Friedrich Halm
Die Marzipan-Lise
Friedrich Halm

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Viele Stunden mochte sie in fieberhaftem Halbschlummer dagelegen haben, als von der Stadt her der Glockenschlag Mitternacht verkündete und sie gebieterisch ins Leben, in die Wirklichkeit zurückrief. Sie raffte sich mit der Entschlossenheit, die alle Erschöpfung überwindet, von ihrem Lager auf, langte nach ihrem Bündel und mit der Blendlaterne versehen, die sie schon früher auf ihren nächtlichen Wanderungen begleitet hatte, verließ sie ihr Stübchen. Auf der Schwelle stand sie still und blickte zurück in den friedlichen, trauten Raum des Gemachs, in dem sie heiter und sorglos, unberührt von allen Stürmen des Lebens, vom Kinde zur Jungfrau aufgeblüht war, als ob sie jetzt erst, da sie es verlassen sollte, empfände, was sie verließ! Aber Ferencz wartete ihrer, sie durfte nicht säumen! Sie schritt leise über den Gang hin, den nur der blasse Schimmer des von dichten Wolken halbbedeckten Mondes erhellte. An die Tür gekommen, die in das Gemach des Vaters führte, stockten ihre Schritte. Es war ihr, als öffnete sie sich, als träte seine hohe mannhafte Gestalt daraus hervor, sie zu fragen, was sie suche, wohin sie gehe? Aber es war nur der Wipfel des Lindenbaumes draußen im Garten, der seinen zitternden Schatten auf die Türe hinwarf, und sie mußte fort, denn Ferencz wartete. Sie war die Treppe hinabgeeilt und nun im Hofe angelangt, wehte ihr die frische Herbstluft erquickend und kräftigend entgegen. Sorgfältig den Schimmer der Laterne verbergend, schlüpfte sie, an den Wänden sich hindrückend, dem fernen Holzhofe zu; endlich war der Keller erreicht und pochenden Herzens öffnete sie mit den mitgebrachten Schlüsseln die Tür. Im Begriff die ersten Stufen hinabzusteigen, war es ihr, als ob ihr von unten, wo die Treppe zum untersten Geschosse sich hinabdrehte, ein Lichtschimmer entgegendränge. Was war das? Von Ferencz, der im Kellerstübchen eingeschlossen war, konnte das nicht kommen. Sollte ein Fremder in den Keller sich eingeschlichen haben? Hier war Vorsicht nötig! – Ihre Knie zitterten, aber Mut und Entschlossenheit verließen sie keinen Augenblick. Sie verlöschte das Licht der Laterne, damit sein Schimmer sie nicht verrate, und drückte sich hinter einen Pfeiler, zu erwarten, was da kommen würde. Aber es kam nichts; alles blieb still und stumm wie zuvor. Nach einer Weile streckte sie lauschend den Kopf hinter dem Pfeiler hervor; der Lichtschimmer war verschwunden und nur schwarze Finsternis glotzte ihr entgegen. Sollte jene Lichterscheinung nur Selbsttäuschung gewesen sein oder war die veranlassende Ursache derselben im unteren Kellergeschoß zu suchen? – Mit einem Male erfaßte sie eine niegefühlte Beklommenheit; ihre Pulse hämmerten, ihre Zähne klapperten aneinander; aber Ferencz harrte ihrer und wenn er etwa in Gefahr wäre – - diese Rücksicht überwog alle Bedenken und hastig stieg sie beiläufig die Hälfte der Treppe hinunter, als plötzlich dort, wo die Treppe zum untersten Geschoß hinabbog, sich wieder ein dämmernder Lichtschimmer zeigte, der eine weibliche Gestalt in dunklen Gewändern zu umfließen schien, die mitten auf der Treppe mit weit ausgebreiteten Armen ihr drohend und abwehrend entgegenwinkte. Rasche Flucht war bei diesem Anblick die erste Bewegung des zitternden, halb ohnmächtigen Mädchens, und schneller als sie hinabgestiegen, war sie die Stufen der Treppe wieder hinaufgeeilt. An der halb offenen Kellertür stand sie still; sie schämte sich ihrer Flucht und zweifelhaft, ob sie nicht wieder umkehren sollte, wendete sie sich atemlos, die Hand auf das krampfhaft zuckende Herz drückend, nach rückwärts und sah kaum, betroffen und erstaunt jenen Lichtschimmer abermals verschwunden, als er jetzt auch schon dicht vor ihren Füßen wieder aus dem Boden aufdämmerte und in seinem grauen Schimmer ein Weib vor ihr emportauchte, das, die welken, runzligen Züge grinsend verzerrt, mit stechenden, zornglühenden Augen sie anstarrte und, währen Czenczis Blicke wie magisch angezogen an der feuerfarbenen Schleife ihrer Flügelhaube und ihrem grellgelben Halstuche hafteten, aus dem schwarzen Halbmäntelchen dürre Hände mit gekrümmten, klauenähnlichen Fingern nach ihrem Halse streckte. – Da zuckte es wie ein Blitz durch Czenczis Seele! »Die Marzipan-Lise!« schrie sie gellend auf, sprang zum Keller hinaus, warf die Türe hinter sich zu, wankte taumelnd noch einige Schritte in den Hofraum hinein und brach dann dumpfächzend bewußtlos zusammen.

Zwei Knechte des Hauses, die sich in der Schenke verspätet hatten und lange nach Mitternacht auf Schleichwegen ihr Lager suchten, fanden die erstarrt und wie leblos Hingestreckte, erkannten sie mit namenlosem Erstaunen und trugen sie nach dem Hause zurück, wo alsbald, von dem Lärmen und Jammern der Mägde geweckt, Frau Margit herbeieilte und den ganzen Schatz ihrer Heilmittel an der Bewußtlosen versuchte, ohne sie jedoch aus ihrer todesähnlichen Betäubung erwecken zu können. Selbst die Kunst des mittlerweile herbeigeholten Arztes zeigte sich lange erfolglos, und erst gegen Morgen gelang es der sorgfältigsten Bemühung, in der Ohnmächtigen ein halbes Bewußtsein zurückzurufen, aber nur, um es sogleich wieder in den wilden Phantasien eines wütenden Fieberanfalls untergehen zu sehn. Dem Irrereden und dem ersten entsetzlichen Ausbruche unheimlicher Tobsucht folgte dann bald gänzliche Erschöpfung und dumpfes gedankenloses Hinbrüten, aus dem die Kranke nur, wenn das Gehämmer und Gepoche der Küfer vom Keller her ihr Ohr erreichte, in grauenvollen Zuckungen und krampfhaft ängstlichem Stöhnen emporfuhr, so daß Frau Margit alsbald den Küfern ihre Arbeit gänzlich einzustellen und den Keller zu schließen befahl. Als nun aber der Arzt gegen Abend achselzuckend erklärte, es unterliege keinem Zweifel mehr, daß Czenczi von einem in der Umgebung herrschenden, höchst bedenklichen und mörderischen Nervenfieber ergriffen sei, wurde unverzüglich Herrn Horváth ein reitender Bote nachgesandt, um ihn schleunigst an das Krankenlager seines einzigen Kindes zurückzurufen.

Als Horváth am vierten Tage nach dem Ausbruche der Krankheit wieder in Weßprim eintraf, fand er die Kranke eher schlimmer als besser, noch immer besinnungslos in dumpfer Betäubung daliegend, aus der sie aber regelmäßig gegen Mitternacht in peinlicher Unruhe erwachte, nach den Kellerschlüsseln verlangte, Miene machte, das Bett zu verlassen, und nur mit Mühe zurückgehalten werden konnte, bis sie dann, plötzlich mit einem lauten Angstschrei in sich zusammenbrechend, wieder in den früheren fieberhaften Halbschlummer zurücksank; dabei nahmen ihre Kräfte so sichtlich ab, und ihr Aussehen veränderte sich so auffallend, daß der Arzt nicht umhin konnte, den Zustand der Kranken als höchst bedenklich, ihre Rettung als sehr zweifelhaft zu bezeichnen.

So war die siebente Nacht seit dem Beginne der Krankheit herangekommen. Die Kranke hatte den Abend ruhiger als sonst zugebracht und lag in heftigem Schweiße. Hinter dem Wandschirme, der das Krankenbett umfing, kniete Herr Horváth, der die Erkrankung des geliebten Kindes in verzweifelndem Schmerze einzig und allein seiner lieblosen Härte zuschrieb, und betete brünstig um seine Erhaltung, während Frau Margit, erschöpft von den Anstrengungen sechs durchwachter Nächte, an Czenczis Bett eingenickt war. Es mochte Mitternacht sein, als die Kranke mit einem tiefen Seufzer die Augen aufschlug und erstaunt und wie allmählich sich besinnend umhersah. Als sie mühsam ihre Gedanken gesammelt hatte, versuchte sie sich aufzurichten, ein Versuch, der bei ihrer Kraftlosigkeit gänzlich mißlang und keine andere Folge hatte, als daß Frau Margit, durch denselben geweckt, emporfuhr und sich besorgt über sie hinbeugte. Wie froh erstaunt war die gute Alte, als sie den sonst trüb' und gläsern vor sich hinstarrenden Blick des lieben Auges ruhig und klar dem ihrigen begegnen sah, als es ihr leise von Czenczis entfärbten Lippen entgegentönte: »Base, liebe Base Margit!« In einen lauten Freudenruf ausbrechend, umarmte sie die geliebte Kranke; diese aber winkte ihr, zu schweigen. »Ihr müßt mir einen Dienst erweisen, Base,« flüsterte sie in unruhiger Hast ihr zu, »einen wichtigen Dienst! Ihr müßt mir in den Keller hinabsteigen!« – »Ach lieber Gott, nun redet sie wieder irre!« seufzte Frau Margit. – »Nein, ich rede nicht irre!« versetzte Czenczi, »ich weiß, was ich sage, und ich sage Euch, Ihr müßt vollbringen, woran mich gestern mein plötzliches Erkranken verhinderte! Ferencz ist im Kellerstübchen eingeschlossen; Ihr müßt ihn befreien!« – »Gestern? Du Unglückselige!« stammelte Frau Margit, bestürzt die Hände ringend – In diesem Augenblick wurde der Wandschirm zurückgeschoben und Horváth stürzte nicht minder entsetzt als Frau Margit aus seinem Versteck hervor. »Du barmherziger Gott, Ferencz im Kellerstübchen!« rief er und damit riß er die Kellerschlüssel von der Wand, schrie nach Licht und eilte mit einigen Knechten, die er schleunig geweckt hatte, dem Keller zu.

Es war ein gräßlicher Anblick, der sich ihnen darbot, als sie das Kellerstübchen betraten. Sein unglückliche Bewohner hatte an zwei Stellen die Wände desselben zu durchbrechen versucht und auch die innere Seite der Tür trug sichtliche Spuren der gewaltsamen Anstrengung an sich, mit der an der Öffnung derselben gearbeitet worden war. Erschöpfung schien den Verzweifelnden genötigt zu haben, seine fruchtlosen Bemühungen aufzugeben, denn man fand den Leichnam des unglückseligen Ferencz in seinem Blute schwimmend, auf dem Lager hingestreckt, das ihm von Czenczi zubereitet worden, und auf dem er, sei es, um seinen brennenden Durst mit seinem eigenen Blute zu stillen oder um den Folterqualen langsamen Verschmachtens in diesem Hungerturme durch raschen Tod zu entgehen, mit einem Taschenmesser sich die Adern geöffnet und in Verzweiflung und Entsetzen geendet hatte.

Czenczi war schon durch die überraschende Erscheinung des Vaters an ihrem Krankenlager und die unwillkürliche Einweihung desselben in ihr Geheimnis aufs tiefste erschüttert worden und hielt nur mit äußerster Anstrengung die Besinnung fest, zu der sie kaum wieder erwacht war. Als nun aber die unbedachte Geschwätzigkeit einer der Mägde ihr die Kunde von dem gräßlichen Ende des Geliebten hinterbrachte, stieß sie einen Schrei aus, geriet in furchtbare Zuckungen und Krämpfe und bald steigerte sich die Wut des Fiebers, in das sie zurückfiel, zu solcher Höhe, daß der Arzt jede Hoffnung aufgab und stündlich ihr Ende erwartete. Allein die Vorsehung hatte anders beschlossen. Horváth, hatte nun Kummer und Schrecken seine Gesundheit untergraben oder vergiftete sie sein hartnäckiges Verweilen am Krankenlager Czenczis, der starke, rüstige Horváth war es, der, von der Krankheit dieser letztern ergriffen, in wenig Tagen ihr erlag, während das schwache Mädchen nach mondenlangem Siechtum siegreich aus dem Kampfe hervorging, in dem sie unfreiwillig um den Preis ihrer Jugend und ihrer Jugendblüte das nackte Leben gewonnen hatte. Sich selbst als Mörderin des Vaters wie des Geliebten anklagend, verlebte sie die Tage des Winters in stillem, dumpfem Trübsinn, dem sie nur zeitweise die Sorge um Base Margit entriß, die, von übermäßigen Anstrengungen und verzehrender Gemütsbewegung erschöpft, nun ihrerseits zu kränkeln und sichtlich hinzuwelken begann. Mit dem herannahenden Frühjahr aber erwachte in Czenczis Seele der Wunsch, den Angehörigen des geliebten Ferencz einen Teil des reichen Besitzes zuzuwenden, den sie einst mit ihm zu teilen geträumt hatte. In der Hoffnung, über den ihr unbekannten Aufenthaltsort derselben vielleicht einige Andeutungen in Ferencz' Papieren zu finden, beschloß sie das Felleisen zu öffnen, das der Hingeschiedene in Base Margits Verwahrung zurückgelassen hatte. Ihre Erwartung wurde auch nicht getäuscht; in dem Felleisen fanden sich wirklich einige Papiere, die zwar auf den Namen Anton Lenhart lauteten, aber nichtsdestoweniger sich ganz entschieden auf Ferencz zu beziehen schienen; eines derselben war nämlich ein Schreiben von weiblicher Hand, womit Anton Lenhart in Beziehung auf eine frühere mündliche Verabredung aufgefordert wurde, nicht zu säumen, sich auf den Weg zu machen und die Straße über Grätz und Marburg nach Kroatien einzuschlagen, denn auf dieser werde er nicht verfolgt werden. Dieser Ermahnung waren einige Worte des Abschiedes und die Erklärung beigefügt, nach dem Vorgefallenen könne eine weitere Verbindung zwischen der Schreiberin des Briefes und dessen Empfänger nicht mehr bestehen; sie bäte ihn daher um Zurückstellung ihres Porträts, wie sie ihm hier das seine zurückstelle. Das dem Brief beiliegende Porträt zeigte aber unverkennbar Ferencz' Züge, der also früher den Namen Anton Lenhart geführt und sich in Steiermark aufgehalten haben mußte. Diese Umstände bewogen Czenczi, die aufgefundenen Papiere an Herrn Steidler, den Geschäftsfreund ihres Vaters, einzusenden und ihn um Auskunft über Anton Lenhart zu ersuchen, obwohl sie nur schaudernd des Mannes gedachte, der einst das furchtbare Bild der Marzipan-Lise ihrer Seele eingeprägt hatte.

Sie erhielt lange Zeit keine Antwort und immer schwerer und finsterer war der Trübsinn, der sich ihrer bemächtigte; immer nichtiger und eitler erschien ihr das Leben, das sie nur noch in Gebeten, Kasteiungen oder an dem Krankenbett der ihrer nahen Auflösung entgegeneilenden Frau Margit hinbrachte. Endlich kam die langerwartete Antwort des Herrn Steidler; in ihr Stübchen zurückgezogen, öffnete sie das Schreiben und durchflog begierig seinen Inhalt; aber bald begann sie so heftig zu zittern, daß die Blätter des Briefes in ihren Händen hin und her rauschten, und immer bleicher und verstörter wurden ihre Züge, je weiter sie las. Endlich hatte sie vollendet und nun warf sie unter einem Strome bitterer Tränen sich auf die Knie, um in heißer Inbrunst zu dem gerechten Richter zu beten, der sie zum willenlosen Werkzeuge seiner Rache gebraucht, der sie gezüchtigt und gerettet, der sie dunkle Wege, aber zum Lichte geführt hatte. Dann erhob sie sich, warf den empfangenen Brief und das Porträt, Ferencz', das sie von Herrn Steidler zurückerhalten hatte, ins Feuer und sah zu, wie die Flamme knisternd und knatternd es verzehrte. Denselben Abend verschied Frau Margit still und schmerzlos in Czenczis Armen. Der Tod hatte das letzte Band irdischer Neigung gelöst, das die Unglückliche noch ans Leben fesselte; sie sah darin einen Fingerzeig, sich allein und für immer Gott zuzuwenden. Am nächsten Morgen verschrieb sie ihre ganze reiche Habe dem Kloster der Cistercienserinnen im Tal zu Weßprim, in dem sie bald darauf den Schleier nahm, den Rest ihrer Tage in Gebet und Buße für das eigene Vergehen und für das Seelenheil des gerichteten Mörders hinzubringen, den die Menschen nicht erreicht, den aber Gott gefunden hatte.


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