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[Julie Bondeli]

Julie Bondeli

Julie Bondeli
Nach Pastell eines unbekannten Malers im Besitz von Mme. de Pury in Neuenburg

 

I.

Wir stehn in Bern zu Anfang der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Name des enthaupteten Verschwörers Samuel Henzi streift noch als blasser Schatten an den Stadttoren vorbei; ab und zu ertönen wieder aufrührerische Rufe, und kritische Schriften, die die aristokratische Regierung angreifen, werden geheim oder öffentlich verbrannt. Sonst aber ist Bern eine heitere, angenehm gestimmte Stadt von ungefähr 10 000 Einwohnern, umgeben von hübschen Alleen und von angeregtem innerm Leben. Das Pflaster ist allerdings holprig und die Straßen finster, aber laut Erkenntnis der Polizeikammer sollen zur allgemeinen Sicherheit die Lauben schon bald des Abends beleuchtet werden. In Stadt und Kanton führt das Wort, wie bekannt, ein exklusiv geschlossener Kreis von Patriziern, der sich die Bevormundung eines gutbürgerlichen Regimes bis zu einem gewissen Grade gefallen läßt oder sie trefflich zu umgehen weiß. Das öffentliche Leben erstreckt sich auf die Stunden des Tages; die Stunden der Nacht von 9 Uhr ab sind dem gesunden Schlaf, der Ordnung und Ruhe vorgezeichnet. Im Schützenhaus auf der Schützenmatte, wo die jungen Männer sich in Armbrust und Muskete üben, wird es laut Verordnung schon bald nach 7 Uhr still. Die Weinlokale schließen um 9 Uhr, und möchte jemand über diese Frist hinaus tanzen, so muß er eine spezielle Bewilligung einholen. Nach 9 Uhr abends hört man in den leeren, finstern Gassen Berns nur noch die gleichmäßigen, schweren Schritte der Wache; da und dort huscht wohl jemand mit einer Laterne über den Weg. Es gab leicht aufregende Szenen, wenn wieder ein kleinliches Sittenmandat vorlag oder jemand öffentlich Reden hielt gegen den Sittenverfall, welcher im letzten Grunde wider den eigentlichen Urheber, Frankreich, gerichtet war, und nur in zweiter Ordnung den Berner Aristokraten traf, der allerdings die Verstiegenheiten der herrschenden Mode ziemlich gedankenlos mitmachte. Untersagt waren die Reifröcke, die seidenen Kleider, der Schmuck, die Sonnenschirme. Selbstverständlich kümmerten sich die Patrizierinnen wenig um diese Vorschriften. Gerade die entzückenden Porträts aus dieser Zeit, wie das einer Marianne Fels, einer Madame von Frisching, Frau von Tavel und Madame Frédéric de Freudenreich, beweisen, wie hübsch man den Kleidermandaten ein Schnippchen zu schlagen wußte. Auch das Kartenspiel war verboten; aber es war bekannt, daß im Hause der Frau von Erlach von Spiez unten im Marzili sehr lebhaft Kartencercles abgehalten wurden. Man trank in Bern Bier, Mettwein, Hydromel, ein Gemisch der sauren Reben des Altenberg mit Honigsaft. Man traf sich auch sehr gern zu Kaffee und Kuchen in der Enge.

Wie auch bekannt, sprach man in Patrizierkreisen im alten Bern französisch, dachte deutsch, fühlte national-schweizerisch. Die jungen Militärs suchten ihre Ausbildung hauptsächlich in Frankreich, die hervorragenden Gelehrten und' Staatsmänner jedoch hatten an deutscher und holländischer Universität studiert. Mode, Lektüre, Manieren, Tanz, der Plauderton der Salonkonversation, schönfärberische leichte Sentimentalität, alles, was in den Bereich der Imagination gehörte, war von Frankreich herübergeholt. Deutsch war die Richtschnur der Gedanken, das tüchtige Wissen, der Zug zu Ordnung und Sicherheit des sittlichen Bestehens. National und spezifisch bernerisch das Naturell, ein Gemisch von Phlegma, natürlicher Frische und warmer Herzhaftigkeit, alles zusammen von einer gewissen Scheu und dem Sinn für persönliche Würde im Banne gehalten.

Sigmund Wagner nennt diese Zeit der anmutig geistreichen Oberfläche und des großen verborgenen Ernstes, »das goldene Zeitalter Berns«. Ein Kreis hervorragender, tüchtiger Männer von zum Teil großem Ruf rechtfertigt diese Bezeichnung. Beat von Muralt, der treffliche Autor der berühmten Briefe »Sur les Anglais et les Français" war allerdings in Colombier bereits gestorben. Aber Haller war wieder in Bern, saß einsam in seiner ungeheuren Bibliothek, wachte über der europäischen Wissenschaft, studierte und schrieb, seines Weltruhms ungeachtet und sicher. Auch von Bonstetten war da, der gescheite und feinsinnige Beobachter und Kritiker. Kirchberger amtete als Professor an der Universität, ebenso Wilhelmi, auch Pfarrer Stapfer war ein tüchtiger Kopf. Zu den Ausgezeichneten gehörte ferner Sinner von Ballaigues, der Stadtbibliothekar und Schriftsteller, dann Tschiffeli, der Stifter der Ökonomischen Gesellschaft, Samuel Schmidt, der Historiker und Altertumskundige; vorübergehend hatte auch Joh. Georg Zimmermann aus Brugg in Bern als Arzt praktiziert, und die Namen der Maler König und Freudenberger genossen eines breiten und wohlklingenden Rufes im ganzen Lande herum. Unser Auge, das beim liebevollen Rückblick auf entschwundene farbenreiche und sympathische Epochen, das Schönfärben liebt, stellt sich nun gerne vor, daß in den großräumigen, herrschaftlichen Landhäusern Berns und Umgebung diese stattlich geistreichen Menschen in ganzen Gruppen beisammen gewesen, wie auf einem hübschen Bilde, daß sie Tag um Tag in feinen Gesprächen aus- und eingegangen seien in den schöngeistigen Zirkeln, die sich da in den Stuben mit den buntbemalten Scheiben und den mächtigen Kachelöfen oder auf den Terrassen der großen Gärten zusammenfanden. Natürlich war dem nicht so. Außerordentliche Persönlichkeiten, wie z. B. ein Muralt, ein Haller, ein Zimmermann und auch eine Julie Bondeli sind in der großen Gesellschaft immer seltene Gäste, weil die ernste Arbeit, das Bemühen um das Wissen überall zur notwendigen Einsamkeit und Stille und zu sich selber zwingt.

Aber sonderbar. In Bern bewegten sich von jeher auch die größten Gestalten wie hinter einem Lichtschirm, auch trotz der Glorie eines europäischen Ruhmes. Es hat in Bern von jeher größerer Anstrengung gebraucht als vielleicht anderswo, um sich Geltung zu verschaffen. Traurig, melancholisch, seiner Vaterstadt mit heimlichem Widerstreben grollend, saß dereinst Haller in Göttingen, mit fremden Ehren überschüttet, und wartete heimwehkrank auf eine Ecke im bernischen Rat. Auch grollend und auch vom Heimweh geschüttelt, begehrt der im Kanton Bern nicht zu Ansehen und Geltung gelangte Zimmermann, nachdem er in Hannover Leibmedikus des Königs geworden, ungerechtfertigt bitter auf: »Solch sklavische Gemüter, wie es in Bern gebe, solch hündische Menschenfurcht, finde man in keinem monarchischen Staate.« Ein unsichtbarer, unerfaßbarer Druck, der mit Gut, Blut, Schicksal und Landschaft Berns zusammenhängt, muß Aufschluß über dessen Charakter, Grundstimmung und Haltung abgeben. –

Zürich, von der Landesregierung nicht belastet, am See und in der Niederung gelegen, ist von jeher behender, flüssiger, geschäftiger und vor allem nach außen wirksamer gewesen. Es war auch zu der Zeit des goldenen Zeitalters Berns der Sammelpunkt der geistigen Strömungen. Wohl stiegen in Bern, im Falken, berühmte Reisende ab, aber sie kamen gewöhnlich von Zürich her. Wohl war Muralt, der in seinen Briefen die schädlichen Einflüsse Frankreichs auf Geschmack, Sitten, Literatur, öffentliches Leben aufgezeigt hatte, ein äußerst geistvoller Berner gewesen; wohl fand Haller in ganz Europa jubelnde Unterstützung, als er in seinen begeisterten Lobgesängen der Alpen die Einfachheit, Trautheit, die reine Freude des Land- und Naturlebens pries und damit die Künstlichkeit und Ziererei des französischen Rokoko der Kritik preisgab. Aber es waren Bodmer und Breitinger in Zürich, zusammen mit Lessing, die treffsicher mit den französischen Einflüssen in der Literatur aufräumten, weil es ihnen eingefallen war, nicht bloß allgemein und dichterisch zu tadeln, sondern gegen den literarischen Diktator in Leipzig Sturm zu laufen. Es war auch der alte Bodmer in Zürich, der sich den Luxus gestattete, die jungen aufstrebenden Talente Deutschlands zu sich in die Ferien, in sein Haus in den Reben, einzuladen, und sie unter den lahmen Flügeln seines altmodischen Pegasus unterzubringen. Wohl erreichte Haller in Bern kurz vor seinem Tode eine hohe Auszeichnung: der Besuch Kaiser Josefs II., der allein ihm galt; aber in Zürich war vorher auf seiner ersten Schweizerreise der junge Goethe abgestiegen, ohne Bern zu berühren.

In der ganzen Schweiz waren zu dieser Zeit der Wende die auf Allgemeingültiges, auf Erziehung und Volkswohl, aber besonders auf literarische Interessen gerichteten Bestrebungen, sehr lebhaft. Wie uns eine spätere alte Subskriptionsliste für Goethesche Werke vermittelt, waren allein in Solothurn dreimal soviel Abonnenten wie in Berlin oder Wien. In Bern war man in der Stille wachsam und empfänglich. Die Männer waren belesen, gebildet, pflegten aufmerksam den Luxus guter Sitten und eine feine Lebensart, und naturgemäß gewann die Frau an Bedeutung dabei, zu der sich ihr Eifer für aufrichtiges Mitstreben gesellte. Da das Leben in ländlicher Zurückgezogenheit auf einen zwar angenehmen, aber zum Teil recht belanglosen Alltag hinauslief, so bildete die Ankunft der Post, der Briefe, stets eine wichtige und angenehme Unterbrechung. Man korrespondierte ja nach allen Richtungen, auch eifrig mit dem Ausland, und weil die Postwagen nur ein bis zweimal per Woche nach Zürich, Lausanne, Brugg fuhren, so war ein Brief ein Unternehmen und ihn zu empfangen ein Ereignis. Briefe sind überhaupt im 18. Jahrhundert ein mächtiger literarischer Faktor gewesen. Bei Madame de Staël in Coppet soll es sogar Sitte gewesen sein, sich allerhand belanglose Mitteilungen während des Essens in Briefform unter dem Tisch zuzustecken, und bei Madame de Charrière in Colombier wanderten Briefchen von einer Tür zur andern im selben Korridor. Man las sich eingetroffene Briefe vor, kopierte sie, schickte Originale oder Kopien an Freunde und Freundinnen im Lande herum und ließ sie weiterzirkulieren. Man diskutierte die Briefe, kritisierte sie, schöpfte Anregungen und Belehrung daraus. Es gab Menschen, wie z. B. Leuchsenring, der empfangene Briefe berühmter Persönlichkeiten in Schatullen auf allen seinen Reisen mit sich schleppte, um bei passender Gelegenheit damit aufzuwarten. Das setzt in diesen Kreisen Intimität, starke gemeinschaftliche Interessen, rege Teilnahme aller an einem und demselben Gegenstand voraus; aber auch der Charakter des Briefes selbst war dazu angetan, daß er zum Gemeinbesitz einer ganzen Gruppe, zum Tauschobjekt eines lebhaften Mitteilungsbedürfnisses werden konnte.

 

Im Juni 1759 steigt im Falken in Bern, das Manuskript seines »Cyrus« in der Tasche, ein junger Mann ab, der sehr viel von sich reden machte. Er kam von Zürich her, das er und das ihn während eines jahrelangen Aufenthaltes daselbst kennen gelernt hatte. Es war Wieland. Der Ruf des berühmten Dichters lief dem Sechsundzwanzigjährigen voraus. Man war begierig auf seine Bekanntschaft und scharte sich zusammen, um dem vielversprechenden Genie auch die Gastfreundschaft des geistigen Verständnisses angedeihen zu lassen.

Der Aufenthalt Wielands in Bern, der beinah ein Jahr dauerte, fiel in eine Zeit seines Lebens, die durch Zürich und sein eigenes langsames Heranreifen zum Manne vorausbedingt war. Schwankend, flatterhaft, wie er war, von großer Eitelkeit, die Neigung zum Gemeinen ebenso stark in ihm ausgebildet wie der Drang zum Edeln, hatte die vorsichtige Natur in sein Wesen auch eine provisorische innere Barriere gelegt, die sich in der Überschwenglichkeit für sittliche Ideale äußerte, denen der junge Schwärmer wenigstens halb und halb nachzuleben bestrebt war. Eine unechte, empfindsame Frömmigkeit hütete seine rasch aufflackernden Sinne. Verwöhnt durch frühzeitigen Ruhm, verhätschelt von den Frauen Zürichs, besonders von ältern Damen, vergötterte er sich noch viel mehr selbst und trat so, eingehüllt in fremden und eigenen Weihrauch, in seinen neuen Wirkungskreis, als Erzieher der zwölfjährigen Zwillinge des Herrn von Sinner, der im obersten Haus an der Judengasse (heute Amthausgasse) wohnte. Allerdings dämmerte bereits langsam und unmerklich das Bewußtsein der Täuschung über sich selbst in dem jungen Dichter auf; denn bereits hatte ihn Lessing kräftig geschüttelt und hatte den Prunk seines christlich-ätherischen Getues Lügen gestraft, – aber noch fehlte Wieland der nachsichtige Spott erfahrener, überlegener Freunde. Sonst hätte er sich sein blasiertes Wort über die Frauen nicht erlauben können, das also lautet: »Ich gebe ihnen wenig gute Worte und zwinge sie durch die natürliche Superiorität meines Genies, mich bon gré, malgré zu lieben.«

Die Stellung bei Sinners behagte ihm nicht, die Knaben waren zu jung, seine Zeit war nicht ausgefüllt und erübrigte ihm doch keine fruchtbare Muße. Er klagte bald bitter, und seine Klage war begreiflich, denn er sah seine außerordentlichen Fähigkeiten in keiner Weise für sich und seine Zöglinge nutzbringend angewandt. Er schreibt schon nach ein paar Wochen an seinen Freund Johann Georg Zimmermann in Brugg, er schreibt auch an seine Freunde in Zürich, trotzdem er in Bern in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes eine weit größere Menge angenehmer und interessanter Bekanntschaften gemacht habe als während fünf Jahren in Zürich, möchte er Bern so rasch wie möglich wieder verlassen. Er kündet dem Landvogt Sinner unvermutet die Stellung, siedelt zu seinem Freunde Tscharner in die Bellevue über (beim heutigen Zieglerspital) und ist hierauf bei Professor Wilhelmi in Pension. Dieser bemüht sich um ihn; vier junge Herren kann er nun in Philosophie unterrichten, erhält ein ordentliches Honorar und fängt an, sich in Bern behaglicher zu fühlen.

Dies ist der Zeitpunkt im Leben Wielands, wo jede deutsche Literaturgeschichte den Namen Julie Bondelis bringt. Er taucht auf wie ein rasch fliehender Stern, der durch den Himmel des Dichters schwirrt und wieder in sein Dunkel zurücksinkt, sobald Wieland seine Schritte anderswohin lenkt, als ob dieser fliehende Stern nicht sein eigenes Leuchten gehabt hätte. – »Es sind einige Damen da, die mich sehen wollen,« meldet eines Tages Wieland einem seiner Korrespondenten. Zu diesen Damen mochte wohl auch Julie gehören.

 

II.

Über Juliens Persönlichkeit als Mensch, Geist, Charakter gibt es unter ihren Zeitgenossen keine auseinandergehenden Widersprüche des Urteils, sondern nur eine Auffassung, nämlich das höchste Lob, von ihren nächsten Freunden an, die ihre Intimität besaßen und teilten, ihre Beschäftigungen, Studien, ihre materielle Lage, ihre Trübsale kannten, bis zu Goethe, der auf Schloß Ehrenbreitenstein durch Sophie Laroche von Julie gehört und einige ihrer Briefe gelesen hatte, über ihre äußere Erscheinung jedoch liegen verschiedenartige Urteile vor, von denen ich gerade das unwahrscheinlichste bringe, nämlich das von dem bereits erwähnten Sigmund Wagner, dem bernischen Spitalschreiber, einem der letzten galanten Zopf- und Puderaristokraten des alten Bern. Er scheint seine begeisterte Schilderung einem schlechten Roman entnommen zu haben und die grundgescheite und bescheidene Julie würde über eine solch liebenswürdige Geschmacklosigkeit gelacht haben und wohl auch arg verdroßen gewesen sein. Er rühmt sie als die schönste und lieblichste Blume, die diesem Zeitalter entsprossen, aus einem angesehenen, von jeher durch Geist und Gelehrsamkeit vorteilhaft bekannten Geschlecht. Ohne regelmäßig schön zu sein, sei sie noch einnehmender gewesen als die schönste Statue des Phidias aus griechischem oder karrarischem Marmor. Ihre Gestalt sei eher groß gewesen als klein, dazu gewachsen wie eine weiße Lilie. Um das Bild zu vervollständigen, kommen noch Himbeerlippen und dahinter verborgen Zähne wie Ceylonperlen dazu. Ihr Lächeln und der Ton einer sanften Stimme, alles dieses habe einen Einklang gebildet, daß kein Herz ruhig und langsam dabei habe schlagen können. – Wie Sigmund Wagner zu diesem Überschwang gekommen, können wir nicht gut wissen, er ließe sich uns vielleicht erklären dadurch, daß er Julie entweder nie gesehen, bloß vom Hörensagen kannte, oder daß er als begeisterungsfähiger Gymnasiast vor der um 28 Jahre ältern Frau mit jener beispiellosen Bewunderung gestanden, wie dies bei einem Jungen einer berühmten Dame gegenüber vorkommen kann. Wieland, der ein erfahreneres Urteil über Frauenschönheit besaß, sagt von Julie, auch im Stadium der Verliebtheit: »Sie ist nicht schön, aber sie ist alles, was man sein muß, um zu gefallen.«

Julie war 28jährig. Die gebildeten, vornehmen Kreise Berns rühmten sich ihrer, hatten ihren geheimen Stolz mit ihr, liebten es, ihren Geist, ihren Witz von interessanten Besuchern bewundern zu lassen. So sollte auch Julie Wieland, Wieland Julie sehen; beide hatten voneinander gehört, und besonders die gespreizte Eitelkeit des Dichters war bis an Juliens feines Ohr gedrungen. Im Altenberg, in einer Gesellschaft, sind die beiden sich das erstemal gegenübergetreten. Julie hatte die Gewohnheit, neue Menschen mit einem langen Blick von oben bis unten zu messen, sich ihre Erscheinung im Geiste rasch zu modellieren. Das tat sie auch jetzt. Und sie, die zu gescheit war, um ohne Notwendigkeit das Siebengespann ihres soliden Wissens vorfahren zu lassen, sie, die sich in schöner Selbstzucht gewöhnt hatte, vor ihrer Umgebung nur das Skelett ihrer Gedanken niederzulegen, wie sie sagt, sie bewirft den Gast plötzlich mit einer solchen Unmenge von Kenntnissen auf allen Gebieten, daß er verdutzt, peinlich berührt, sich wie nach einer persönlichen Niederlage verabschiedet. – Und sofort schreibt er an seinen Freund Zimmermann in Brugg: »Der Mlle. Bondeli ist es vollkommen gelungen, mich 2 volle Stunden hindurch zu langweilen. Es ist ein erschreckendes Mädchen, diese Bondeli. Sie redete zu mir in einem Zuge von Plato, Plinius, Cicero, von Leibniz, von Aristoteles, von Locke, von rechtwinkligen und gleichschenkligen Dreiecken, und – ich weiß nicht mehr, – sie redete von allem. Es gibt in der Natur nichts der ungeheuren Geläufigkeit ihrer Zunge Vergleichbares; sie spricht mit einer Schnelligkeit, daß es unmöglich ist, mit den Gedanken zu folgen; sie hat Geist, Kenntnisse, Belesenheit, Philosophie, Geometrie, sphärische Trigonometrie, wenn Sie wollen; aber sie hat auch die Gabe, mir höchlichst zu mißfallen. Es leben die einfältigen, unwissenden Weiber! – Sie sehen, daß sie mich äußerst gegen sich aufgebracht hat. Vielleicht wird sie mir nach einer zweiten Unterhaltung besser gefallen, aber ich zweifle daran.«

Er zweifelte. Aber Julie gefiel ihm doch bald besser, sie gefiel ihm so gut, daß er schon nach ein paar Wochen behauptet, er würde das Glück, an dem Orte zu sein, wo Jungfer Bondeli wohnt, dem Glücke der Könige vorziehen. Er sprach Julie auch von Liebe und Ehe und schaute sich nach Titel und Beruf um, um an ihrer Seite auch nach außen hin würdig zu erscheinen. Es ist erstaunlich und begreiflich, daß Julie in eine Art Verlöbnis mit Wieland einwilligen konnte, dessen schwärmerische Art sie durchschaute, und dessen Liebe sie nur zu oft eine Illusion schalt. Ehrlich heiter schreibt sie einmal – allerdings später – an ihren Freund Zimmermann über ihr inneres Verhältnis zum Manne: »Sie glauben, daß ich, wie die meisten Frauen, lüge, wenn ich sage, daß ich mich nicht um meine Verheiratung kümmere. Nein, nein, ich sage es, weil ich vom Scheitel bis zur Sohle fühle, daß ich nicht für die Ehe geschaffen bin. Die Quadratur des Kreises oder die Berechnung der Längengrade scheint mir kein so großes Unternehmen, wie die Frau des besten Mannes zu sein. Ich begreife alle gesellschaftlichen Beziehungen im allgemeinen und besondern, aber ich begreife nicht, wie man mit einem Manne zusammen leben kann. Lachen Sie, lachen Sie über meine Unfähigkeit. Es bleibt mir kein anderes Mittel, sie zu rechtfertigen, als sie demütig zu gestehn.«

Und doch. Nachdem sie oft versucht hat, Wielands Liebe zur bloßen Freundschaft herabzustimmen, wird sie selbst von seinen Gefühlen angesteckt und versagt sich nicht der Faszination eines möglichen Glücks. Sie ist während dieser Zeit dem Dichter der beste Förderer seines Charakters und seiner Arbeit gewesen. In ihrer klaren, milden Art und Gegenwart sucht er sein gestaltloses Schwärmen zu mäßigen. Der Reife ihres Urteils vertraut er sich an, sie zerteilt seine mystisch-ätherische Verschwommenheit mit einem Lächeln, drängt zu Klarheit, Echtheit, und da sie, wie sie sich einmal ausdrückt, außer Ärger und Zahnweh nichts so sehr fürchtet wie die Enthusiasten, so ist Wieland eitel genug und auch zu groß angelegt, um sich nicht bloßzustellen, sondern Vorteil und Nutzen aus diesen Belehrungen zu ziehen. Die ruhige Gleichmäßigkeit ihres Gemüts, ihre Lebhaftigkeit, ihr Humor, ihre Selbstbeherrschung, ihre stete Geschäftigkeit, all das zusammen wirkt auf ihn ein. Sie veranlaßt ihn, wenn er ihr ein Manuskript liest, zu streichen, was ihr im stillen schwülstig, geschmacklos vorkommt, sie sichtet mit ihm zusammen Gegenstand, Behandlung, Gedanken, Empfindung und Bild. Sie bringt ihn auch näher zu Shakespeare und den Engländern.

Bald war ein Jahr seines Aufenthaltes in Bern vorbei. Julie befand sich gerade bei Freunden in Neuenburg. Da erhält Wieland von seiner Mutter die Nachricht, daß in seiner Vaterstadt Biberach in Schwaben die Stelle eines Kanzleidirektors freigeworden, und daß man ihn für dieses Amt in Aussicht genommen. Wieland hatte zwar die Biberacher »Verbrecher und Idioten« gescholten, jedoch Hals über Kopf verläßt er jetzt Bern und eilt hin, ohne Julie noch gesehen und von ihr Abschied genommen zu haben. Schriftlich versichert er sie allerdings seiner steten Liebe. Aber schon nach ein paar Wochen erhält sie von ihm Briefe, die ihr sorglos grausam, in der Wieland eigenen Ehrlichkeit, von seiner neuen »Flamme« erzählen, und dann vernimmt sie durch Sophie Laroche, die Cousine und Vertraute Wielands, kurz darauf die Geschichte einer zweiten neuen und weitgehenden Liebe des Dichters. Daraufhin ist Julie schwer erkrankt. Sie äußert sich später einmal, daß sie gerade über diejenigen Menschen am wenigsten zu reden pflege, über die sie sich am meisten zu beklagen habe. So hat sie es auch mit Wieland gehalten. – Verweilen wir bei dieser einen ihrer Äußerungen, die uns Julie Bondeli als Charakter und Menschen wohl am schönsten und reinsten offenbart, und beschauen wir uns nun ihr Leben vor und nach dieser für sie unglücklichen Episode.

 

III.

Julie stammt aus dem angesehenen Geschlecht der von Bondeli. Ihr Vater hatte in dem aristokratischen Freistaate Bern verschiedene Amtsstellen inne; er war Schultheiß in Burgdorf, Mitglied des großen Rates. Julie ist am 1. Januar 1732 getauft worden; der Tag ihrer Geburt ist, wie sonst vieles aus ihrem Leben, unbekannt. Nachdem Schultheiß von Bondeli sich von der Öffentlichkeit zurückgezogen, bewohnte die Familie das Buchsigut in Köniz, auch ein Haus im Altenberg. Juliens Lehrer war eine Zeitlang der Verschwörer Samuel Henzi. Das Verhängnis wollte es, daß gerade Bondeli derjenige war, der Henzi in Burgdorf festnehmen mußte. Julie erwähnt später ihren unglücklichen Lehrer nie. Wohl aber erzählt sie, wie sie eine wenig aufmerksame Schülerin gewesen, die die ganze Woche ihre Lehrer aufgebracht, dafür aber während einer einzigen Stunde Fleiß am Ende der Woche das scheinbar Verlorene eingeholt habe. Mit sechzehn Jahren habe sie schon viel gewußt, jedoch die Operationen beim Stricken eines Strumpfes habe sie nicht zu begreifen vermögen. – Blaß, klein, schmächtig, mit heftigen Kopfschmerzen und kleinen Fiebern behaftet, blieb sie bis zum 15. Jahr. Dann blüht sie auf. Ihr größter Lerneifer und der Hunger nach Wissen fällt in die Zeit vom 15. zum 20. Jahr. Tagelang sitzt sie über ihre Bücher gebeugt und glaubt, wie sie später gesteht, ihrer natürlichen Entwicklung vorauseilen und mit brodelndem Blut, reizbaren Nerven und einer Menge Lebensgeister, ungestraft mit zwanzig Jahren zur Philosophin werden zu können. Aber es entwickelt sich bei ihrer Kurzsichtigkeit ein Augenübel, das die Fachwissenschaft Berns nicht erkennt. Julie glaubte blind zu werden und machte alle Qualen der Verzweiflung durch.

Von ihrem zwanzigsten Jahre an fängt sie wieder an zu kränkeln, zu kranken. Ihre Ärzte führten das unerklärliche Leiden, das sie mit kaum 47 Jahren ins Grab brachte, auf eine allgemeine Nervenschwäche zurück, die jedem Übel den Zugang öffnete. Auf jeden Fall besaß sie eine sehr hohe Sensibilität, die ebensowohl das Merkmal ihrer körperlichen Schwäche, wie das ihrer höheren geistigen Kraft erscheint. Sie hat Krankheitszustände von großer Hartnäckigkeit, Gallenfieber, Nervenschmerzen, nervöses, monatelanges, ununterbrochenes Zahnweh, später einen furchtbaren, beinah ununterbrochenen Husten. Auf die Krisen folgt eine Zeit körperlicher Niedergeschlagenheit und Ermattung, die oft schon wieder einen neuen Krankheitszustand bedeuten. Kaum darf sie sich eine richtige Ernährung gestatten, hält sich aber übermäßig an den Kaffee, von dem sie behauptet, daß er ihr vegetatives, animalisches und geistiges Leben erhalte, und ohne den sie zu den Vorstellungen einer Auster verurteilt sei. Es ist nicht verwunderlich, daß das Bewußtsein, in so jungen Jahren beständig dem Leiden ausgeliefert zu sein, einen reflektierenden, gesunden Geist wie den Juliens, zu inneren Gegenmaßnahmen zwang. Aber es ist schöne Lebenstapferkeit, wie sie sich daraus ein Gesetz macht. Julie weiß, daß die Phantasietätigkeit die Steigerung einer normalen Funktion ist. Diese Steigerung muß aber von ihr deshalb so gut wie möglich eingedämmt werden, damit die schmerzhafte Wirklichkeit ihr nicht noch unerträglicher werde. Ohne Selbstverwöhnung, mit ruhiger Besonnenheit, mißt sie nun ihre seelischen und körperlichen Kräfte ab, stellt ihrer krankhaften Reizbarkeit mit vollem Bewußtsein das ganze Gewicht aller ihrer abstrakten Kräfte entgegen und schafft sich dadurch ein intellektuelles Regime, das ihr zur Gewohnheit, zum Instinkt wird, und das sie vor Kraftlosigkeit bewahren soll. Oft ist bei diesem steten Kampf ihre Stimmung düster, melancholisch, sie hat die sogenannten » Vapeurs«. Aber nie ist sie verbittert und bald wieder heiter. Sie weicht heftigen Zerstreuungen aus und sucht alles zu vermeiden, was ihr leicht zerstörbares Gleichgewicht schädlich beeinträchtigen könnte. Und dann, wenn es ganz schlimm um sie steht, wenn ihre innere Gereiztheit sich auch nach außen geltend machen will, wenn Unklarheit und Dumpfheit ihren Kopf trübe verwirren, dann tut sie etwas, was eine Frau und wohl auch selten ein Mann als Beruhigungsmittel preist: sie rechnet. Sie zieht sich in ihre vier Wände zurück, rechnet zuerst falsch, ärgert sich, rechnet nochmals, nach und nach führen die abstrakten Beziehungen der Zahlen untereinander sie zu andern konkreten Beziehungen, und die Fähigkeit, gelassen zu kombinieren, kehrt wieder zu ihr zurück. Sie wendet dies Mittel besonders auch dann an, wenn sie zornig ist, » enragée«; sie rechnet dann doppelt ernsthaft, um die Empfindlichkeit zu ertöten, denn über Multiplikatoren und Divisoren könne man sich doch nicht ärgern, und man verliere auf diese Weise die böse Stimmung, die ohne Maß und Grenze das Objekt des Ärgernisses vergrößere.

Diese Maßnahmen der Selbstzucht und Selbstmeisterung entspringen jedoch nicht allein dem Wunsch nach einem Vorbeugemittel gegen körperliche Zustände. Die ganze sittliche Ernsthaftigkeit Juliens steckt dahinter. Es ist auch nicht bloß ein angeborenes Schicklichkeitsgefühl, das ihr Ausbrüche der Launenhaftigkeit und des Sichgehenlassens verbietet, es ist ein ausgesprochener Sinn für Rücksicht und Gerechtigkeit ihrer Umgebung gegenüber. Sie habe kein Recht, sich zu ärgern, sagt sie, und die Ehre, mit ihr leben zu dürfen, versetze niemanden in die Lage, zu urteilen, zu fühlen, zu kombinieren, wie sie es tue. Es sind moralische Übungen der Geduld und Standhaftigkeit, die sie sich auferlegt, und sie sind es, zusammen mit ihrem Bestreben, einem ureigenen Maß der Vervollkommnung zu genügen, die zu dem schönen Ebenmaß in Juliens Charakter geführt haben. Ihr Wesen, das nach innen vortrefflich geordnet und in festen Grundsätzen festgelegt zu sein scheint, ist zum größten Teil der Erfolg ihrer ernsten Selbstkontrolle. Sie ist genährt von einer Kraft, die immer weicht, immer von ihr flieht, die sie stets mit Geduld und Selbstüberwindung wieder zurückholen muß, die aber zuletzt unverrückbar in ihrem seelischen Umfang, nie verringert, nie verkürzt, nie verkleinert, wie ein angebornes Gut, als Grundbesitz und Hauptbestandteil ihres geistigen Seins, ihr auch zu eigen bleibt.

Es ist begreiflich, daß eine so ausgeglichene Gemütsart anziehend wirkte. Wenn sich noch dazu ein außergewöhnliches Wissen, natürliche Lebhaftigkeit und Takt, Geist und Witz gesellte, eine schlanke, junge Gestalt, die Bewegung schöner Arme und Hände, so ist es klar, daß Julie der Mittelpunkt der bernischen Gesellschaft werden konnte. Man anerkannte gerne ihr Genie, weil es sich schlicht und ohne Selbstüberhebung darbot. Die jungen Leute ihrer Gesellschaft, Damen und Herren, hatten sich eines Tages nach dem Muster französischer Liebeshöfe im geheimen zum Hofstaat ernannt, hatten sich Titel und Chargen beigelegt und riefen Julie in Goldschrift und Pergament zur Königin aus. Julie nahm ihre Rolle lachend entgegen und war nun offiziell zur Leiterin aller Veranstaltungen, Vergnügen, Theater berufen. Sie erzählt vom Sommer 1764, wie man in ihrem Kreise im Tag abwechselnd Geist habe, bald im Kopf, bald in den Füßen, bald in den Ohren. Nichts sei vorausgesehen, nichts arrangiert als die Wahl der Leute und der Tag, wo man sich treffe, alles andere bleibe dem Impuls des Augenblickes vorbehalten. Diskussion, Ernst, Scherz, Blindekuh, deutsches Menuett, Konzerte von schöner Musik und Volksliederkonzerte von Simeliberg & Co. wechseln miteinander ab. Es sei reizend zuzuschauen, wie sie alle durcheinander rennen beim Spiel, Berner, Züricher, Literaten, Magistraten, Gesandtschaftssekretäre, Gelehrte, femmes lettrées, Kaufleute, Weltdamen und Hausmuetterli. Die Männer hätten Fadheit und Komplimente durch Anstand und Freundschaft ersetzt, und sie, die Frauen, entschädigten die Männer dadurch, daß keine Prüderie herrsche und keine unnützen Prätensionen. Der ganze Seneca sei einen Tag von Bellevue, Sandrain oder Köniz nicht wert. – Die jungen Leute ihres Alters waren Juliens laute und fröhliche Verehrer. Aber aus dem Kreis der einstigen Backfische, Offiziere und Studenten erwuchsen mit ihr gemeinsam die Männer der Wissenschaft, Gelehrsamkeit, des öffentlichen Lebens, Frauen von Geschmack und Talent, die Julie dieselbe Verehrung und Liebe auch weiter bezeugten. Da war vor allem Marianne Fels, ihre hochgebildete, gescheite Freundin, die nicht weit von Köniz, im Weißenstein wohnte. Dann die Töchter des großen Haller; auch Mlle. Curchod war ihre Vertraute, die kluge, junge Schönheit, die spätere Gattin Neckers und Mutter der Frau von Staël. Durch Wieland wird auch Sophie von Laroche, Juliens beinah devote Verehrerin und Freundin, herbeigezogen. Und mit Männern, die mit ihr denselben Ideenkreis teilten, mit denen sie mündlich oder schriftlich, vorübergehend oder dauernd in Verbindung blieb, sind zu nennen, außer Wieland und Rousseau, vor allem ihr langjähriger Freund Johann Georg Zimmermann, der Arzt aus Brugg, der sich später durch seine philosophischen und medizinischen Bücher Ruhm und eine Katharina die Große als Korrespondentin erwarb. Dann Leonhard Usteri, der Züricher Theologe, Freund Rousseaus und Winckelmanns, Lavater, Kirchberger, Stapfer, Tschiffeli, Wilhelmi, Tscharner, Fellenberg, Sinner von Ballaigues. Besucher kamen nach Bern, nur um Julie zu sehen und zu sprechen, auch Russen und Polen; Salomon Geßner sandte ihr seine Idyllen, und Bodmer ließ ihr Grüße übermitteln. Der Graf Zinzendorf erscheint, der Gründer des Herrnhuterordens, auch der junge Leuchsenring aus dem Kreise der Sophie Laroche – der Name Juliens dringt weit hinaus in deutsche Gaue bis zu Herder und Goethe. Und Julie, die so oft ihren » Chien de nom de femme lettrée« verflucht hatte, empfindet doch eine freudig stille Genugtuung, wenn Männer wie Rousseau oder der berühmte, demokratisch gesinnte Prinz von Württemberg ihr ihre Aufwartung machen.

Julie Bondeli hat kein Buch, keine Abhandlungen geschrieben. Es war vielleicht eine Grille von ihr, wie dies oft bei bedeutenden Menschen vorkommt, die auf ihre Verdienste freiwillig verzichten und sich in den Schatten stellen, daß sie einen wahren Schrecken vor Veröffentlichung und Druckerpresse hatte; es war ihr auch sehr peinlich, als die berühmte Julie zu gelten und, wie sie einst ärgerlich-lustig meint, wie ein Rhinozeros gezeigt zu werden. Was wir von ihr haben und kennen, ist bloß ein Bündel Briefe an Zimmermann und eine kleine Anzahl Briefe an Leonhard Usteri; auch besitzen wir das Fragment eines philosophischen Aufsatzes über den moralischen Takt, der ohne ihr Wissen und zu ihrem Entsetzen von Zimmermann publiziert wurde, und noch ein paar Briefe an andere Persönlichkeiten. Julie war also keine Schriftstellerin, wie ihre berühmte, empfindsame, viel weniger geistreiche Freundin Sophie Laroche, sie war vor allem keine Dichterin. Sie war eine Frau, die sich bloß mit dem Titel »Denkerin« begnügte, und die nur als »Nachdenkerin« zu gelten für sich in Anspruch nahm. Alles was sie schrieb, schrieb sie in französischer Sprache. Daneben sprach sie deutsch und englisch; das Englische zog sie beiden andern Sprachen vor; das Französische war ihr am geläufigsten, ohne daß sie es liebte. Sie errötet einmal bis unter ihr braunes Haar hinauf, als ihr jemand ein Kompliment macht über ihre Beherrschung dieser Sprache. Sie verteidigt sich dagegen, sagt, daß sie das Französische nicht liebe. Und fügt dann ein wenig zu temperamentvoll rasch hinzu, vor lauter Regelmäßigkeit und täglich weitergetriebener Reinheit werde diese Sprache monoton, und in fünfzig Jahren werde man nicht mehr bonjour sagen können, ohne gegen Gebrauch und Geist des Französischen zu verstoßen. Übrigens sei es gar nicht nötig, die Regeln der Grammatik zu kennen. Grammatik lege dem Genie nur Hindernisse in den Weg. » Quand on sait penser fortement, on connait la langue en philosophe et c'est tout ce qu'il faut

Sophie Laroche hatte, wie bereits erwähnt, für Julie, die sie nie gesehen, aber mit der sie jahrelang freundschaftlich korrespondierte, eine unbegrenzte Verehrung. Auf ihrem Schreibtisch, auf angefangenen Arbeiten, lagen Juliens Briefe mit einem Bande zusammengebunden, damit ein Hauch des Geistes der Bernerin sich den unvollendeten Werken Sophiens befruchtend mitteile. Einst, um Julie besser in ihren Studien folgen zu können, bat sie diese um ein Verzeichnis der Bücher, die Julie gelesen hatte, und las. Julie entsprach ihrem Wunsch. Es sind Schriften literarischen, philosophischen, historischen, ästhetischen und auch ökonomischen Charakters, auch Reisebeschreibungen, Bücher über Erziehung und Moral, Medizin und Physiologie, eine umfassende Lektüre auf allen Gebieten, von den großen Denkern der Griechen und Römern an bis zu ihrer Zeit. Am gründlichsten kannte Julie Leibniz, Wolff, Locke; sie beschäftigt sich eingehend mit Hemsterhuys, Hume, Home, Gibbon, Smith, Shakespeare, studiert Winckelmann, Moses Mendelssohn, Goethe, Lessing, vor allem natürlich Rousseau, dann Voltaire, Diderot und andere. All ihr Wissen, zumal ihr Nachsinnen über dies Wissen, ihre impulsive Verarbeitung des Gelesenen über Menschen, Zeiterscheinungen, Verhältnisse und Beziehungen legt sie in ihren Briefen nieder. Hauptsächlich aber ist es die literarische Erscheinung, die sie stark anregt und die ihre Äußerungen ruft. Es war ja allerdings Mode, sich mit literarischen Dingen zu beschäftigen, aber mit der Mode der Zeit allein hat Juliens Geistesrichtung nichts zu tun. Sie ist mehr als die Mode. Auch Philosophie war ein Modewort ihrer Zeit, aber Julie war eine Philosophin, wenn man darunter allerdings nicht ein festgelegtes System, sondern das höchste Maß des menschlichen Interesses am erhabenen Gegenstand und den Versuch einer Deutung allen Lebens versteht. Und wenn Goethe über den Wert ihrer Briefe sein mächtiges Wort in die Wagschale wirft (Wahrheit und Dichtung, 13. Buch), so dürfen wir dies Wort lauter als alle andern Lobpreisungen wiederholen: »die Briefe einer J. Bondeli waren sehr hoch geachtet; sie war als Frauenzimmer von Sinn und Verdienst und als Rousseaus Freundin berühmt.«

 

IV.

Wie sind nun diese Briefe? Der Rahmen dieser Arbeit gestattet es nicht, eine größere Anzahl davon zu bringen. Es können nur einige Ausschnitte daraus hier eingefügt werden, die vor allem die energische Offenheit, das unabhängige Urteil Juliens offenbaren. Am 19. Mai 1764 schreibt sie von Köniz aus an Zimmermann über ein soeben erschienenes Buch: »Ein neues, selten gutes Buch ist › Offrande aux autels de la Patrie‹ von Roustan. Dieser ist ein junger Geistlicher aus Genf, ein intimer Freund Rousseaus, der beinahe ebensogut schreibt wie er. Sein Buch enthält drei Abschnitte: ›Verteidigung des Christentums gegen Rousseaus Contrat social‹; Prüfung der › Quatre beaux siècles‹ Voltaires und eine Abhandlung über die von der › Société des Citoyens‹ gestellte Preisfrage: Welches sind die Mittel, um ein Volk vom Verderben zu bewahren, und welches ist der beste Plan, den die Gesetzgebung in dieser Beziehung befolgen kann? Die Verteidigung des Christentums wegen seines Mangels an Verfassung, dessen Rousseau es anklagt, ist die beste Antwort, die man bis jetzt auf diesen Abschnitt des › Contrat social‹ gegeben hat. Nach meiner festen Überzeugung wird Rousseau dies auch finden. Der christliche Bürger des Verfassers ist moralisch möglich, sowie der moralische Atheist Bayles; aber ein Staat des einen oder des andern, darin liegt die Schwierigkeit. Und die Schwierigkeit für den christlichen Staat liegt nach meiner Ansicht nicht im Geiste des Christentums, sondern im Zivilgesetzbuche, welches jeden Augenblick mit ihm in Konflikt gerät und noch die Merkmale der alten Barbarei an sich trägt; es gibt tausend Fälle, wo man nicht Christ und Staatsbürger zur selben Zeit sein kann. Die Abhandlung über die › Quatre beaux siècles‹ gefällt mir noch mehr. Voltaire wird darin arg mitgenommen. Rousseau sagt nicht bestimmt, daß die Künste und Wissenschaften die Menschen schlecht machen, aber er sagt, daß sie die Menschen nicht am Schlechten hindern, und er beweist es durch Tatsachen; Tatsachen gegen Tatsachen, Beweise gegen Beweise. O Rousseau, Roustan, Iselin und Compagnie, um Gotteswillen vereinigt euch einmal, ihr Herren Raisonneurs! Die Nadel in der einen Hand, ein Stück Stramin in der andern, verspreche ich ein gesticktes Portefeuille demjenigen von euch, der entscheidet, welches der Augenblick der Geistesreife sein könnte, um Künste und Wissenschaften zu kultivieren, und welches diese Künste und Wissenschaften wären, welche in diesem Augenblick der Reife am meisten zum Fortschritt der Sittlichkeit und zum Wohl der Gesellschaft beitragen würden! Die › Société des Citoyens‹ würde nach meiner Ansicht der Abhandlung Roustans den Preis zuerkennen müssen; er hat vortreffliche Ideen, und alles ist belebt vom Feuer des Genies und des Patriotismus.«

Eine andere Stelle aus einem Brief, der an Sophie Laroche gerichtet ist, beweist, daß der französische zeitgenössische Roman der Schreibenden längst wie auch Beat von Muralt auf die Nerven gegangen, und daß sie die Engländer den Franzosen vorzieht: »Tugend und Laster«, schreibt sie, »sind in den französischen Romanen auf ein und dieselbe Weise verschleiert; es herrscht in ihnen eine so geglättete, so gedrechselte Natur, wie man sie sonst nirgends findet. Spricht man darin von Tugend, so geschieht es nur mit einer Metaphysik kunstvoll gesuchter Gefühle; spricht man vom Laster, so ist es so gefärbt, daß man es höchstens geistreich findet. Daher dann jene Einförmigkeit der Charaktere, bei der keine Gestalt ein individuelles Gepräge trägt. Dagegen zeigen die englischen Romane die eiternden und ekelhaften Wunden des Lasters. Diese Schilderungen können allerdings die Schamhaftigkeit verletzen, aber nur die erkünstelte, die wahre Schamhaftigkeit verletzen sie nicht. Die Szenen in Gefängnissen, Dorfschenken, in verdächtigen Häusern, alles das ist häßlich, ja, aber es ist wahr. Und wenn man mit der Natur leben muß, so muß man sie sehen, wie sie ist. Und wenn ich Mädchen zu erziehen hätte, würde ich sie eher einen Kurs theoretischer und praktischer Anatomie nehmen lassen, als daß ich sie die Werke eines Crébillon und eines Bibbiena lesen ließe. Einer der Gründe auch, warum ich die englischen Schriftsteller den französischen vorziehe, ist, daß ich die Sprache der letztgenannten nicht liebe. In zwanzig Jahren wird man im Französischen nur noch Metaphysik schreiben können. Diderot und Rousseau waren freilich der einfältigen Meinung, die Sprache müsse dem Genie, nicht das Genie der Sprache dienstbar sein. Auch höre man, was die Akademie und Puristen von dem Stil dieser Männer sagen! Die englische Sprache hält sich noch an die Natur; man kann darin fluchen oder vernünftig sprechen, ohne Syntaxfehler zu begehen. Sie hat einen schlichten Gang, der für alle Gedanken und Empfindungen paßt, und der selbst den erhabensten Ideen das Ansehen von Einfachheit verleiht. Ich habe diesen traulichen Ton herausgefühlt, bevor ich geläufig englisch lesen konnte. Ich würde Kinder das Englische lernen lassen, weniger damit sie in dieser Sprache lesen könnten, als um ihnen eine bequeme Form für ihre Gedanken zu verschaffen. Sie können somit begreifen, daß die Engländer bei mir den Vorzug haben, auch in Beziehung auf ihre Geistesart, ganz abgesehen von ihrer Sprache. Ihre Philosophen scheinen mir bewunderungswürdige Beobachter; man findet bei ihnen eine Feinheit und Richtigkeit des Taktes, wie nicht leicht anderwärts, aber nach meiner Ansicht fehlt ihnen ein wenig Metaphysik. Alles ist wahr, alles ist gut, aber alles ist wenig verbunden; es fehlt ihnen die Ordnung und Methode der Deutschen, um jedem Gegenstande seine gehörige Stelle anzuweisen.«

Und nun noch einige Stellen aus den vorzüglichen Briefen über Goethes eben erschienenen »Götz von Berlichingen« und »Werther«. »Goethes Drama«, schreibt sie wieder an Sophie Laroche, »hat mich die Auferstehung Shakespeares glauben machen. Welche Kraft und welche Einfachheit im Ausdruck! Und welche Bestimmtheit in der Schilderung einer Zeit, die uns so fern liegt und im Drama so schwer zu behandeln ist. In seinem Roman habe ich einen zweiten Rousseau erblickt, mit noch kräftigerer, ja vielleicht rauherer Färbung. Mag der Verfasser allein, mag die Eigentümlichkeit der Sprache oder der Nationalcharakter Ursache sein – auf jeden Fall ist es ein geniales Werk.«

Aber Julie findet auch die Mängel und Gefahren des Werther für die verworrene Jugend heraus und glaubt, daß durch die Künstlerschaft Goethes ein sittlicher Mißgriff begangen worden ist, daß die Dichtung junge verschrobene Stürmer und Dränger, die Kraftgenies, zu Mißverständnissen und Mißdeutungen des Goetheschen Gedankens verleiten werde. Und sie fügt deshalb zum »Werther« hinzu: »Aber, – wie schade, daß man ein ›aber‹ hinzufügen muß, ich kann meine Rüge nicht unterdrücken, und sie fällt ein wenig auf die moralische Seite des Werkes. Nicht, als ob ich Atheismus darin gefunden hätte; Sie haben mich in das höchste Erstaunen versetzt dadurch, daß es Leute geben soll, die ihn darin finden. Ich war sehr weit von dieser Entdeckung entfernt, ich habe im Gegenteil darin eine zu exaltierte Religion gefunden. Nichts hindert jedoch, fest an Gott zu glauben und dennoch arge Torheiten zu begehn. Aber den Selbstmord zu predigen ist sehr gefährlich, mindestens ist es ein arges Vergehen gegen die bürgerliche Gesellschaft, wozu man niemanden auffordern darf. Dies ist auch der einzige Punkt, wo ich den Verfasser entschieden zu tadeln wage, die andern, weniger betonten Stellen lassen mich im Zweifel, ob der Autor eine wirksame Lehre oder neue Dogmen des Gefühls verkünden wollte. Was will wohl Goethe selbst? Will er, daß die jungen Mädchen und Frauen bis zur Unklugheit empfindsam und unschuldig seien? Oder will er die verderblichen Folgen einer bis zum äußersten getriebenen Empfindsamkeit zeigen? Will er, daß die jungen Männer Werther seien? Oder will er sie durch seinen ›Werther‹ vor diesen Klippen bewahren? Wenn dies der Fall ist, möge ihn der Himmel dafür segnen, aber warum spricht er sich nicht deutlicher aus? Er muß ja wissen, daß es heutzutage wimmelt von Philosophen und solchen, die es zu sein behaupten vor dem 20. Jahre: da besitzen sie eine Würde hoch wie ein Turm, eine Empfindsamkeit groß wie ein Haus, Grundsätze fest wie ein Amboß und vor allem wollen sie sich ihre Unabhängigkeit wahren, um sich nach Herzenslust in leerem Müßiggang ergehen zu können! Bewahre der Himmel, daß sie es auf ein ehrenvolles, einträgliches Amt abgesehen hätten! Es paßt ihnen besser, nichts zu tun und abzuwarten, bis man diese Gesellschaft, die so schlecht eingerichtet ist und so schlecht regiert wird, durch Gesetze und Behörden mit einem Male durch eine große, blendende Fackel erleuchten wird. Genie und Talente werden unterdrückt, wenn man sich den kleinlichen Jämmerlichkeiten unterziehn muß, die üblich und herkömmlich sind. Man hat Leidenschaften, jawohl, man darf sie behalten und gegen alles anrennen, alles zertrümmern, was ihnen entgegen steht. Was tut das! Das Genie muß Raum gewinnen und hat ein solcher Philosoph einmal Muße und Freiheit genug, so wird schon alles gut gehen! Wollte nun Goethe diese fanatische Sucht nach Unabhängigkeit bekämpfen, so muß man ihm dafür Dank wissen – aber, ich wiederhole es, er hätte sich deutlicher erklären sollen. Nichtsdestoweniger muß man diesem neuauftauchenden seltenen Genie Gerechtigkeit widerfahren lassen und es bewundern.«

An ihren Freund Leonhard Usteri in Zürich schreibt Julie über Goethe: »Lesen Sie, bitte, die beiden Werke Goethes und sehen Sie, ob Shakespeare ihn nicht für seinen Nachfolger halten darf wegen seines ›Götz von Berlichingen‹, und Rousseau wegen des ›Werther‹. Beide Bücher sind nicht etwa bloß schwache oder verfehlte Nachahmungen, sondern es sind charakteristische Werke des Genies. Das Drama hat mir einen angenehmen und zugleich starken Eindruck hinterlassen, obwohl es einen traurigen Ausgang nimmt. Der Roman stimmte mich traurig und doch kehre ich gern zu ihm zurück. Werther ist ein St. Preux, nur noch feuriger, düsterer und überspannter. Oft hatte ich Mühe, dem Roman zu folgen, aber interessiert hat er mich immer. Vor allem finde ich die Zartheit bewundernswert, mit der Werther trotz der Heftigkeit seiner Leidenschaft, die Bande Lottes respektiert; aber was mir dabei noch schöner scheint als diese Zartheit, ist, daß darüber nicht viel geredet, vernünftelt, bewiesen, erkünstelt wird. Bis auf den Tod hasse ich die schönen, langen, hochtrabenden Reden über Handlungen, die im Grunde ganz einfach sind. Ich bin stets geneigt, an Schurken zu glauben, wenn ich sehe, wieviel Geist man aufwenden muß, um einen anständigen Menschen zu schildern. – Nur Sie, mein Freund, und ein bischen auch ich, haben erkannt, daß Lotte eine beinah schuldige Unschuld besaß, ein unverzeihliches Vertrauen. Und wenn Jacobi dies nicht ebenso erkannt hat, ist es mir unbegreiflich, wenn er gerade dies Buch den Frauen so empfiehlt. Ich habe eine zu hohe Meinung von der Weltkenntnis des Autors und seinem Wissen um die Wirkungen der Leidenschaften, um nicht annehmen zu können, daß er meinem Geschlecht eine Lehre geben wollte; jedoch hätte er deutlicher reden sollen, um verstanden zu werden, oder aber er hätte die Anwendung seines Textes in Noten beifügen sollen. Genau so wie Sie auch, werde ich ungeduldig über den ungestümen Müßiggang Werthers; aber ich bins zufrieden, daß man einmal auf hervorragende Weise einen jener modernen, sentimentalen deutschen Helden in einen Rahmen gefaßt hat, die, ohne sich die leisesten Gewissensbisse zu machen, das physische und moralische Universum durch einen Ansturm ihrer leidenschaftlichen Seelen umrennen möchten, die aber eine Zartheit besitzen, groß wie ein Haus, sobald es sich um ihre eigene und kleinste Abhängigkeit handelt. Diese Art Philosophen sind mir zuwider und längst würde ich ein Buch gegen sie verfaßt haben, wenn ich nicht im Interesse meines eigenen Ruhmes fürchten müßte, daß dabei eher eine beißende Satyre, denn eine überlegte und vernünftige Kritik herauskäme.«

Das sind Äußerungen einer geistvollen Frau, die uns allerdings heute geläufig sind, die aber damals von einer Unabhängigkeit des Geistes zeugten, die Julie nur mit den bedeutendsten Männern ihrer Zeit teilt. Ihr Stil selbst ist die vollkommene Intelligenz: bestimmt, klar, durchsichtig, ohne Spielerei, aber auch nicht ohne Anmut und baulichen Schmuck. Julie fürchtet den Enthusiasmus und wird doch immer zur Enthusiastin, wo sie das tatsächlich Große erkennt. Wenn Iselin, der Gründer der Helvetischen Gesellschaft, nach einem Zusammentreffen mit Goethe, den er übrigens auch sehr bewundert, sich etwas ängstlich äußert – er könne sich nicht in diese Genien wie Goethe hineinfinden, ihn deuche, es sei da etwas außer den Schranken der Ordnung –, so erschrickt Julie keineswegs vor diesem »Außerhalb der Ordnung«, sondern voll Inbrunst jubelt sie Goethe und Rousseau zu und preist sie mit hohen Worten. Sie hat den sichern Blick für die außergewöhnliche geistige Leistung und faßt jedes künstlerische Produkt auch zuerst als solches auf. Ohne falsche Pedanterie, ohne Sprödigkeit, gibt sie hierauf ihr abschließendes Urteil ab. Aber bei all ihren Betrachtungen, die völlig spontan und darum auch isoliert sind, läßt sie stets den Weg der Erweiterung offen, und für alles, worüber sie sich äußert, ist vor allem ihr rein fachliches Interesse da, nie das Wort für das Wort, la phrase pour la phrase. Sie würde nie über einen und denselben Gegenstand in einer andern Weise reden und urteilen. Es gibt Korrespondenzen, die nur durch das Wesen des Schreibenden wirken, deren Wert nicht allein im Inhalt liegt. Bei Julie ist der Brief ein selbsttätiges Merkmal ihres Geistes, weit von ihr selbst und ihrer Person gehalten, nur auf den Gegenstand gerichtet, so daß ein jeder von ihnen zum Dokument ihrer Zeit werden könnte, wie die Literaturbriefe Lessings. Ihre Briefe sind kein Spiegel ihres ganzen Wesens, sondern hauptsächlich dessen, was ihr Denken zu dieser Stunde gefangen hielt.

Ein Brief, den Julie am 26. Januar 1771 an Leonhard Usteri schreibt, beweist, wie trefflich ihr Denken und Urteil auch in Dingen war, die nicht bloß rein literarisches Interesse boten. Lavater hatte zu verschiedenen Malen gewünscht, daß sie ihm als Mitarbeiterin bei seiner Physiognomik mithelfe, und hatte Julie auch zu diesem Zwecke persönlich in Neuenburg aufgesucht. Aber sie verweigerte ihm mit höflicher Hartnäckigkeit ihre Mithilfe und äußert die Beweggründe für ihr Verhalten ihrem Freunde in Zürich, indem sie auch den Brief zitiert, den sie an Lavater selbst in dieser Angelegenheit gerichtet hatte. »Der Plan Lavaters«, so schreibt sie, »erschreckte mich vollends, denn er enthielt für mein Erachten einen zu geregelten, zu bestimmten, obgleich sonst sehr erfinderischen Ideengang für eine Wissenschaft, welche, wenn sie überhaupt eine solche genannt werden kann, doch noch zu neu ist, um strickte Regeln zu besitzen, Regeln, die vom Geiste abhängen, während diese Wissenschaft hier mir nur als vom Tackt (Gefühl) allein abhängig vorkommt. Die Zusammenhänge des Äußern mit der Seele, die Lavater voraussetzt, scheinen mir physiologisch begründet. Aber wie sollte man den sichtbaren und fühlbaren Ausdruck dafür einer genauen und bestimmten Methode unterwerfen, wo doch diese Ausdrücke einer unendlichen Mannigfaltigkeit unterliegen, als da sind: die Gewohnheiten des Körpers, Gewohnheiten der Seele, ferner Verhältnisse, Stimmungen, Gesundheit, Erziehung, kurz, alles mögliche.

Ich lasse mich von einem Gegenstand berühren, weil ich es nicht hindern kann; aber wenn das Gefühl, das ein Gegenstand in mir weckt, ein absolut unangenehmes ist, so fliehe ich ihn. Tut er dies nicht in so hohem Maße, dann betrachte ich ihn bloß, um mich zu unterhalten. Nur dadurch, daß ich Ihnen alle Schätze meines Wissens auskrame, kann ich Sie auch wissen lassen, wie wenig ich im Grunde besitze und wie wenig ich mich zu der Rolle eigne, die Sie mir zugedacht haben. Außerdem macht mir nicht alles und jedes Eindruck. Der Eindruck hängt vor allem vom Gegenstand selbst ab, der mir als solcher größtenteils nichts sagt; auch hängen die Eindrücke ab von meiner augenblicklichen Stimmung und noch öfter von den Beziehungen der Sympathie und Antipathie, die sie in mir wachrufen. Dazu habe ich schwache Augen, und wenn der erste Blick mir den notwendigen Eindruck nicht vermittelt, so hindert mich die Angst, unhöflich zu scheinen oder zu verletzen, vor einer weitern Betrachtung. Man wirft mir schon ohnedies vor, daß ich zu scharf fixiere. Dies ist der Grund, warum mir ein Antlitz oft überflüssig wird; meine Beobachtungen erstrecken sich dann auf die Gesamtheit der Gebärde, auf die Haltung, den Gang, die zufälligen Bewegungen des Körpers, wie auch auf den Ton der Stimme. Das Resultat meiner Beobachtungen zusammengenommen betrachte ich aber mehr als eine Sache des Instinkts, den ich weder hervorrufen, noch unterdrücken, noch definieren kann, und der sehr oft völlig verstummt. Sie sehen also, daß mein Wissen sich auf ein Nichts beschränkt und doch gäbe ich es nicht her, denn oft haben eine Bewegung des Kopfes und ein Zucken der Schultern, das andern nichts bedeutet, mich wie ein Kind lachen gemacht wegen all den lustigen Dingen, die ich dabei entdeckt zu haben glaubte. – Außer der Schwachheit meiner Augen und der daraus hervorgehenden Schwierigkeit zu fixieren, habe ich noch einen andern Grund, warum ich vorziehe, mich bei meinen Betrachtungen an den Gesamteindruck zu halten: Es ist, weil die meisten Menschen so viel Gesichter haben, daß man nie weiß, wo man eigentlich ihre Physiognomie suchen soll. Auch bilden die knochigen, fleischigen oder sehnigen Massen des Gesichts für mich eine unübersteigbare Schwierigkeit, und ich muß mich auch schon deswegen an die zufälligen Bewegungen des Körpers halten. Ich würde nie daran denken, das, was ich Tackt (Gefühl) nenne, in ein Prinzip festzulegen, denn alle meine Ideen und Beobachtungen sind bloß vereinzelt und isoliert. Wenn ich jedoch aus dem, was mir zur Unterhaltung dient, eine Wissenschaft machen sollte, dann würde ich die Prinzipien der Malerei, der Skulptur, der dramatischen Kunst studieren. Die besten Künstler auf diesen Gebieten würden meine Lehrer sein, ihre Werke meine Elementarregeln, und Winkelmann mein geistiger Führer. Ich würde dann alle die feinen Nuancen einer Unterscheidung erlernen, die allerdings eher ins Gebiet einer Metaphysik des Geschmacks und der Künste gehören würden, als daß sie rein mechanisch erfaßt werden könnten. Die Kartons von Raffael für die Malerei, einige Kupferstiche Hogarths, der Torso, Laocoon, Niobe in der bildenden Kunst, Garrik und Le Kain in der Schauspielkunst, das wären die Quellen, wo ich den mechanischen Ausdruck für die seelischen Vorgänge studieren würde. Aber würde das allein genügen? Ich glaube es nicht; denn nichts von dem allem würde mir die unendliche Mannigfaltigkeit der einzigen Bewegung des Mundes erklären, die wir ein Lächeln nennen.«

 

Doch kehren wir nun zu Juliens persönlichem Leben zurück, soweit es uns bekannt ist. Wielands Verhalten hat sie schmerzlich betroffen und Julie ist erkrankt. Eine Zeitlang schweigt die Korrespondenz zwischen den beiden. Als die wieder Genesene aber später durch Sophie Laroche hört, Wieland habe sich in eine für ihn sehr unvorteilhafte Situation gebracht durch seine Liebesgeschichten und sei unglücklich, da erwacht Juliens Mitgefühl, und sie nimmt auch wieder brieflich den herzlichsten Anteil an des Dichters Geschick. Ohne Groll wird sie auch wieder seine freundliche literarische Beraterin, auf deren Urteil Wieland stets mit Spannung wartet; wo andere ihn angreifen, nimmt sie ihn in Schutz und behauptet stets, daß Wieland mit vierzig Jahren ein ausgezeichneter Mensch sein werde. Bis zum Jahre 1764 dauert die Korrespondenz. Wieland aber vermochte auch damals noch keine ungünstige Kritik zu ertragen. Als Julie es dennoch wagt, seinen schlüpfrigen »Don Sylvio von Rosalva«, den er ihr zur Beurteilung zugeschickt, abschätzig zu kritisieren, erlaubt er sich einen Ausfall sehr unzarten Spottes ihr gegenüber. Von da an brechen die persönlichen Beziehungen vollständig ab. Unermüdlich verfolgt aber Julie aus der Ferne seine künstlerische Laufbahn weiter. Sie gestattet sich nur hier und da eine ganz kleine, feine satirische Bemerkung über ihn und nennt ihn offiziell ab und zu, statt bei seinem Namen, » le chancelier«.

Aber als Wieland im August 1778 durch seine Cousine Sophie Laroche unvermutet die Botschaft von Juliens Tode erhält, da bricht der ruhig und reif gewordene Mann in wehmütige Klagen aus. Dankbar erinnert er sich der Ungewöhnlichkeit von Juliens Liebe, und wie sie ihn in Bern glücklich gemacht; es habe nur eine Julie Bondeli in der Welt gegeben, die zweite werde schwerlich einmal geboren werden, ruft er aus. Und er veranlaßt Frau von Laroche die Briefe Juliens, die diese besitzt, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie tut es, allerdings nur bruchstückweise. Sie erscheinen im Gothaer Merkur und erregen das höchste Aufsehen.

 

V.

Und nun wenden wir uns andern Ereignissen zu in Juliens Dasein, ihrer Begegnung mit Rousseau.

Ich kann hier das Wort »Freundschaft« von Rousseaus Seite nicht uneingeschränkt übernehmen, wie es die Biographen Juliens, Schädelin und Bodemann, tun. Allerdings schmeichelten sich Juliens persönliche Freunde mit der Freundschaft zwischen ihr und Rousseau, allerdings spricht Julie selbst von » amitié«, und Goethe bekräftigt, sie sei als Rousseaus Freundin berühmt gewesen. Goethe aber hatte die Mitteilung von Sophie Laroche, der enthusiastischen Verehrerin Juliens. Und Goethe fügt auch im Anschluß an seine Worte, die er Julie widmet, über Rousseau hinzu: »Wer mit diesem außerordentlichen Manne nur in irgend einem Verhältnis stand, genoß Teil an seiner Glorie, und in seinem Namen war eine stille Gemeinde weit und breit ausgesäet.«

Ich möchte für Juliens Beziehungen zu Rousseau bloß so viel annehmen: Sie gehört als eines der bemerkenswertesten und begeisterungsfähigsten Mitglieder zu dieser stillen Gemeinde und genoß Teil an seiner Glorie. Man kannte Juliens unbegrenzte Verehrung für Rousseau, man kannte auch ihre prächtige Verteidigung seiner Person, seiner Ideen; ihre Freunde fanden sie der auszeichnenden Freundschaft Rousseaus vollkommen würdig, und als es wirklich endlich zu einer persönlichen Bekanntschaft zwischen den beiden kam, sorgten sie eifrig für den Ruhm. Die literarische Legende nahm sich bereitwillig dieses Ruhmes an und machte aus einer kurzen, vorübergehenden, von Rousseau immer wieder hinausgeschobenen persönlichen Annäherung eine Freundschaft, die mit einigem Stolze für Julie bis heute gerne wiederholt wurde. Von Juliens Seite unbedingte Freundschaft, selbstlose Bewunderung für den großen Mann und der Aufwand aller ihrer Ausdrucksmittel für seine Anerkennung in weiten Kreisen; von Rousseaus Seite Hochschätzung ihres Geistes, höchstes Lob ihrer Feder, ihrer Talente, dankbare Höflichkeit. Es ist bloß ein einziger Brief bekannt, den Rousseau Julie geschrieben hat, als Antwort auf einen ersten Brief von ihr. Es mag sein, daß eine eindringlichere Forschung einen tatsächlich bestehenden Briefwechsel zwischen Rousseau und Julie zutage fördert und meine Worte Ungenauigkeiten straft. Dies würde mich für Julie freuen. Heute fehlt mir aber noch der Grund zu der Annahme des doch festumschriebenen Begriffes einer gegenseitigen Freundschaft. Auch wird, soviel mir bekannt ist, selbst in ausführlichen Biographien Rousseaus Juliens Name gar nicht oder nur flüchtig erwähnt, während sein ganzer Neuenburger Kreis mit Du Peyrou an der Spitze voll dasteht. Es gab natürlich von Rousseaus Seite der äußern und innern Gründe genug, warum er einer stolzbescheidenen, intellektuell sehr anspruchsvollen Frau wie Julie vorsichtig und langsam entgegenkam: Da waren vor allem die Angriffe der Leute vom Dogma und Buchstaben, von Kirche, Orthodoxie und Regierung, die ihm seine Zeit raubten und verbitterten. Dazu kam die unsichere Lage des Verfolgten, Geächteten, der leidenschaftliche Eifer, mit dem er seine » Lettres de la Montagne« vorbereitete. Und ferner seine oft unerquicklichen häuslichen Verhältnisse; dazu seine Reizbarkeit, betrübende Verstimmungen und Launen, seine Schüchternheit, die große Korrespondenz und der Andrang seiner zahllosen Besucher und geheimen Freunde und Verehrerinnen. Dies alles war genug für einen Mann, der körperlich so schwach und leidend war, wie wir Rousseau in Motiers-Travers finden. Es ist rührend zu sehen, wie er das Sorgenkind seiner stillen Gemeinde ist, auch das Sorgenkind Juliens, und ihr haben wir eine ganze Menge kleiner Einzelheiten aus seinem Leben zu verdanken, die sich während seines Aufenthaltes im Jura zugetragen. Bald weiß Tscharner etwas von ihm, dann Fellenberg, dann Kirchberger, dann Frau von Stürler oder Mylord Maréchal. Julie berichtet es dann weiter an Sophie Laroche, an Zimmermann, Usteri. Alles, was den verehrten Mann betrifft, wird als Besitztum getreulich gebucht. Sie weiß zu berichten, wie sanft er ist, wie seine Stimme klingt, wie seine schönen Augen brennen, wie er milde ist im Urteil über Voltaire; sie weiß, wie er ein Hasser des Geldes ist, wie er auch das Anerbieten eines Königs, ihm Haus und Besitztum zu schenken, ablehnt, weil er nur so viel Erde brauche, um sein Grab darin zu finden. Sie weiß auch, daß er freudig im Traverstal botanisiert, daß er arme Kinder in Musik unterrichtet und in seinen Mußestunden Spitzen klöppelt. Sie weiß, daß sein Gesundheitszustand so schlecht ist, daß er trotz seiner Schwäche tagelang Holz spalten muß, nur um ein paar Stunden schlafen zu können.

Es war nichts im öffentlichen Leben Rousseaus, das Julie, längst bevor er in die Schweiz kam, nicht gewußt hätte. Sie hatte seit seinem Eintritt in die philosophisch-literarische Welt sein Schaffen mit regem Eifer verfolgt. Schon seine berühmte Erstarbeit für die Akademie in Dijon hatte sie mit warmem Interesse begrüßt. Sie kannte und diskutierte seinen » Contrat social« und hatte vor allem mit der größten Ergriffenheit die » Nouvelle Héloise« gelesen. Auch mit Rousseaus Erziehungsroman » Emile«, der die letzte Ursache war, daß er aus Frankreich verwiesen wurde, und zuerst nach Genf, dann nach Yverdon und weiter nach Motiers-Travers fliehen mußte, hatte sie sich längst mit glühender Begeisterung auseinandergesetzt. Ja, sie hatte vieles selbst im geheimen zu denken gewagt, was Rousseau darin ausgesprochen. Sie kennt seine Hasser und scheut sich nicht, von Haller zu sagen, daß es bloß eifersüchtige Rivalität des Genies sei, die ihn veranlaßt habe, Rousseau öffentlich einen Schurken ( scélerat) zu nennen. Sie, die stets behauptet hat, sie verabscheue allen Enthusiasmus, und die heroischen und sentimentalen Trompeten täten ihr in den Ohren der Seele weh, sie wird wieder zur Enthusiastin vor der großartig-sentimentalen Exaltation Rousseaus. Ihre eigene hohe Individualität stärkt sich in seinem Unabhängigkeitssinn, sie fürchtet bloß, Rousseau könne sich durch seine beinah prahlerische Aufrichtigkeit auch seiner Zuflucht in der Schweiz berauben. Was sie an ihm anzieht außer seinen Ideen, die er der Welt entgegenwirft, außer seiner praktischen Moral, das sind natürlich vor allem seine Tugenden als Dichter, als Künstler, die grandiose Echtheit, Wärme, Suggestion seines Stils, das unendlich und tief Lebendige, das, was unmittelbar ergreift und leidenschaftlich aufwühlt. Es ist deshalb kein Wunder, wenn sie wünscht, auch Rousseaus persönliche Bekanntschaft zu machen.

Wie eines Tages wieder die » Nouvelle Héloise« diskutiert wird und dabei auch die albernsten und trivialsten Angriffe gegen das Buch vorgebracht werden, da steigen Ungeduld und Zorn in Julie auf, und da sie eben im Begriff ist, an Mlle. Curchod in Genf zu schreiben, so schreibt sie ihre flammende Verteidigung der » Nouvelle Héloise« und ihres Autors an eben diese ihre Freundin. Dieser Brief, sein großer, freier Stil, der Ernst und die Schönheit der Rede, die Verteidigung Rousseaus und seiner Ideen sind darin so ausgezeichnet, daß er das größte Aufsehen erregt. Er wird kopiert und im ganzen Land herumgeschickt, er reist auch nach Deutschland, wo man ihn zirkulieren läßt, und er kommt von zwei Seiten her zu Rousseau selbst. Wundervoll hebt diese Apologie Rousseaus an, als ob Julie zu einem Schlage der Empörung ausholte: »Ich habe von der neuen Vorrede zur ›Héloise‹ gehört,« schreibt sie. »Hätte Rousseau einen prophetischen Geist und ein dankbares Herz, er würde mir einen ganzen Ballen Exemplare davon zugesandt haben, um mich für den Verdruß zu entschädigen, den ich mir durch die Verteidigung seines Buches zuziehe. Wenn meine Gegner – oder vielmehr die seinen – Leute wären, die alle Weisheit gefressen hätten, Leute von großen Prinzipien, oder solch hohe, unschuldige Seelen, die die bloße Erscheinung des Bösen erzittern macht – dann würde ich ihre Vorurteile respektieren und ließe sie reden. Aber es sind Gecken und Salonpuppen, es ist dieser ganze wimmelnde Schwarm, den man unter der Bezeichnung des ›guten Tons‹ kennt, der sein Geschrei gegen die › Héloise‹ erhebt. Und da sollte man nicht in Zorn geraten! Wenn sie sich wenigstens damit begnügten, sie lächerlich zu finden, dann würde ein spöttisches Lächeln meinerseits genügen, um mich für ihr Urteil schadlos zu halten; aber sie wagen es, › Héloise‹ strafbar zu finden, und entwickeln auf ihre Kosten eine Zartheit, von der man sie sonst selten Gebrauch machen sieht. Wehe denen, die mir auf diese Weise über die › Héloise‹ reden! Mit den Frauen bin ich bald fertig. Ein ironisches Gesicht und streng zusammengezogene Brauen sind meine ganze Antwort. Aber die Männer sind tapferer und verständiger, sie lassen sich nicht mit einer bloßen Miene abspeisen, man muß sich in Erörterungen einlassen. Da allerdings bin ich in Verlegenheit! Wie soll man Dinge behaupten, welche Frauen kaum durchblicken lassen dürfen aus Angst vor den Folgerungen? Aber Gott sei Dank, ich besitze Mut und Boshaftigkeit genug. Ich nehme einen solchen Ton an und habe eine solch imposante Haltung, daß es mir bis jetzt noch nie vorgekommen ist, irgendein schlimmes Wort hören zu müssen. Ich billige das Vorgehen nicht, die › Héloise‹ auf Kosten der Raisonnements abzukürzen. Ohne diese wird sie nur noch ein wenig erbauliches Seitenstück zu dem Abenteuer der ersten › Héloise‹ sein. Zwar bin ich überzeugt, das Buch fände alsdann eine größere Zahl von Lesern, aber es würde ihnen verderblich sein, denn diejenigen, die es nicht mit Gegengift lesen können, mögen sich auch das Gift versagen.«

Dann unterwirft Julie verschiedene Kritiken des Buches ihrer eigenen Kritik und meint weiter: »Ich habe eben eine Kritik, betitelt »Prédiction tirée d'un vieux manuscrit« gesehen. Es ist wirklich bewundernswert, wieviel Geist man aufbringt, wenn man nur boshaft sein will; wie es gelingt, große Prinzipien zu entwickeln, sobald man diejenigen anderer übersieht; wieviel gefährliche Konsequenzen man zu finden vermag, wenn man das seltene Talent besitzt, in einem Werke nur das Gift aufzuspüren, und wie jedes moralische Werk zum schädlichen gemacht werden kann, wenn das, was in einer gewissen Gedankenfolge geschrieben ist, umstellt, die verbindenden Ideen unterschlagen, oder gar der Hauptgedanke weggelassen wird, um dessentwillen das Ganze verfaßt worden ist.

Aber die falschen und boshaften Geister sind nicht die einzigen Feinde der Héloise. Ich las kürzlich den Brief eines Mannes von Verstand, Geist und Verdienst, der sich bitter über all das Unheil beklagte, das dies Buch schon angestiftet habe und noch anstiften werde. Seine Auslassungen waren zwar nicht satirischer Art, aber sie entsprangen dafür dem Vorurteil starrer Strenggläubigkeit. Er fand, daß das Buch alles zusammen predige, den Atheismus, den Deismus, den Sozinianismus, Verführung und kindlichen Ungehorsam, jedoch besonders den Selbstmord und die Nutzlosigkeit des Gebets. Ich erstaunte, wie er hatte herausfinden können, daß St. Preux zugunsten des Selbstmordes geschrieben habe, und wie er dagegen völlig übersah, daß Bomston dessen Argumente zunichte machte. Ich bewunderte auch, wie er bemerkt hatte, daß St. Preux Einwürfe erhob gegen das Gebet, ohne zu gewahren, daß Mme. de Wolmar dieselben widerlegte, und zwar in einem Stil, der nur aus einem innigen Gefühl für die Notwendigkeit und Wohltat des Gebets die Kraft schöpfte. Worüber ich aber am meisten erstaunte, war, daß ich in dem Kritiker einen Mann vor mir hatte, der neben allen seinen übrigen Verdiensten noch ein Gelehrter ist, und der dennoch vergessen konnte, daß bei allen Werken, die nicht rein dogmatisch sind, nur auf dem Wege der Diskussion die Wahrheit herausgeschält werden kann.

Wenn Menschen, die nicht imstande sind, Plan, Einzelheiten, Verbindung und Zweck eines Werkes zu erfassen, sich über die Erscheinung eines atheistischen, redlichen Mannes darin ärgern, so verzeihe ich es ihnen; aber mögen sie ihrerseits auch Rousseau verzeihen, daß er nicht für sie geschrieben hat. Rousseau beabsichtigte eine Stufenfolge in der Gläubigkeit seiner Typen, Julie stellt das eine, Wolmar das entgegengesetzte Extrem dar; der Sozianer Bomston und der Deist St. Preux bilden die Übergänge. Aber, heißt es, es hätte gar kein ehrlicher Atheist vorkommen sollen, das erregt Ärgernis; gut, aber für Rousseau gereicht es wohl noch viel mehr zum Ärgernis, Menschen zu sehen, die an Gott und alle seine Offenbarungen glauben und sich dennoch wie Atheisten gebärden. Der Widerspruch ist hier viel offensichtlicher. Ich kann denjenigen nicht verzeihen, welche behaupten, daß sie sich am scheinbaren Widerspruch eines ehrlichen Atheisten ärgern; sie brauchen nur nachzudenken, und sie werden sich beruhigen, es sei denn, daß das Vorurteil an Stelle des Nachdenkens getreten sei. Ehrlichkeit entspringt der Tugend; diese Tugend kann auf Vernunft beruhen und in einer Summe von Prinzipien bestehen; diese selben Prinzipien, in die Tat umgesetzt, werden Gewohnheit, und alles zusammen ergibt eine Art Harmonie, die, als Zügel der Leidenschaften, der Tugend als Hemmnis beigegeben ist. Andererseits entsteht aus dem Mangel der Leidenschaften die Tugend des Temperamentes; dies ist der Fall bei dem phlegmatischen Wolmar, dem es z. B. leicht fiel, sich gegen das sechste Gebot nicht zu versündigen, da er die Fähigkeit, in Zorn zu geraten, gar nicht besitzt. Hätte er keinen Fehltritt begangen, würde er als ein Mann von Vernunft gegolten haben; aber Rousseau würde Tadel verdienen, wenn er uns einen Menschen vorführte, der, obwohl Atheist, stets nur das Gute getan hätte. Aber er verleiht ihm eine Leidenschaft, und diese Leidenschaft verleitet ihn zu der Handlung eines unehrlichen Menschen, gerade, weil er seiner Leidenschaft keine Grundsätze entgegenzuhalten vermag. Somit wäre Rousseau gerechtfertigt, weil er uns doch beweist, daß eine einzige Leidenschaft genügt, um die Tugend eines Menschen ohne Grundsätze umzustürzen. Daraus folgt, daß Wolmar, mit weniger Phlegma ausgestattet, mehr Leidenschaften besessen und infolgedessen mehr schlimme Handlungen begangen hätte. Worüber beklagt man sich also? Daß Rousseau, um dem Plan und Zweck seiner Erzählung gerecht werden zu können, Wolmar nicht heißeres Blut verliehen hat? Der Moral hat er dadurch Genüge getan, daß er ihn eine schlechte Handlung in dem Augenblick begehen läßt, wo er einen hinreichenden Grad der Leidenschaft erreicht hat, um zu dieser Handlung in Versuchung zu kommen. Er hat sogar dieser Handlung jeden Grund einer Entschuldigung vorweggenommen dadurch, daß er ihm ein kühles Temperament und einen nachdenklichen, überlegten Geist mitgab.

Man könnte Rousseau einen andern, viel besser begründeten Vorwurf machen, den seine Kritiker übersehen, weil er nur sein Talent als Schriftsteller berührt, um mit um so größerem Eifer seinen moralischen Charakter herabzusetzen und zu verdächtigen: Das ist die Anfechtbarkeit der Geistesbeschaffenheit Wolmars. Niemals wird ein so kalter Mann so viel feinen und sichern Tackt besitzen; wohl kann er einen nachdenklichen Geist, selbst den der Beobachtung haben, aber diese seine Beobachtung wird sich nie auf Dinge des Gefühls erstrecken können; der Beobachtungsgeist hängt weniger ab von der Richtigkeit des Denkens und dem Reichtum der Kombinationen, als vielmehr von einem Tacktgefühl, das jedem Nachdenken und jeder Überlegung vorausgeht und dessen Ursprung, meiner Meinung nach, in der mechanischen Sensibilität zu suchen ist, wie auch der Ursprung der Leidenschaften.«

So lautet dieser Brief. Beredt, kräftig, freimütig holt Julie aus. Schlag auf Schlag, auf alle die unsichtbaren Feinde Rousseaus. Sie leidet mit dem Dichter der › Héloise‹, weil sie das ganze Heer der Dämonen kennt, die Gedankenlosigkeit, die Bequemlichkeit, die Starrheit und Boshaftigkeit, wenn man die Mittelmäßigkeit aus dem warmen Nest auftreibt und ihr zu verstehen gibt, sie solle einmal bloß den Sitz wechseln und so wenigstens den Zustand des Wechsels kennen lernen und dadurch das karge Denken in Fluß bringen. Julie, die selbst nur das Skelett ihrer Ideen, wie schon erwähnt, ihrer Umgebung vorlegen durfte, sie hat Menschen- und Weltkenntnisse genug, um den Mut Rousseaus mit wärmster Liebe zu verteidigen, den Mut, den sie selbst mit tausend andern nicht so aufgebracht hätte. –

Rousseau liest ihren Brief, und er schreibt seinem Freund Heß in Zürich, der ihm als erster eine Kopie davon zugeschickt hatte: »Ich habe mit Dankbarkeit, und ich kann sagen mit Bewunderung, den Brief des Fräulein Bondeli gelesen. Ich sage mit Bewunderung, denn sie vereinigt in sich, was sich selten irgendwo findet und was ich am wenigsten in Bern gesucht hätte: Gründlichkeit und Schönheit der Darstellung, Richtigkeit und Anmut, den Verstand eines Mannes und den Geist einer Frau, die Feder Voltaires und den Kopf eines Leibniz; sie widerlegt meine Kritiker als Philosophin und verspottet sie als Meisterin; ihre Kritik ist ebenso wohlbegründet, wie ihre Schlagwörter zutreffend sind. Die Art wie sie meine › Héloise‹ verteidigt, läßt mich beinah auch ihre Fehler liebgewinnen. Glücklicherweise hat sie nur einen davon herausgefunden. Ich werde mich aber immer geehrt fühlen, mich von einem solchen Verteidiger verteidigt zu sehen, und ich würde es bedauern, nicht angegriffen zu werden, wenn eine Bondeli mir Recht spräche.«

Diese schmeichelhaften Worte Rousseaus kamen natürlich auch Julie zu Ohren. Selbstredend freute sie sich darüber, fand aber, man habe, wie so oft schon, zuviel Wesens aus ihr gemacht. Nun ließe sich annehmen, Rousseau selbst hätte die persönliche Bekanntschaft einer von ihm so ausgezeichneten Frau gewünscht. Aber es dauerte noch drei Jahre, bis eine persönliche Annäherung zustande kam. Im November 1762 besuchte Juliens Freund Professor Kirchberger, der augenblicklich in sie verliebt war, – » à en perdre les talons« wie Julie lustig sagt – Rousseau in Motiers-Travers. Sie unterhalten sich sehr angeregt, und Rousseau erzählt ihm, daß er nur allein wegen der » Nouvelle Héloise« für 200 Franken Korrespondenzkosten gehabt habe. Er erwähnt dabei auch des berühmten Briefes Juliens, der ihm zugekommen, hat aber den Namen der Schreiberin augenblicklich vergessen, und Kirchberger hilft ihm ihn wiederfinden. Kirchberger macht nun ein sehr anziehendes Bild von Julie, und beide zusammen trinken eine Flasche Wein aus dem Keller des Generalgouverneurs von Neuenburg auf Juliens Wohl; auch gibt Rousseau viele Grüße an sie auf.

Das war im November 1762. Der einzige Brief Rousseaus an Julie, der uns bekannt ist, stammt aber erst vom 28. Januar 1764. Ton und Haltung verraten einen ersten Brief. Julie scheint, wie erwähnt, zuerst geschrieben zu haben, und zwar mit Angst und Bangen; denn sie fürchtet, ihr Schreiben sei gewiß viel zu zärtlich ausgefallen. Die Antwort Rousseaus ist sehr verbindlich, enthält liebenswürdige Schmeicheleien, er legt auch eine kleine eigene Arbeit über das Theater bei. Im September desselben Jahres ist Julie in Neuenburg bei Freunden. Und nun läßt sie zuerst sorgfältig sondieren, ob Rousseau sie allenfalls sehen wolle, und schreibt ihm auf Anraten von Mme. de Luze oder Frau von Stürler einen Brief, in dem sie sagt, daß er sie im Hause ihrer Freunde treffen könne, wenn er wünsche ... Rousseau antwortet wieder sehr verbindlich, fügt wieder ein galantes Kompliment für Julie bei, erklärt aber, daß es ihm gesundheitlich unmöglich sei, Damenbesuche zu machen, es gehe dem Winter entgegen, und er werde sich für volle sieben Monate wie ein Murmeltier verkriechen. Widerstrebend, auf Anraten ihrer Freunde, schreibt Julie ein zweites Mal, aber sie verläßt Neuenburg, ohne ihn gesehen zu haben, und es ist deshalb kein Wunder, wenn sie sich hierauf ihrem Freund Zimmermann gegenüber äußert, daß für alle Platos, antike und moderne, sie nicht ein Atom ihrer weiblichen Würde drangeben werde, wenn Rousseau sie nur aus Gefälligkeit sehen wolle. Ihr Stolz würde der Eitelkeit eines Mannes nie entgegenkommen.

Es ist nun kaum denkbar, daß zwischen diesen beiden Menschen, die sich so wenig näher gekommen sind, ein reger Briefwechsel hätte existieren können. Julie erzählt auch an Sophie Laroche, sie erhalte sehr selten eine persönliche Nachricht von Rousseau, empfinde es jedoch als ein besonderes Vergnügen, wenn etwas eintreffe; nur verdrieße es sie, daß Rousseau glaube, ihr gegenüber stets den Galanten spielen zu müssen. Es ist ganz klar, daß bei dem Verhalten Rousseaus ein paar Komplimente sie nicht von seiner Freundschaft überzeugen konnten. Julie verhehlt auch eine leise Verstimmung ihm gegenüber nicht, behält aber dieselbe Verehrung und Hochachtung ohne Einschränkung für ihn stets bei.

Im Januar 1765 ist in Genf die Magistratenversammlung wegen Rousseaus eben erschienenen » Lettres de la montagne«. Julie liest diese persönliche Verteidigung Rousseaus mit glühender Begeisterung und möchte die Perücken in Genf zerzausen, die da über den großen Mann zu Gericht sitzen. Sie ahnt es, daß dies Buch ihm zum Verhängnis wird, und ist glücklich, daß die Ortschaft Couvet im Jura dem Verfehmten Asyl und Bürgerrecht angeboten und er beides angenommen hat. Sie wagt es auch öffentlich zu betonen, die » Lettres de la montagne« seien Rousseaus bestes Werk. In eine solche Verteidigungswut gerät sie, das gewiß die bedauernden Worte Tscharners in diese Zeit fallen: »Die armi Bondeli, sie ma nit meh, sie het hüt scho so viel Lüt muesse z' Grund u z' Bode rede.«

An Usteri schreibt sie: »Ich las die › Lettres de la Montagne‹ gerade an dem Tage der Genfer Generalversammlung, und es ist ein Glück für den Hohen Rat, daß meine Erregung sich den Bürgern nicht mitteilen konnte. Das Unglück Rousseaus trat von neuem lebhaft vor meine Seele; ich war mit schmerzlichen Gefühlen in den Monat Juni des Jahres 62 zurückversetzt, und klarere Einsichten in die ihm widerfahrenen Ungerechtigkeiten machten mich unglücklicher, als er es selbst vielleicht je gewesen ist. Hier verdammt niemand sein Buch absolut, niemand billigt es ganz, und als ob meine Ansicht unter der Menge der verschiedenen Meinungen von irgendwelchem Gewichte sein könnte, erweist man mir die Ehre, mich schriftlich und durch Besuch um meine Ansicht auszuforschen. Ich habe immer das Unglück gehabt, den Kopf › à l'envers‹ zu haben und außerdem zu wagen, meine eigene Ansicht zu behaupten; ich antwortete also gerade heraus: Daß die › Lettres de la Montagne‹ Rousseaus bestes Werk seien. Bis jetzt habe ich nur Herrn Wilhelmi gefunden, welcher ganz meiner Meinung ist. Alles, selbst den Stil und die praktische Moral Rousseaus, sehe ich mich genötigt zu verteidigen. Den ersten findet man zu scharf und zu bitter. Aber was will man eigentlich? Soll sich die Natur der Dinge verändern? Dieser feurige und lichtvolle Stil, welcher selbst die verborgensten Gründe so vieler wichtiger und interessanter Gegenstände erhellt, soll dieser Stil schwach, kraftlos, matt und weichlich werden, weil er von Dingen spricht, die Rousseau persönlich angehen? Der Stil ist derselbe, nur der Gegenstand ist ein anderer. Was seine praktische Moral anbetrifft, ein anderer Irrtum! Diese edle Seele, welche der geringste Anschein der Ungerechtigkeit empört, dieses gefühlvolle und empfindliche Herz, welches selbst die verborgensten Triebfedern der Tugend in unseren Herzen bewegt, diese zarte und doch kräftige, unwiderstehliche Phantasie, welche uns so oft das Schöne und Gute in wahren Farben geschildert hat – all das sollte seine Natur verleugnen? Diese Seele sollte gleichgültig werden gegen persönliche Ungerechtigkeiten? Dies Herz sollte seine Empfindsamkeit für sich selbst verlieren? Diese Einbildungskraft sollte matt und schwach werden in der Schilderung der eigenen Leiden? Oh, ich frage: Wer von uns würde die vereinten Gewalten parteiischer Obrigkeit und verborgener Gesetzesübertreter ertragen? Wer die Schliche schuldiger Rivalen, den Einfluß sophistischer Richter und den falschen und boshaften Eifer angeblich heiliger Theologen? Die Liebe zur Wahrheit und die Flamme des Genies haben Rousseau bei seinen frühern Werken stets geleitet, und die Begeisterung für das eine und das andere haben ihm immer die Feder geführt. Jetzt aber, wo er von einem neuen Gesichtspunkte aus, gerüstet mit der Schere der Analyse, methodisch den Faden der Diskussion verfolgt, wo er erläutert, auseinanderlegt, entwickelt und beleuchtet, jetzt will man ihm ein neues Verbrechen daraus machen, daß man ihn in ein neues Amt hineingetrieben hat? Ja freilich, er hätte die sogenannten wahren [Gläubigen] nicht des geheiligten Vorrechts entheben dürfen, ihn das sagen und denken zu lassen, was er weder gesagt, noch gedacht hat. Mich, welche die Liebe zu Gott und das Verlangen nach dem Kommen seines Reiches nie so weit fortgerissen hat, ich habe gewagt, in Rousseaus Briefen Aufklärungen und Erläuterungen zu finden, die ich selbst seinen Werken gegeben hatte. Gerade so hatte ich seine Idee über das dem politischen Staate angepaßte Christentum verstanden. Sein › Contrat social‹ schien mir in dieser Beziehung eine Lücke zu haben – nicht für mich, die ich schon lange das zu denken gewagt, was Rousseau geschrieben hat, aber für die andern, denen diese Lücke Grund bot, an einen falschen Schein zu glauben, weil sie diesen falschen Schein brauchen. Genau so verhält es sich auch mit den Erörterungen über die Wunder. Wenn Redensarten und Gemeinplätze in einem so heiligen Jahrhundert wie das unserige keine Entweihungen sind, so ist das Sache des Geschmacks, und ebenso verhält es sich mit der Vorliebe des einzelnen für Paulus oder Jakobus. In jedem Falle hängt die Beurteilung vom Ideengang des einzelnen ab – wer von uns aber ist berechtigt, diesen Ideengang in eine Form zu zwängen? Ich habe schon oft erklärt, daß ich Paulus nicht verstehe, daß er mir Furcht einflößt. Sollte man mich vermittels Zweifeln, Dunkelheiten des Geistes und Schrecken der Seele einer Religion zuführen wollen, deren charakteristische Merkmale edle Einfachheit, der Geist des Friedens und der Milde sind? Wenn ich also lieber Christin bin auf die Weise des Jakobus – was geht das den Berner Konvent, die Utrechter Synode und die schmutzige Neuenburger Zeitung an? Andererseits, wenn ich an die Wunder glaube, weil sie in den Evangelien stehen, und nicht an die Evangelien, weil darin Wunder vorkommen; wenn ich schließlich in den Lehren und nicht in den Tatsachen die Notwendigkeit erkenne, gerecht und ehrbar zu sein – was geht das die Glaubensinspektoren an? Sie werden mich höchstens vor einem Tribunal für Logik verklagen können; aber gottlob wird niemand wegen unrichtiger Vernunftsschlüsse bestraft.«

 

VI.

Im Sommer 1765 ist Julie wieder in Neuenburg. Eine Verstimmung Rousseaus ihr gegenüber wegen eines ihrer Freunde, der zu seinen Verfolgern zählte, scheint gehoben und Rousseau besucht sie endlich bei ihren Freunden zweimal in Neuenburg. Das erstemal, fühlt sie, habe sie ihm mißfallen, eine Wahrnehmung, die Julie laut Erfahrung bei einer neuen Bekanntschaft beinah immer machen muß. Das zweitemal, meldet sie, sei es besser gegangen. Voll Freude und Genugtuung schreibt sie dies ihrer empfindsamen Freundin nach Deutschland.

Bald darauf setzen die Verfolgungen der Bevölkerung von Motiers gegen Rousseau ein. Neuenburg weist ihn aus. Man bewirft dem Verängstigten die Fenster mit Steinen, und im September flieht er in den Kanton Bern, auf die Petersinsel im Bielersee. Im Oktober vertreibt ihn aber bereits die Berner Regierung auch von dort, und er flüchtet über Paris und Straßburg nach England zu seinem Freunde Hume. Die persönlichen Beziehungen Juliens zu Rousseau sind allem Anschein nach schon vor seiner Übersiedelung nach der Petersinsel wieder abgebrochen. Noch erwähnt sie, daß sie ihm getrocknete Blumen, die ihr jemand für ihn geschickt, für sein Herbarium nach Motiers zugestellt habe. Schon über seinen Aufenthalt auf der Petersinsel hört sie nur noch von gemeinsamen Freunden. Dann verschwindet er ganz aus ihrem Gesichtskreis. Nur ihre große Bewunderung und Verehrung, ihr Mitgefühl, ihre Liebe, hat sie ihm bis an seinen Tod bewahrt. Rousseau ist ein paar Monate vor Julie in Ermenonville gestorben.

Auch an Julie ist der Tod frühe herangetreten. Mit dreißig Jahren schon durfte sie nicht mehr spazierengehen wie andere Menschen. Sie sollte auch nicht reden. Und beides, reden und gehen, tat sie gern. Sie meint heiter, es wäre am besten, sie würde zur Heiligen und könnte sich in ihrer Nische stillehalten. Nie aber hört man in ihren Briefen eine Klage, kaum erwähnt sie, daß sie leidet, auch dann nicht, wenn der furchtbare Husten sie so erschüttert, daß sie ihre Buchstaben kaum zu Papier bringen kann. Wir finden in ihren Briefen stets eine freudige, kraftvolle Stimmung, ein unbedingtes Glauben an den verborgenen Sinn und Wert des Lebens, nie eine Stimmung, die nach unten wiese, sondern wie aus einer Kraft diktiert, die sich selbst auf der gleichen ruhigen Höhe hält.

Es ist einmal Zimmermann gewesen, der ihr als Arzt half, als sie bereits aufgegeben war. Ein andermal ist es Haller, der mit einem einfachen Mittel sie wieder vorübergehend herstellt. Später, im Schlosse Montricher im Waadtland, wo sie zu Gast weilte, kam noch hinzu, daß der Koch während einer ganzen Woche Petersilie mit Schierling verwechselt hatte, wobei natürlich alle Insassen des Schlosses ernstlich an Vergiftungserscheinungen erkrankten. Diesmal war es der berühmte Arzt Tissot aus Lausanne, der Julie und ihre Verwandten rettete. Aber seit dieser Vergiftung blieb ihre Gesundheit mehr denn je schwankend. Jedoch weiß sie mit bewunderungswürdiger Überwindung diesem schlechten körperlichen Zustand kein Gehör zu schenken. Als im Frühjahr 1767 ihre Mutter schwer erkrankt, pflegt Julie sie aufopfernd. Sie schreibt, wie sie bei ihrem damals sehr schlechten Befinden eine äußerste Willensanstrengung gebraucht habe, um ihrer Mutter das Sterben zu erleichtern, sie heiter und zuversichtlich zu erhalten; dann, als die Kohorten des Todes sich genaht hätten, habe sie alle ihre philosophischen Kräfte zusammengenommen, um den erschlaffenden, schwindenden Geist ihrer Mutter zu stützen, und Gott sei Dank, es sei ihr gelungen, ihr den Weg zu ebnen, soweit dies menschlich möglich gewesen sei.

Nach dem Tod der Mutter besorgt Julie allein die Auflösung des Haushalts, denn ihre Schwester mochte sich nicht damit befassen. Als dann diese ihre einzige junge und schöne Schwester sich unerwartet rasch vermählt, bleibt Julie allein. Sie zieht gänzlich nach Neuenburg, zu ihrer Freundin, der Generalin Sandoz. Dort fühlt sie sich sehr wohl im Kreise ihrer Wahlverwandten, blüht auch körperlich für eine Zeitlang auf und behauptet, sie sei wieder hübsch und jung, aber auch einfacher geworden. Sie lese nicht mehr viel, genieße den Tag, weil sie glücklich sei. Aber da widerfährt ihr das Leid, daß sie durch Verkennung – Lavater hatte dabei nicht die kleinste Schuld – ihren langjährigen Freund Zimmermann verliert. Mehrmals versucht sie durch Briefe, ihm sich wieder zu nähern. Sie schreibt ihm am 5. April 1769:

»Es sind vier Monate her, mein lieber Freund, seit ich Ihnen einen Brief schrieb, den ich einem Schreiben an Herrn Usteri beigelegt zu haben glaubte, damit er ihn Lavater für Sie übermittle. Sie werden meine Überraschung begreifen, wenn ich Ihnen sage, daß ich kürzlich den besagten Brief in einem Stoß von Papieren wiederfand, die ich mit mir nach Bern genommen hatte. Am Abend Ihrer Abreise von Brugg schrieben Sie mir noch, ich würde Nachrichten von Ihnen bekommen, sobald Sie in Hannover seien. Mit der ganzen Ungeduld einer zärtlichen Freundschaft suchte ich später, mir Ihr Stillschweigen mit Arbeit und Geschäften zu erklären; aber bald packte mich die Angst, von Ihnen vergessen zu sein, um so mehr, da kein Zeichen des Erinnerns von Ihnen eintraf. Da schrieb ich Ihnen denn den von mir vergessenen Brief. Auch habe ich wenigstens tausendmal in Zürich Nachrichten über Sie erbeten. Alle meine diesbezüglichen Bitten waren an Lavater gerichtet, der mir stets sagen ließ, es gehe Ihnen sehr gut, und Sie seien vollkommen glücklich. Mit unumstößlichem Glauben nahm ich alle diese Auskünfte entgegen, und daher kam es, daß Ihr weiteres Schweigen mir tatsächlich nach und nach Vergessen bedeutete. So stand es, mein lieber Zimmermann, um meine Kenntnis über Ihr Glück, Ihre Gesundheit, bis Mitte März, als ich durch Haller erfuhr, daß Sie weder glücklich, noch gesund seien. Nun wurde mir Ihr Stillschweigen klar. Ich schrieb meine Sorgen um Sie an Herrn Usteri, damit er davon mit Lavater spreche und ihm meine Verwunderung ausdrücke darüber, daß die Nachrichten über meinen Freund Zimmermann so wenig seinen Mitteilungen entsprächen. Vor sechs Tagen schrieb mir nun Lavater selbst und sprach klar. Warum tat er es nicht früher? Warum hat er mich im Glauben gelassen, daß Sie glücklich seien? Warum unterhielt er in mir den Verdacht, daß Ihr Stillschweigen für mich wirklich Vergessen bedeute. Und warum stellte er mich Ihnen so hin, als ob Ihr Geschick mir gleichgültig sei? O, mein Freund, glauben Sie dies nicht! Ich werde Sie immer und immer mit jener Aufrichtigkeit, jener Anhänglichkeit lieben, die unser Verhältnis dereinst so reizvoll machte und die einen Teil meines Glückes bildete. Mein eigenes Glück wird stets erhöht oder verringert werden durch Wandlungen Ihres Geschicks, und niemals kann Zimmermann für seine Freundin ein Gegenstand der Gleichgültigkeit werden.

Mein lieber Freund, konnten Sie denn vergessen, daß meine zärtliche Freundschaft nur eine beständige und dauernde sein konnte? Wenn ich Ihnen während einiger Zeit nicht mit derselben Pünktlichkeit schrieb wie früher, war es, weil ich Ihren neuen Verhältnissen Rechnung trug und Sie nicht ermüden wollte durch eine überflüssige Beschäftigung. Zu jeder Stunde aber war Ihnen mein Herz und meine Seele offen, und die Beweise, daß Zimmermann sich meiner erinnerte, bildeten stets mein Glück. Auch heute ist es noch so, mein guter Freund. Kehren Sie, kehren Sie zurück zu Ihrer Freundin! Selbst in der Ungewißheit über Ihr Geschick und Ihre Freundschaft, hat sie Sie nie aus den Augen verloren, und Sie blieben stets der Freund ihrer Seele. Ein Wort, eine Zeile, eine einzige Zeile von Ihrer Hand würde mein Herz mit der köstlichsten Freude erfüllen. Werden Sie sie mir vorenthalten, lieber Freund? Urteilen Sie selbst, wie sehr Sie mein Glück vergrößern würden, wenn Sie mir ausführlicher schreiben könnten, schreiben wollten, wenn Sie für mich noch jene Unbegrenztheit des Vertrauens hätten, die wir so gut kannten, und deren meine zärtliche Freundschaft stets würdig war.«

Trotz der Innigkeit und Herzlichkeit ihrer Bitte um Rückkehr des Freundes gelingt es ihr nicht, ihn zu halten. Das ist ihr ein herber Schmerz. Dann scheint sie in eine unangenehme Familienangelegenheit hineingezogen zu sein. Liebreich und sanft wie sie ist, unterzieht sie sich dieser Widerwärtigkeit aus einer » enragerie de bienveillance« heraus. Gewiß, meint sie, hätte sie sich diese Aufregungen ersparen können, der Egoismus habe auch seinen Wert. Zwanzig Monate moralischer Leiden und acht Monate schrecklicher körperlicher Schmerzen waren die Folge davon für ihre zarte, nervöse Konstitution. Aber auch darüber klagt sie nicht, sondern sie fürchtet bloß, ihre Seele werde sich wohl nie zu so hoher Schönheit erheben, um von diesen Erlebnissen ohne Bitterkeit reden zu können.

Sie hat sich nicht wieder erholt. Ihre letzte Krankheit war lang und grausam. Der beinah ununterbrochene Husten hatte sie völlig aufgezehrt; ihr Leiden war, wie berichtet wird, grenzenlos. Als am Morgen ihres Todes der Arzt ins Zimmer trat und von der Wärterin den Bericht erhielt, die Kranke habe während der Nacht furchtbar gelitten, verbessert Julie sie heroisch mit dem letzten Hauch ihrer sterbenden Stimme: »Ach, meine Liebe, man nennt einige vorübergehende Schmerzen nicht furchtbar.« Eine halbe Stunde später starb sie. Das war am 8. August 1778.

 

VII.

Worauf uns Julie eine Antwort schuldig blieb, das ist die letzte Ergänzung ihres Wesens: ihr Verhalten zur Religion. Ihre Biographen möchten das Fehlen eines Glaubensbekenntnisses ihrer Erziehung, der Zeit der Vorrevolution, der Nähe der Enzyklopädisten, ihrer Geistesrichtung, ihren vorherrschenden ausgesprochenen Verstandesfähigkeiten zuschreiben. Es ist wahr, Julie macht kein Geständnis, scheint im Gegenteil das Reden über die höchsten Dinge absichtlich zu vermeiden. Sie ist Kalvinistin. Von den Anfängen der Reformation, des Protestantismus hört sie nicht gerne reden. Was ihr entschieden fehlt, das ist Sinn und Gefühl für die Natur, es fehlt ihr jeder Hang zur Mystik. Sie ist besonnen, gebunden, sie bewegt sich in einem bestimmten Kreis von Vorstellungen, den sie erweitert, vertieft, verschönt, aber nie übertritt. Nach Bild oder Symbol dessen, was namenlos zwischen Himmel und Erde liegt, scheint ihr Geist nicht zu verlangen. Und alle Phantasietätigkeit streift sie mit Bewußtsein ab, je würdiger und sinnvoller der Gegenstand, den sie davon befreit wissen möchte, an sich ihr erscheint. Sie belächelt und bedauert den Aberglauben, tadelt den Unglauben als einer Frau widernatürlich, verurteilt den Überglauben Lavaters, dessen phantastische konstruktive Mystik – aber von ihrem Glauben redet sie nie. Sie bezeichnet sich selbst als moralische Heidin und scheint in der natürlichen Superiorität ihres Geistes vorübergehend Genüge gefunden zu haben. Und doch sucht Julie in jeder Einzelwissenschaft Bereicherung zu einem unverrückbaren Ganzen, die Flamme zum brennenden Mittelpunkt, in den sie ihr Sein werfen könnte. Wir finden sie in allseitigen Interessen und mit Tat und Wandel strebend bemüht – wonach denn? Ist es möglich, daß ein Mensch wie sie, mit so starkem Kausalbedürfnis, der in fester, straffer Gedankenarbeit die Fundamente des menschlichen Denkens durchlief, ist es möglich, daß dieser Geist nie an die Mauer stieß, die Gott heißt? Ist es möglich, daß sie, die mit viel Gedanken dachte und mit viel Gefühlen fühlte, daß sie Gleichgültigkeit und spröde Kühle angenommen hätte, gerade dort, wo das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit für den Menschengeist erst beginnen?

Ihr Wesen gab Beruhigung und höchstes Vertrauen. Wir sehen ihren Gerechtigkeitssinn, ihre Geduld und Nachsicht, wir erkennen die Innigkeit ihres Fühlens, ihre zärtliche Abhängigkeit, sobald sie liebt. Wir sehen ihr ganzes Leben auf sittliche Ernsthaftigkeit gegründet. Und wenn wir sie fragen könnten, sie, die sich jeden Tag die Milde und Heiterkeit der Seele neu erringen mußte, um ihr Urteil über das Verhältnis des Menschen zu seinem Anrecht auf Glück, so würde sie uns gewiß nur dies Glück als erstrebenswert und verdient bezeichnet haben, das aus der Erfüllung einer Pflicht geboren ist. Wir hören sie in Neuenburg, als sie glücklicher ist, die Worte sagen: »Wir leben vom Wahren, nicht vom Schönen«, und können damit ihren Wandel vom ästhetischen Erfassen ihres Weltbildes zum ethischen auch in Worten wahrnehmen. Im Anschluß an dies Bekenntnis fügt sie auch bei, daß sie es als einen Beweis ihrer Reife betrachte, so weit gekommen zu sein, daß sie die Mittelmäßigkeit stillschweigend zu dulden vermöge. Dies ist der Augenblick im Leben eines jeden geistig hochstehenden Menschen, wo der verborgenste geistige Hochmut flieht und einer andern Welterfassung Platz macht.

Wir finden Julie allezeit empfänglich für alles Große und Gute, Wahrhaftige und Echte, wir finden bei ihr die Ehrfurcht vor dem großen Geheimnis – ist sie da nicht im Vorraum der Religion? Schmälert es ihr Bild, weil sie für uns, nach außen, nicht die Grenzen ihres Glaubens zog? Es war der Unabhängigen keine zeitliche Frist gegeben, die letzten Schlüsse, Folgerungen, Ergebnisse ihres Lebens und ihrer Ideen in Worten vor uns hinzulegen. Hätte sie es getan, so wäre wahrhaftig keine Phrase daraus geworden. Ein Denkender ist immer ein Andächtiger. Auf ihrer Schwelle lag die Demut. Sie ist es, die das Herz bereit macht. Und es sind nicht die unfruchtbarsten und schwächsten Denker, die ein System verwerfen und die letzten Konsequenzen ihres Denkens nur in ihr eigenes Gefühl verschließen.

Wenn Julie einmal resigniert meint, man müsse leben, lernen, beobachten, aber sie lache schon jetzt zum voraus, wenn ihr eines Tages die ganze Nutzlosigkeit ihres geistigen Schaffens klar werden sollte – so möchte ich ihr zurufen: Lache nicht, Julie. Wir halten dir noch ein letztes Wort Goethes entgegen, das er in ruhiger Selbstverständlichkeit dereinst gesprochen: »Zu wirken, zu genießen soll der Mensch etwas zurücklassen.«

Du gehörst zu jenen Menschen, die uns ein solches Vermächtnis hinterlassen haben. Daß du es bescheiden nicht gewollt und nicht gewußt, ist wohl das schönste dabei.

 


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