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Ein Mann, der Geld zu verlieren hatte, und vermuthlich auch Geld zu verlieren verstand, den die Geschichte Kriton nennt, soll die Unkosten getragen haben unsern Bildhauer in einen Sophisten zu verwandeln. Wer der etymologischen Mine seines Namens traut, wird diesen Anschlag einem weitsehenden Urtheil, ein leichtgläubiger Schüler der täglichen Erfahrung hingegen einem blinden Geschmack an Sokrates zu schreiben.
Die Reyhe der Lehrmeister und Lehrmeisterinnen, die man dem Sokrates giebt, und die Kriton ohne Zweifel besolden muste, ist ansehnlich genung; und doch blieb Sokrates unwissendκινδυνευομεν, ω Μενων, εγω τε και συ φαυλοι τινες ειναι ανδρες, και σε τε Γοργιας, ουχ ικανως πεπαιδευκεναι και εμε Προδικος. Sokrates in Platons Menon.. Das freche Geständniß darin war gewissermassen eine Beleidigung, die man aber dem aufrichtigen Klienten und Kandidaten scheint vergeben zu haben, weil sie auf ihn selbst am schwersten zurück fiel. Das Loos der Unwissenheit und die Blöße derselben macht eben so unversöhnliche Feinde als die Überlegenheit an Verdiensten und die Schau davon. War Sokrates wirklich unwissend, so muste ihm auch die Schande unwissend seyn, die vernünftige Leute sich ergrübeln, unwissend zu scheinen.
Ein Mensch, der nichts weiß und der nichts hat, sind Zwillinge eines Schicksals. Der Fürwitzige und Argwöhnische zeichnen und foltern den ersten als einen Betrüger; wie der Gläubiger und Räuber den letzten, unterdessen der Bauerstolz des reichen Polyhistors beyde verachtet. Eben daher bleibt die philosophische Göttin des Glücks eine bewährte Freundinn des Dummen, und durch ihre Vorsorge entgehen die Einfälle des Armen den Motten länger als blanke Kleider und rauschende Schlafröcke, als die Hypothesen und Formeln der Kalender-System- und Projektmacher der Stern- und Staatsseher.
Sokrates scheint von seiner UnwissenheitAlcibiades in Platons Symposio. so viel geredt zu haben als ein Hypochondriaker von seiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Übel selbst kennen muß um einen Milzsüchtigen zu verstehen und aus ihm klug zu werden; so gehört vielleicht eine Sympathie der Unwissenheit dazu von der sokratischen einen Begrif zu haben.
Erkenne dich selbst!Kritias in Platons Charmides. sagte die Thür jenes berühmten Tempels allen denen, die hereingiengen dem Gott der Weisheit zu opfern und ihn über ihre kleinen Händel um Rath zu fragen. Alle lasen, bewunderten und wusten auswendig diesen Spruch. Man trug ihn wie der Stein, in den er gegraben war, vor der Stirn, ohne den Sinn davon zu begreifen. Der Gott lachte ohne Zweifel unter seinen güldenen Bart, als ihm die küzliche Aufgabe zu Sokrates Zeiten vorgelegt wurde: Wer der weiseste unter allen damals lebenden Menschen wäre? Sophokles und Euripides würden nicht so grosse Muster für die Schaubühne, ohne Zergliederungskunst des menschlichen Herzens, geworden seyn. Sokrates übertraf sie aber beyde an Weisheit, weil er in der Selbsterkenntnis weiter als jene gekommen war, und wuste, daß er nichts wuste. Apoll antwortete jedem schon vor der Schwelle; wer weise wäre und wie man es werden könne? jetzt war die Frage übrig: Wer Sich Selbst erkenne? und woran man sich in dieser Prüfung zu halten hätte? Geh, ChärephonΧαιρεφων η νυκτερις Aristoph. Ορνιθες – – Σωκρατης ο Μηλιος και Χαιρεφων, ος οιδε τα ψυλλων ιχνη. Id., lern es von Deinem Freunde. Kein Sterblicher kann die Achtsamkeit und Entäusserung eines Lehrmeisters sittsamer treiben, als womit Apoll seine Anbeter zum Verstande seiner Geheimniße gängelte. Alle diese Winke und Bruchstücke der ältesten Geschichte und Tradition bestätigen die Beobachtung, welche Paulus und Barnabas den Lykaoniern vorhielten, daß Gott auch unter ihnen sich selbst nicht unbezeuget gelassen, auch ihnen vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegebenApostelgesch. XIV.. Mit wie viel Wahrheit singt also nicht unsere Kirche:
Wohl uns des feinen HErren!
Ein sorgfältiger Ausleger muß die Naturforscher nachahmen. Wie diese einen Körper in allerhand willkührliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen; so macht es jener mit seinem Texte. Ich habe des Sokrates Sprüchwort mit der Delphischen Überschrift zusammen gehalten; jetzt will ich einige andere Versuche thun, die Energie desselben sinnlicher zu machen.
Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen, gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar. Wenn die Schlange der Eva beweiset: Ihr werdet seyn wie Gott, und Jehova weissagt: Siehe! Adam ist worden als Unser einer; wenn Salomo ausruft: Alles ist eitel! und ein alter Geck es ihm nachpfeift: so sieht man, daß einerley Wahrheiten mit einem sehr entgegen gesetzten Geist ausgesprochen werden können.
Überdem leidet jeder Satz, wenn er auch aus einem Munde und Herzen quillt, unendlich viel Nebenbegriffe, welche ihm die geben, so ihn annehmen, auf eben die Art als die Lichtstrahlen diese oder jene Farbe werden nach der Fläche, von der sie in unser Auge zurück fallen. Wenn Sokrates dem Kriton durch sein: Nichts weiß ich! Rechenschaft ablegte, mit eben diesem Worte die gelehrten und neugierigen Athenienser abwieß, und seinen schönen Jünglingen die Verleugnung ihrer Eitelkeit zu erleichtern, und ihr Vertrauen durch seine Gleichheit mit ihnen zu gewinnen suchte: so würden die Umschreibungen, die man nach diesem dreifachen Gesichtspunkte von seinem Wahlspruche machen müste, so ungleich einander aussehen, als bisweilen drey Brüder, die Söhne eines leiblichen Vaters sind.
Wir wollen annehmen, daß wir einem Unbekannten ein Kartenspiel anböthen. Wenn dieser uns antwortete: Ich spiele nicht; so würden wir dies entweder auslegen müssen, daß er das Spiel nicht verstünde, oder eine Abneigung dagegen hätte, die in ökonomischen, sittlichen oder andern Gründen liegen mag. Gesetzt aber ein ehrlicher Mann, von dem man wüste, daß er alle mögliche Stärke im Spiel besässe und in den Regeln so wohl als verbotenen Künsten desselben bewandert wäre, der ein Spiel aber niemals anders als auf den Fuß eines unschuldigen Zeitvertreibes lieben und treiben könnte, würde in einer Gesellschaft von feinen Betrügern, die für gute Spieler gelten, und denen er von beyden Seiten gewachsen wäre, zu einer Parthey mit ihnen aufgefordert. Wenn dieser sagte: Ich spiele nicht, so würden wir mit ihm den Leuten ins Gesicht sehen müssen, mit denen er redet, und seine Worte also ergänzen können: » Ich spiele nicht, nämlich, mit solchen als ihr seyd, welche die Gesetze des Spiels brechen und das Glück desselben stehlen. Wenn ihr ein Spiel anbiethet; so ist unser gegenseitiger Vergleich den Eigensinn des Zufalls für unsern Meister zu erkennen, und ihr nennt die Wissenschaft eurer geschwinden Finger Zufall, und ich muß ihn dafür annehmen, wenn ich will, oder die Gefahr wagen euch zu beleidigen, oder die Schande wählen euch nachzuahmen. Hättet ihr mir den Antrag gethan mit einander zu versuchen, wer der beste Taschenspieler von uns in Karten wäre; so hätte ich anders antworten, und vielleicht mitspielen wollen, um euch zu zeigen, daß ihr so schlecht gelernt habt Karten machen, als ihr versteht die euch gegeben werden nach der Kunst zu werfen.« In diese rauhe Töne läßt sich die Meynung des Sokrates auflösen, wenn er den Sophisten, den Gelehrten seiner Zeit, sagte: Ich weiß nichts. Daher kam es, daß dies Wort ein Dorn in ihren Augen und eine Geissel auf ihren Rücken war. Alle Einfälle des Sokrates, die nichts als Auswürfe und Absonderungen seiner Unwissenheit waren, schienen ihnen so fürchterlich als die Haare an dem Haupte Medusens, dem Nabel der Egide.
Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung. Zwischen Empfindung aber und einen Lehrsatz ist ein grösserer Unterscheid als zwischen einem lebenden Thier und anatomischen Gerippe desselben. Die alten und neuen Skeptiker mögen sich noch so sehr in die Löwenhaut der sokratischen Unwissenheit einwickeln; so verrathen sie sich durch ihre Stimme und Ohren. Wissen sie nichts; was braucht die Welt einen gelehrten Beweis davon? Ihr Heucheltrug ist lächerlich und unverschämt. Wer aber so viel Scharfsinn und Beredsamkeit nöthig hat sich selbst von seiner Unwissenheit zu überführen, muß in seinem Herzen einen mächtigen Wiederwillen gegen die Wahrheit derselben hegen.
Unser eigen Daseyn und die Existentz aller Dinge ausser uns muß geglaubtΔει γαρ πιστευειν τον μανθανοντα. Aristoteles περι σοφιστικων ελεγχ lib. 1. cap. 2. und kann auf keine andere Art ausgemacht werden. Was ist gewisser als des Menschen Ende, und von welcher Wahrheit gibt es eine allgemeinere und bewährtere Erkenntnis? Niemand ist gleichwol so klug solche zu glauben, als der, wie Moses zuverstehen giebt, von Gott selbst gelehrt wird zu bedenken, daß er sterben müsse. Was man glaubt, hat daher nicht nöthig bewiesen zu werden, und ein Satz kann noch so unumstößlich bewiesen seyn, ohne deswegen geglaubt zu werden.
Es giebt BeweiseΔυο ειδη θωμεν πειθους, το μεν πιστιν παρεχομενον ανευ του ειδεναι (πειθους πιστευτικης) το δε επιστημην (πειθους διδασκαλικης) Sokrates in Platons Gorgia. von Wahrheiten, die so wenig taugen als die Anwendung, die man von den Wahrheiten selbst machen kannEin Philosoph laß über die Unsterblichkeit der Seelen so überzeugend, daß seine Zuhörer vor Freuden Selbstmörder wurden, wie uns Lactanz erzählt. Augustinus de Civit. Dei I. 22. ,Cic. Tusc. Quaest. I. 39.; ja man kann den Beweiß eines Satzes glauben ohne dem Satz selbst Beyfall zu geben. Die Gründe eines Hume mögen noch so triftig seyn, und ihre Wiederlegungen immerhin lauter Lehnsätze und Zweifel: so gewinnt und verliert der Glaube gleich viel bey dem geschicktesten Rabulisten und ehrlichsten Sachwalter. Der Glaube ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angrif derselben unterliegen; weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen.
Die Beziehung und Übereinstimmung der Begriffe ist eben dasselbe in einer Demonstration, was Verhältnis und Symmetrie der Zahlen und Linien, Schallwürbel und Farben in der musikalischen Composition und Malerey ist. Der Philosoph ist dem Gesetz der Nachahmung so gut unterworfen als der Poet. Für diesen ist seine Muse und ihr Hieroglyphisches Schattenspiel so wahr als die Vernunft und das Lehrgebäude derselben für jenen. Das Schicksal setze den grösten Weltweisen und Dichter in Umstände, wo sie sich beyde selbst fühlen; so verleugnet der eine seine Vernunft und entdeckt uns, daß er keine beste Welt glaubt, so gut er sie auch beweisen kann, und der andere sieht sich seiner Muse und Schutzengel beraubt, bey dem Tode seiner Meta. Die Einbildungskraft, wäre sie ein Sonnenpferd und hätte Flügel der MorgenrötheFidei hoc cum crepusculo commune obtigit, quod ad utrumque tenebrarum admixtio necessaria sit, quum alias copiosiori accedente luce, illa in scientiam, hoc in diem transeat. Quaedam mysteria – in quibus Fides intellectui felicius facem praeferre soleat – quam hic ad procreandam fidem viam munire. Rob. Boyle Cogitationes de S. S. Stylo., kann also keine Schöpferinn des Glaubens seynSocrates im Phädro..
Ich weiß für des Sokrates Zeugnis von seiner Unwissenheit kein ehrwürdiger Siegel und zugleich keinen bessern Schlüssel als den Orakelspruch des grossen Lehrers der Heyden:
Ει δε τις δοκει ειδεναι τι ουδεπω ουδεν εγνωκε καθως δει γνωναι Ει δε τις αγαπα τον ΘΕΟΝ ουτος εγνωται υπ αυτον.
So jemand sich dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll. So aber jemand Gott liebt, der wird von ihm erkannt1 Kor. VIII.. –
– – als Sokrates vom Apoll für einen Weisen. Wie aber das Korn aller unserer natürlichen Weisheit verwesen, in Unwissenheit vergehen muß, und wie aus diesem Tode, aus diesem Nichts das Leben und Wesen einer höheren Erkenntniß neugeschaffen hervorkeimenDans son propre neant il puise la sagesse. Poesies diverses. Epitre V. à d'Argens.; so weit reicht die Nase eines Sophisten nicht. Kein Maulwurfshügel, sondern ein Thurn Libanons muß es seyn der nach Damesek gaftHohelied Salom. VII. Apostelgesch. IX. 3. Kein Ort in der Welt kann eine so wunderbare Verbindung von Marmor und Unflat, von Grösse und Niedrigkeit aufweisen als Damaskus; sagt Maundrell in seiner Reisebeschreibung von Aleppo nach Jerusalem..
Was ersetzt bey Homer die Unwissenheit der Kunstregeln, die ein Aristoteles nach ihm erdacht, und was bey einem Shakesspear die Unwissenheit oder Übertretung jener kritischen Gesetze? Das Genie ist die einmüthige Antwort. Sokrates hatte also freylich gut unwissend seyn; er hatte einen Genius, auf dessen Wissenschaft er sich verlassen konnte, den er liebte und fürchtete als seinen Gott, an dessen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der Egypter und Griechen, dessen Stimme er glaubte, und durch dessen Wind, (wie der erfahrne Wurmdoctor HillLucina sine concubitu. uns bewiesen) der leere Verstand eines Sokrates so gut als der Schoos einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden kann.
Ob dieser Dämon des Sokrates nichts als eine herrschende Leidenschaft gewesen und bey welchem Namen sie von unsern Sittenlehrern geruffen wird, oder ob er ein Fund seiner Staatslist; ob er ein Engel oder Kobold, eine hervorragende Idea seiner Einbildungskraft, oder ein erschlichner und willkührlich angenommener Begrif einer mathematischen Unwissenheit; ob dieser Dämon nicht vielleicht eine Quecksilberröhre oder den Maschinen ähnlicher gewesen, welchen die Bradleys und Leuwenhoeks ihre Offenbarungen zu verdanken haben; ob man ihn mit dem wahrsagendem Gefühl eines nüchternen Blinden oder mit der Gabe aus Leichdornen und Narben übelgeheilter Wunden die Revolutionen des Wolkenhimmels vorher zu wissen, am bequemsten vergleichen kann: hierüber ist von so vielen Sophisten mit so viel Bündigkeit geschrieben worden, daß man erstaunen muß, wie Sokrates bey der gelobten Erkenntniß seiner Selbst, auch hierinn so unwissend gewesen, daß er einem Simias darauf die Antwort hat schuldig bleiben wollen. Keinem Leser von Geschmack fehlt es in unsern Tagen an Freunden von Genie, die mich der Mühe überheben werden weitläuftiger über den Genius des Sokrates zu seyn.
Aus dieser sokratischen Unwissenheit flüssen als leichte Folgen die Sonderbarkeiten seiner Lehr- und Denkart. Was ist natürlicher, als daß er sich genöthigt sahe immer zu fragen um klüger zu werden; daß er leichtgläubig that, jedes Meynung für wahr annahm, und lieber die Probe der Spötterey und guten Laune als eine ernsthafte Untersuchung anstellte; daß er alle seine Schlüsse sinnlich und nach der Ähnlichkeit machte; Einfälle sagte, weil er keine Dialectick verstandThrasymachus in Platons Buch von der Staatskunst. – – nihil ipse (Socrates) afferre ad persuadendum volebat, sed ex eo, quod sibi ille dederat, quicum disputabat, aliquid conficere malebat, quod ille ex eo, quod jam concessisset, necessario approbare deberet. Cicero de Inv. Rhet. Lib. I. – – Dum ad discendum semper se pauperem credidit, ad docendum fecit se locupletissimum. Valer. Max. Lib. VIII. Cap. 7.; gleichgültig gegen das, was man Wahrheit hieß, auch keine Leidenschaften, besonders diejenigen nicht kannte, womit sich die Edelsten unter den Atheniensern am meisten wusten; daß er wie alle Idioten, oft so zuversichtlich und entscheidend sprach, als wenn er, unter allen Nachteulen seines Vaterlandes, die einzige wäre, welche der Minerva auf ihrem Helm säße – – Es hat den Sokraten unsers Alters, den kanonischen Lehrern des Publicums und Schutzheiligen falsch berühmter Künste und Verdienste noch nicht glücken wollen, ihr Muster in allen süssen Fehlern zu erreichen. Weil sie von der Urkunde seiner Unwissenheit unendlich abweichen; so muß man alle sinnreichen Lesearten und Glossen ihrs antisokratischen Dämons über unsers Meisters Lehren und Tugenden als Schönheiten freyer Übersetzungen bewundern; und es ist eben so mislich ihnen zu trauen als nachzufolgen.
Jetzt fehlt es mir an dem Geheimnisse der Palingenesie, das unsere Geschichtschreiber in ihrer Gewalt haben, aus der Asche jedes gegebenen Menschen und gemeinen Wesens eine geistige Gestalt heraus zu ziehen, die man einen Charakter oder ein historisch Gemälde nennt. Ein solches Gemälde des Jahrhunderts und der Republik, worinn Sokrates lebte, würde uns zeigen, wie künstlich seine Unwissenheit für den Zustand seines Volkes und seiner Zeit, und zu dem Geschäfte seines Lebens ausgerechnet warParrhasius verfertigte, wie es scheint, ein hogarthsches Gemälde, welches das Publicum zu Athen vorstellen sollte, und wovon uns folgender Kupferstich oder Schattenriß in Plinius übrig geblieben: Pinxit & δημον Atheniensium, argumento quoque ingenioso. Volebat namque varium, iracundum, iniustum inconstantem: eundem exorabilem, clementem, misericordem, excelsum, gloriosum, humilem, ferocem, jugacemque & omnia pariter ostendere. Hist. Nat. Lib. XXXV. Cap. X.. Ich kann nichts mehr thun als der Arm eines Wegweisers und bin zu hölzern meinen Lesern in dem Laufe ihrer Betrachtungen Gesellschaft zu leisten.
Die Athenienser waren neugierig. Ein Unwissender ist der beste Arzt für diese Lustseuche. Sie waren, wie alle neugierige, geneigt mitzutheilen; es muste ihnen also gefallen, gefragt zu werden. Sie besassen aber mehr die Gabe zu erfinden und vorzutragen, als zu behalten und zu urtheilen; daher hatte Sokrates immer Gelegenheit ihr Gedächtnis und ihre Urtheilskraft zu vertreten, und sie für Leichtsinn und Eitelkeit zu warnen. Kurz, Sokrates lockte seine Mitbürger aus den Labyrinthen ihrer gelehrten Sophisten zu einer Wahrheit, die im Verborgenen liegt, zu einer heimlichen Weisheit, und von den Götzenaltären ihrer andächtigen und staatsklugen Priester zum Dienst eines unbekannten Gottes. Plato sagte es den Atheniensern ins Gesicht, daß Sokrates ihnen von den Göttern gegeben wäre sie von ihren Thorheiten zu überzeugen und zu seiner Nachfolge in der Tugend aufzumunternVergl. Platons Euthydemus, Alcibiad. δευτρον, Philebum, Protagoram, Kritian und Clitophon. . Wer den Sokrates unter den Propheten nicht leiden will, den muß man fragen: Wer der Propheten Vater sey? und ob sich unser Gott nicht einen Gott der Heyden genannt und erwiesen?