Hans von Hammerstein
Roland und Rotraut
Hans von Hammerstein

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Ragnars Hügel.

Es war einmal ein reicher Fürst, der hatte einen einzigen Sohn, auf dem die ganze Hoffnung seines Hauses ruhte.

Roland hieß der Knabe, und er war von einer so wunderbaren Schönheit, daß man hätte glauben mögen, er sei Göttern entsprossen. Er hatte große, träumende Augen, mild und strahlend wie Sterne, eine Fülle brauner Krauslocken umgab weich und glänzend wie Seide sein blütenhaftes Antlitz, seine Gestalt war schlank und biegsam wie eine junge Erle, sein Tritt war Musik. Sonnenstrahlen schienen vor ihm herzuwandeln, wo er ging, und duftende Lilien zu sprossen, wo er gegangen war.

Eine solche Unschuld, Fröhlichkeit und Herzensgüte atmete sein liebliches Wesen, daß ihn lieb haben mußte, wer ihn nur sah, und schon in zartem Alter wußte er sich so gewandt und edel zu bewegen, daß sich hoch und niedrig gerne verehrend vor ihm beugte.

Seine Lieblingsbeschäftigung war, mit Pfeil und Bogen, die er früh meisterte, in der waldigen und bergigen Umgebung der väterlichen Burg, die inmitten prächtiger Gärten auf einem hohen Felsen lag, umherzustreifen, wobei es ihm aber mehr um träumendes, spielendes Wandern, als um Beute zu tun war, weshalb er auch jede Begleitung von Dienern oder Jägern ablehnte. 2 Und sein Vater mochte ihn ohne Bangen streifen lassen, denn alle Bewohner des Landes kannten den fürstlichen Knaben und waren ihm herzlich zugetan, und alle bis zum ärmsten Berghirten hätten lieber ihr Leben gelassen als zugegeben, daß ihm ein Haar gekrümmt würde.

Roland mochte bald vierzehn Jahre zählen, als er einmal auf einem seiner Streifzüge, der ihn schon manche Stunde vom väterlichen Schlosse weg ins Gebirg geführt hatte, aus dem Wald hervortretend wunderbares Flötenspiel vernahm. Er spähte um sich und erblickte auf einem grasigen Hügel bei ein paar Felsklötzen einen alten Hirten inmitten seiner ruhig weidenden Herde von Schafen und Ziegen. Neben ihm lag ein großer zottiger Hund, der sich bei Rolands Nahen knurrend erhob. Der Hirt wies ihn mit einem sanften Schlag zur Ruhe. Langsam ging Roland auf den Alten zu und stand endlich vor ihm. Der aber nickte nur freundlich und fuhr fort in seinem Flötenspiel, und Roland setzte sich entzückt lauschend neben ihn auf einen der übermoosten Blöcke.

Es dauerte nicht lange, da kam ein kleines Mädchen, das etwas jünger als Roland sein mochte, mit einigen Lämmern und Zicklein am Berge hergelaufen. Im Bausch des emporgehobenen Röckleins trug sie eine Menge gepflückter Blumen, das volle goldbraune Haar tanzte fröhlich um ihre Schultern, und die bloßen Beinchen hüpften zierlich und behende wie zwei sich jagende weiße Schmetterlinge durchs Heidegras. Als sie des Knaben ansichtig wurde, blieb sie stehen und schaute mit ihren großen, glockenblumblauen Augen so reizend verblüfft drein, daß Roland hellauf lachen mußte. Da sprang sie herzu und betrachtete ihn verwundert. Er 3 aber streckte ihr fröhlich die Hand entgegen, und als sie die ihrige scheu hineinlegte, zog er sie an sich und küßte sie herzhaft auf das Mündlein, das so frisch und duftend war wie eine junge Nelke. Da setzte sie sich neben ihn ins Gras, schlug das Kleidchen über die Knie und begann die Blumenschätze, die sie gebracht hatte, zu sichten.

»Wie heißt du?« fragte Roland sie flüsternd, um das Flötenspiel des Hirten nicht zu stören.

»Rotraut,« sagte sie, indem sie ein paar Enzianstauden zusammenfügte. »Und du?« – »Roland,« antwortete dieser. »Wie schön dein Vater die Flöte spielt,« setzte er hinzu.

»Das ist nicht mein rechter Vater,« entgegnete sie wichtig. »Mein Vater ist lange, lange tot, und meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Die hat mich diesem guten Manne übergeben, und wir sind fortgewandert und erst vor einigen Wochen hierhergekommen. Es ist sehr schön hier,« fuhr sie lebhaft fort, »und die Weide ist sehr gut. Und wir haben dort eine schöne, trockene Höhle gefunden, geräumig und hell. Und wir wollen hier bleiben.«

»Wenn es der Fürst dieses Landes erlaubt und man uns nicht vertreibt,« fiel hier der Alte ein, sich im Blasen unterbrechend. »Doch er soll ein guter Herr sein, und die anderen Hirten hier, deren ich nur wenige begegnete, sagten mir, ich könne meine kleine Herde weiden, wo ich wolle. Es gäbe auch gar keine Räuber hier. Kennt Ihr den Fürsten?« fragte er Roland.

»Gewiß,« erwiderte dieser, »mein Vater ist sogar einer seiner Jäger. Der Fürst ist wirklich ein guter, weiser Mann, der jedem guten Menschen erlaubt, in seinem 4 Land ein ehrlich Handwerk zu treiben oder die Herde zu weiden, wo nicht ein anderer schon sie länger weidet. Und Räuber gibt es wirklich keine, denn wir halten ein strenges Regiment.«

Der Alte nickte und setzte sein Flötenspiel fort.

»Du bist auch ein Jäger?« sagte Rotraut mit einem Blick auf Rolands im Grase liegenden Bogen.

»Ja,« entgegnete er, »mißfällt dir das?«

»O ja,« versetzte die Kleine. »Dann schießt du die langohrigen Hasen tot, die so einen hübschen Schnurrbart an der Nase haben und so lustig hüpfen. Und die lieben schlanken Rehe mit ihren großen dunklen Augen, die so behutsam mit den zierlichen Beinen treten, als wollten sie kein Blümlein zerdrücken und hoch springen, so hoch,« zeigte sie mit den kleinen weißen Händchen.

»Wir schießen aber auch die bösen Wölfe und Bären tot, die in eure Herde fallen und die stärksten Widder reißen,« versetzte Roland, »und die grausamen Geier, die aus den Lüften niederstoßen und eure Lämmlein holen.«

»Das ist schon gut,« sagte Rotraut, »aber die schönen Hirsche tötet ihr auch, die so stolz auf den Halden stehen im Abendrot.«

»Wenn wir nicht auch Rehe und Hirsche jagten,« erwiderte der Knabe lachend, »so würden ihrer mit der Zeit so viele werden, daß sie euren Ziegen und Schafen alles Gras wegästen. Dann könntet ihr Hirsche hüten und Hirschkühe melken, und ich fürchte, das würde euch schlecht gelingen.«

»Ich hab' neulich eine Hirschkuh gesehen, die ihr Kälbchen säugte,« entgegnete die Kleine. »O, das war 5 niedlich! Ich hätte das Junge gar zu gerne gestreichelt. Aber als ich näher kam, liefen sie davon. Ein kleines Reh hab' ich einmal gehabt. Ein Hirt hatte es im Walde irrend und schreiend gefunden, denn der böse Jäger hatte seine Mutter totgeschossen. Das hab' ich mit Ziegenmilch aufgezogen, und es hatte ein Glöcklein um und ist mir immer nachgelaufen. Wie es aber größer war, hat es einmal andere Rehe gesehen und ist mit ihnen in den Wald gelaufen und nicht mehr wiedergekommen. Ich hab' es gesucht und gerufen, aber weg war's.«

»Da siehst du,« versetzte Roland, »was wild ist, das mag nicht zahm werden. Wenn ich ein junger Hirsch wär', ich ließ mir auch keine Glocke umbinden und mich mit den Kühen und Schafen auf die Weide treiben. Viel lieber stürmt' ich ein paar Jahre im Forst herum und würde dann von einem rechten Jäger erlegt. Ich hab' vergangenen Herbst zwei Hirsche gesehen, die miteinander kämpften. Das war grausig schön! Wie sie gegeneinander standen und sich mit rollenden, blutunterlaufenen Augen wütend maßen, wie sie umeinander herumgingen und versuchten, sich in die Flanke zu kommen, wie sie dann hoch aufstiegen und mit den Geweihen aufeinander losschlugen, daß es weit ins Tal hinaus krachte. Und schließlich verstrickten sie sich ganz und gar mit ihren Enden und stöhnten und brüllten vor Zorn, und nach langem, langem Ringen drehte der eine den andern zu Boden, daß er dumpf hinfiel wie eine gefällte Tanne. Und sein Geweih löste sich, und ehe der Gestürzte sich erheben konnte, hatte er ihn in die Flanke gestoßen, daß das Blut hervorquoll, und stieß noch einmal und 6 noch einmal, und stieß ihn immer wieder zu Boden, wie der sich mühsam erheben wollte. Und schließlich lag der Besiegte und wälzte sich unter gräßlichem Schmerzgestöhne und konnte nicht mehr auf. Und der andere warf hoch das Haupt zurück und röhrte triumphierend in den Wald hinein, daß ihm der Atem wie Rauch aus dem Geäse quoll. Und dann sprang er unter das Kahlwild hinein, das dem Kampf ruhig äsend zugesehen hatte. Ich aber ging zu dem Gefallenen hin und gab ihm einen Gnadenpfeil ins Herz.«

»Und warum hast du den Stärkeren nicht erschossen, ehe er den Schwachen umbrachte?« fragte das Mädchen, das schaudernd zugehört hatte.

»Ei, weil er eben der Stärkere war,« erwiderte der Knabe achselzuckend.

So plauderten die beiden Kinder allerlei miteinander, und der Alte hörte bald lächelnd zu, bald lehnte er sich ins Kraut zurück und blies ein neues Stücklein.

Dann stand er auf, ging fort und kam nach einer Weile mit einem Krug voll köstlicher, frischer Milch, einem Laib Brot und Käse zurück, und die drei nahmen fröhlich einen Imbiß miteinander ein, der Roland schmeckte, wie ihm noch kein Wildbret auf den goldenen Tellern seines Vaters geschmeckt hatte. Und der Hund kriegte auch seinen Teil ab. Nachdem sie aber gegessen hatten, nahm das Mädchen Roland bei der Hand und lief mit ihm zur Höhle, die auf der anderen Seite des Hügels lag, der dort steil ins Tal hinabfiel. Der Eingang war mit Stauden und Trümmern verdeckt, und innen wölbte sich in schönem, weißem Sandstein eine geräumige Stätte, die noch durch ein Fenster, das der Hirt in die Wand 7 gebrochen hatte, erhellt wurde. Von dem aus konnte man weit übers Tal und die umliegenden Höhen sehen.

Rotraut zeigte ihrem neuen Gespielen alles mit vielem Eifer, die Lagerstätten aus weichen Lämmer und Ziegenfellen – auf der ihrigen war feines, weißes Linnen gebreitet –, den Herd, den der Alte kunstvoll in einem Winkel gemauert hatte und dessen Schornstein, ein gehöhlter Baumstamm, durch die Wölbung stieß, und irdenes Geschirr und einen blanken Kupferkessel und einen langen Speer, mit dem, nebst einer Armbrust, dem Raubzeug gewehrt wurde, sofern Fingal, der Hund, nicht allein mit ihm fertig wurde. Aber mit zwei Wölfen nähme er's leicht auf, erklärte das Mädchen stolz, und selbst einen starken Mann würde er niederreißen, so, von hinten im Genick.

»Und woher habt ihr all die schönen Sachen?« fragte Roland, nachdem er jedes Stück gebührend bewundert hatte.

»Die tauscht Vater Ragnar gegen Ziegen und Lammfelle ein,« entgegnete Rotraut. »O, wir sind gar nicht arm,« fuhr sie großartig fort, »wir haben alles, was wir wollen, wir haben sogar etwas Gold und Edelsteine. Aber sag' das nicht weiter. Es ist nicht viel und dient nur für die Not.«

»Wie behaglich ist's hier!« rief Roland, indem er sich auf das Lager des Hirten warf und gähnend ausstreckte. »Viel, viel behaglicher als daheim in den großen steifen Zimmern! So möcht' ich wohnen und im Freien leben, das wär' mein Geschmack. Ich will euch recht oft hier besuchen.«

»Das tut nur, junger Herr,« sagte hier der Hirt, der 8 eintretend die letzten Worte gehört hatte. »Ihr seid immer willkommen, so Euch unser Heim und Tisch nicht zu schlecht ist. Der kleinen Rotraut wird's ohnehin einsam genug mit mir alten Schweiger; macht Ihr ab und zu ein wenig Kurzweil.«

»Das werde ich mit Freuden tun,« rief Roland aufspringend. »Aber hört einmal, Vater Ragnar, Ihr dürft mich nicht junger Herr nennen. Ich bin ein Bursch wie andere Burschen.«

»Nun doch nicht eben von den schlechtesten einer,« entgegnete Ragnar, »wie Euer feines Wämschen, Eure feinen Glieder und Euer feines Gesichtchen zeigen. Und daß Ihr nicht mindestens ein Edelmannssohn seid, laß ich mir nicht nehmen, es sei denn, daß Ihr's selber nicht wüßtet.«

»Nun ja,« erwiderte Roland nachdenklich, »mein Vater ist aus gutem Hause. Doch was geht's Euch an? Hier bin ich Roland, damit gut. Und alle Menschen, die sich lieb haben, sind gleich. Und Ihr werdet mich doch ein wenig lieb haben, nicht wahr?«

»Haben dich schon sehr lieb,« lächelte der Alte, ihm die Wange streichelnd. »Du bist ein guter Junge.«

»O ja, Roland,« rief das Mädchen dazwischen und umschlang seinen Nacken. »Sehr, sehr lieb haben wir dich. Bleib' immer, immer da. Vater Ragnar ist so gut, und wir werden zusammen Schafe hüten und spielen, und du gehst in den Wald und schießt uns Hasen, Rehe und wilde Tauben zum Braten.«

»Gern will ich euch öfters ein feines Wildbret schießen,« versetzte Roland. »Für heut' aber muß ich Abschied nehmen. Die Sonne neigt sich, und ich hab' ein gut Stück heim.« 9

»Dann eile nur,« mahnte der Alte, »sonst ängstigt sich die Mutter.«

»Mutter hab' ich keine,« entgegnete Roland. »Die ist gestorben, als ich noch ganz klein war.«

»Unsere ist auch gestorben,« seufzte Ragnar, indem er Rotraut die Hand aufs blonde Köpfchen legte. »Aber mit Gottes Hilfe muß es wohl auch so gehen. Nicht wahr?« Und Rotraut schmiegte sich zärtlich an seine Hüften.

Nun traten sie alle aus der Höhle, und Roland wurde noch bis zum Wald begleitet. Dort verabschiedete er sich mit herzlichem Händeschütteln von Ragnar, umarmte und küßte Rotraut und lief dann eilig über die Höhen nach dem Schloß zurück, wo er erst mit Einbruch der Nacht anlangte und sich auf eine langwierige, vergebliche Suche nach einem angeschweißten Rehbock ausredete. Seine neuen Freunde aber verschwieg er sorgfältig.

Nun kam eine schöne Zeit. Der Sommer rückte heran. Die Tage wurden immer länger, und es verging kaum einer, an dem Roland nicht wenigstens ein paar Stunden beim Hirten Ragnar und der lieblichen Rotraut verbracht hätte.

Oft kam er schon bei Sonnenaufgang und blieb bis spät abends und ging dann im wunderbaren Schein des vollen Mondes durch die Wälder heim. Da man im Schloß gewohnt war, den jungen Fürsten gewähren zu lassen, und ihm dies freie Leben überdies prächtig anschlug, so daß sich alle an seinem kräftigen Wachstum und seinen blühenden, sonnengebräunten Wangen erfreuten, fragte ihn auch der Vater nicht viel nach den Wohin und Woher seiner Wanderungen, zumal ihm 10 schien, daß Roland für seinen Beruf im Umgang mit der Natur und dem Volke mehr erlerne als aus allen weisen Büchern, zu deren Studium der Winter lang genug war. Auch besaß der Knabe für sein Alter schon viele Kenntnisse, und sein reger offener Geist faßte so schnell auf, daß jeder Lehrer, der ihn unterrichtete, seine Freude an ihm haben mußte.

Die kleine Rotraut lief ihm oft ein Stück entgegen und erwartete ihn dort oder da auf einer Waldblöße oder unter einer schönen Baumgruppe, oder sie erkletterte auch einen hohen Felsen, von dem aus sie Roland schon von weitem kommen sehen konnte. Manchmal versteckte sie sich auch an dem Orte, wo sie verabredet hatten, einander zu treffen, und es machte ihr dann ein kindisches Vergnügen, ihn rufen zu hören und suchen zu sehen, bis sie plötzlich hinter einem Baum oder Busch hervorsprang und ihm jubelnd um den Hals fiel. Auch der alte Ragnar hatte seine Freude an den zwei schönen, frohen Kindern, und es war ihm so überaus wohl ums Herz, wenn sie plaudernd bei ihm saßen, oder wenn er still bei seiner Herde stand und sie spielend in der Umgebung wußte und manchmal ihre hellen Stimmen vernahm. Sie nahmen dann immer ein einfaches Mahl zusammen ein, zu dem Roland oft ein Wildbret oder schöne Früchte aus dem fürstlichen Garten mitbrachte. Oft auch spielte Ragnar ihnen auf der Flöte vor, die er meisterte, wie kein anderer Hirt weit und breit; und wenn er besonders heiter gestimmt war, holte er eine Harfe herbei, die er wunderbar zu schlagen wußte, und sang uralte, ergreifende Lieder von Göttern und Helden dazu, daß die Kinder mäuschenstill dasaßen und große, 11 träumerische Augen machten. Besonders gerne hörten sie das Lied, wie Werder, der Held, die gefangene Maja aus Reifheim, der Riesenburg, befreite.

Der Locken wallend Geroll warf Werder, der Held, zurück,
tief aus trügenden Träumen hob er den strahlenden Blick.
»Knecht Horning!« rief er, »Frohwind sattle, das falbe Roß,
mir däucht, daß es lange genug des dumpfen Stalles genoß.
Flammgold, reich' mir den Schild, Fernblitz, reich' mir den Speer,
Lenzklang, lang' mir die Laute, die lieblich lockende, her.
Mild wie der Mond überm sturmgewälzten Wolkenhauf
stieg Majas Bild mir, der Süßen, aus sorgenden Sinnen auf.
Wildes Sehnen singt nun mein Herz ruhlos und gebeut:
gen Reifheim reite der eisigen Burg des Riesen noch heut',
wo sie, die frierende, Mütterchen Grautag, webend umwahrt,
indes der Grimme sich freut in den Bergen der Bärenfahrt.
O, des Wehtags, da ich auf weichem Waldesmoos
sorglos nach stürmender Jagd mich gab in des Schlummers Schoß!
Grautag schlich, die listige Alte, leise durchs Farn,
während ich Wonnheim träumte, umwob mich ihr grauliches Garn.
Da dröhnte mir dumpf ins Ohr, getreten von fliehendem Huf
der Boden, da fuhr mir ins Mark Majas flehender Ruf.
Aufsprang ich, griff ins verfluchte Geweb' und zerrte und zog,
sah wie Reifner mit der Geraubten vorüberflog,
stürzte und wälzte mich balgend und biß und brüllte vor Wut.
Die Hexe höhnte und schwur mir sehrendes Siechtum ins Blut. 12
Die goldenen Pfeile, die guten, zerbrach sie mir lachend und schwand,
eh' ich dem giftigen Garn mich erschöpft und elend entwand.
Wie lange dann lag ich gefesselt in frostigem Fieber, sprich?«
»Der Monde sechs, Herr, sorgend und betend umbangten wir dich.«
»O, böser Gesichte, brütender Ohnmacht dumpfgraue Zeit!
Jetzt aber jauchzt mir die Kraft verjüngt zu Jagen und Streit.
Frohwind schüttelt der Mähne Feuergeflock und schnaubt.
Reifner, heut' brech' ich die Burg dir, und raube, die du mir geraubt!«

Zu Reifheim, krank in den kühlen, blendenden Kissen, lag
blaß wie die Zwölfnachtrose im schneeverhangenen Hag,
Maja. Grautags Spindel durchschwirrte schläfernd den Raum,
Grautags Einsang wiegte die Sieche in Trug und Traum.
Da flüstert' sie müd': »Graumutter, vernahmst du nicht Hornes Schall?
Weht nicht der Wind fernher tönender Hufe Hall?«
»Schlaf, Mägdlein, schlaf. Schnee schlägt an die Scheiben mit Wucht,
Tannen und Türme umtanzt er in wirbelnder Flockenflucht.«
»War's nicht, als ob ein Roß, ein rasend rennendes, schnob?«
»Nichts, nur der Sturmwind stößt und schüttelt die Fichten so grob.«
»Horch, Graumütterchen, horch! Himmlischer Harfenklang!«
»Stille doch, still! Im Kamin saust des Windes Gesang.«
»Sieh' doch, sieh', am Gewölb hinschweifender Sonnenstrahl,
als bräch' er sich blitzend in blanker Brünne spiegelndem Stahl!« 13
»Liege doch, lieg'! Durch Wolken wallet der Mond so weiß,
aufschimmert der Schnee im Gebirg' und der Gletscher glänzendes Eis.«
»Grautag, lüg' mir nicht länger! Die Glieder heb' ich gesund,
Werder ist's! Machtvoll weckt mich sein lockender Liedermund.«
Zum Fenster sie flog. Einritt in Reifheim ihr Ritter stolz,
vor Frohwinds Schnauben wie schmählich Wall und Mauer zerschmolz!
Finster da ward's. Vom Gebirg' her sprengte mit schlagendem Sporn
Reifner der Riese und raste auf Werder in stürmendem Zorn.
Geschreckt vor Flammgold scheute und bäumt' sich sein schäumendes Roß.
Kraftlos am schimmernden Schild bog sich und brach sein Geschoß.
Fernblitz stieß ihm, der Speer, vom Haupt den blinkenden Helm.
Blind stürzte, rafft' sich empor und flüchtete fluchend der Schelm.
Aufbarst die zwingende Burg. Die Trümmer niedergetaut,
wichen dem Lilienfuß der rosig lächelnden Braut.
Der Retter hob sie aufs Roß. So ritten sie selig ins Blau
gen Wonnheim. Blumen erblühten von Frohwinds Tritt in der Au.
Wo Reifheim glänzte, da reckt sich ein wunderliches Gestein.
Grautag ist es. Ihr Rocken ragt in den Sonnenschein.

Auch Geschichten konnte er erzählen, daß es eine gruselige Wonne war, ihm stundenlang zuzuhören. Roland lehrte er Flöte und Laute spielen, wofür dieser viel Geschick zeigte, so daß er selber bald sehr artig ein 14 Lied zu singen und es zu begleiten verstand,. Viel Nutzen und Belehrung brachten ihm auch die reichen Kenntnisse und Erfahrungen, die Ragnar in einem langen Hirtenleben von den wunderbaren Kräften der Natur, den Eigenheiten ihrer Pflanzen und Steine und der Lebensart des Getieres gesammelt hatte.

Die seligsten Stunden freilich genossen die Kinder, wenn sie sich in Wald und Heide, Berg und Tal nach Herzenslust umhertreiben und die ganze schöne Gegend mit ihren blühenden Einbildungen beleben konnten. Da gab es sonderbare Felsen mit immer neuen Ausblicken, kühl dämmerige Schluchten und Winkel voll schauriger, märchenhafter Geheimnisse, uralte Bäume mit seltsamen Gesichtern im knorrigen Stamm und stille, blumenübersäte Waldwiesen, wo man liegen und träumen und den Falken zusehen konnte, die sich hoch oben im dunkeln Blau mit schimmernden Flügeln blitzschnell jagten oder stummschwebend über den Wäldern kreisten. Und wenn der Tag recht glühend und drückend war, liefen sie gern ins Tal hinunter, wateten an einer seichten Stelle durch den Fluß und gingen dann am jenseitigen Ufer eine Schlucht hinauf, die ein brausendes Bächlein mit kühlem Murmeln und Rauschen füllte. Da gab es eine wundervolle Stelle, wo auf der einen Seite der Bach über ein paar Felsen weißschäumend in einen smaragdgrünen Tümpel stürzte und auf der anderen über eine hohe, glatte Wand ein schwächerer Wasserstrahl in leichten, flüsternden Silberschleiern niederstäubte. Mächtige Buchen und Eichen umstanden den Platz und ragten mit ihren goldgrünen Kronen hoch über die Felsen in den blauen Himmel und Sonnenglanz hinein. Da begaben sie sich 15 jedes auf ein anderes Ufer des Baches hinter Gesträuch und entkleideten sich, und Roland sprang dann mit lautem Geschrei in den grünen Strudel, dessen weißer Gischt ihn ganz überdeckte, während Rotraut mit sorgsam aufgestecktem Haar zaghaft ins seichtere Wasser stieg, daß ihre Füßchen ganz wie versilbert waren, und bald die eine, bald die andere ihrer schmalen Schultern mit abgewendetem Kopf und ängstlicher Miene unter den Schleierfall hielt, der sie wohlig überrieselte.

Bald jedoch trieb sie Roland scheltend und das Wasser nach ihr hinschlagend in eine tiefere Stelle und lachte unmäßig über ihre angstvollen Gebärden und ihr bängliches Gekreisch, vor dem die Wildtauben erschreckt aus den Wipfeln fuhren.

Einst, als sie sich besonders wild und fröhlich im Wasser balgten, hatte sich Rotrauts Lendentüchlein ein wenig verschoben, so daß an ihrer linken Hüfte ein seltsames, rotes Mal zum Vorschein kam.

»Was hast du da?« rief Roland, als er es erblickte. Rasch kam er zu ihr gelaufen, beugte sich und betrachtete das Zeichen.

»Ach, das hab' ich immer schon,« erwiderte Rotraut, indem sie, den Arm wegstreckend, an sich hinabsah.

»Es sieht aus wie ein Rosenblatt, das herabfiel und dir da hängen blieb,« sagte Roland.

»Wie niedlich das ist,« setzte er hinzu und küßte die Stelle.

»Ach, du bist albern!« entgegnete Rotraut errötend und gab ihm einen Stoß, daß er, das Gleichgewicht verlierend und auf einem schlammigen Stein ausgleitend, mit gewaltigem Aufschlag rücklings in den Tümpel schlug, wo er für eine Weile bis auf die zappelnd emporgestreckten 16 Beine ganz und gar verschwand. Der Anblick war so bezwingend, daß Rotraut, ihre Händchen auf die Knie stützend, sich bog und schüttelte vor Lachen. Ihr Gekicher stieg wie ein hoher, silberner Springquell triumphierend auf und fiel klingend in das dumpfe Rauschen der Gewässer und die tiefe Waldstille nieder.

Pustend und schnaubend arbeitete sich Roland wieder aus dem Strudel empor und stürzte sich racheheischend auf das lachende Mädchen. Da schlug ihre Lustigkeit in helles Angstgeschrei um; wehrend, flehend, kreischend und lachend in einem flüchtete die Kleine am Ufer hin, der heitererboste Knabe über die Steine stolpernd hinter ihr her. Da hatte er sie endlich und packte sie derb bei den dünnen Ärmchen und tat so, als wolle er sie kopfüber in den Bach stecken. Sie, unter seinen Griffen sich vergeblich windend, stieß ein durchdringendes Wehgeschrei aus und bettelte, wenn schon nicht um Schonung für sich, so doch um Rücksichtnahme auf ihre Haare, die, einmal naß geworden, gar nicht mehr zu trocknen wären.

Plötzlich fuhren sie erschreckt auseinander, denn ein großer dunkler Schatten strich blitzschnell über sie hin, ein mächtiger Flügel schlug ans Gezweig, und als sie aufblickten, hockte eben ein riesiger Adler am Felsen über dem Schleierfall auf und spähte erstaunt auf sie herab. Roland stürzte durch den Bach nach Pfeil und Bogen, der Adler aber erhob sich sogleich wieder, stieg schwerfällig flatternd empor, breitete dann oben im Blauen die ungeheuren Schwingen und schoß in weitem Schwung davon.

Eine Weile starrten beide sprachlos empor. Rotraut zitterte am ganzen Leibe. 17

»Er hat uns holen wollen,« stammelte sie weinerlich.

»Natürlich, weil du so geschrien hast,« versetzte Roland.

»Er hat dein Gequiek und Geplärr für die Klage eines jungen Rehes gehalten. O, hätt' ich nur den Bogen zur Hand gehabt! Der läge jetzt hier mit dem Pfeil durch die Brust. O, wie schön das gewesen wäre! Und wie hätte Vater Ragnar sich gefreut! Ich möchte mir die Haare ausreißen!« – »Weißt du,« fuhr er nach einer Weile entgeisterten Hinaufstarrens fort, »nächstens machen wir das wieder, aber dann ein wenig schlauer. Du schmälst wie ein Reh, ich passe im Gebüsch mit dem Bogen, und wenn er kommt – sssst . . . . . .! da haben wir ihn.«

»Wenn er nur nicht in unsere Herde fällt und mein junges Lämmlein holt,« klagte Rotraut.

»Wir müssen erforschen, wo er horstet, und dann die ganze Brut ausnehmen und die beiden Alten schießen,« meinte Roland.

Rasch kleideten sie sich an, liefen zu Ragnar hinauf und erzählten ihm mit fliegendem Atem die Schaudergeschichte.

An einem der folgenden Abende ließ der Fürst Roland rufen und machte ihm eine Eröffnung, die ihn tief betrübte.

Am nächsten Morgen schon solle Besuch kommen, ein benachbarter Herzog mit seinem Töchterchen, das in Rolands Alter stehe, und etlichen Hofleuten. Er solle recht respektvoll mit dem Herrn Herzog und besonders liebenswürdig mit der Prinzessin sein, die als sehr freundlich geschildert werde. 18

Und vor allem müsse er sich jeglicher Derbheit enthalten und fein höfisch, wie er's ja könne, mit den Fürstlichkeiten umgehen und auch der begleitenden Hofdame gegenüber recht artig sein. Seine Wildheit, die ihm in Wald und Feld gestattet sei, wenn sie auch in letzter Zeit ein wenig überhand genommen habe, müsse er unbedingt für die Tage dieses Besuches ablegen. Und überhaupt sei es von höchster Wichtigkeit, daß man einen möglichst vorteilhaften Eindruck von ihm empfange, fügte der Fürst mit ernster, nachdenklicher Miene hinzu.

Die Prinzessin Lucretia nämlich, die andern Tags mit ihrem herzoglichen Vater erscheinen sollte, war aus Gründen höherer Staatsräson für Roland als Braut ausersehen. Da sie die einzige Erbin des Nachbarreiches war, schien ihre Verbindung mit Roland für beide Herrscherhäuser von großem Vorteil, und man hielt jetzt den geeigneten Zeitpunkt für gekommen, um die beiden Kinder einander bekannt zu machen und, wenn möglich, schon feierlich zu verloben. In wenigen Jahren sollte dann bereits die Trauung erfolgen. In dieser Voraussetzung gönnte der Fürst seinem Söhnchen um so lieber sein fröhliches, sorgenloses Streifen in den schönen Revieren, das ja bald genug ein Ende haben und mit einem ernsten, verantwortungsvollen Leben vertauscht werden mußte.

Roland war verzweifelt. Er hatte Mühe, seine Tränen vor dem Vater zu verbergen, denen er, einmal in seinem Gemach angelangt, freien Lauf ließ. Gerade für den nächsten Morgen hatte er mit Rotraut verabredet, daß sie einander bei der alten Eiche am Saum des Hirschwaldes treffen wollten. Und nun würde das gute Mädchen vergeblich seiner harren. Er sah sie vor 19 sich, wie sie an den Stamm gelehnt stand und wartete und wartete, und wie schließlich die großen hellen Tränen aus ihren süßen, leuchtenden Augen hervorquellen würden.

Und wie lange mochte der Besuch wohl bleiben? Einige Tage gewiß. Welch stets erneuerte, grausame Enttäuschung für die arme Rotraut! Roland sprang auf und erwog den Gedanken, noch heute in der Nacht hinauszueilen und sie zu verständigen. Aber die Tore waren schon geschlossen, und es mußte auffallen, wenn er sich offenkundig fortbegab. Einen Augenblick dachte er daran, sich Phyleus, dem alten treuen Diener und Haushofmeister, anzuvertrauen und ihn hinauszusenden. Aber er mißtraute ihm in dieser Sache. Wie, wenn der gewissenhafte Alte dann, von allerlei Bedenken geplagt, ihn und seine unschuldige Freundschaft mit dem Hirten und Rotraut dem Vater verriet?

Es war nichts zu ändern. Er mußte bleiben und die liebe Rotraut ihren Qualen überlassen.

Roland aß den Abend fast nichts und begab sich bald zu Bett, nicht um zu schlafen, sondern um zu weinen und sich nach Rotraut zu sehnen. Am andern Morgen wurde ihm aufgetragen, sich besonders schön und feierlich zu kleiden. Er tat's und saß dann mißmutig in einem Fensterbogen, sah nach den fernblauen Säumen des Hirschwaldes hinüber, und das Herz zog sich ihm schmerzlich zusammen, wenn er dachte, wie die süße kleine Rotraut jetzt dort stand und sich grämte. Tausendmal verwünschte er die lästigen Gäste und nahm sich im stillen vor, alles nur leidlich Angängige zu tun, um dem Besuch ein baldiges Ende zu bereiten. 20

Endlich gegen Mittag kündigte ein reitender Bote das Nahen der herzoglichen Gäste. Bald darauf rollten drei schwerfällige Karossen, von denen eine über und über mit Gold beschlagen war, in den Schloßhof, und der Fürst begab sich mit Roland und einem großen Gefolge die breite, teppichbelegte Marmortreppe zum Empfang hinab. Dem vergoldeten Wagen entstieg erst ein älterer, griesgrämig dreinschauender Herr, der ungeachtet der Sommerhitze einen weiten Pelzmantel trug und sich auf einen Krückstock stützte. Ihm folgte mit viel Umständen und Gesichterschneiden ein steifes, dünnarmiges Wesen in gebauschten Brokatröcken mit einem entsetzlich hohen, künstlich gewundenen Schopf, das schließlich, weil es gar nicht über all seine Modepracht hinweg mit dem schnabelbeschuhten Füßchen das Trittbrett finden konnte, von einem Kavalier und einer mit gleich knisternder Feierlichkeit gekleideten, mumienhaften Hofdame behutsam, wie eine Porzellanfigur, herausgehoben und auf den Boden gestellt werden mußte. In feierlichem Schweigen umstanden die beiden Fürsten und der ganze Hof die äußerst langwierige Szene.

Die Prinzessin Lucretia aber drehte ein paarmal mit halbgeschlossenen Augen den Kopf vorsichtig in der ungeheuren Halskrause, die sich ihr im Nacken wie ein Pfauenrad mit scharfen Spitzen und Kanten emporsträubte, als wolle sie versuchen, ob ihr Genick nicht abgebrochen wäre. Dann knickste sie plötzlich vor dem Fürsten tief in sich zusammen und reichte Roland mit gefrorenem Lächeln die Fingerspitzen zum Kusse hin. Dieser indes mißverstand die Gebärde, nahm das magere Händchen und schüttelte es kräftig, und sich der drohenden 21 Halskrause harmlos nähernd, drückte er einen freilich recht flüchtigen Kuß auf die Wange des Fräuleins, was sowohl bei dieser als bei der hinter ihr stehenden Hofdame maßloses Entsetzen hervorzurufen schien. Ein junger Ritter, der Befehlshaber des Fähnleins, das als Bedeckung mit den Hofwagen gekommen war, biß sich, dies mit ansehend, fast die Lippen blutig, und sein hoher Federbusch wippte hin und her wie der Wipfel eines Baumes, der von unterirdischen Stößen erschüttert wird.

Plaudernd und auf jeder dritten Stufe stehen bleibend, stiegen die beiden Fürsten die Treppe voraus empor. Ihnen folgte Roland mit der Prinzessin, der die Hofdame mit einer Miene, die eine bissige Ehrerbietung auszudrücken schien, an die Fersen geheftet blieb, so daß sie ihr bei jedem Tritt fast auf die Hacken trat. Roland hatte der Prinzessin den Arm gereicht und bemühte sich, eine artige Konversation zu machen, indem er nach der Witterung und den sonstigen Umständen der weiten Reise fragte und der Hoffnung Ausdruck gab, daß man sich nicht überanstrengt habe. Doch die Unterhaltung geriet an den zimperlichen Ja und Nein, die spärlich über die verkniffenen Lippen des Mädchens kamen, bald ins Stocken, und Roland brachte es bis zum Ende der Treppe kaum einmal über sich, mit den niedergeschlagenen Augen nach der Prinzessin hinzuschielen. Der junge Rittersmann, der mit den übrigen Hofleuten in respektvoller Entfernung folgte, beobachtete ihn unausgesetzt, und einmal sich zum herzoglichen Hofmarschall umwendend, sprach er in gedämpftem Ton: »Seht doch den Knaben an! Mit welch vollendeter Grandezza er sich zu 22 benehmen weiß; wie edel, weich und federnd jede Bewegung seiner wundervollen schlanken Glieder ist, welche Frische und Lebhaftigkeit im märchenschönen, fürstlichfeinen Antlitz, welch ein verhaltenes Feuer in den strahlenden Augen! Das wird ein Fürst, das wird ein Feldherr! Für den möcht' ich mich in tausend starrende Lanzen stürzen. Welch ein Jammerbild unser verzogenes, verbogenes, verschnürtes und verkümmertes Prinzeßchen daneben! Wie eine getrocknete Lilie neben einer süßen, halberschlossenen Rosenknospe! Und dieser pergamentene Zeremonien-Cerberus dahinter!«

»Pst!« lächelte der Hofmarschall und legte den Finger warnend auf die Lippen.

Oben in der weiten, marmornen Vorhalle, die durch hohe Säulenfenster einen unendlichen Blick über das waldige Gebirge eröffnete, trennte man sich.

Die beiden Fürsten begaben sich in die Bibliothek, und die Prinzessin samt der Hofdame wurde von einer Zofenschar unter Vorantritt der guten alten Doris, Phyleus' Gattin, in ihre Gemächer geführt.

Roland zog nun die Herren des Gefolges ins Gespräch. Besonders lang unterhielt er sich mit dem jungen Ritter, der ihm über alle Maßen gefiel. Ja, der alte Phyleus mußte ihn schließlich bescheiden an das Herannahen der Tafelstunde erinnern; sonst hätt' er den Ritter gar nicht freigegeben und ihm keine Zeit gelassen, die Rüstung abzulegen und sich für die Tafel zu kleiden, so war er in das Gespräch vertieft, das er, in einem Fensterbogen sitzend, lebhaft mit ihm führte. Gespannt prüfte er die goldene Rüstung, das Schwert und den prächtig ziselierten Helm des schönen Soldaten, fragte nach seinen 23 Rossen und den Gefechten, die er schon mitgemacht, und mächtig erwachte in seinem jungen Herzen die kriegerische Lust. Der Ritter aber erklärte sich geradezu vernarrt in den entzückenden Prinzen, und wäre in diesem Fürstentum nur ein wenig mehr Kriegsgelegenheit gewesen, hätte er seinem Herzog die Dienste gekündigt und sich in die des Fürsten begeben. Aber er wußte wohl, daß hier das gefährlichste Ereignis im ganzen langen Jahre etwa die Erlegung eines Bären oder höchstens die Vertreibung von ein paar Wegelagerern sei.

An diesem Tage lernte Roland zum erstenmal in seinem Leben die Langeweile kennen. Den lustigen Rittersmann sah er nach der Tafel nicht mehr, er mußte der Prinzessin das Schloß zeigen und mit ihr artig durch die Gärten spazieren, und die greuliche Hofdame zog immer, mit ihren steifen Röcken den Boden kehrend, wie ein geblähter Puter hinter ihnen her. Fortwährend verglich er das gezierte, künstliche Wesen der Prinzessin mit der süßen Frische und lieblichen Natürlichkeit seiner geliebten Rotraut, ihr steifes, ängstliches Trippeln mit den leichten Sprüngen, ihre beengten, verschrobenen Bewegungen mit der rehgleichen Grazie des braunen Hirtenmädchens. Und gar erst Rotrauts rosiges Antlitz, das leuchtete wie die Morgenröte eines taufrischen, blütenüberschneiten Maientages und das blasse, verschlafene Gesicht der Prinzessin mit den dünnen Schlitzäugelchen, dem zimperlich gerümpften Stumpfnäschen und dem dünnen, immer ein wenig spöttisch herabgezogenen Lippenpaar!

Je mehr er verglich, desto heftiger klopfte sein Herz vor Sehnsucht nach seiner reizenden kleinen Waldfreundin, 24 desto schwerer ward es ihm, den Faden der Unterhaltung fortzuleiten, der sich dank der Einsilbigkeit Lucretiens ohnehin immer wieder rettungslos im Sand der Langeweile verlor.

Erleichtert atmete er auf, als ein knappes Stündchen nach dem Nachtmahl die Hofdame der Prinzessin ein bei allem Respekt nicht eben undeutliches Zeichen gab, daß sie sich zurückziehen müsse.

Auch Roland begab sich in sein Schlafgemach. Gern hätte er noch eine Weile mit dem Ritter geplaudert. Doch der saß im andern Flügel des Schlosses mit den übrigen Hofleuten und schwang wohl manch einen Becher voll fürstlichen Weines.

Die halbe Nacht lehnte der Knabe im offenen Fenster, sah nach dem ruhig strahlenden Mond hinauf und zu den nebeldämmernden Wäldern hinab, hörte den Fluß unten rauschen, der seine Wellen unter Ragnars Höhle vorbeitrieb, und gab ihm tausend Grüße mit.

Und er dachte an Rotraut, ob sie wohl jetzt in ihren weichen Fellen süß schlummere und von ihm träume, oder ob sie gleich ihm wach sei und vielleicht bitterlich weine. Und diese Vorstellung war ihm bei allem Mitleid die süßere, und sie löste schließlich seinen eigenen Schmerz in befreiende Tränen auf.

Den andern Morgen erwachte er früh voll mutwilliger Munterkeit. Rasch kleidete er sich an und lief in den Garten.

Es war eine prächtige, schallende Sommerfrühe, die üppigen Rosenhecken des Parkes hingen voll Tauperlen, und der laue Morgenwind trug ihren berauschenden Duft über den ganzen Berg hin und bis in den Schloßhof hinein. 25

Die Fenster des Zimmers, wo die Prinzessin schlief, waren noch dicht verhängt. Roland konnte sich nicht enthalten, ein paar Steinchen an die Scheiben hinaufzuschleudern. Aber nur im Nebenzimmer wurde der Vorhang ein wenig beiseite geschoben und das grimmige Gesicht der Hofdame kam papillotenumrahmt für einen Augenblick zum Vorschein.

Erst gegen Mittag geruhte Ihre Hoheit sich zu erheben. Und Roland wurde durch den Hofmarschall feierlich zum Lever entboten. Seine Verblüffung war begründet. Er konnte sich das mit der Prüderie der Prinzessin und ihrer Dame, die sich zu entsetzen schienen, wenn er Lucretia nur einmal länger ansah, geschweige denn bei der Hand faßte, durchaus nicht reimen. Nun wurde er in ihr Toilettenzimmer geführt, wo zu seinem weiteren maßlosen Erstaunen der halbe Hof versammelt war, und durfte neben ihr, die in einem spitzenumwölkten Morgenkleid vor dem Spiegel saß, auf einem Schemelchen hockend zusehen, wie ihr reichlich ergänztes Haar zu jener erschreckenden Pagode aufgetürmt wurde.

Die Fenster waren sorglich geschlossen, im dumpfen Raum roch es nach Schminke und künstlichen Blumendüften, und der Anblick der verschlafenen Prinzessin bot auch durchaus nichts Erfreuliches. Roland war froh, endlich wieder ins Freie zu kommen. Aber eine unbändige Lust, diesen Zwang mit irgendeiner unfaßbaren Tat zu durchbrechen, stieg in ihm auf. Er konnte sein waldgewohntes Herz, sein stürmendes junges Blut nicht mehr meistern.

Bei der Tafel schüchterte ihn noch die Anwesenheit der vielen würdigen Herren ein. Aber nachher, als er 26 mit Lucretia wieder im Park spazieren mußte, machte sich sein fröhlicher Unmut gewaltsam Luft. Er ließ die Prinzessin stehen und sprang mit großem Geschrei über ein paar Hecken, kehrte zurück und machte ihr den Vorschlag, fangen zu spielen. Die Prinzessin verstand ihn gar nicht, die Hofdame war sprachlos. So wolle er einen Ball holen. Er hätte zwar lange nicht mehr gespielt, weil er sich schon mit ernsteren Dingen, wie der Jagd, beschäftige, aber er besitze noch mehrere, sehr gute und große. Lucretia aber lehnte verächtlich lächelnd ab, da sie sich doch nicht derangieren könne. Der Hofdame wurde die Sache überaus ungemütlich. Sie fühlte sich der Tatenlust des jungen Fürsten nicht gewachsen und rief darum bei passender Gelegenheit den Hofmarschall herbei, der tiefer im Garten lustwandelte.

Mit dem tuschelte sie abseits eine Weile sehr wichtig. Dieser hörte lächelnd zu und bemühte sich dann, Roland mit allerlei lustig sein sollenden Hof- und Jagdgeschichten zu unterhalten. So kam man promenierend nach dem Obstgarten, wo an langen Spalieren zwischen weißen Kieswegen prächtige Früchte aller Art in der glühenden Sommersonne reiften.

Roland pflückte ein paar apfelgroße, süß duftende Erdbeeren und reichte sie der Prinzessin. Diese nahm sie ohne Dank entgegen und hätte sie gern verzehrt, aber sie wußte nicht, wie das außer dem Speisesaal anzufangen wäre, und sah hilfeflehend um sich. Roland erriet ihre Verlegenheit, und indem er mit auffallender Absichtlichkeit eine der Beeren, ganz wie sie war, in den Mund steckte, wobei er sich diesen fast zerreißen mußte, winkte 27 er einen Gärtnerjungen herbei und befahl ihm kauend und schluckend, daß er schleunigst Bestecke und Teller schaffen solle. Der Junge lief, und bald kam ein Diener, der auf einem silbernen Brett nicht nur das Gewünschte, sondern einen ganzen, kunstvoll zusammengestellten Imbiß nebst erfrischenden Getränken trug.

Man setzte sich nun um einen in der Nähe befindlichen Steintisch und tafelte.

Dann nahm der Hofmarschall die Ehrendame beiseite und promenierte mit ihr längs der Spaliere hin, wobei es diese jedoch nicht unterlassen konnte, manchmal einen scharfen Blick nach dem jungen Paar zurückzuwerfen.

Die Unterhaltung mit der Prinzessin war nun gar nicht mehr in Gang zu bringen, und Roland zog es vor, sie sitzen zu lassen und die Spaliere nach reifen Aprikosen abzusuchen. Bald fand er eine, und indem er sie bedächtig verzehrte, sah er nach Lucretia hin, wie sie, von ihrer Brokatpracht umbauscht, den Fächer in der Hand auf dem Sessel saß und unmäßig gelangweilt vor sich ins Blaue starrte, denn seitwärts konnte sie wegen des steifen, zackigen Spitzenkragens nicht gut schauen, der ihr hochauf im Nacken stand, dann scheuklappenartig längs der Wange niederging und sich, einen tiefen Ausschnitt am langen, dünnen, perlenumschnürten Halse und auf der mageren, blaugeäderten Brust freilassend, mit einer prachtvollen Smaragdagraffe über dem panzerartigen Mieder schloß. Der Anblick reizte Roland eigenartig. Er dachte an Rotrauts leichtes Kleidchen aus grober, graublauer Leinwand, das ein um die Lenden geschlungenes glänzendes Fell so anmutig 28 zusammenhielt, an ihr schlankes, bewegliches, von den goldbraunen Locken umhangenes Hälschen, an ihre bloßen braunen Arme und ihre flinken runden Beinchen in den hochgeschnürten Fellsandalen. Und es stieg ihm dunkel ein Gefühl auf, als müßte er soviel süße, freie Anmut, die jetzt obendrein so unschuldig leiden mußte, an solch hoffärtiger Geziertheit und prunkhafter Langweile rächen. Traumhaft, wie unter dem Druck eines unerbittlichen Schicksalsbefehles, langte er eine sehr überreife Aprikose vom Boden auf, drehte sie, vorsichtig prüfend, in den Fingern, hob langsam den Arm, maß kühlberechnend das ahnungslos in die Luft stierende lebendige Ziel und klatsch! saß die gefallene Frucht auf dem zarten, hoheitsvollen Busen, wo sie wie ein Geschoß in tausend schleimigen, schmutziggelben Strahlungen sternförmig zerfahrend, Haut, Kinn, ja selbst die Wangen noch und die ganze steifstrotzende Spitzenpracht umher dick mit Unrat bespritzte.

Ein Entsetzensschrei, ein heftiges Auffahren, eine schreckensstarre Gestalt, ein Gesicht, das, langsam zum Weinen sich verziehend, unendlichen Ekel und vollständige Hilflosigkeit ausdrückte. Der Hofstaat kam herbeigestürzt.

Die Dame rief um Hilfe, um Wasser, um Tücher, um einen Doktor. Der Marschall schlug die Hände über den Kopf zusammen und war ratlos, wie er sich dieser fürstlichen Laune gegenüber benehmen solle. Roland verzehrte dumpf lächelnd eine zweite Aprikose. Der Marschall fand es schließlich besser, die halb ohnmächtige Prinzessin vom Schauplatz der Greueltat abzuführen, und die Hofdame geleitete ihn wehklagend. Roland blieb noch eine Weile und untersuchte die Erdbeerbeete. 29

Der Streich wurde, dank des Lärmes, den die Hofdame davon machte, bald in der ganzen Burg bekannt und fand dort sehr verschiedene Beurteilungen. Doch hatte Roland eine starke Partei für sich, deren Haupt der junge Ritter war, welcher den Spaß ganz köstlich fand. Der alte Phyleus hob, als er Rolands ansichtig wurde, mit einer Gebärde tiefsten Bedauerns, deren Theatralik aber besser in eine Posse als in eine Tragödie gepaßt hätte, die Hände.

Die dicke Doris, mit Wasser und Tüchern nach den Gemächern der Prinzessin vorbeilaufend, drohte ihm mit dem Finger und bemühte sich, eine Miene zu machen, als hätte er einen Mord begangen. Sehr abschwächend jedoch für die Strafen, die seiner sonst gewartet hätten, wirkte es, daß die beiden Fürsten, die inzwischen unter Zuziehung einiger Würdenträger über die allfälligen Ehepakte verhandelt hatten, in einigen Punkten recht uneins geworden waren. Der Herzog bestand für seine Tochter auf einigen Hoheitsrechten, die ihr eine gar zu umfassende Herrschgewalt sicherten, der Fürst hinwieder fand es nötig, anzudeuten, daß ihm diese Verbindung zwar erwünscht, doch keineswegs unumgänglich notwendig für das Bestehen und Gedeihen seines Landes scheine, und daß sein Thronerbe sowohl mit Rücksicht auf Stand und Vermögen, als in Ansehung seiner persönlichen Vorzüge auch an den Höfen bedeutenderer Machthaber mit einiger Sicherheit als Freier auftreten dürfe. Kurz, die diplomatische Rechnung wollte nicht aufgehen, zog sich vielmehr durch komplizierte Brüche in die Länge, und als nun Rolands Schandtat ruchbar wurde, trat in den Beziehungen der beiden 30 Herrscherhäuser eine merkliche Abkühlung ein. Der Herzog meinte mit ziemlich knurrigem Humor, daß der junge Erbprinz die für einen so wichtigen Schritt erforderliche Reife doch noch nicht zu besitzen scheine, der Fürst bemühte sich zwar, Genugtuung dadurch zu schaffen, daß er Roland, nachdem er ihm einen strengen Verweis erteilt hatte, zwang, der Prinzessin vor dem versammelten Hofstaat Abbitte zu leisten, schien aber im übrigen eher einer heiteren Auffassung der Sachlage geneigt. Die Stimmung blieb für den Rest des Tages eine gedrückte, und die Prinzessin erschien, Kopfweh vorschützend, nicht an der Abendtafel.

Am nächsten Tage reisten die hohen Gäste ab. Der Fürst und Roland hatten die Herrschaften bis zum Wagenschlag begleitet. Hoch zu Roß im Burghof hielt der junge Ritter, der etliche Reiter vorausgeschickt hatte und den Rest seiner Abteilung den Wagen in einiger Entfernung nachzuführen gedachte. Als nun die letzte Karosse über die Brücke rollte, konnte sich Roland nicht enthalten, einen Freudensprung zu tun und mit allen seinen zehn Fingern eine lange Nase hinter ihr herzudrehen.

Die versammelten Höflinge und Burgleute kicherten, der Ritter aber lachte, daß ihm die Küraßriemen zu springen drohten. Und seine grimmen Krieger lachten kräftig mit.

Der Fürst hatte glücklicherweise nichts bemerkt, weil er schon früher ins Haus zurückgegangen war.

Roland sprang zum Ritter hin, schwang sich geschickt vor ihn in den Sattel, und dieser trabte mit ihm, noch immer lachend, zum Tor hinaus. Draußen küßte er den schönen Knaben auf den Mund, ließ ihn zur Erde gleiten, 31 und seine Hand haltend, sprach er mit Tränen in den Augen: »Gott segne Euch tausendmal, lieber junger Prinz, und erhalte Euch Euer goldnes, fröhliches Gemüt. Und wenn Ihr einmal erwachsen seid und irgendwo Händel habt, dann schickt nur nach mir. Mit hundert gewappneten Reitern und Rossen komme ich und will Euer fröhlich flatterndes Banner hoch gegen alle Eure Feinde tragen!« Damit ritt er von dannen und wandte sich noch oft, mit der Lanze grüßend, nach Roland um, der winkend vor der Brücke stand.

Nun hielt es ihn keine Stunde länger in der Burg. Rasch vertauschte er sein feierliches Gewand mit dem schlichten grünen Wams, nahm Pfeil und Bogen und eilte hinaus.

Als er wieder in den Wald kam, war ihm zumute, als beträte er das Himmelreich. Jauchzend sprang er über die Wurzeln und Steine hin und schoß seine besten Pfeile mutwillig ins Blaue hinauf. Fast in der halben Zeit, die er sonst für den Weg brauchte, erreichte er Ragnars Weideplatz und fand den Hirten wie sonst Flöte spielend auf dem Hügel sitzen. Als Ragnar des Knaben ansichtig wurde, sprang er auf, ging ihm entgegen und umarmte ihn mit tausend liebevollen Vorwürfen.

»So lang darfst du uns nicht mehr ausbleiben,« sagte er. »Was haben wir für Angst und Sorge um dich ausgestanden! Und Rotraut hat sich schier die Augen nach dir ausgeweint.«

»Wo ist sie?« fragte Roland ungeduldig.

»Ich glaube, du findest sie jetzt bei der Quelle vor unserer Höhle,« erwiderte Ragnar. »Sie hat auch 32 heute wieder den ganzen Morgen bei der alten Eiche auf dich gewartet, und die neue Enttäuschung hat ihr neue Tränen gekostet.«

Aber noch während sie sprachen, kam Rotraut angelaufen. Sie hatte Fingals Freudengebell vernommen und es richtig gedeutet. Mit einem Jubelschrei fiel sie Roland um den Hals und lachte und weinte, und er hob sie hoch empor und lief mit ihr, vom freudetollen Hunde umsprungen, in der Wiese umher. Nun mußte er erzählen, warum er solange nicht gekommen, und er tat es der Wahrheit gemäß, indem er nur die hohe Stellung des zimperlichen Fräuleins verschwieg.

Auch den gelungenen Wurf mit der faulen Aprikose schilderte er aufs Lebhafteste mit allen dazugehörigen Gesten der von diesem Ereignis Betroffenen, und es gab großes Vergnügen. Der kleinen Rotraut aber konnte er die Prinzessin nicht oft und deutlich genug beschreiben. Alles mußte er bis ins einzelnste ausmalen und darstellen, ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Art und Weise zu gehen, zu sprechen, ihre Kleidung, und wenn schon längst von anderem die Rede war, kam Rotraut noch immer mit Fragen, die oft recht kindisch und sonderbar waren. Und während sie noch eben herzlich gelacht hatte, als Roland zum fünftenmal die Grimassen wiederholte, die der Aprikosenschuß hervorgerufen, stampfte die Kleine plötzlich mit dem Fuß auf den Boden, stürzte sich, in Tränen ausbrechend, an seine Brust und umschlang und küßte ihn mit einer Heftigkeit, die ihn fast erschreckte.

Nach dem Mahl gingen die glücklichen Kinder mit dreifacher Lust an ihre gewohnten Spiele, und als Roland 33 abends schied, mußte er der schluchzenden Rotraut ein übers andere Mal hoch und teuer schwören, daß die abscheuliche Lucretia auch wirklich ganz, ganz bestimmt fort sei und nie mehr wiederkommen würde.

Es ging nun gegen die Sonnenwende.

Die goldenen Tage wollten gar kein Ende nehmen, und von der Höhe des Gebirges aus sah man weit draußen im ebenen Land auf den Feldern die ersten Kornmännlein stehen. Die Wiesen waren ein bienenumsummtes, grillendurchzirptes, schwül atmendes Farbenmeer von bunten Blumen. Da gab es Glocken aller Art; Steinnelken, Pechnelken, Federnelken mischten ihr verschiedenes Rot, Enzian, Rittersporn und Akelei ihr Blau und Lila, und lieblich drängten die Margueriten ihre weißen, freundlichen, stets der Sonne zugewendeten Gesichter aneinander. Auf den heißen Halden aber standen die Weidenröslein in dichten, roten Büschen beisammen, streckte sich hoch die Königskerze und zündete ihre Lichter auf, schimmerte der große gelbe Fingerhut und neigte der einsame Türkenbund träumerisch seine fremdartigen Blütenköpfe. Und tief in den Bergschluchten, wo die Sonne durchs dichte, volle Buchenlaub mit langen Goldstrahlen in die geheimnisvolle grüne Dämmerung auf Moos und Farren hinunterlangte, wo der Lattich seine breiten Blätter über den verschmachteten Bach hielt und die Einbeere ihre unheimlich regelhafte Gestalt aus dem Dunkel hob, blühte selten und märchenhaft, wie ein verzaubertes Königskind, der samtige Frauenschuh. Der Specht hämmerte an den hohlen Stämmen, das Eichkätzchen zuckte mit gekrümmtem Schweif und buschigen Ohren um die breiten Tannenschäfte, der Pirol schwang 34 sich von Wipfel zu Wipfel und rief seine süße, eintönige Strophe, die Wildtauben gurrten, und der Kuckuck, der nur wenige Tage mehr zu singen hatte, kam vor lauter Übereifer fortwährend aus dem Takt. So satt und strotzend war alles Grün, so rund und massig wölbte sich jede Baumkrone, die ganze Natur ruhte selig berauscht und träge vor Sonnenlust, im Genuß ihrer eigenen Pracht und Fülle wie ein schönes, reifes Weib.

Am Tage der Sonnenwende selbst blieb Roland länger als gewöhnlich bei Ragnar und Rotraut. Der Hirt hatte auf dem Gipfel des Hügels einen mächtigen Stoß dürres Holz zusammengetragen, und mit Einbruch der Dämmerung begaben sich die drei dorthin. Auf Ragnars Geheiß hatte sich Rotraut in weißes Linnen gekleidet und um die Locken einen blühenden Zweig wilder Rosen geschlungen. Er selbst trug einen Fichtenkranz auf dem eisgrauen Haupt, und dem Knaben hatte er einen aus Eichenlaub aufgesetzt. Auch ein junges, schneeweißes, mit Efeuranken und Rosmarin bekränztes Böcklein nahm er im Arme mit.

Im Hinaufgehen erklärte er den Kindern, daß heute ein großer Tag wäre. Die Erde stünde auf der Höhe ihrer sommerlichen Schönheit und Pracht und hätte ihr Antlitz, wie sie es während des Jahres langsam hebe und wieder neige, voll der Sonne zugekehrt. All die geheimen Kräfte der Natur seien in diesen schönen Tagen und Nächten wunderbar lebendig, und wer in der wohltätigen Heilkunst oder auch in der schwarzen Zauberkunst erfahren sei, sammle jetzt die wirksamen Kräuter und weihe sie am heiligen Feuer. Auch der Mond übe jetzt eine besondere Macht, und die Sterne 35 flammten über von goldenem Feuer, daß manchmal glühende Tropfen niedersprühten, und wo einer zur Erde fiele, wachse ein seltsames Kraut, dessen Genuß die Gabe der Weissagung verleihe. Und die dunklen Mächte, die der Schicksale walten und die jedes Volk mit anderen Namen nenne, könnten nun am leichtesten versöhnt oder erzürnt werden. Ihnen und zumal dem uralten, ewigjungen Schutzgeist der Fluren und Wälder, der Herden und Hirten, opfere er darum heute dieses Böcklein. Und überall entzündeten die Menschen Feuer auf den Bergen und umtanzten sie mit Gesängen, und jede Landschaft hätte dabei ihre besonderen Gebräuche.

Und wenn weit in der Runde von jeder Höhe die Flammen aufzüngelten, wäre es, als führen die alten Götter über die Erde, und der Wald neige schaudernd die Wipfel.

Die Kinder hörten schweigend mit großen Augen zu und betrachteten nun, auf dem Gipfel angelangt, engumschlungen die Hantierungen des Alten.

Der schlug Feuer aus einem funkelnden Stein und entzündete daran eine in würziges Harz getränkte Fackel. Mit dieser schritt er siebenmal murmelnd um den Holzstoß.

Dann stieß er die Fackel mitten hinein, und prasselnd leckte die rote Flamme durchs dürre Reisig empor. Schnell griff das Feuer um sich, weißer Dampf umschwelte den Stoß, und immer höher schlugen die glühenden Zungen. Darauf hob er das Böcklein, das, an den Füßen gebunden, auf dem Boden lag und angstvoll nach dem Pferch zurückblökte, auf einen breiten Stein, der vor dem Holzstoß ruhte, und schnitt ihm mit dem 36 Schlachtmesser die Kehle durch. Das Blut aber ließ er ins Feuer strömen, daß es zischte und vermehrter Qualm fast die Flammen zu ersticken drohte. Dann weidete er das Böcklein aus, steckte Herz und Leber auf einen Spieß, warf das Opfer mitten in den Brand und legte große Scheiter zu. Und wieder ging er murmelnd und leise singend um den Stoß und hielt ein Bund frischer Kräuter nahe an die Flammen, so daß die Blätter angesengt wurden. Prächtig stieg die Lohe, in knatternden Wirbeln stürmisch gedreht, in die sinkende Nacht zu den aufblitzenden Sternen empor.

Inzwischen waren auf den umliegenden Gipfeln gleichfalls einige Feuer entglommen, und auch weit in der Ebene draußen leuchtete eins ums andere auf. Bei manchen sah man die Flammen deutlich flackern und hochgeschwungene Brände in trunkenem Tanz sie umkreisen; die entfernten glühten still wie Sterne. Manche schienen hoch in der Luft zu hängen, weil der Berg, auf dem sie brannten, schon vom Dunkel der Nacht und dem Dunst der Ferne verschlungen war. Und jedes neu aufleuchtende begrüßten die Kinder mit lauten Rufen und zählten es den schon erblickten zu.

Ragnar briet die Eingeweide des Böckleins, und alle drei genossen davon und auch ein wenig von den Wunderkräutern.

Rotraut fragte, ob wohl das Sternkraut dabei sei, sie würde gar zu gerne in die Zukunft blicken. In diesem Augenblick trieb ein Windhauch die Flammen auseinander, und eine langte, wie ein flatternder Arm, gierig und gehässig nach ihr hin. Schreiend fuhren die Kinder zurück. »Du brennst!« rief Roland voll 37 Entsetzen. Wirklich hatte das Feuer ein wenig ihr Kleid versengt, und Ragnar beeilte sich, das glosende Gewebe wegzureißen.

Dann verwies er Rotraut streng ihre Neugier. »Regt sich schon so früh das Weib in dir?« sprach er vorwurfsvoll. »Preise dich glücklich, daß du nicht ahnst, was dir und andern bevorsteht. Blühe still und harmlos deinen schönen Tag und freu' dich der Sonne. Und merk' den alten Spruch:

Dein ist das Heute, Gottes das Morgen,
dein ist der Wille, Gottes die Tat.
Schaffe nur zu, laß ihm das Sorgen,
Und was du wirkst, war ewig sein Rat.«

Ernst, fast bekümmert, umkreiste er hierauf abermals den Brand, und mit erhobenen Händen stehen bleibend, flüsterte er leise zu den Sternen hinauf.

Eine Weile schwiegen die Kinder betreten, und das Mädchen schmiegte sich bebend mit tränenvollen Augen an Roland, der sie fest umschlang und an sich preßte, als fürchte er, sie könne ihm geraubt werden. Bald aber war der Vorfall vergessen. Neue Feuer waren zu sehen, auch auf dem Gipfel, der die Fürstenburg überragte, flammte eines. Als der größte Teil des Stoßes verzehrt war und die Flammen niedergingen, forderte Ragnar sie auf, lustig zu sein und Hand in Hand über die Feuerstätte zu springen; das brächte Glück. Und um sie zu ermuntern, schwang er sich selbst an seinem Stabe mit einem Jauchzer über die Glut. Roland folgte ihm, und endlich ließ sich auch Rotraut auf vieles Zureden zu einem zaghaften Sprung an der schmalsten Stelle bewegen. Als sie sah, daß es ohne Schaden 38 abging, wurde sie mutiger, und zu wiederholten Malen sprangen nun die Kinder lachend und jauchzend miteinander hin und her.

Riesengroß und wie von glühroten Schleiern umwallt stieg nun der Mond über den östlichen Gebirgen empor, während im Westen noch ein braunklarer Streifen des versunkenen Tages dämmerte. Roland schickte sich an, heimzukehren. Rotraut hing an seinem Hals und flehte ihn schluchzend, doch nicht von ihr fortzugehen. Er aber küßte und tröstete sie, indem er versprach, am nächsten Tage bestimmt wiederzukommen, und dann lief er, so schnell es ihm das Dunkel gestattete, den wohlbekannten Weg zur Burg, in deren Umgebung er heute noch alles wach und voll Fröhlichkeit, Musik und Gesang traf.

Der alte Fürst mußte für einige Zeit verreisen. Diese Gelegenheit benützte Roland, um Phyleus und dem Kastellan zu erklären, daß er seinen Freund und ehemaligen Gespielen Diethelm, den Sohn eines Ritters, dessen Burg eine gute Tagereise entfernt lag, besuchen wolle. Phyleus machte ein etwas besorgtes Gesicht zu diesem Vorhaben seines jungen Gebieters und mahnte ihn, den weiten Weg doch wenigstens zu Pferde zurückzulegen und sich einen Knappen als Begleitung mitzunehmen. Aber Roland behauptete, bei seiner Art, der Nase nach bergauf, talab zu wandern, sei ihm ein Gaul nur hinderlich und der Knappe überhaupt langweilig, und bestand darauf, allein zu reisen. Wenn es nötig sei, könne ihm ja der Ritter für den Rückweg ein Roß leihen, und vielleicht würde Diethelm ihn dann begleiten. Am dritten Tag abends versprach er zurück zu sein. Nur mit einem Jagdspieß vervollständigte er 39 diesmal seine gewohnte, aus Bogen und Weidmesser bestehende Ausrüstung, ließ sich auch vom Schatzmeister einen Zehrpfennig geben, und so zog er den andern Tag in aller Frühe, als kaum die letzten Sterne verglommen waren, fröhlich von dannen, natürlich geradenwegs zu Ragnars Höhle. Rotraut kam ihm, trotz der frühen Stunde, im Wald entgegengesprungen und machte große Augen über seinen kriegerischen Aufzug. Roland, eine ernste Miene aufsetzend, erklärte ihr, daß er heute nicht lange bleiben könne, sondern weiter an die Grenze des Landes eilen müsse, wo ein großer Bär die Herden angefallen habe, den er mit einigen Jägern verfolgen und erlegen wolle. Dem Mädchen traten die Tränen in die Augen und eine Weile, während Roland lebhaft schilderte, wie die gefährliche Jagd anzustellen wäre, trippelte sie stumm und traurig an seiner Hand neben ihm her.

»Roland,« sagte sie auf einmal, indem sie schüchtern zu ihm aufsah, »ich werde mit dir gehen.«

»Aber was dir einfällt,« entgegnete der Knabe polternd, »du hast doch keinen Begriff davon, wie es bei solchen Unternehmungen hergeht. Einmal ist der Weg sehr weit, dann wird es vielleicht tagelang im wilden Walde nichts zu essen geben, außer Wurzeln und Früchten, ja, wir werden gewiß recht hungern müssen, und geschlafen wird, wenn überhaupt, so nur ein paar Stunden unter freiem Himmel.«

»O, das macht mir nichts,« versetzte Rotraut lebhaft; »als ich mit Vater Ragnar herwanderte, haben wir auch viele Nächte im Freien geschlafen und sind lange, beschwerliche Wege gelaufen. Wenn ich auch abends 40 todmüde war, morgens war ich immer wieder munter. Ich halte viel aus, ich gehe mit dir, bitte, laß mich mit. Ich werde dir einen großen Korb voll Erdbeeren suchen, während du auf das Untier lauerst, und wenn du schläfst, werde ich bei dir wachen und dich gleich wecken, wenn sich was rührt.«

Roland küßte sie lachend und verriet ihr nun, daß er ganz im Gegenteil drei volle Tage bei ihnen bleiben werde.

Da tanzte die Kleine laut jubelnd um ihn her, daß ihr das Röckchen hüpfte und die Locken flogen, und voll Munterkeit liefen sie zum Hirten, um ihm die Freudenbotschaft zu verkünden. Der lobte Roland voll Rührung für seinen wackeren Entschluß, und wie genossen nun die Kinder den schönen, sonnigen Tag im seligen Bewußtsein, sich nicht trennen zu müssen.

Den Hauptspaß aber gab es abends, als Ragnar sich anschickte, für Roland ein Lager aus guten, unbenützten Fellen in der Höhle zu bereiten, und als sie sich dann nach dem einfachen Mahle und einer behaglichen Plauderstunde in der sinkenden Dämmerung zur Ruhe begaben. Noch lange blieben die Kinder wach und flüsterten, nebeneinander liegend, leise mitsammen, lauschten dem tiefen Brausen des Flusses unten im Tal und dem Nachtwind, der sacht ans Gesträuch vor der Höhle rührte, und sahen den Mondschein mit silbernen Fingern durch die Zweige langen und seltsame Figuren auf den hellen Sandboden zeichnen. Süß entschlummerten sie endlich und träumten glücklich einem neuen Tage zu, den sie ganz ihr eigen wußten.

Als Roland am Morgen erwachte, rieb er sich erstaunt 41 die Augen und konnte sich erst gar nicht zurecht finden. Auch Rotraut war sehr verblüfft, ihn neben sich zu erblicken; um so größer war nun die Freude, da ihnen alles wieder klar wurde.

Ein wundervoller, strahlender Tag war über ihnen aufgegangen. Ragnar, der sich schon in früher Dämmerung bei seiner Herde beschäftigt hatte, kam herein und wünschte ihnen fröhlich einen guten Morgen.

Munter standen sie auf, wuschen sich draußen an der Quelle, kleideten sich an und verzehrten dann im hellen Schein der Morgensonne auf der Wiese ein köstliches Frühstück. Da der Tag so herrlich war und die klaren Gipfel unwiderstehlich zum Wandern lockten, schlug Roland vor, einen Ausflug auf den Roßstein zu unternehmen, einem nahen Berg, der seine Umgebung um ein bedeutendes überragte und an dessen Abhang die Trümmer einer geschleiften Räuberburg grauten. Rotraut klatschte entzückt in die Hände und auch Ragnar willigte ein, die Kinder ziehen zu lassen, und gab Roland in einer Umhängtasche Wegzehrung und beiden viele gute Ratschläge mit. Er mahnte sie, sich im Wald nicht zu verlaufen, auf die Schlangen im Gestrüpp achtzuhaben, nicht erhitzt zu trinken, keine Tollkirschen zu essen und schließlich vor Einbruch der Dämmerung wieder da zu sein.

Sie versprachen, alles genau zu beobachten und machten sich bald mit großer Freude auf den Weg. Am Fuß des Berges angelangt, rasteten sie eine Weile, stiegen dann langsam durch den hohen, schattenkühlen Wald empor und erreichten gegen Mittag die alte Burg. Nachdem sie alle Gräben, Trümmer und Gewölbe durchklettert und durchkrochen hatten, setzten sie sich unter die 42 uralte, breitschirmende Burglinde, die vor dem verfallenen Tor neben dem Brunnen stand, und verzehrten da ihren Imbiß, zu welchem Roland aus der kühlen Tiefe des Brunnenschachtes mittels des noch vorhandenen Schöpfrades einen frischen Trunk heraufseilte.

Die Sonne stand im Zenit. Es war glühend heiß. Blaudunstig ruhten die Wälder in den Gründen, weit hinaus lag das Land in flimmernder Schwüle. Am Horizont lagerten, hoch aufgeballt und wunderlich gestaltet, blendend weiße Wolkengebirge. Das Zirpen der Heupferdchen und Grillen schwirrte eintönig durch die reglose Mittagsstille, und dumpfschläfernd summten die Bienen um den blühenden Lindenwipfel, der süßen Duft verbreitete. Klugäugige, grünschillernde Eidechsen schlüpften übers verwitterte Gemäuer oder lagen still in der Glut. Hohl starrten die leeren Fensterbogen ins tiefdunkle Blau hinaus.

Der müden Rotraut fielen schon fortwährend die Augen zu, und auch Roland fühlte sich schlafbedürftig. Er entrollte seinen Mantel, und die beiden Kinder streckten sich hin, um ein wenig im Lindenschatten zu schlummern. Als sie erwachten, war das Licht der Sonne getrübt, denn eine weißliche Dunstschicht hatte den ganzen Himmel überzogen. Eine beklemmende Schwüle lastete, beide waren in Schweiß gebadet. Hoch waren die Wolkenberge aufgeschwollen, und grell hoben sich ihre schneeigen, vielfach gewellten Kuppen und Gipfel von dem düstern Bleigrau der jäh emporragenden, von finsteren Schluchten zerfurchten Wände ab.

Im reglosen Lindenwipfel summten die Bienen fort. Manchmal grollte es dumpf in der Ferne. Rotraut 43 erschrak. »Es kommt ein Gewitter,« sagte sie, bang hinausstarrend, »laß uns nach Hause eilen, Roland!«

Der aber war für keine Wetterangst zu haben. »Es zieht nach Süden hinunter,« erwiderte er. »Siehst du, wie sich das Gewölk langsam dahin bewegt. Und die Schwalben fliegen turmhoch. Wir haben nichts zu fürchten. Komm, wir wollen rasch den Gipfel erklimmen. Es sind kaum tausend Schritte hinauf, und von da oben muß man einen herrlichen Rundblick haben bis weit in fremde Länder hinein. Wir werden es uns nie verzeihen, wenn wir uns von ein paar drohenden Wolken abschrecken ließen, unser Ziel zu erreichen.«

Sie erhoben sich. Roland rollte den Mantel ein, ergriff seinen Speer und schritt den Pfad voraus, der längs des Waldsaumes an einem verfallenen Wartturm vorbei zum Gipfel führte. Rotraut folgte, ab und zu besorgt nach der Wolkenbank zurückblickend. Je höher sie kamen, um so unermeßlicher öffnete sich der Ausblick. Roland jubelte. Das Wetter schien sich wirklich zu verziehen. Schwärzlich hing es in die jenseitigen Gebirge nieder, als wäre es auf ihren Felsgipfeln festgefahren. Träge Nebelschwaden krochen aus den Schluchten empor. Hier und da zuckte ein rötlicher Schein über die Wolken hin, und eine Weile darauf murrte es wie ein Löwe im Traum. Aber gegen Abend war es hell, und auf den Höhen dorthin lag der Sonnenschein.

Den Gipfel des Berges bildete eine ungeheure, wunderlich geformte Felsmasse, deren höchster Block eine mächtige, wie von Gigantenfäusten dahingelegte Platte trug, so daß er einem Tisch ähnlich war. Der Sage nach sollten hier 44 alte Völker ihren Göttern Rosse geopfert haben, daher der Name Roßstein.

Krüppelige Kiefern, mit den Wurzeln in die Spalten des regenverwaschenen Gesteines verklemmt, streckten ihre schwarzgrünen Zweige breitfächerig empor. Volle Buchenwipfel umwoben in halber Höhe die grauen Steine und überfluteten den ganzen Berghang wie ein Schwall grüngoldener Wogen, die sich im Lufthauch manchmal silberig aufkämmten.

Über ausgetretene Felsstufen führte der Pfad empor und brachte die jungen Wanderer bald auf einen runden Grasplatz, der in den Felsen gebettet lag, von den höheren Blöcken und dem Steintisch überragt.

Ganz außer Atem waren die Kinder hier angelangt. Die Gewitterdrohung, die ihnen im Rücken hing, hatte sie doch zur größten Eile angetrieben.

»Sieh da!« rief Rotraut, indem sie verwundert mit dem Finger auf die Mitte des Platzes hinzeigte.

Da stand ganz einsam über dem kurzen Berggras eine hohe Pflanze mit schwertförmigen Blättern, die in einer großen, feuerfarbenen Blüte gipfelte.

Roland lief hin und sah ihr erstaunt in den glühenden Kelch hinein, aus dem goldgelbe Staubfäden wie ein Krönlein mit ausgebogenen Spitzen hervorsahen.

»Laß sie stehen!« mahnte Rotraut scheu herzutretend. »Sie ist unheimlich, als wär' sie verzaubert.«

»Eine Feuerlilie,« erklärte Roland. »Ich weiß, daß die hier auf den Bergen um diese Zeit blühen, aber ich hab' noch nie eine gefunden.«

Auch er wagte nicht, die seltsame Blume zu berühren. Wieder irrte ein heller Schein über die Wipfel hin, und 45 vernehmlicher grollte der Donner. Ein banges Silberzittern ging durchs Laub.

Roland sprang die Felsblöcke hinauf und stand hoch auf der Steinplatte. »Komm herauf!« rief er nach Rotraut zurück. »Da liegt die ganze Welt einem wie eine Landkarte zu Füßen, daß einem das Herz stillstehen möchte vor der Unendlichkeit. Wie herrlich das ist!«

Vorsichtig kletterte das Mädchen nach, und sich ängstlich an Rolands Ärmel festhaltend, blickte sie um sich.

»O, die ungeheuren Wälder!« sagte sie mit erschrockenen Augen. »Das ist zum Fürchten!«

»Und sieh' dort weit im Land draußen, wo die Wälder aufhören, das helle Band des gewundenen Stromes. Und wo es sich fern in Duft verliert, die nebelblauen Türme einer großen Stadt!« rief der Knabe voll Entzücken.

»Und die weiten, weiten, lang hingestreckten Höhen da drüben,« deutete Rotraut. »Mir ist's, als wären wir da hergekommen.«

»Das muß Böhmen sein,« versetzte Roland.

Nun wendeten sie sich herum. Das Wetter hing noch immer am Gebirge fest. Aber die Gipfel waren schon alle tief verhangen, und finster braute es in die Klüfte hinein. Oben hatte sich das Gewölk gelöst und griff mit ein paar riesigen Schattenarmen in den lichten Himmel hinauf.

»Es kommt nicht,« beteuerte Roland. »Sieh nur die großen Schneeberge im Süden. Welch eine prächtige, endlose, leuchtende Zackenreihe! Wie wundervoll sich ihre glitzernde Klarheit unter den niederhängenden, mausgrauen Wolkenbänken abhebt, die das Gewitter 46 vorschiebt. Und dazwischen der helle Luftstreifen; welch eine Verklärung!«

»Sie sind so nahe, daß man sie greifen könnte,« meinte Rotraut. »Und schau' nur das riesige, fürchterliche Wolkengesicht an, wie ein bärtiger Mann mit finsterer Stirn und geschlossenen Augen. Jetzt streift es mit dem Bart über den hohen Gipfel hin, der wie ein verschneites Dach aussieht. Und dort das Ungeheuer, das den Hals emporstreckt wie ein Drache.«

»Oder wie ein Kamel, das unter einer Last niederbricht,« versetzte Roland. Da leuchtete das bärtige Gesicht in rotgoldenem Schein auf.

Das Mädchen fuhr zusammen und klammerte sich an seinen Arm.

»Das war schrecklich,« flüsterte sie. »Das war ganz die Farbe der Lilie da unten. Glaubst du nicht, daß die aus einem Blitz entsprossen sein könnte?« Und wieder mahnte der Donner langrollend herüber und verlor sich mit einigen polternden Schlägen im Geklüft.

»Komm, laufen wir hinunter,« drängte Rotraut. »Es ist so unheimlich hier oben vor dem Gewitter.«

Noch einmal kehrte sich Roland um und ließ seine begeisterten Blicke über die ganze Rundschau gleiten. Mit Mühe zog ihn das Mädchen endlich herab. Als sie über den Rasenfleck gingen, neigte sich die Feuerblume leise, schwankend, ein paarmal nach ihnen hin. Hastig zog Rotraut den Knaben vorüber. Nun sprangen sie eilig den Abhang hinunter und ließen die alte Burg rechts von sich liegen. Erst als sie auf dem Wege anlangten, der ein Stück eben längs des Berges im Wald führte, hemmten sie ihren Lauf und schritten ruhiger fort. Der 47 Bergrücken und die hohen Wipfel entzogen ihnen den Ausblick aufs Wetter. Über ihnen hing der Himmel voll grauweißer Wolkenschäfchen. Sie kamen wieder ganz fröhlich ins Plaudern.

Im Wald war eine dumpfe, dichte Stille. Die Bäume starrten hinauf, als erwarteten sie etwas Schreckliches, und rührten sich nicht. Es war, als sträube sich das Laub an den Zweigen. Die Luft lastete beklemmend und war gespannt zum Bersten. Manchmal glaubte man, leises Knistern zu hören. Dazu wurde es immer finsterer.

Die Kinder verstummten und beschleunigten ihre Schritte. Der Wald lichtete sich. Bald mußten sie auf der Wiese sein, von der aus man noch einmal so schön zwischen den Buchenreihen zur Burg zurücksah und wo der Weg dann sich um den Berg wendend, steil zu Tal fiel.

Da begann es sich oben in den Wipfeln leise rasselnd zu regen. Ab und zu klatschte ein schwerer Tropfen durchs Laub nieder. »Horch, es regnet schon!« sagte Rotraut innehaltend.

»Nur ein leichter Schauer,« beruhigte Roland. »Es wird gleich vorbei sein. Vielleicht sollen wir ihn hier im Wald abwarten.« Damit sprang er voraus, um nach dem Himmel zu sehen. Als er unter den letzten Bäumen auf die Wiese vortrat, blieb er wie versteinert stehen.

Schwefelgelbes, welliges Gewölk trieb pfeilschnell am Himmel her, graue, tiefhängende Nebelfetzen flogen voraus, einer jagte oben über die Burgruine hin und streifte ihren verfallenen Giebel. Den Berg herauf schwoll ein 48 dumpfes Brausen, wie Meeresbrandung. Schon bogen sich die Wipfel am Rande in mächtigen Windstößen, wie Wellenschlag sprang es von einem zum andern, silberschimmernd floh das Laub vor dem Sturm, die Stämme ächzten und knarrten, krachend schlugen die Kronen zusammen, und Äste stürzten nieder.

Roland riß das Mädchen, das erschreckt am Waldsaum stand, zu sich auf die Wiese hinaus. Jetzt fuhr ein stahlblauer Blitz in riesigem Zucken über ihnen her, knatterndes Krachen zerriß grell die Luft, und während der Donner noch in dröhnenden Schlägen das Tal hinabrollte, schoß ein blendend roter Strahl mit betäubendem Knall vor ihnen in den Wald. In weißlichen Schwaden jagend, brauste der Regen heran, das ganze Firmament schien in fahrenden Flammen auseinander zu brechen, der Orkan stürzte sich mit Zentnerlasten in die Wipfel, die sich duckten und wieder aufschnellten und wie in Verzweiflung mit den zerrissenen Zweigen wirbelnd in den lodernden Lüften rangen. Tausend Donner tobten, brüllten, knatterten, krachten und polterten rollend durcheinander, als hätte der Himmel eine ungeheure Ladung von Felsblöcken über sein tönendes Gewölbe hingeleert. Weinend barg Rotraut ihr Köpfchen an Rolands Brust, der ratlos um sich starrte. Da in der höchsten Not erblickte er oben am Hügelsaum einen Hüttengiebel. Das Mädchen an der Hand nachzerrend, lief er hinauf, so schnell er konnte. Es war ein Köhlerhäuschen, und unter dem schützenden Vordach, von dem der Regen troff, stand der Köhler und sah besorgt in den grauenvollen Aufruhr hinaus.

Roland bat ihn um Unterstand. Der Mann sah die 49 beiden verwundert an und, die Tür öffnend, wies er sie schweigend in die Stube. Dort saß sein Weib am niederen Fenster und sah schreckenbleich hinaus. Ein Hündlein duckte sich mit eingezogenem Schweif unter die Ofenbank und knurrte, als die Kinder eintraten. Das Weib nickte ihnen zu, lud sie ein, sich hinzusetzen und klagte, daß sie solch ein Donnerwetter noch nicht erlebt habe. Verschüchtert schmiegten sich die Kinder aneinander, und es ward nur wenig gesprochen. Ein greller Blitz machte sie zusammenfahren.

Ein Augenblick tiefer Stille folgte ihm, und es knackte irgendwo, als spränge ein Funken über. Der Hund lief mit gesträubtem Haar hinaus. Dann raste der Donner los. Das Weib stand auf und trat ängstlich zur Tür. »Was gibt's?« fragte sie den Mann, der ihr entgegentrat.

»Ich glaub', es hat droben in den Roßstein eingeschlagen,« erwiderte dieser und sah Roland forschend an.

Das Wetter ließ nach. Die Blitze wurden seltener, und schwächer rollte der Donner. Nur manchmal noch schlug ein Nachzügler dröhnend auf. Eintönig trommelte der Regen nieder.

Rotraut ging ans Fenster und streichelte eine graue Katze, die schnurrend auf der Bank saß. Dann ließ sie sich mit der Frau in ein Gespräch über einen Zeisig ein, der zwitschernd in seinem Käfig von Stange zu Stange hüpfte.

»Ich sollt' Euch kennen, junger Herr,« sagte der Köhler, indem er Roland nochmals aufmerksam betrachtete. »Mir ziemt, ich hätt' Euch schon einmal wo gesehen. War es nicht drüben im Schloß, voriges Jahr, als man den Gedenktag des Fürsten beging? Seid Ihr nicht am Ende . . . .?« 50

Roland legte errötend den Finger auf den Mund. Der Mann räusperte sich und schwieg.

»Mir scheint, der Regen hört auf,« sagte Roland nun, sich erhebend und an die Tür tretend. Wirklich rieselte es nur mehr schwach vom grauen Flor nieder, der jetzt öde den Himmel überspannte.

Er mahnte Rotraut zum Aufbruch, und seinen Mantel auseinanderrollend, hing er ihn ihr um die Schulter. Sie wollte abwehren, sie sei das Naßwerden gewohnt. Er aber litt es nicht. Nun verabschiedeten sie sich dankend von den guten Leuten, und der Köhler ging ein Stück mit, um ihnen eine Wegabkürzung ins Tal zu weisen. Als er schied, wunderte sich Rotraut, daß er vor ihrem Gefährten einen gar so devoten Bückling machte.

Sie stiegen nun hinunter. Die Wege waren aufgeweicht. Trübe Bächlein quollen über den Hang herab, triefnaß schlug ihnen das hohe Gras an die Beine. Ringsum blitzte und donnerte es noch oft. Schnell brach die Dämmerung herein.

Draußen über der Ebene war der Himmel an mehreren Stellen brandrot. An einer sah man eine ungeheure Rauchsäule aufsteigen und Flammen züngeln. Und Rotraut behauptete sogar, der Wind hätte einen Augenblick das Gebrüll des Viehs herübergeweht. Es war, als wäre Krieg übers Land gegangen.

Das Mädchen war müde. Roland mußte ihr mühsam über die steilen, schlüpferigen Abhänge herunterhelfen. Nur langsam konnten sie ihren Weg fortsetzen, den die Dunkelheit und der ausgestandene Schreck unheimlich machten. Einmal glaubte Rotraut, im Gebüsch ein häßliches Gesicht zu sehen. 51

Häufig zuckten noch die Blitze übers verwehende Gewölk, und nahe rollte manchmal der Donner zurück. Je finsterer es wurde, desto grausiger leuchteten in der Ferne die Brandröten auf. Bei völliger Nacht langten sie endlich, durchnäßt und todmüde, in Ragnars Höhle an, der sie mit tausend Sorgen erwartet hatte. Er hatte ein Feuer auf dem Herd entzündet, hieß sie die feuchten Kleider ablegen und sich in Linnen trocknen, und labte sie mit heißem Sud würziger Kräuter.

Nachdem sie ihre Erlebnisse erzählt hatten, schliefen sie bald ein, und Rotraut hielt die ganze Nacht Rolands Hand fest.

Der folgende Tag war trüb und grau. Feuchte Nebelschwaden krochen aus den schwarzen Wäldern empor, hingen zäh an den Gipfeln, rissen sich los und blieben wieder hängen.

Schwere Wolkenmassen schoben sich niedrig am Himmel her. Die Kinder hatten keine Lust zu spielen und saßen meist traurig beisammen, die Hände einander um die Hüften gelegt.

Ragnar bemühte sich, sie mit Liedern und Erzählungen zu erheitern, aber auch ihm fielen heute nur traurige Dinge ein. Sie sprachen vom Winter. Ragnar sagte, er hätte in der Nähe eine geräumige Höhle gefunden, wo er seine ganze Herde bequem unterbringen könne. Daneben wolle er ein Blockhaus bauen, und da wollten sie behaglich hausen. Ob Roland auch im tiefen Schnee und an den kurzen Tagen manchmal zu ihnen herüberkommen würde? Der bejahte es, aber es lag ein schmerzlicher Zweifel in seiner Beteuerung. Rotraut sah mit bangen Augen zu ihm auf. Gegen Mittag wurde es lichter. Die Sonne 52 brach sogar einmal trostvoll durch und ließ einen goldigen Schein flüchtig über die Hügel streifen. Nach dem Mahl gingen die Kinder ins Tal hinab, wo der angeschwollene Fluß trübe Fluten an den Ufern hinwälzte. Als sie da standen und in die gurgelnden Wasser blickten, auf denen Äste und Laub kreisend trieben, umschlang das Mädchen Roland und brach in Tränen aus. »Jetzt ist alles wieder aus!« schluchzte sie. »O, wär's doch erst gestern!« Roland suchte sie zu trösten, aber ihm selbst stand das Weinen näher als das Lachen.

Langsam stiegen sie wieder den Hügel hinauf. Oben hörten sie Ragnar singen. Es war eine traurige Melodie. Leise, um ihn nicht zu stören, traten sie herzu. Er saß, ihnen abgewendet, auf dem gewohnten Stein und sang:

»Wolkenblei wälzt der Regenwind.
Herr Rother reitet durchs Holz geschwind.

Da am Waldessaum,
Gegen's Dämmerlicht wie ein böser Traum,

lumpenumflattert der dürre Leib,
reckt sich – was ist's? – ein Zigeunerweib.

»Halt, Herr Rother! Weist mir die Hand.
Schon manchem las ich, was drinnen stand.

Einen Pfennig drauf!« – Der Ritter lacht.
»Ja, aus Geld wird das Schicksal gemacht!«

»Herr Rother, Ihr gehrt, was Euch nicht gehört.«
Ein Windstoß tief in die Wipfel stört.

Grimm lacht der Ritter. »Dein Wissen ist aus?
So gut sag' ich selbst mir das Gestern voraus!« 53

»Ein Schilling drauf! – Ha, süßer Schein!
Reit' zu, Herr Rother! Sie ist allein.

Ein Taler drauf! – Das lockt und blitzt!
Ich weiß, wer heut' nacht viel Schönes besitzt . . . .

Ein Goldstück drauf! –
                                      Dem Sperber, der raubt,
schlägt schwarz ein Rabe die Flügel ums Haupt.«

Auffährt der Ritter in Schreck und Zorn,
Aufstöhnt das Roß unterm Eisensporn.

»Hexe!« – Die birgt den Goldfuchs schnell,
Auflodert ihr Lachen so flammengrell. –

Vor ziehenden Wolken ein schwarzer Koloß
türmt sich ragend Herrn Burgharts Schloß.

Ein Fenster ist licht. Eine Hand schneeweiß
schwingt dreimal das flammende Reis.

Das Gartenpförtlein ist angelehnt,
Wie dumpf der Wind in den Pappeln stöhnt!

Und als der Hahn zum erstenmal kräht,
ist's nicht das Tor, das leise geht?

Und als der Hahn zum zweitenmal kräht,
Herr Burghart im Gemache steht.

Überm Gebirge flammt Morgenglut,
weißes Linnen tränkt heißes Blut.

Ist der Himmel vor Scham so rot?
Ausreitet Herr Burghart bleich wie der Tod.

Hinter ihm dröhnt ins Schloß das Tor,
Raben wirbeln vom Turm empor.

Auf der Höhe kehrt er sich stumm
noch einmal nach seinem Schloß herum. 54

Aus dem Schlafgemach
zuckt ein Feuerarm, langt aufs Dach,
rund um den Turm
schlägt die rote Fahne der Wirbelsturm,
hoch stößt in den Wolkenraum
von Rauch ein funkenblühender Baum,
in knatternden Flammen
krachen die Giebel zusammen . . . .«

Als er sich umsah und die Kinder erblickte, schwieg er betroffen still.

Auch Roland kostete der Abschied heute heiße Tränen. Er schwur, am nächsten Morgen gewiß wieder da zu sein, und eilte beklommenen Herzens heimwärts.

Es war unglücklich für Roland, daß der Junker Diethelm, den er besuchen zu wollen vorgegeben hatte, eben an diesem Tage, auf einem Zug an den Hof eines ihm verwandten Grafen, bei der Fürstenburg vorübergeritten war und dort vorgesprochen hatte. So erfuhr Phyleus, der ihm die Abwesenheit der Herrschaft meldete, daß sein junger Fürst gar nicht bei ihm gewesen sei. Diese Mitteilung verwunderte indes den Alten nicht so sehr. Rolands Benehmen und häufige Ausfahrten waren ihm längst nicht recht geheuer vorgekommen, und die Vermutung, daß hinter der auffälligen Energie und Ausdauer, mit der sie unternommen wurden, ein mächtigerer Beweggrund als das Weidwerk stecken mußte, war ihm schon manchmal aufgestiegen. Auch schien sie dadurch bestätigt, daß der Prinz fast nie mehr eine Beute heimbrachte oder ein erlegtes Wild, das zu schleppen ihm mühsam oder unmöglich war, im Walde holen ließ, wie er es früher gepflogen. Er beschloß daher, das Rätsel zu erforschen, und machte sich des andern Tags auf Rolands Spur, 55 als dieser frühmorgens seine gewohnte Wanderung angetreten hatte. Es fiel ihm schwer genug, dem leichtfüßigen Knaben auf seinen Wegen über Stock und Stein heimlich zu folgen, ohne ihn dabei gänzlich aus den Augen zu verlieren. Doch gelang es ihm schließlich, sein Zusammentreffen mit Rotraut und später auch, nach langer, vorsichtiger Pürsche, die ganze Schäferidylle auf dem Hügel zu erspähen. Um den Schauplatz besser und ungestörter überblicken zu können, begab er sich auf einem weiten Umweg über den Fluß auf die andere Seite des Tales, wo er sich Ragnars Höhle gegenüber befand. Auf der Suche nach einem Punkt, der ihm freie Beobachtung und gleichzeitig Schutz vor Entdeckung gewährte, traf er auf jenen Felsen, der, von den Wasserfällen umgeben, über die Schlucht aufragte, wo die Kinder zu baden pflegten. Hier lauernd, sah er diese gegen Mittag ins Tal heruntereilen, den Fluß überschreiten und dann längs des Baches heraufkommen. Schon wollte er entfliehen, als er bemerkte, wie die Kinder sich harmlos anschickten, in den hellen Fluten Erfrischung zu suchen. Der Lärm, den sie gewohntermaßen hierbei vollführten, und das Brausen der Gewässer gestattete ihm, den Badenden, durch Gestrüpp verborgen, bis auf wenige Schritte zu nahen. Rechtzeitig entwich er dann wieder und kletterte auf den Felsen zurück, von wo aus er die beiden zum Hügel kehren sah. Hier harrte er aus, bis er gegen Abend sah, daß Roland den Heimweg antrat, auf dem ihn Rotraut ein Stück begleitete.

Wie von ungefähr kam er dann als ein müder Wanderer über Ragnars Weideplatz geschritten, begrüßte den 56 Hirten freundlich und bat ihn, sich erschöpft neben ihm niederlassend, um eine geringe Labung.

Er fragte nach Ragnars Herkommen und zeigte sich einigermaßen bekannt in dessen früherem, länderweit von hier entferntem Aufenthalt.

Während sie noch plauderten, kam Rotraut vom Wald zurück. Auch sie begrüßte Phyleus freundlich und sagte zum Hirten, was er doch für ein niedliches Töchterchen habe. Dieser erklärte ihm nun, das Mädchen wäre nicht sein Kind, er hätte es von einer Bäuerin überkommen, die, von einer Seuche dahingerafft, es ihm sterbend anvertraut habe. Das sei nun ungefähr zwei Jahre her. Die Seuche, die arg in jener Gegend gewütet, habe ihn von dort vertrieben. So sei er, wandernd auf der Suche nach guten Weideplätzen, vor einiger Zeit hierhergekommen und habe sich da, weil ihm die stille, wenig bevölkerte Gegend gefiel und ihm von anderen Hirten versichert wurde, daß in diesem Lande gut und sicher wohnen sei, niedergelassen, beabsichtige auch, sich hier, des Schweifens müde, einen festen Wohnplatz zu gründen. Phyleus fragte ihn im Verlauf des Gespräches noch manches über seine früheren Zustände, und wie er das Mädchen der Seuche entrissen habe. Auch nach dem Namen der Verstorbenen fragte er. Ragnar erzählte, die Bäuerin sei eine junge Witwe, eine zarte blasse Frau gewesen, die nicht so ausgesehen hätte, als wäre sie bei der Feldarbeit aufgewachsen. Viel eher hätte man sie für ein Edelfräulein halten können. Übrigens wäre Rotraut ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

Eine Zeitlang, bevor sie starb, habe er in der Nähe 57 ihres Hofes mit ihrer Erlaubnis aufgetrieben, und da sei Rotraut schon oft zu ihm hinaus gekommen und bei ihm gesessen.

Eben dieses Gehöft sei lange von der Seuche verschont geblieben. Aber ein Wanderer müsse sie eingeschleppt haben, und eines Morgens, als er die Milch, die er für die Überlassung der Weide täglich abgegeben, wieder hinbrachte, habe er die Hofleute erkrankt und die Bäuerin selbst sterbend gefunden. Wenige Stunden darauf sei sie verschieden, und auch das ganze Gesinde sei der Seuche erlegen. Viele Dörfer und Gehöfte seien damals dort gänzlich ausgestorben. Er verdanke seine und Rotrauts Rettung wunderbaren Heilmitteln, die er besitze.

Phyleus bemühte sich, dem Mädchen schön zu tun und mit ihr zu scherzen. Aber es zeigte eine seltsame Scheu vor ihm und starrte ihn immerfort mit angstvoll geweiteten Augen an.

Dankend verabschiedete er sich schließlich von dem Alten und ihr und ging seiner Wege.

Spät abends kam der Fürst zurück. Phyleus hatte noch eine lange Unterredung mit ihm. Den folgenden Tag blieb Roland um seinen Vater. Rotraut wußte, daß er nicht kommen würde, daher brauchte er sich nicht um sie zu sorgen.

Der alte Fürst schien in sonderbarer Erregung, und Roland glaubte manchmal, seine Augen voller Tränen zu sehen. Auch entging es ihm nicht, daß mit Phyleus und dem Kastellan Beratungen gepflogen wurden. Eine Unruhe kam über ihn, die sich steigerte, als man ihn den ganzen nächsten Tag unter allerlei Vorwänden im Hause hielt. 58

Am andern Morgen aber sehr früh, als noch alles im Schlosse schlief, erhob er sich, kleidete sich wie gewöhnlich zur Jagd, weckte den Torwart und eilte hinaus. Ein unerklärliches Unbehagen hemmte seine Schritte und beflügelte sie zugleich. Als er mit Sonnenaufgang zu Ragnars Hügel kam, sah er weder Rotraut noch den Hirten, noch vernahm er das eifrige Gebell des Hundes um die Herde. Diese weidete zerstreut ringsum, und einige Stücke hatten sich weit ins Tal verlaufen. Jäh erschrak er. Seine Knie zitterten. Kaum trugen sie ihn noch bis zur Höhle. Dort fand er Ragnar mit zerwühltem Bart, zerrissenen Kleidern und verstörtem Antlitz am Boden sitzen. Als er des Knaben ansichtig wurde, brach der Alte in lautes Weinen und Wehklagen aus. Und der arme Roland erfuhr in irren, durch häufiges Schluchzen unterbrochenen Reden folgendes:

Am vorhergehenden Abend sei Ragnar, wie sonst, auf dem Hügel gesessen, und Rotraut, tiefbetrübt, daß er nicht gekommen war, habe am Waldsaum ihr Lieblingsschäfchen mit Blumen geschmückt. Der Hund, der schon tagsüber eine seltsame Unruhe gezeigt und manchmal gegen den Wald hin angeschlagen habe, sei plötzlich aufgesprungen und knurrend mit gesträubtem Haar zu ihr hingelaufen. In diesem Augenblick wären auf einmal zwei bewaffnete Reiter aus dem Dickicht hervorgebrochen, und einer habe die schreiende Rotraut erfaßt und zu sich in den Sattel geschwungen. Wütend sei Fingal die Reiter angefallen und habe sogar das Pferd des einen zu Fall gebracht. Da habe ihn dieser mit einem Spieß durch und durch gestochen, und ehe Ragnar nur recht wußte, was geschah, seien die Räuber mit dem Mädchen 59 verschwunden gewesen. Ragnar sei ihnen nachgeeilt, so weit ihre Spur zu verfolgen war. Dann sei er zu einem benachbarten Hirten gelaufen und mit diesem die ganze Nacht, bei allen Hütten und Höfen fragend, umhergeirrt und eben vollkommen erschöpft von seiner erfolglosen Suche zurückgekehrt.

Wie gelähmt von Schreck und Schmerz hörte Roland die aufgeregte Erzählung des jammernden Alten, und eine Weile verharrte er in dumpfem Hinbrüten. Dann sprang er auf. Zornesröte flammte in seinen tränenden Augen, und in fliegender Hast sprach er zum Hirten.

»Ich schwöre dir, nicht eher zu ruhen und zu rasten, bis ich Rotraut den frechen Räubern entrissen habe, und koste es mein Leben. Ich habe dir bis jetzt verschwiegen, wer ich bin. Ich bin der Sohn des Fürsten dieses Landes. Komme mit mir zu meinem Vater. Er ist ein guter, gerechter Mann; wenn er uns angehört hat, wird er uns Jäger und Reisige geben, und wir werden reiten, bis wir Rotraut gefunden haben.«

Diese Erklärung aber schien den Alten nur in größere Verzweiflung zu stürzen. Er überhäufte Roland mit Vorwürfen, daß er ihm so lange verschwiegen, wer er sei. Schließlich ließ er sich aber doch bewegen, mit ihm zur Fürstenburg zu gehen.

Es erregte Aufsehen genug, als die beiden dort eintrafen und Roland den Hirten zu seinem Vater führte. Dieser schien von Ragnars Klage tief erschüttert, und häufig entstürzten Tränen seinen Augen. Er versprach, alles zu tun, was in seiner Macht stünde, und schickte nach einer Beratung mit Phyleus und dem Kastellan mehrere Reiter nach verschiedenen Richtungen aus. 60 Ragnar bat er, ein Häuschen in der Nähe der Burg von ihm anzunehmen und sich da niederzulassen. Der aber wollte nichts davon wissen und ohne Säumen auf seinen Platz zurückkehren, indem er sagte, daß das arme Mädchen, falls es ihr gelingen würde, zu entfliehen, sich am ehesten dorthin finden würde.

Wehe Tage vergingen nun für Roland in banger Erwartung, Reiter um Reiter kam zurück. Keiner hatte eine Spur von der Geraubten gefunden. So sehr der Knabe bat und flehte, man möge ihn selbst ausziehen und suchen lassen, es wurde ihm nicht gestattet.

Ja, der Fürst verbot ihm strenge, die Burg zu verlassen, indem er vorgab, daß die Gegend von Räubern unsicher sei. Auch anderwärts wäre ein Kind geraubt worden.

Roland durfte sich höchstens einmal im Garten tummeln, und auch da fand er sich nie unbewacht.

Die Langeweile suchte man ihm dadurch zu vertreiben, daß man ihn wieder zum Lernen anhielt, was der Fürst sonst nur in den Wintermonaten geschehen ließ.

Die schöne Jahreszeit über war er bisher, die Stunden ausgenommen, da ihn der Burgvogt im Reiten und Fechten unterwies, immer frei gewesen. Und während der letzten Wochen war er nicht einmal damit in seinem Herumschweifen und den Besuchen bei Ragnar und Rotraut gestört worden. Jetzt aber mußte er wieder den ganzen Morgen beim Hofkaplan sitzen, einem hageren, grauhaarigen Mann mit furchiger Asketenmiene, den Roland haßte, weil er es trefflich verstand, ihm den Ovid und Sallust durch grammatikalische Regelquälereien zu verleiden, und außerdem hinter seinem waldfrohen 61 Freiheitsdrang und seiner träumerischen Zerstreutheit immer allerlei Missetaten und bedenkliche Anlagen witterte.

Nun, da er von Rolands Umgang mit dem Hirtenmädchen erfahren hatte, war er ganz besonders strenge und peinigend, folterte den Knaben mit Verdächtigungen und Verhören und behandelte ihn überhaupt wie einen schweren Sünder. Roland fiel es auf, daß der Kaplan, der sonst nur selten beim Fürsten erschien, jetzt häufig geheimnisvolle Unterredungen mit diesem hatte. Der Fürst las ihm manchmal, nach der Tafel am Fenster stehend, mit leiser Stimme Briefe vor, dann sprachen sie heimlich zusammen, und Roland fühlte es, daß er der Gegenstand ihrer Verhandlungen war. Auch fanden im Arbeitsgemach des Fürsten öfters Beratungen statt. Einmal, als er sich eben in den Garten begeben wollte, sah er den Fürsten, mit Phyleus und dem Kaplan ins Gespräch vertieft, die Treppe heraufkommen. Mit raschem Entschluß sprang er zurück, schlüpfte ins Zimmer des Vaters und verbarg sich dort hinter einer hohen Truhe, die im Winkel stand. Bald darauf traten die drei ein. Der Fürst setzte sich, erhob sich wieder und schritt erregt auf und ab.

»Glaubt es mir, gnädigster Herr,« begann der Kaplan, indem er salbungsvoll eine Hand in der anderen drehte, »Ihr habt dem Knaben viel zu viel Freiheit gelassen. Er ist gänzlich verwildert, und ich fürchte, seine Seele hat schon schweren Schaden gelitten, zumal im Verkehr mit diesem Hirten und seinem Mädchen. Ich kenne dieses Volk. In den Hirten steckt meist noch der ganze altheidnische Irr- und Aberglaube, und ihr wildes Leben 62 in der freien Natur, die ja seit dem Sündenfall der ersten Menschen in all ihren Trieben böse ist, erhält sie bei allerlei verruchten Gebräuchen und Unsitten. Die Lieder, die sie singen, sollte besser kein Christenohr hören, und ich begreife es nicht, wie der große römische Kaiser deutscher Nation sogar befehlen konnte, daß man diese heidnischen, oft sehr unsittlichen Gesänge sammle und aufschreibe. Und was schließlich das Dirnlein angeht, das der Alte bei sich hatte –«, fügte er, die Augen zum Himmel drehend, hinzu, und bemerkte nicht, daß Phyleus ihn flehend ansah, und der Fürst, der bisher ungeduldig auf und ab geschritten war und zu seinen Ausführungen manchmal spöttisch gelächelt hatte, nun stehen blieb und finster die Stirne runzelte – »nun,« fuhr er mit einem Seufzer fort, »man weiß ja leider, wie gut solche Kinder schon in Dingen Bescheid wissen . . . . .«

»Genug!« fiel ihm der Fürst unwirsch in die Rede. »Lassen wir das. Wir haben Wichtigeres zu besprechen. Ich habe Euren Rat befolgt und dem Abt von St. Georgen geschrieben. Hier ist seine Antwort,« – und er zog ein Pergament aus dem Pult und reichte es dem Kaplan. »Mein Reiter hat sie gleich mitgebracht und rechtfertigt sein langes Ausbleiben damit, daß die Abfassung des Briefes drei volle Tage gedauert hätte. Nun, schnörkelhaft genug ist Schrift und Rede, und der Bursch wird sich's, während die zierlich aufgemalt wurde, bei manchem Schöpplein Klosterwein haben wohl sein lassen. Kurz, der Abt teilt mir umständlich mit, daß er bereit sei, Roland in die Klosterschule aufzunehmen. Er würde gehalten werden wie alle andern Scholaren, unter denen sich viele von Adel befänden, und müsse auch die geistliche Tracht 63 tragen. Vier Jahre solle er dort bleiben und jedes zweite Jahr drei Wochen Vakanz haben. Ich denke, damit ist genug getan,« sprach der Fürst und sank seufzend in einen hohen Stuhl.

»Dann,« fuhr er nach einer Weile des Nachsinnens fort, »will ich ihn an den herzoglichen Hof schicken. Ich hab's mir überlegt: ich werde nachgeben. Die Heirat bietet doch auch für ihn große Vorteile und außerdem –« er hielt für einen Augenblick inne – »ist es mir auch aus anderen Gründen erwünscht, wenn er bald unter die Haube kommt. Späte Ehen sind mit noch größerer Gewißheit von Übel – ich hab's erfahren . . . .« setzte er dumpf hinzu.

»Gewiß,« begann der Kaplan wieder, »wenn auch der heilige Stand der Ehe nicht der vollkommenste ist, so muß man doch jedem Jüngling, der nicht so glücklich ist, zu Höherem berufen zu sein, raten, sich möglichst früh in denselben zu begeben, auf daß der Teufel . . . .«

»Verspart Euch den Sermon auf nächsten Sonntag, hochwürdiger Herr,« unterbrach ihn der Fürst. »Auf Wiedersehen morgen mittag! Nächste Woche sollt' Ihr dann Roland nach St. Georgen begleiten. Und noch eines: Ich wünsche, daß die Sonntagspredigt vor Beginn der Messe und nicht erst nach dem Evangelium gehalten werde. Ich schlafe besser im Bett als auf den unbequemen Kirchenstühlen.«

Der Kaplan verneigte sich und schlürfte hinaus.

Der Fürst stand auf. »Phyleus,« sagte er, »komm, ich muß nach den neuen Pferden sehen. Hast du Nachricht von den Reisenden?« 64

»Nur die, daß sie richtig übergeben wurde,« entgegnete dieser, »doch dürften sie jetzt bald in Italien anlangen.«

Der Fürst seufzte.

»Seid beruhigt, gnädigster Herr,« versetzte Phyleus, »sie wird in den besten Händen sein.«

»O, Phyleus,« meinte der Fürst im Hinausgehen, »wenn wir damit nur nicht das Unheil vollendet haben!«

Als ihre Schritte auf dem Gang verhallt waren, sprang Roland aus seinem Versteck hervor. Er war blaß, seine Lippen preßten sich aufeinander, seine Augen funkelten. Schon während der Rede des Kaplans hätte er sich fast nicht mehr bezwungen und wäre dem Salbaderer, der seine süße, unschuldige Rotraut ein verderbtes Dirnchen schalt, am liebsten an die Gurgel gesprungen. Nun stand er und überlegte.

Sein Schmerz um die Geraubte, seine Empörung über die Art, wie er jetzt behandelt wurde, alles, was ihn die ganzen Wochen her zu Tode gequält hatte, kam nun, nach Erlauschung dessen, was man mit ihm plante, zum vollen Sieden und nötigte ihn zu einem Entschluß, den er schon längere Zeit im Herzen zweifelnd hin und her gewälzt und hauptsächlich deshalb nicht ausgeführt hatte, weil er für seine Wanderpläne keine Richtung und kein Ziel wußte. Das schien jetzt plötzlich gegeben. Es wurde ihm auf einmal bedeutungsvoll, daß ein Diener, der Phyleus' Tochter zur Frau hatte, mit dieser ungefähr seit Rotrauts Raub verschwunden war. Sollte der Fürst die zwei mit den »Reisenden« gemeint haben?

Blitzschnell fuhren ihm die Gedanken durch den Kopf, 65 kreuzten und verknüpften sich ohne Wirrnis. Er trat zu einem Schrank, in welchem der Vater unter mancherlei alten Erinnerungen auch einige Kostbarkeiten aufhob. Den öffnete er und steckte nach einigem Wählen ein paar Schmuckstücke zu sich. Das mochte mit dem Zehrpfennig, den er noch seit der Wanderung auf den Roßstein besaß, fürs erste ausreichen. Nun schlüpfte er, nachdem er vorsichtig an der Tür gehorcht hatte, hinaus und ging an seine gewohnten Beschäftigungen.

Als er abends dem Fürsten eine gute Nacht wünschte, zitterten seine Lippen, und der Kuß, den er dem Vater auf die bärtige Wange drückte, war inniger als sonst. Er begab sich in sein Schlafgemach und wartete dort, bis alles im Hause still war. Dann nahm er Hut und Mantel, gürtete sein Weidmesser um, schlich hinab und durch die Pforte in den Garten. Diesen durcheilte er bis an eine Stelle, wo eine Fichte außen vom Felsen an der Mauer aufragte.

Rasch hatte er die Mauer erklettert und stand auf der Brüstung. Er hielt mit klopfenden Pulsen inne und holte tief Atem. Dann duckte er sich und wagte den Todessprung.

Einen Augenblick schwebte er an den tiefgebogenen Fichtenzweigen zwischen Himmel und Erde. Bald aber faßte er in den stärkeren Ästen Fuß, stieg dann vorsichtig nieder und glitt am Stamm herab. Nun stand er auf dem Felsen über der gähnenden Tiefe. Der Mond schien hell. Er biß die Zähne aufeinander und kroch längs der Mauer auf dem handbreiten Felsenband bis zu einer Stelle, wo einige Sträucher standen. An diesen ließ er sich wieder herab und so fort in steter Todesgefahr 66 von Strauch zu Strauch, von Kante zu Kante. Endlich stand er unten auf dem Hügel. Aufatmend sah er nach den Sternen.

Erst überlegte er, ob er zu Ragnar laufen solle. Doch schien ihm dieser Umweg nutzlos und gefährlich. Den Hügel hinabspringend, schlug er durch das Flußtal den Weg nach Süden zum Gebirge ein. 67

 


 


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