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Im späten November des Jahres 1899 machte ich mit meiner Frau einen zweitägigen Ausflug von München an den Tegernsee. In Schaftlach verließen wir die Bahn und pilgerten zu Fuß dem nahe blauenden Gebirge entgegen. War es der Rhythmus des Wanderns, der schlafende Jugenderinnerungen weckte, war es der Anblick der da und dort auf den Wiesenmatten behäbig hingelagerten Bauernhöfe, der durch eine leicht verständliche Assoziation frühe Kindheitsbilder herbeirief: mir fiel plötzlich eine Geschichte von zwei benachbarten Höfen ein, deren Besitzer sich wegen eines um ein paar Fuß vor oder zurück zu rückenden Grenzzauns mit dem Gewehr in der Hand gegenübergestanden hatten. Meine Großmutter hatte es mir berichtet; auf dem eigenen Väterboden sollte sie sich dermaleinst zugetragen haben. Ich habe im ersten Teil dieser Erinnerungen »Scholle und Schicksal«, Geschichte meiner Jugend (Verlag »Das Bergland-Buch« Salzburg).davon erzählt. Wer sich dafür interessiert, lese es dort nach. Schutt und Humus so manchen Lebensjahres hatten sich darübergeschichtet. Aber jener frühe Keim hatte sich tief unten verwurzelt und drängte nun zum Licht. Ich horchte verwundert auf das Zeichen aus der Tiefe und erzählte meiner Frau davon, indes vor unseren Schritten die Türme von »Kloster Tegrinsee« im Lichte des bleichen Novembernachmittags langsam Form und Umriß gewannen.
Ein Jahr darauf befand ich mich mitten in der Arbeit an meinem Drama »Haus Rosenhagen«. Der Erinnerungskeim jenes Novembernachmittags auf der Straße nach Tegernsee, zur Seite der glucksenden Flut, hatte sich in der Zwischenzeit, befruchtet durch allerlei neuen persönlichen Lebensstoff (Hamburg, September 1900) zu einer dreiaktigen Handlung ausgewachsen. Gegensätzliches, schier Unvereinbares hatte sich dennoch zusammengeschlossen und war eben dadurch, eben durch seine Polarität, zum Thema des Dramas geworden. Heimat und Fremde, haftende Scholle und schweifendes Vagantentum, Tradition und Losgelöstheit, Gestern und Morgen, zwischen denen unser Heute zerbricht: ebensoviele Umschreibungen des gleichen Motivs, das schillernd, flimmernd, irrlichtelierend mich umschwebte und dadurch meinen dramatischen Schritt wohl manchmal schwankend machte, die formende Hand hier und da danebengreifen ließ.
Die Inkongruenz dieser gar zu verschiedenartigen Mischung empfinde ich nicht erst seit heute. Sie war mir dunkel schon bewußt in jenen Oktober-, November-, Dezembertagen 1900, als ich in München den ersten, dann in Berlin die beiden anderen Akte des Dramas schnellen Wurfs zu Papier brachte. Aber es gibt wie in der Liebe so auch im dichterischen Zeugen und Schaffen eine Art von Zwang, dem der davon Besessene mit allen Vernunftgründen sich nicht zu entwinden vermag. Wie man die Fehler des geliebten Wesens nur allzu deutlich durchschauen kann und dennoch nicht aufhört, es zu lieben, so kann es dem Dichter geschehen, daß er einem als brüchig oder unharmonisch erkannten Stoff trotzdem oder eben darum sich in die Arme wirft und nur desto leidenschaftlicher mit ihm ringt, zumal wenn noch nahe Erinnerung durchlebter Glücksstunden ihre Kreise um ihn zieht.
Ich habe das Schauspiel, nicht lange nachdem es entstanden war, im Hause Paul Schlenthers in Wien, des damaligen Burgtheaterdirektors, vorgelesen. Als wir nachher darüber sprachen, war es fast das erste, daß Schlenther, dieser feine Kenner und Erkenner dichterischen Wesens, mich auf diese beiden so entgegengesetzten dramatischen Komponenten des Stückes aufmerksam machte. Auch ich war mir schon damals darüber klar und bekannte mich unumwunden zu den von ihm gerügten Mängeln und Schwächen, an denen ja nun nichts mehr zu ändern war; ja, die ich nicht einmal hätte ändern wollen, selbst wenn ich es gekonnt hätte, so erfüllt war ich noch immer von dem jener Zwiespältigkeit zugrundeliegenden menschlichen Erlebnis. Vielleicht dachte ich an den Spruch jenes Jesuitengenerals: Sit ut est aut non sit! Es bleibe wie es ist, oder es bleibe nicht!
Das Wort sollte auch in meinem Fall zutreffen. »Haus Rosenhagen« hat sich trotz aller unbestreitbaren Brüche und Risse in seiner dramatischen Verzahnung tapfer auf der Bühne behauptet; man kann sagen, bis heute, wo nun erst alle damals leitmotivisch von mir behandelten Themen und Polaritäten wie die von Scholle und Asphalt, von Nomadentum und Beharrung, von Eingesessenheit und Landhunger sich einem allgemeineren Verständnis zu erschließen beginnen.
In den Weihnachstagen 1900 machte ich zuerst eine kleine Runde von Freunden und Münchner sowie Dresdener Theaterleuten mit der neuen Arbeit bekannt. Sie wurde daraufhin von den beiden Hoftheatern in München und Dresden sofort im Manuskript angenommen. Das Dresdener Hoftheater kam schon am 14. Februar 1901 mit der Uraufführung heraus, Anfang März folgte München. Der Erfolg war in beiden Städten übereinstimmend groß und herzlich. In der Dresdener Neustadt – soweit ich mich entsinne, stand noch das alte Haus – spielte Paul Wiecke die tragende Rolle des Karl Egon, meines im Widerstreit von Pflicht und Liebe zum tragischen Ende geführten Helden, und holte sich einen persönlichen Sondererfolg damit. Es war ein wenn auch spätes Pflaster auf jene »Eroberer«-Wunde vor einigen Jahren, die wohl noch immer nicht ganz verheilt war. Der junge, schlanke Mann mit der freien Künstlerstirn und dem lockig-welligen Braunhaar, ein Frauenliebling, brachte für das Fach dieser modernen jugendlichen Helden meist schwankenden Charakters alle nur denkbaren Vorzüge mit; sein Tasso, sein Orest, sein Hamlet waren schon aus seiner Weimarer Zeit her berühmt. Als Paul Warkentin in meiner »Mutter Erde« war er hier an gleicher Stätte meiner inneren Vorstellung von dieser Rolle mit am nächsten unter allen, die sie spielten, gekommen. Aus diesen gemeinsamen Erlebnissen und Erinnerungen erwuchs ganz von selbst eine engere menschliche Beziehung zwischen Schauspieler und Autor.
Auch mit dem Dresdener Hoftheater, dem altberühmten und durch Seebachs Initiative gerade damals neu verjüngten, knüpfte die erfolgreiche Uraufführung für die nächsten Jahre ein festes Band. Graf Seebach, aus dem sächsischen Hochadel und Grandseigneur vom Scheitel bis zur Sohle – ein Grandseigneur von nahezu zwei Meter Höhe –, gehörte zu jener damals noch nicht lange zu Amt und Würden gelangten Gruppe von Hoftheaterintendanten, die ihre Bühne nach Möglichkeit dem Geiste der modernen Dramatik zu öffnen trachteten. Es gab ihrer noch nicht gar viele. Höfische und allgemeine Widerstände oft schwierigster Art waren zu überwinden. Auch Seebach konnte ein Lied davon singen. Aber das Vertrauen seines königlichen Herrn blieb ihm in allen Anfechtungen treu und machte seine Stellung unangreifbar. Der vornehme Kavalier war von so untadeliger Gesinnung, seine weiße Weste strahlte so fleckenlos, daß mit der persönlichen Gegnerschaft auch die sachliche gegen das von ihm eingeführte und konsequent festgehaltene moderne Regime am Dresdener Hoftheater verstummen mußte.
Seebachs rechte Hand in allen dramaturgischen Fragen war schon damals Dr. Karl Zeiß, der nachmalige Frankfurter und Münchner Generalintendant. Den jungen Philologen hatte es nicht im Lehrberuf gelitten. Die Theaterleidenschaft des geborenen Meiningers war mächtiger als alles andere. So war er zu Seebach gekommen, der seine Begabung erkannte und förderte. Eine bekannte Scherzfrage unter Bühnenleuten heißt: Was hat ein Dramaturg zu tun? Die Antwort lautet: Ein Dramaturg hat diejenigen Stücke zu lesen, die nicht aufgeführt werden. Womit gesagt werden soll, daß ein Dramaturg das überflüssigste Möbel von der Welt ist. Die Formulierung ist boshaft, entbehrt aber nicht eines Körnchens Wahrheit, wenn man sich die Tatsache vergegenwärtigt, daß jahrelang jede größere Universität in ihren Theaterseminaren geradezu eine Massenproduktion von sogenannten Dramaturgen betrieb, die dann die deutschen Theater bis zu den kleinsten Wanderschmieren überschwemmten, da sie doch irgendwo unterkommen wollten und mußten. In der Tat kann man sich kaum etwas Überflüssigeres denken als die Existenz vieler dieser jungen Leute, die mangels jeder anderen Funktion eigentlich nur dazu da sind, daß Direktor, Spielleiter und Schauspieler über sie stolpern. Es ist dieselbe Art oder Abart wie so manche der sogenannten »lateinischen Regisseure«, über die sich auch jeder richtige Theatermensch nicht wenig zu »giften« pflegt.
Was diese Kategorie von Auch-Regisseuren und Auch-Dramaturgen – sie sind heute bereits wieder im Abebben – für ihren Beruf so untauglich macht, das ist das Zuviel an totem Wissen mit seinem Gefolge von maßloser Selbstüberschätzung und das Zuwenig an lebendigem Theaterblut. Hier ist der Punkt, wo sich die Geister scheiden. Wer kein Theaterblut besitzt, der lasse die Finger vom Theater und allem, was des Theaters ist! Dies gilt nicht zuletzt auch für diejenigen, die über das Theater schreiben, für die Herren Theaterkritiker. Als ich damals in Dresden den jungen dramaturgischen Doktor und Regisseur an Seebachs Seite kennenlernte, gewann ich sehr bald den Eindruck, daß das einer war, der Theaterblut hatte, mochte auch sein bisheriger Bildungsgang das Gegenteil vermuten lassen. Denn es gab ja schon damals lateinische Regisseure. Ja, es war gerade die Zeit, wo sie aufzukommen begannen.
Karl Zeiß war kein trockener Wissensmensch mit unglücklicher Liebe zum Theater. Alles, was er sagte und wie er es anfaßte, war von jenem lebendigen Fingerspitzengefühl, das sofort den berufenen Dramaturgen oder Regisseur verrät. Bildung und Wissen – er besaß sie in reichem Maße – waren ihm nur nützliche und notwendige Handhaben, nicht Selbstzweck. Dies trug schon damals nicht wenig zu seiner Beliebtheit bei den Schauspielern bei. Denn nichts verletzt die Darsteller mehr als jenes gewisse Überlegenheitsgefühl, jener geistige Hochmut, wie man es nennen kann, mit dem ihnen so manche der jungen Doktores der Theaterwissenschaft entgegenzutreten pflegen. Diese wohltuende menschliche Einfachheit und Bescheidenheit, der vollständige Mangel an jeder Großtuerei, war eine der kennzeichnendsten Eigenschaften des verdienten und bedeutenden Theatermannes. Er hat sie sich durch seine ganze Laufbahn bewahrt, auch noch, als er schon der hochmögende Generalintendant in Frankfurt und in München war. Als ihn im Februar 1924 der Tod gewissermaßen in den Sielen dahinraffte, war die Trauer beim gesamten Personal echt und tief wie um einen dahingegangenen väterlichen Freund.
In jener Probenzeit von »Haus Rosenhagen« kam ich täglich mit Zeiß zusammen und erfreute mich an seiner naturburschenhaften Drolligkeit. Wir verkehrten in der bekannten Dresdener Bierstube von Kneist, wo man allen Größen vom Theater begegnen konnte. Auch Graf Seebach erschien oft an unserem Tisch und gab sich mit der nonchalanten Ungezwungenheit des Hofkavaliers, die doch immer Distanz hält. Seine Äußerungen über literarische und Theaterfragen waren oft treffend und überraschten durch pointierte Kürze. Man hätte sie, schon wegen ihrer Vorurteilslosigkeit, von dem einstigen Gardereiteroffizier kaum so erwartet.
Zeiß führte schon damals das Wort vom »Gepflegten Theater« im Munde, das dann sein Programm wurde, als er sich selbst in leitender Stellung befand und die Möglichkeit besaß, es zu verwirklichen. Danach sollten Bühnen von Rang, Bühnen, die etwas auf sich hielten, eine gewisse gute mittlere Linie zwischen den Extremen von Rechts und Links, zwischen allzuviel Klassizität und allzuviel Modernität befolgen und unter Vermeidung rein artistischer Experimente und jener Überinstrumentierung und Überinszenierung, die damals gerade Mode wurden, sich vor allem wieder der Pflege des lange vernachlässigten dichterischen Wortes zuwenden. Es waren, wie man sieht, die wiedererstandenen Grundsätze Laubes, als er das Burgtheater führte, und in gewissem Sinne auch die von Brahm, nur in einer gemilderten Form und ohne dessen naturalistische Unbedingtheit. In einer jetzt bereits wieder abgelaufenen Theaterepoche haben sie viel Nachfolgeschaft bei den deutschen Bühnenleitern gefunden, die darin ein Gegengewicht gegen den Regieexpressionismus der Reinhardtschen Schule erblickten. Zeiß war mit der Schauspielerin Hedwig Gasny verheiratet, die eines meiner frühesten Annchen gewesen war. Seebach hatte sie, als er sie im Gärtnertheater die Rolle spielen sah, vom Fleck weg nach Dresden ans Hoftheater engagiert, wo sie eine Reihe von Jahren mit großem Erfolg wirkte. Die äußerst temperamentvolle und wortgewandte Frau sollte von entscheidendem Einfluß auf die ganze spätere Laufbahn ihres Mannes werden.
Am 31. Dezember 1899, mit dem Schlage der Mitternachtsstunde, sank, gescholten viel und viel gepriesen, das alte, das neunzehnte Jahrhundert in den Abgrund der Ewigkeit, und das neue, das heißersehnte und leidenschaftlich begrüßte, das zwanzigste Jahrhundert brach an. Zwei aufs heftigste sich bekämpfende chronologische oder Kalendertheorien hatten in diesen letzten Jahren des alten Jahrhunderts neben- und gegeneinander das Feld behauptet. Die eine besagte, daß am 1. Januar 1900 mit der zum erstenmal geschriebenen Zahl 19 das neue Jahrhundert beginne. Die andere gegnerische Theorie behauptete, daß es nicht auf die Zahl 19 vorne, sondern auf die Zahl 1 hinten ankomme, das zwanzigste Jahrhundert somit erst am 1. Januar 1901 beginne. Ich habe in meinem Leben viele Menschen über viele Dinge sich streiten sehen, aber über wenige Dinge mit einem solchen Fanatismus wie über die erwähnte Doktorfrage. Es mutete an wie der Streit über die Erteilung des Sakraments in einerlei oder zweierlei Gestalt, der bekanntlich die Christenheit jahrhundertelang zerfleischt hat. Diesmal konnte ja zum Glück der Streit über den richtigen Jahrhundertanfang seiner Natur nach nur ein bis zwei Jahre dauern. Jede Partei stellte für ihren Standpunkt die knifflichsten Berechnungen auf und behauptete davon, es sei die einfachste Sache von der Welt und jedes Kind müsse das einsehen. Schade nur, daß die Gegner dasselbe für sich in Anspruch nahmen.
Was mich und meinen Kreis betraf, so standen wir für den Jahrhundertanfang am 1. Januar 1900 ein. So geschah es denn logischerweise, daß wir das Fest der Jahrhundertwende in der Silvesternacht vom 31. Dezember 1899 auf den 1. Januar 1900 feierten. Wir konnten uns dabei übrigens auf das Beispiel ruhmreicher Vorgänger berufen. Ganz derselbe Disput, und wie es scheint, auch mit der gleichen Leidenschaftlichkeit, hatte sich genau hundert Jahre vorher am Musenhof zu Weimar zugetragen. Auch damals hatten die Geister sich nicht einigen können, wann das alte Jahrhundert aufzuhören und das neue anzufangen habe. Aber sprach es nicht sehr für unsere Theorie und gegen die unserer Widersacher, daß Goethe und Schiller sich ebenfalls für den Jahrhundertschluß am 31. Dezember 1799, so wie jetzt wir für 1899, entschieden und ihn dementsprechend auch gefeiert hatten?
Den hohen Ahnen Schiller und Goethe wurde aus diesem Anlaß manches Glas Sekt in der Festnacht von uns geweiht, wovon der Klang vielleicht bis in die himmlischen Höhen des Elysiums gedrungen sein mag. Unser damaliger Münchner Lebenskreis war in dieser Nacht der Jahrhundertwende in seltener Vollzähligkeit bei uns in der Wilhelmstraße 6 versammelt. Es mögen über dreißig Personen gewesen sein. Von bekannteren Namen sind mir gegenwärtig J.G. Stollberg, Siegfried Raabe, Centa Bré vom Schauspielhaus; Friedrich Basil, Clara Rabitow vom Hoftheater; nicht zu vergessen Gustav Waldau, als jugendlicher Bonvivant bald der vergötterte Liebling Münchens, auf der Bühne wie im Leben eine der gewinnendsten, durchaus einmaligen Kavaliersgestalten; Edgar Steiger, der Verfasser einer bekannten damaligen Literaturgeschichte und bedeutender Theaterkritiker; Korfiz Holm, Julius Schaumberger, Otto Erich Hartleben und Frank Wedekind von der Literatur; Hans Richard Weinhöppel (der spätere Hannes Ruch der »Elf Scharfrichter«) und Bernhard Stavenhagen, der hinreißende Pianist, vom Musikantenvolk; Lovis Corinth von der Malerzunft. Als von den Türmen unserer guten Münchner Stadt die Mitternachtsstunde schlug und auf dem Tisch der Flammenpunsch loderte, holten wir unsere Kinder aus den Betten, damit sie dieses großen historischen Augenblicks, als der er uns erschien, sich einst in einer späten Zukunft erinnern mochten, wenn sie auch im Moment noch nicht viel davon verstanden und halb verwundert, halb traumselig in das geheimnisvolle Flammenmeer der Punschbowle starrten.
Wenn ich heute auf diese Zeitspanne um die Jahrhundertwende herum zurückblicke, so kann kein Zweifel für mich bestehen, daß der äußere Höhepunkt meiner Laufbahn, also nach ihrer Erfolgsserie hin betrachtet, eben in diesen Lebensabschnitt zu setzen ist. Ich war fünfunddreißig Jahre alt, was man ja als die Lebensmitte, demnach auch als die Lebenshöhe bezeichnen kann, ohne damit sagen zu wollen, daß es nicht auch noch spätere Lebenshöhen sogar bis ans Ende hin geben kann, die dann freilich in einem rein geistigen Betracht zu verstehen sind. Es war viel Auf und Ab, viel Hin und Her, viel Zickzack, viel Glück und Niederlage in jähem Wechsel gewesen; kaum schien ein Ziel erreicht, eine Stellung erobert, so war auch schon der Rückschlag da und ich war auf den Sand gesetzt, daß mir die Sinne vergingen.
Aber dann hatte ich mich doch immer wieder »derfangen«, wie man in München sagt, irgendein Glücksfall war eingetreten, manchmal im letzten Augenblick, ich hatte auch nicht gerade die Hände in den Schoß gelegt und hatte meine Sache gemacht, so gut ich es eben konnte, mochte man es nun loben oder schelten. Im Ganzen schien es eine aufsteigende Linie zu sein, wenn auch meine alten »Freunde« in der Presse von dem »Dichter der Jugend« als von einer lange begrabenen Hoffnung schrieben. Gewisse äußere Tatsachen sprachen doch recht vernehmlich dagegen und konnten nicht ohne Eindruck auf die öffentliche Meinung bleiben. Erfolge, wie die von »Mutter Erde« und »Haus Rosenhagen«, auch die Münchner Aufnahme des »Tausendjährigen Reichs«, ließen sich nicht fortdisputieren, wozu noch hinzuzurechnen war, daß eben um diese Zeit erst meine »Jugend« sich die großen deutschen Theater zu erobern begann.
Am 13. März 1900 feierte Paul Heyse seinen siebzigsten Geburtstag. Auch dieser »Götterliebling« war nun zu Jahren gekommen, und manche Zeichen der Zeit deuteten darauf hin, daß diese Münchner Welt, in der er so lange die Krone des Dichterfürsten getragen hatte, zur Rüste ging. Heyse war seit den Fünfzigerjahren in München. Damals hatte ihn König Max. II. mit Geibel, Dingelstedt, Riehl und anderen »Nordlichtern« nach München berufen. Die anderen hatten sich längst wieder davongemacht oder zumeist sich überhaupt von diesem Planeten empfohlen. Heyse allein war geblieben, eine ragende Säule der Vergangenheit, um die sich ein großer Kreis von Verehrern und Verehrerinnen wie um ein Heiligtum scharte. Der schöne großgewachsene Mann, über dessen schwarzlockigem Scheitel die Jahre spurlos dahinzugleiten schienen, bewohnte noch das ihm einst von König Max geschenkte vornehme Familienhaus in der Luisenstraße zunächst den Propyläen. Es war ein mit Bildern, Büsten, Antiken, Kunstgegenständen und Erinnerungen eines langen Lebens angefülltes Dichterheim. Der Vergleich mit Weimar und dem Hause am Frauenplan lag nahe. Hier wie dort war es eine Hofhaltung im kleinen. Viele Jahre, weit über ein Menschenalter hindurch, war man in München zu Heyse gepilgert wie vordem in Weimar zu Goethe. Selten ist eine Geistesherrschaft so unumschränkt gewesen wie die von Paul Heyse über Isarathen. Es gab doch damals nicht nur ihn unter den Dichtern der Zeit. Es war doch die Epoche der großen Novellisten und Erzähler, eines Gottfried Keller, eines Conrad Ferdinand Meyer, eines Theodor Storm, eines Wilhelm Raabe, eines Theodor Fontane. Aber wann wäre je in Zürich mit Meyer oder Keller, in Braunschweig mit Raabe oder mit Fontane in Berlin ein solcher Kultus getrieben worden wie mit ihrem Dichterkollegen Heyse in München? Wie oft ist außerhalb Münchens über die Münchner Besonderheit gelächelt worden!
Es ist vielleicht nicht uninteressant, der Frage etwas tiefer auf den Grund zu gehen, weil sie Gelegenheit gibt, über das Geltungsbedürfnis dichterischer Persönlichkeiten sowie überhaupt über den Ruhm bei Lebzeiten und nach dem Tode – zwei Dinge, die oft sehr voneinander verschieden sind – gewisse Feststellungen zu treffen. Es hat immer Dichter gegeben, die zu Lebzeiten sehr berühmt, nach ihrem Tode aber schnell vergessen waren; ebenso wie es umgekehrt immer wieder dichterische und künstlerische Persönlichkeiten gegeben hat und geben wird, die eigentlich erst nach ihrem Tode zu allgemeiner Anerkennung gelangen. Der dritte Fall eines bei Mit- und Nachwelt gleich dauerhaften Ruhms, wie er, wenn auch mit mancherlei Vorbehalten, etwa auf Goethe zutrifft, braucht uns in diesem Zusammenhang nicht zu beschäftigen. (Goethes Ruhm ist bekanntlich während einer nicht kurzen mittleren Periode seines Lebens wie auch wiederum in jener Altersepoche während der Freiheitskriege nichts weniger als unangefochten geblieben.)
Von den beiden anderen Möglichkeiten kann man Heyse geradezu als typischen Fall der ersten Ordnung, Keller als typischen Fall der zweiten bezeichnen. Geht man nun der Lebensgeschichte der beiden zeitgenössischen und miteinander befreundeten Dichter nach, so gelangt man, wie mir scheint, sofort auf den Kernpunkt der Frage. Heyse hatte ein bis ins Äußerste gesteigertes Repräsentations- und Geltungsbedürfnis, und da ihn neben seinem Talent eine glänzende äußere Erscheinung wesentlich dabei unterstützte, so wurde er schon früh der Mittelpunkt von Verehrern, von Gläubigen, ja von Anbetern und Anbeterinnen, und blieb es, trotz aller Anfeindungen, eigentlich bis zum Ende. Als dann aber das Licht seines persönlichen Wesens erloschen war, stellte sich nur zu bald heraus, daß die Ausstrahlung seines anmutigen und gefälligen Talents, wie sie sich in seinem Werk äußerte, nicht radioaktive Kraft genug besaß, um sich für sich allein bei der Nachwelt behaupten zu können. Man vergleiche damit die geradezu gegensätzliche Erscheinung und das ebenso gegensätzliche Schicksal des großen Schweizer Dichters, der eigentlich erst mit siebzig Jahren, schon in der verglimmenden Abendröte seines Lebens, die lange entbehrte Anerkennung seiner Nation fand. Keller war ein Feind alles Gehabes und Getues, verschmähte jede öffentliche Repräsentation, machte sich wenig oder nichts aus Anbetern und Verehrern, wenn ihm auch ein sehr ausgesprochenes Gefühl seiner persönlichen Würde zu eigen war, und besaß die große Schlichtheit des Herzens, die von den Menschen meist erst spät, wenn überhaupt, erkannt wird. Bedarf es noch einer weiteren Ausführung der Parallele, um den ganzen Unterschied zwischen der einstigen Bewertung der beiden Männer und unserer heutigen zu verstehen?
Paul Heyse war eine entschieden streitbare Natur. Dies scheint nicht zu dem Bilde des apollinischen Dichtertypus zu passen, der sich in Heyse verkörpert. Aber war nicht Apollo selbst, der »Fernhintreffende« mit dem Todespfeil auf der Sehne seines Bogens, ein nur zu leicht gereizter und äußerst nachtragender Gott? Wehe dem, der seinen Groll auf sich lud! Auch der apollinische Dichterfürst Münchens konnte ein guter Hasser sein, wenn er auch freilich die tödliche Kraft seiner Pfeile überschätzte. Hätten wir sonst nicht längst am Boden liegen müssen, wir bösen »Naturalisten«, über die sich die ganze Schale seines Zorns ergoß? Und der Kreis dieser selbstgeschaffenen Widersacher war weit genug gezogen. Gehörte doch außer uns sogenannten Naturalisten und Modernen sogar der große Magus des Nordens, sein Altersgenosse Ibsen, im Grunde seines Herzens dazu. Aber es war ein Kampf mit Windmühlen, in den Heyse sich da verstrickte. Niemand von den Unseren – außer Michael Georg Conrad natürlich, für den der Kampf gegen Heyse eine Herzensangelegenheit war – hatte eigentlich etwas gegen Heyse einzuwenden oder unterschätzte seine literarischen Verdienste. Heyse war klug genug, dies mit der Zeit einzusehen und dem nutzlosen Gepolter einer einseitigen Kanonade ein Ende zu machen.
Der Friede mit der jungen Generation wurde am 13. März 1900, eben am siebzigsten Geburtstage Heyses, geschlossen. In das Komitee, das die Feier vorbereitete, war auch ich berufen worden. Heyse selbst, um seine Zustimmung befragt, hatte sie erteilt. Es war von beiden Seiten eine versöhnliche Geste.
So wurde dieser siebzigste Geburtstag denn ein Festtag für das ganze literarische und kunstliebende München. Der Strom der Besucher in den blumengeschmückten Räumen des Dichterhauses, deren antikisierender Geschmack eine unverkennbare Analogie mit Weimar zeigte, wollte an jenem Tage kein Ende nehmen.
Das Geschick hat es gewollt, daß wir noch seinen fünfundsiebzigsten und seinen achtzigsten Geburtstag in München 1905 und 1910 feiern konnten. Bei dem Festessen 1910 im Bayerischen Hof, an dem Heyse selbst nicht teilnehmen konnte, ereignete sich der komische Zwischenfall, daß ein junger studentischer Festredner, der eigentlich auf Heyse sprechen wollte, sich konsequent im Namen versah und statt von dem achtzigjährigen Paul Heyse hartnäckig von dem achtzigjährigen Max Halbe sprach und auf ihn toastete. Dies war vor dreißig Jahren, ich war vierzig Jahre alt, und es läßt sich begreifen, daß ich mich in die mir zugewiesene Rolle, zum Gelächter der ganzen Gesellschaft, nur sehr widerstrebend hineinfand. Heute, wo ich selbst zu Jahren gekommen bin, kann ich, wie jener Römer, als er sich den Dolch in die Brust stieß, einem jüngeren Geschlecht zurufen: »Es tut nicht gar so weh!« So ist das Leben. Man muß es nur zu leben wissen.
Am 25. August 1900 starb Friedrich Nietzsche. Es war nur noch sein körperlich-irdisches Teil, das den Elementen anheimfiel. Die Sonne seines Geistes war schon seit einem Jahrzehnt untergegangen, wenn auch ein gewisser hellsichtiger Dämmerzustand bis zu seinem Ende angehalten hatte. So wurde wenigstens gleich nach seinem Tode in einem Briefe von nahestehender Seite berichtet. Seine Schwester, Frau Förster-Nietzsche, hatte ihm und seinem Werk in dem Hause auf den Höhen über Weimar, mit dem weiten Blick landeinwärts, eine würdige Heimstätte bereitet, das Nietzsche-Archiv. Der Kranke hatte, wenn ihm aus Büchern vorgelesen wurde, noch manchmal Zeichen der Zustimmung gegeben. Künstler waren gekommen und hatten seinen Kopf modelliert, gezeichnet, gemalt. Es hatte ihn ermüdet und man ließ niemanden mehr zu. Am 24. August 1900 mittags war eine Gehirnblutung eingetreten. Nachmittags um drei tobte ein schweres Gewitter über Weimar; so ähnlich wie bei Hebbels Tode in Wien am 13. Dezember 1863. Man glaubte, daß es sein Ende bringen werde. Aber ein letztes Lebensfünkchen glomm weiter. Erst in der Mittagsstunde des folgenden Tages erlosch es ganz. War es nicht wie ein Gleichnis, daß der Wanderer und Kämpfer zwischen zwei Weltaltern gerade auf der Grenzscheide zweier Jahrhunderte dahinging, deren einem sein irdisches Leben und Schaffen, deren anderem die Unendlichkeit seiner geistigen Nachwirkung angehörte?
Eine der bekanntesten literarischen Persönlichkeiten im Wien der Neunziger jähre war Alfred Freiherr von Berger, der geraume Zeit hindurch als aussichtsreichster Anwärter auf den Direktionsstuhl des Burgtheaters galt. Als Gatte der berühmten Stella Hohenfels, einer der unerschütterlichen Säulen des Burgtheaters, fühlte er sich für den Direktorposten besonders berufen. Aber gerade dieser Umstand sollte sich als der Stein des Anstoßes erweisen, an dem seine Pläne scheiterten. Man wollte an höchster Stelle keine Personalunion zwischen dem Direktorposten und einer allerersten Diva, noch dazu von dem bekannten Ehrgeiz der Hohenfels. Als nach Burckhards Abgang Schlenther berufen wurde und nicht er selbst, wie er bestimmt erwartet hatte, mußte er wohl erkennen, daß in Wien auf lange hinaus nichts mehr für ihn zu hoffen war, und wandte sich anderen Möglichkeiten und Plänen zu. Er fand sie in Hamburg, an der Wasserkante, was gar nicht so merkwürdig war, wie es Uneingeweihten erscheinen mochte. Zwischen Wien und Hamburg bestand in Theaterdingen von je eine gewisse Wesensverwandtschaft, begründet in einem den beiden Städten eigentümlichen Konservativismus ihres gesellschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Lebens. Ebenso wie der Wiener hielt auch der Hamburger gern am Ererbten und Überkommenen fest. Hier herrschte noch Traditionsgefühl, hier wechselte man noch nicht alle Tage seinen Stil, wie in dem ewig neuerungssüchtigen Berlin, in dieser Emporkömmlingsstadt – so nannte man sie ja doch! –, über die sie beide die Schale ihres Grolls ausgossen, der Hamburger wie der Wiener.
Und nun wollte es der Zug der Zeit, für den man doch auch in Hamburg eine feine Nase hatte, daß überall neue Schauspielbühnen entstanden. Warum nicht auch hier, wo man doch etwas vom Geschäft verstand? Nur mußte es eben auf hamburgische Weise geschehen, gutbürgerlich, doppelt und dreifach fundiert und solid, aber wiederum auch nicht kleinlich, vielmehr ins Große gehend, mit gesellschaftlichem Anstrich: so verlangte es der ehrbare Kaufmann, der noch mit dem Zylinder zur Börse schritt und nachher bei Köln im Frühstückskeller sich zu Kaviar und Austern und dem traditionellen Beefsteak eine hochwertige Flasche Rotspon oder Sekt genehmigte. Konnte es für den ehrgeizigen Wiener Literaturbaron ein geeigneteres Erdreich geben, um das Theater seiner Träume darauf erwachsen zu lassen? War nicht zu hoffen, daß an der Wasserkante so etwas wie ein neues Burgtheater, zum wenigsten aber ein Haus nach dem Muster des Deutschen Volkstheaters in Wien entstand, das gerade damals sich höchster Blüte erfreute? Von wem und von wo zuerst die Fäden herüber, hinüber gesponnen wurden, von Wien nach Hamburg oder von Hamburg nach Wien ... Einerlei! Eines Tages wurde die Öffentlichkeit durch die Meldung überrascht, daß in Hamburg ein neues Schauspielhaus vornehmsten Ranges gebaut werde und Baron Berger als sein Direktor berufen sei.
Berger entwickelte sofort eine außerordentliche Rührigkeit, reiste überall in Deutschland herum, um ein geeignetes Ensemble zusammenzubringen, und trat auch mit einer Reihe erster dramatischer Autoren in Verbindung, denen er langjährige Aufführungsverträge für Hamburg anbot. Es war entschieden ein großer Zug in der Art, wie er seine Aufgabe anfaßte. Man hörte von bedeutenden Jahrespensionen an Hauptmann, Sudermann und andere, wofür sie sich verpflichteten, ihre Stücke für Hamburg nur Berger zu überlassen. Auf diesem Wege war ihm seinerzeit bereits Pollini vorangegangen, der als Direktor des Hamburger Stadttheaters (Oper und Schauspiel) sowie des Stadttheaters in Altona zu dem halben Dutzend der großen deutschen Theatergewaltigen jener Zeit gehörte. Schon Pollini hatte die damaligen jungen Dramatiker durch Verträge an seine Direktion gefesselt. Auch ich gehörte in seinen letzten Jahren dazu. Nach seinem Rücktritt hatte die Direktion Bittong-Bachur Stadttheater und Thaliatheater, die beiden großen Hamburger Schauspielbühnen, unter einem Zepter vereinigt, wodurch natürlich die Notwendigkeit jener Konkurrenzverträge wegfiel. Den psychologischen Augenblick des so entstandenen Vakuums nutzte der wagemutige Wiener Baron, um mit beiden Füßen in die Arena zu springen und der Konkurrenzfirma ihr bisheriges Aufführungsmonopol für Hamburg aus der Hand zu winden.
Eines schönen Tages, etwa im Frühjahr 1900, wurde auch ich durch Bergers Besuch angenehm überrascht. Er brachte gleich einen fertigen zehnjährigen Vertrag für mich mit, den ich nur zu unterschreiben brauchte. Wenn auch das ausgesetzte Jahresgehalt nur bescheiden war, so hatte es doch den Vorzug, daß es im ewigen Fluß der Dinge einen festen Grund darstellte und außerdem sofort, also schon geraume Zeit vor Eröffnung der neuen Bühne, in Kraft trat. Warum hätte ich nicht zugreifen sollen? Ich tat ja nur, was auch die anderen taten oder schon getan hatten. Aber wenn es wirklich noch einen Zweifel gegeben hätte, Bergers Beredsamkeit wäre damit fertig geworden. Ich bin in meinem Leben wohl keinem Menschen begegnet, dem der Strom der Beredsamkeit so mühelos und unablässig über die Lippen geflossen wäre. Und dieser Strom bildete keine Strudel und Wirbel, zeigte auch keine merklich seichten Stellen, sondern zog in wohlgerundeten Sätzen, gleichsam majestätisch, dahin, so daß ich bei jenem ersten Besuch, währenddessen der große, breitschultrige Mann vom Anfang bis zum Ende unaufhörlich sprach, aus dem Staunen über diese Unerschöpflichkeit nicht nur der Worte, sondern (man mußte es zugeben!) auch der Einfälle, Aphorismen, Paradoxen, Aperçus nicht herauskam. Dabei lächelte er, wenn er etwas besonders Gelungenes gesagt hatte, sich und mir wohlgefällig zu, und man sah ihm an, daß er wieder einmal sehr zufrieden mit sich war. Als wir an jenem Vormittag schieden, war auch ich es mit ihm. Ich hatte meinen zehnjährigen Vertrag in der Tasche und sollte es nicht zu bereuen haben.
Am 13. September 1900 wurde das »Deutsche Schauspielhaus« in Hamburg mit einer Festvorstellung von »Iphigenie« vor geladenem Publikum eröffnet. Berger hatte natürlich nicht verabsäumt, seinen Generalstab deutscher Dramatiker dazu einzuladen. So war auch ich hingefahren, traf aber nur einen Teil meiner dramatischen Kollegen, darunter Hartleben, dort an. Verschiedene waren noch nicht aus ihren Sommerfrischen zurückgekehrt, wie Berger erklärend bemerkte. Man konnte das begreifen. Es waren nach einem ungewöhnlich schlechten, regnerischen Sommer wunderschöne, warme, wohlige Herbsttage von eigentlich noch sommerlichem Charakter angebrochen, die Hamburg in einem fast unwahrscheinlichen, traumhaften Glanz erstrahlen ließen. Theaterdirektoren pflegen ja meist kein Organ für dergleichen Wettergunst zu besitzen. Aber der Optimismus des neugebackenen Direktors hatte seine rosigste Miene aufgesetzt und blieb unerschütterlich. Was konnte auch geschehen! Das geschäftliche Fundament der neuen Bühne war mit hanseatischer Klugheit und Sorglichkeit vorbereitet. Alles was in Hamburg zur Gesellschaft zählte und etwas bedeuten wollte, hatte sich in die Platzmietelisten der neuen Bühne eingetragen. An jenem Eröffnungsabend funkelte es nur so von Brillanten, Perlen und Edelgestein des sonst selten zur Schau getragenen Hamburger Reichtums. Kein Zweifel, daß hier ein gesellschaftlicher Mittelpunkt entstanden war. Und ein nicht geringer Teil der Anziehungskraft des Theaters, wie gerade heute nicht verkannt werden sollte, ist ja gesellschaftlicher Natur. Schon der neue prächtige Bau selbst, nach dem Vorbild des Deutschen Volkstheaters in Wien, nur in größerem Maßstab geschaffen, konnte seinen Anreiz auf das Publikum nicht verfehlen. Aber die Hauptsache blieb natürlich, was man spielen und wie man es spielen würde.
Der Eröffnungsabend selbst war eine Enttäuschung. Eröffnungsabende sind ja oft eine Enttäuschung, wie man aus der Theatergeschichte weiß. Die Iphigenie spielte, als Gast vom Burgtheater entsandt, Stella Hohenfels, die Gattin des Direktors. Ich fand ihre Darstellung kühl und akademisch, abgesehen davon, daß ihre Altersklasse die der Iphigenie um mehrere Jahrzehnte überschritt. Am Burgtheater hatte man ja für solche Kleinigkeiten keine Augen. Man war daran gewöhnt, hatte Übung genug in derlei schauspielerischer Illusion. Noch spielte Sonnenthal, der Siebzigjährige, mit nicht zu leugnender Meisterschaft den Faust und wurde bejubelt. Ob das auch in Hamburg möglich gewesen wäre, wo man doch gewiß am Überkommenen festhielt, ist fraglich. Im übrigen bestand ja noch ein unbestreitbarer künstlerischer Gradunterschied zwischen Sonnenthal und der Hohenfels. Genug! Sie fiel als Iphigenie in Hamburg ab und mit ihr natürlich der Abend, da auch die anderen Schauspieler (teilweise bedeutende Kräfte) noch keine rechte Fühlung mit dem Publikum gewannen. Man erzählte nachher boshafterweise, Berger als der kluge und vorausschauende Mann, der er war, habe ganz genau gewußt, was er tat, als er seine Frau die Iphigenie spielen ließ. Es bewahrte ihn vor künftigen Gastspielen der Stella Hohenfels an seinem Theater. Dafür habe er den verlorenen Abend gern in Kauf genommen. Zum wenigsten war es nicht schlecht erfunden.
Ich war in diesen vom matten Gold des Altweibersommers umsponnenen Hamburger Tagen viel mit Hartleben zusammen. Wir verstanden uns besser als je. Hatte es früher manches Gewölk zwischen uns gegeben, so war jetzt die Luft rein und ungetrübt wie der blaue Septemberhimmel über uns. Mir fiel an Hartleben diesmal eine fast herbstliche Klarheit auf, die ich noch nicht an ihm gekannt hatte. Wie es in der Natur verschieden lange Sommer und Winter, Frühlinge und Herbste gibt, so auch die Jahreszeiten der Menschen. Dem einen ist vielleicht ein langer Frühling und Sommer, dafür nur ein kurzer Herbst, dem anderen nach einem kurzen Sommer ein langer Herbst, einem dritten wiederum nur ein kurzer Sommer und kurzer Herbst beschieden. Vielleicht gehörte Hartleben zu dieser letzten Art von Menschen. Ich erinnere mich, daß ich mir schon damals Gedanken hierüber gemacht und vielleicht meine eigene innere Rastlosigkeit und Unausgeglichenheit, die jedenfalls nicht herbstlich waren, damit verglichen habe. In diesen durchschwärmten Tagen und Nächten lernte ich auch eine junge Schauspielerin A.P. vom eben eröffneten Schauspielhaus kennen. Sie wurde das Urbild meiner Hermine im gleich darauf geschriebenen Schauspiel »Haus Rosenhagen«. Dieser Frauentypus hat auch noch späterhin eine wichtige, ja entscheidende Rolle in meinem Leben und Schaffen gespielt. Was in der Hermine nur skizziert ist, sollte dann in der Gestalt der Karola Bergmann in meinem Roman »Die Tat des Dietrich Stobäus« zehn Jahre später volles Leben gewinnen.
Am 23. Januar 1901 brachte das »Deutsche Volkstheater« in Wien die erste Aufführung meiner »Jugend« im österreichischen Kaiserstaat heraus. Seit der Uraufführung in Berlin waren genau siebendreiviertel Jahre verflossen, während welcher das Stück für die österreichischen Kronländer verboten gewesen war. Dieser fast achtjährige Zensurkampf hatte nun doch mit meinem Siege geendigt. Wieviele immer wieder enttäuschte Hoffnungen lagen auf dieser langen Wegstrecke begraben! Wie schlecht war es mir in der Zwischenzeit manchmal ergangen und was für ein magerer Trost war es gewesen, daß ja doch einmal der Tag kommen müsse, wo Wien erobert werden würde! Nur konnte eben »ein armer Teufel darüber sterben«. So schlimm war es ja nun nicht geworden. Ich hatte es noch erlebt und kann sogar heute, Geschrieben 1933/34. vierunddreißig Jahre später, darüber schreiben.
Dafür war, damit es nur ja nicht aufhörte, schnell ein anderer Stachel in meine Seele gesenkt worden. Es gab nämlich nach der Aufhebung des Zensurverbotes nicht wenig Leute in Wien, zumal beim Deutschen Volkstheater selbst, die mir prophezeiten, daß die Aufhebung des Zensurverbotes zu spät erfolgt sei. Jetzt nach diesen acht Jahren sei der Reiz der Novität als solcher, der einst den Erfolg der »Jugend« ausgemacht habe, nun eben doch verflogen. Dem Stück werde kein langes Leben beschieden sein. Die Propheten haben sich geirrt. Das Stück hat sich bis heute in Wien und in Österreich gehalten, wenn auch im Augenblick eine gewisse Absenkung, eine Ebbe zu beobachten ist, wie sie bis vor kurzem auch in Deutschland war, nun aber zu einer neuen Flut anzusteigen scheint. Der Erfolg an jenem Januarabend 1901 übertraf die kühnsten Erwartungen. Die wundervolle Rosa Albach-Retty war ein Annchen von ganz eigener Prägung, eine bezaubernde Mischung angeborenen norddeutschen sprudelnden Temperaments und erworbener wienerischer Grazie, Weichheit und Anmut.
Natürlich wurde es nachher eine sehr schöne Siegesfeier, ein Abend und eine Nacht von jener aus verschwenderischer Fülle kommenden, draufgängerischen Art der einstigen »Kaiserstadt«, die heute verlorengegangen ist, wahrscheinlich für immer. Am nächsten Mittag fuhr ich mit meiner Frau auf den Semmering. Ich hatte es nötig nach diesen aufregenden Wiener Tagen. Noch suchte man damals in der Entlegenheit des Bergwinters mehr die Einsamkeit, die Abgeschiedenheit, die Stille und Ruhe und nahm Schnee und Sonne als erwünschte Beigabe mit. Noch war der Wintersport nicht wie heute beherrschender und ausschließlicher Selbstzweck. Aber es gab ihn doch schon. Die Frühsonne des heutigen Sportzeitalters stand bereits über dem Horizont, während ich noch bei meiner ersten winterlichen Fußwanderung in den Bergen, ein halbes Menschenalter zuvor, den erstaunten, ja entsetzten Ausruf jener Bauersfrau vernommen hatte: »Jessas! Jetzt kommen s' gar schon im Winter naus!«
Die Hotels auf dem Semmering waren voll. Es war ja von Wien aus so bequem, in ein paar Stunden mit der Südbahn hinaufzurutschen. Als wir uns im Hotel Panhans nach einem Zimmer umsahen, begegnete man uns mit offensichtlichem Mißtrauen. Erst wußten wir nicht, was das bedeuten sollte. Zufällig erfolgte gerade ein Anruf des Deutschen Volkstheaters, wo man sich nach mir erkundigte. Nun war der Sachverhalt rasch geklärt. Man hatte dem Frieden nicht getraut und uns für ein Pärchen gehalten. Erst jener Anruf aus Wien hatte uns legitimiert. Meine Frau war nicht wenig stolz auf dieses Mißverständnis. Eine wunderschöne Schlittenfahrt, die verschneite Semmeringstraße hinab, ins steirische Land nach Mürzzuschlag unter dem Peitschengeknall eines echten Fiakers mit seinen zwei »harben Rappen« und dementsprechend gesalzenen Preisen bildete den Höhepunkt unseres Winteridylls.