morgendämmern, bis ich endlich in Schlaf fiel.

 

Als ich die Augen aufschlug, war es heller Tag, und ich hatte das Gefühl, daß es bereits auf den Mittag zuginge. Ich zog die Schuhe an, packte die Decke wieder ein und begab mich zur Stadt zurück. Auch heute war keine Sonne zu sehen, und ich fror wie ein Hund; meine Beine waren tot, und das Wasser trat mir in die Augen, als ertrügen sie das Tageslicht nicht.

Es war drei Uhr. Der Hunger begann einigermaßen schlimm zu werden, ich war matt und ging dahin und erbrach mich hie und da verstohlen. Ich schwenkte ab, zur Dampfküche hinunter, las die Tafel und zuckte aufsehenerregend mit den Schultern, als ob Pökelfleisch und Speck kein Essen für mich seien; von dort kam ich zum Bahnhofsplatz.

Ein sonderbarer Schwindel fuhr mir mit einemmal durch den Kopf; ich ging weiter und wollte nicht darauf achten, es wurde aber schlimmer und schlimmer, und ich mußte mich zuletzt auf eine Treppe setzen. In meinem ganzen Gemüt ging eine Veränderung vor sich, als gleite etwas in meinem Inneren zur Seite oder als reiße ein Vorhang, ein Gewebe, in meinem Gehirn entzwei. Ich holte ein paarmal Atem und blieb erstaunt sitzen. Ich war nicht bewußtlos, ich fühlte deutlich, wie es in meinem Ohr von gestern her ein wenig tobte, und als ein Bekannter vorbeikam, erkannte ich ihn sofort, stand auf und grüßte.

Was war dies für eine neue qualvolle Empfindung, die nun zu den anderen hinzukam? War es eine Folge davon, daß ich auf dem bloßen Erdboden geschlafen hatte? Oder kam es daher, daß ich noch kein Frühstück bekommen hatte? Im ganzen genommen war es ja auch ein Unsinn, in dieser Weise zu leben; ich begriff, bei Christi heiligem Leiden, nicht, womit ich mir diese ausgesuchten Verfolgungen verdient hatte! Und es fiel mir plötzlich ein, daß ich ebensogut gleich zum Spitzbuben werden und mit der Bettdecke in den Keller des »Onkels« gehen könne. Ich konnte sie für eine Krone versetzen und drei richtige Mahlzeiten dafür bekommen, konnte mich über Wasser halten, bis sich etwas anderes fände; Hans Pauli würde ich etwas vorschwindeln. Ich war schon auf dem Weg nach dem Keller, hielt aber vor dem Eingang an, schüttelte zweifelnd den Kopf und kehrte um.

Mit jedem Schritt, mit dem ich mich entfernte, wurde ich froher und froher darüber, in dieser schweren Versuchung gesiegt zu haben. Das Bewußtsein, daß ich ehrlich war, stieg mir zu Kopfe, erfüllte mich mit dem herrlichen Gefühl, ein Charakter zu sein, ein weißer Leuchtturm in einem trüben Menschenmeer, auf dem Wracke umherschwammen. Eines andern Eigentum um einer Mahlzeit willen verpfänden, fressen und saufen, sich selbst zur Schande, sich ins eigene Gesicht Spitzbube nennen und die Augen vor sich selbst niederschlagen müssen – niemals! Niemals! Es war nicht im Ernst meine Absicht gewesen, es war mir beinahe nicht einmal eingefallen; lose, jagende Gedankensplitter brauchte man wirklich nicht zu verantworten, besonders wenn man ein grausames Kopfweh hatte und sich beinahe zu Tode schleppte an einer Bettdecke, die einem anderen gehörte.

Es würde sich ganz sicher doch noch ein Ausweg finden, wenn es an der Zeit war! Da war nun der Kaufmann in Grönlandsleret – hatte ich ihn jede Stunde des Tages überlaufen, seit ich ihm das Gesuch gesandt hatte? spät und früh bei ihm angeläutet, und war ich abgewiesen worden? Ich hatte ihn so gut wie gar nicht belästigt. Es brauchte ja kein vollkommen vergeblicher Versuch zu sein, ich hatte dieses Mal vielleicht das Glück auf meiner Seite; das Glück machte oft so merkwürdig verschlungene Wege. Und ich begab mich nach Grönlandsleret hinaus.

Die letzte Erschütterung, die mir durch den Kopf gegangen war, hatte mich ein wenig matt gemacht, und ich ging äußerst langsam und dachte an das, was ich dem Kaufmann sagen wollte ... Er war vielleicht eine gute Seele; wenn ihn die Laune ankam, gab er mir möglicherweise eine Krone Vorschuß auf die Arbeit, ohne daß ich ihn darum bat. Solche Leute konnten ab und zu ganz vortreffliche Einfälle haben.

Ich schlich mich in ein Tor und schwärzte meine Hosenknie mit Speichel, um ein wenig ordentlich auszusehen, legte meine Decke hinter eine Kiste in einem dunklen Winkel, überquerte die Straße und trat in den kleinen Laden ein.

Ein Mann steht da und klebt aus alten Zeitungen Tüten.

Ich möchte gerne Herrn Christie sprechen, sagte ich.

Der bin ich, antwortete der Mann.

Nun! Mein Name sei soundso, ich sei so frei gewesen, ihm ein Gesuch zu schicken, ich wüßte nicht, ob es mir etwas genützt habe.

Er wiederholte meinen Namen ein paarmal und begann zu lachen. Nun passen Sie auf! sagte er und zog meinen Brief aus seiner Brusttasche. Wollen Sie so freundlich sein und sehen, wie Sie mit Zahlen umgehen, mein Herr. Sie haben Ihren Brief mit der Jahreszahl 1848 datiert. Und der Mann lachte aus vollem Hals.

Ja, das sei ja ein wenig arg, sagte ich kleinlaut, eine Gedankenlosigkeit, eine Zerstreutheit, ich räume das ein.

Sehen Sie, ich muß einen Mann haben, der sich überhaupt nicht mit Zahlen irrt, sagte er. Ich bedaure es: Ihre Handschrift ist so deutlich, mir gefiel Ihr Brief auch sonst, aber ...

Ich wartete eine Weile; das konnte unmöglich das letzte Wort des Mannes sein. Er machte sich wieder mit seinen Tüten zu schaffen.

Ja, das sei unangenehm, sagte ich dann, richtig scheußlich unangenehm sei es; aber es sollte sich natürlich nicht mehr wiederholen, und dieser kleine Irrtum könne mich doch nicht ganz unbrauchbar machen, überhaupt Bücher zu führen?

Nein, das sage ich ja nicht, erwiderte er; aber es fiel doch immerhin so stark für mich ins Gewicht, daß ich mich gleich zu einem anderen entschlossen habe.

Die Stelle ist also besetzt? fragte ich.

Ja.

Na, Herrgott, so ist ja wohl nichts mehr dabei zu machen!

Nein. Ich bedaure es, aber ...

Leben Sie wohl! sagte ich.

Nun stieg der Zorn in mir auf, glühend und brutal. Ich holte mein Paket im Torweg, biß die Zähne zusammen und rannte auf dem Gehsteig an friedliche Leute an und bat nicht um Entschuldigung. Als ein Herr stehenblieb und mich wegen meines Betragens ein wenig scharf zurechtwies, wandte ich mich um und schrie ihm ein einzelnes, sinnloses Wort ins Ohr, ballte die Hände dicht unter seiner Nase und ging weiter, von einer blinden Raserei verhärtet, die ich nicht zu zügeln vermochte. Er rief nach einem Schutzmann, und ich wünschte mir nichts lieber, als einen Schutzmann einen Augenblick zwischen die Hände zu bekommen. Ich verlangsamte mit Absicht meinen Gang, um ihm Gelegenheit zu geben, mich einzuholen; aber er kam nicht. Lag nun auch noch irgendein Sinn darin, daß absolut alle innigsten und eifrigsten Versuche eines Menschen mißglücken mußten? Weshalb hatte ich nur 1848 geschrieben? Was scherte mich diese verdammte Jahreszahl? Nun ging ich hier und hungerte, daß meine Gedärme wie Würmer in mir zusammenkrochen. Und es stand nirgends geschrieben, daß ich auch nur ein wenig zu essen bekommen sollte, ehe der Tag zu Ende ginge. Und je länger es dauerte, je mehr wurde ich geistig und körperlich ausgehöhlt; ich ließ mich mit jedem Tag zu weniger und weniger ehrenhaften Handlungen herab. Ich log mich durch, ohne mich zu schämen, prellte arme Leute um die Miete, kämpfte sogar mit dem nichtswürdigen Gedanken, mich an anderer Leute Bettdecken zu vergreifen, alles ohne Reue, ohne schlechtes Gewissen. Verfaulte Flecken kamen in mein Inneres, schwarze Schwämme, die sich immer mehr ausbreiteten. Und droben im Himmel saß Gott und hatte ein wachsames Auge auf mich und sah voraus, daß mein Untergang nach allen Regeln der Kunst vor sich gehen würde, stetig und langsam, ohne Verstoß gegen das Zeitmaß. Aber im Abgrund der Hölle gingen die argen Teufel umher und verschnauften sich vor Ungeduld, weil es so lange dauerte, bis ich eine Kapitalssünde beging, eine unverzeihliche Sünde, für die mich Gott in seiner Gerechtigkeit hinabstoßen mußte ...

Ich beschleunigte meinen Gang, trieb es zu tollerer und tollerer Fahrt, machte plötzlich linksum und kam erregt und zornig in ein helles, geschmücktes Tor. Ich blieb nicht stehen, hielt mich nicht eine Sekunde auf; aber die ganze, eigentümliche Ausstattung des Tores drang augenblicklich in mein Bewußtsein ein, jede Unwichtigkeit an den Türen, den Dekorationen, am Pflaster, stand klar vor meinem inneren Blick, während ich die Treppen hinaufsprang. Im ersten Stock läutete ich heftig. Warum mußte ich gerade im ersten Stock anhalten? Und warum gerade nach diesem Glockenzug greifen, der am weitesten von der Treppe entfernt war?

Eine junge Dame in grauem Kleid mit schwarzen Verzierungen öffnete die Tür; sie sah mich eine kleine Weile erstaunt an, darauf schüttelte sie den Kopf und sagte:

Nein, heute haben wir nichts. Und sie machte Miene, die Türe zu schließen.

Warum war ich auch gerade auf dieses Menschenkind gestoßen? Sie hielt mich ohne weiteres für einen Bettler, und ich wurde mit einemmal kalt und ruhig. Ich nahm den Hut ab und machte eine ehrerbietige Verbeugung, als hätte ich ihre Worte nicht gehört, und sagte äußerst höflich:

Ich bitte es zu entschuldigen, Fräulein, daß ich so stark geläutet habe, ich kannte die Glocke nicht. Hier soll ein kranker Herr wohnen, der nach einem Mann ausgeschrieben hat, um sich im Rollstuhl fahren zu lassen?

Sie stand eine Weile und schmeckte an dieser lügenhaften Erfindung und schien in ihrer Meinung über meine Person im Zweifel zu sein.

Nein, sagte sie zuletzt, nein, hier wohnt kein kranker Herr.

Nicht? Ein älterer Herr, zwei Stunden Fahrzeit am Tag, vierzig Öre für die Stunde?

Nein.

Dann bitte ich nochmals um Entschuldigung, sagte ich; es ist vielleicht im Erdgeschoß. Ich wollte nur einen Mann empfehlen, den ich zufällig kenne, und für den ich mich interessiere. Mein Name ist Wedel-Jarlsberg. – Und ich verbeugte mich wieder und trat zurück. Die junge Dame wurde flammend rot, in ihrer Verlegenheit konnte sie sich nicht vom Fleck rühren, sondern stand und starrte mir nach, als ich die Treppe hinunterging.

Meine Ruhe war zurückgekehrt, und mein Kopf war klar. Die Worte der Dame, daß sie heute nichts für mich hätte, waren wie ein kalter Strahl gewesen. So weit war es gekommen, daß jedermann in seinen Gedanken auf mich deuten konnte und zu sich sagen: Dort geht ein Bettler, einer von jenen, die ihre Nahrung bei den Leuten durch die Wohnungstüren hinausgereicht bekommen!

In der Möllerstraße blieb ich vor einer Wirtschaft stehen und schnupperte nach dem frischen Duft von Fleisch, das drinnen gebraten wurde; ich hatte die Hand schon auf der Türklinke und wollte, ohne dort etwas zu tun zu haben, hineingehen, bedachte mich aber noch rechtzeitig und ging fort. Als ich zum Stortorv kam und nach einem Platz zum Ausruhen suchte, waren alle Bänke besetzt, und ich ging vergebens rund um die ganze Kirche herum und spähte nach einem stillen Ort, wo ich mich niederlassen konnte. Natürlich! sagte ich finster zu mir, natürlich, natürlich! Und ich begann wieder zu gehen. Ich machte einen Abstecher zum Brunnen an der Basarecke hinunter und trank einen Schluck Wasser, ging von neuem, schleppte mich Fuß für Fuß vorwärts, nahm mir Zeit zu langen Pausen vor jedem Schaufenster, blieb stehen und folgte mit den Augen jedem Wagen, der vorbeikam. Ich fühlte eine leuchtende Hitze in meinem Kopf, und es klopfte seltsam an meinen Schläfen. Das Wasser, das ich getrunken, bekam mir höchst schlecht, und ich erbrach mich da und dort in der Straße. So kam ich bis ganz hinauf zum Christusfriedhof. Ich setzte mich, mit den Ellbogen auf den Knieen und den Kopf in den Händen; in dieser zusammengezogenen Stellung war mir wohl, und ich fühlte das schwache Nagen in der Brust nicht mehr.

Ein Steinmetz lag neben mir auf dem Bauch über einer großen Granitplatte und haute eine Inschrift ein; er hatte eine blaue Brille auf und erinnerte mich mit einemmal an einen Bekannten von mir, den ich beinahe vergessen hatte, einen Mann, der in einer Bank beschäftigt war, und den ich vor längerer Zeit im Oplandske-Café getroffen hatte.

Könnte ich nur aller Scham den Kopf abbeißen und mich an ihn wenden! Ihm geradeheraus die Wahrheit sagen; sagen, daß es mir gegenwärtig ziemlich schlecht ging und es mir sehr schwer wurde, mich am Leben zu erhalten! Ich könnte ihm mein Barbierabonnement geben ... Tod und Teufel, mein Barbierbuch! Karten für annähernd eine Krone! Und ich fasse nervös nach diesem kostbaren Schatz. Als ich es nicht schnell genug finde, springe ich auf, suche in Angstschweiß gebadet danach, finde es endlich auf dem Grund der Brusttasche zusammen mit anderen Papieren, reinen und beschriebenen, ohne Wert. Ich zähle diese sechs Karten viele Male von vorn und von hinten; ich hatte sie nicht durchaus notwendig, es konnte ja eine Laune von mir sein, ein Einfall, daß ich mich nicht mehr rasieren lassen wollte. Mir wäre mit einer halben Krone geholfen, einer weißen halben Krone aus Silber von Kongsberg! Die Bank wurde um sechs Uhr geschlossen, ich konnte meinen Mann außerhalb Oplandske gegen sieben, acht Uhr abpassen.

Ich saß da und freute mich eine lange Weile an diesem Gedanken. Die Zeit ging, es blies tüchtig in den Kastanien um mich her, und der Tag neigte sich. War es nun nicht doch ein wenig beschämend, mit sechs Rasierkarten zu einem jungen Herrn zu kommen, der in einer Bank angestellt war? Er hatte vielleicht zwei dickvolle Barbierbücher in der Tasche, viel schönere und reinere Karten als meine eigenen, niemand konnte dies wissen. Und ich suchte in allen meinen Taschen nach anderen Dingen, die ich noch mit dreingeben könnte, fand aber nichts. Wenn ich ihm nur meinen Schlips anbieten könnte! Ich konnte ihn gut entbehren, falls ich den Rock fest zuknöpfte, was ich ohnehin tun mußte, da ich keine Weste mehr hatte. Ich löste den Schlips, eine große Deckschleife, die meine halbe Brust versteckte, putzte ihn sorgfältig ab und packte ihn in ein Stück weißes Schreibpapier mit dem Barbierbuch zusammen ein. Dann verließ ich den Friedhof und ging hinunter zum Oplandske.

Am Rathaus war es sieben Uhr. Ich bewegte mich in der Nähe des Cafés, pendelte am Eisengitter entlang auf und nieder und hielt scharfen Ausguck auf alle, die durch die Türe kamen und gingen. Endlich, gegen acht Uhr, sah ich den jungen Mann frisch und elegant die Straße heraufkommen und auf die Türe des Cafés zuschwenken. Mein Herz flatterte wie ein kleiner Vogel in meiner Brust, als ich ihn zu Gesicht bekam, und ich stürzte blindlings auf ihn zu, ohne zu grüßen.

Eine halbe Krone, alter Freund! sagte ich und stellte mich frech; hier – hier haben Sie Valuta. – Und ich steckte ihm das Päckchen in die Hand.

Hab' ich nicht, sagte er, nein, weiß Gott, ob ich sie habe! – Er stülpte seinen Geldbeutel vor meinen Augen um. – Ich war gestern abend aus und bin blank; Sie dürfen es mir glauben, ich habe nichts.

Nein, nein, mein Lieber, das ist wohl so! antwortete ich und glaubte seinen Worten. Er hatte ja keinen Grund, wegen einer solchen Kleinigkeit zu lügen; es kam mir auch so vor, als seien seine blauen Augen beinahe feucht geworden, da er seine Taschen untersuchte und nichts fand. Ich zog mich zurück. Entschuldigen Sie nur! sagte ich, ich war nur in einer kleinen Verlegenheit.

Ich war bereits ein Stück weit die Straße hinuntergekommen, als er mir wegen des Päckchens nachrief.

Behalten Sie es, behalten Sie es! antwortete ich; es sei Ihnen wohl vergönnt. Es sind nur ein paar Kleinigkeiten, eine Bagatelle – ungefähr alles, was ich auf Erden besitze. – Und ich wurde über meine eigenen Worte gerührt, die in dem dämmernden Abend so trostlos klangen, und ich fing zu weinen an.

Der Wind frischte auf, die Wolken jagten rasend am Himmel dahin, und es ward kühler und kühler, je mehr es dunkelte. Ich ging und weinte die ganze Straße hinab, fühlte immer mehr Mitleid mit mir selbst und wiederholte viele Male ein paar Worte, einen Ausruf, der abermals die Tränen hervortrieb, wenn sie aufhören wollten: Herr, mein Gott, wie schlecht es mir geht! Herr, mein Gott, wie schlecht es mir geht!

Es verging eine Stunde, verging so unendlich langsam und träge. Ich hielt mich eine Zeitlang in der Torvstraße auf, saß auf den Stufen, schlüpfte in die Torwege, wenn jemand vorbeikam, stand da und starrte gedankenlos in die erleuchteten Krämerläden, in denen die Leute mit Waren und Geld umherhuschten; zuletzt fand ich einen geschützten Platz hinter einem Bretterstapel zwischen der Kirche und den Basaren.

Nein, ich konnte heute abend nicht mehr bis zum Wald kommen, gehe es, wie es wolle, ich hatte keine Kräfte dazu, und der Weg war so endlos lang. Ich wollte die Nacht herumbringen, so gut es ging, und bleiben, wo ich war; wurde es zu kalt, konnte ich ein wenig um die Kirche gehen, ich hatte nicht vor, mehr Umstände damit zu machen. Und ich lehnte mich zurück und schlief so halb und halb ein.

Der Lärm um mich her nahm ab, die Läden wurden geschlossen, die Schritte der Fußgänger klangen seltener und seltener, nach und nach wurden alle Fenster dunkel ...

Ich schlug die Augen auf und wurde eine Gestalt vor mir gewahr; die blanken Knöpfe, die mir entgegenleuchteten, ließen mich einen Schutzmann ahnen; das Gesicht des Mannes konnte ich nicht sehen.

Guten Abend! sagte er.

Guten Abend! antwortete ich und erschrak. Verlegen erhob ich mich. Er stand eine Weile unbeweglich da.

Wo wohnen Sie? fragte er.

Ich nannte aus alter Gewohnheit und ohne darüber nachzudenken meine alte Adresse, die kleine Dachstube, die ich verlassen hatte.

Er blieb noch eine Zeitlang stehen.

Habe ich etwas Unrechtes getan? fragte ich ängstlich.

Nein, weit entfernt! antwortete er. Aber Sie sollten jetzt wohl heimgehen, es ist zu kalt, hier zu liegen.

Ja, es ist kühl, das fühle ich.

Und ich sagte gute Nacht und nahm instinktmäßig den Weg hinaus zu meinem alten Zimmer. Wenn ich nur vorsichtig vorginge, könnte ich gewiß hinaufkommen, ohne gehört zu werden; es waren alles in allem acht Treppen, und nur die zwei obersten knackten unter den Tritten.

Unten am Tor nahm ich die Schuhe ab und ging dann hinauf. Es war überall still. Im ersten Stock hörte ich das langsame Ticktack einer Uhr und ein Kind, das ein wenig weinte; dann hörte ich nichts mehr. Ich fand meine Türe, lüpfte sie ein wenig in den Angeln und öffnete sie ohne Schlüssel, wie ich es gewohnt war, ging ins Zimmer und zog die Türe lautlos wieder zu.

Alles war noch so, wie ich es verlassen hatte, die Vorhänge vor den Fenstern waren zur Seite geschlagen und das Bett stand leer. Auf dem Tisch konnte ich ein Papier erkennen, es war vielleicht mein Billett an die Wirtin; sie war also nicht einmal hier oben gewesen, seit ich meiner Wege gegangen. Ich tastete mit der Hand über den weißen Fleck und fühlte zu meiner Verwunderung, daß es ein Brief war. Ein Brief? Ich nehme ihn mit ans Fenster, studiere, so gut es sich in der Dunkelheit machen läßt, diese schlecht geschriebenen Buchstaben und finde endlich meinen eigenen Namen heraus. Aha! dachte ich, Antwort von der Wirtin, ein Verbot mein Zimmer wieder zu betreten, falls ich wieder hierher zurückflüchten sollte!

Und langsam, ganz langsam gehe ich wieder aus dem Zimmer heraus, trage die Schuhe in der einen Hand, den Brief in der anderen und die Decke unterm Arm. Ich mache mich leicht und beiße bei den knarrenden Stufen die Zähne zusammen, komme glücklich und wohlbehalten über alle diese Treppen hinunter und stehe wieder unten im Tor.

Ich ziehe die Schuhe wieder an, lasse mir gut Zeit mit den Riemen, sitze sogar einen Augenblick still, nachdem ich fertig bin; starre gedankenlos vor mich hin und halte den Brief in der Hand.

Dann erhebe ich mich und gehe.

Ein blaffender Gaslaternenschein blinkt dort in der Straße, ich gehe bis unter die Laterne, lehne mein Paket gegen den Kandelaber und öffne den Brief, alles äußerst langsam.

Wie ein Strom von Licht durchfährt es meine Brust, und ich höre, daß ich einen kleinen Ruf ausstoße, einen sinnlosen Ruf der Freude: Der Brief war vom Redakteur. Mein Feuilleton war angenommen, war sogleich in die Setzerei gegangen! »Einige kleine Änderungen ... ein paar Schreibfehler verbessert ... talentvoll gemacht ... wird morgen gedruckt ... zehn Kronen.«

Ich lachte und weinte, setzte in Sprüngen die Straße hinunter, hielt an und schlug mir aufs Knie, fluchte um nichts und wieder nichts hoch und teuer ins Blaue hinein. Und die Zeit verging.

Die ganze Nacht, bis zum hellen Morgen, johlte ich in den Straßen umher, dumm vor Freude und wiederholte unaufhörlich: Talentvoll gemacht, also ein kleines Meisterwerk, ein Geniestreich. Und zehn Kronen!


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