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Garten des Werckhagenschen Hauses, von dessen offener, links noch sichtbarer Veranda eine Holztreppe mit Geländer hinunterführt. Davor eine ausgedehnte Rasenfläche mit Blumenbeeten, Rosenhecken und einzelnen Gebüschen. Rechts eine hohe, uralte Linde mit mächtiger, überschattender Krone. Dahinter Fliederbüsche und weiter zurück Baumgruppen von parkartigem Charakter, zwischen denen in der ganzen Breite des Hintergrundes über tiefer gelegenen Gärten und Villen hinweg das Meer sichtbar wird. Eingänge sind links vorn, ferner durch das Parktor in der hinten abschließenden Mauer, endlich rechts mitten als Verbindung mit dem Garten der benachbarten Hillenbrandtschen Villa. Wilder Wein und blühender Jasmin ranken sich um die Veranda. Haufen von blühenden Nelken, Rosen ringsum auf den Beeten. Ein warmer, leuchtender Junivormittag. Gedeckter Frühstückstisch unter der Linde.
Lili von Howald kommt von hinten her den geschlängelten Gartenweg herauf. Gleichzeitig ist durch die Pforte rechts aus dem Hillenbrandtschen Garten Heinz eingetreten. Er sieht übernächtig und verschlafen aus, gähnt, reibt sich die Augen, blinzelt in die Sonne, gähnt wieder, streckt sich. Inzwischen hat sich Lili langsam genähert. Beide begegnen sich in der Mitte des Gartens.
Heinz zieht die Uhr, gähnt wieder Zehn Uhr vorbei!
Lili Also ausgeschlafen?
Heinz düster Ich habe mich seit meiner Säuglingszeit nicht ausgeschlafen. Man hat wichtigere Dinge auf Erden zu tun.
Lili Ihre Eltern müssen jeden Augenblick vom Baden kommen. Ich bin vorausgegangen.
Heinz lacht wild auf Meine Eltern! Mein Vater! Ha!
Lili Mühlenbruchs haben sie zum Frühstück hierher eingeladen. Sie weist auf den gedeckten Tisch Ich meinerseits danke. Ich habe Migräne.
Heinz Mühlenbruch! Hans Kaspar Mühlenbruch! Auch so eine künstlich aufgebauschte Größe! So eine Legende aus der Postkutschenzeit!
Lili Mühlenbruch ist sechsunddreißig Jahre alt.
Heinz Sechsunddreißig Jahre und malt noch! Malt immer noch seinen Stiefel fort!
Lili Sie haben wohl noch nichts gefrühstückt heute?
Heinz Bourgeois frühstücken! Ich habe mein Glas Mineralwasser getrunken und damit gut! Man muß die Säuren, die sich im Magen angesammelt haben, zu alkalisieren versuchen.
Lili Es wurde wohl gestern wieder spät?
Heinz Nicht der Rede wert! Halb vier!
Lili Hat denn der »Blaue Pomuchel« so lange auf?
Heinz Der »Blaue Pomuchel« würde die ganze Nacht auf haben, wenn die Polizei nicht so verschimmelt wäre. Um halb vier wird man aufs Pflaster gesetzt! Reife, wissende Europäer werden zu Bett geschickt! Bürger des Radiumzeitalters müssen vor dem Polizeispieß auskneifen! Er schüttelt die Fäuste Aber die Herren werden Augen machen, wenn plötzlich die Fenster auffliegen und Morgenluft strömt herein! Morgenluft, Lili! Morgenluft!
Lili Seit wann sind Sie denn solch ein Verehrer von Morgenluft?
Heinz Geistige Morgenluft! Er schlägt sich vor die Stirn Hier, hier, hier sitzt es! Hier heißt es niederreißen und aufbauen!
Lili Das scheint ja eine schwere Sitzung heute nacht gewesen zu sein?
Heinz Das Großkapital nimmt sich unserer Ideen an!
Milliardäre stehen auf und wollen Zeugnis ablegen! Prägen Sie sich den Namen Jacques Muschinsky ein, Lili! Jacques Muschinsky und Pius Pfefferkorn! Zwei Namen für die Weltgeschichte! Mehr sag' ich nicht!
Auf der Veranda, ganz links, erscheinen Werckhagen und Cornelius Stenzel.
Heinz Da kommt der Oberlehrer! Der Schulfuchs! Der Augenverdreher! Ich kann den Kerl nicht riechen! Er zieht Lili nach rechts.
Lili Lassen Sie doch meinen Ärmel los!
Heinz Ich muß weg! Sonst passiert noch was! Er stürzt rechts ab.
Lili folgt ihm langsam.
Werckhagen und Stenzel steigen inzwischen die Treppe der Veranda herunter.
Werckhagen Für Sie bin ich also ein richtiger ausgemachter Spaßvogel, Herr Oberlehrer?
Stenzel lächelt, rückt seine Brille zurecht Nun ja! Ich verweise zum Beispiel auf den Pelzrock, den Sie da anhaben, verehrter Freund. Heute! An einem Hitzferientage! Er wischt sich den Schweiß von der Stirne.
Werckhagen Nach dem alten Spruch »Was ein echter Bauer ist, trägt seinen Pelz bis Johann, dann fängt er wieder von vorne an!«
Stenzel Für einen Bauern wird Sie wohl niemand ansehen, bester Freund. Eher noch für einen alten Seemann, etwa einen weitgereisten Kapitän oder dergleichen.
Werckhagen Das lass' ich mir gefallen, Herr Kirchenältester. Seemann wär' ich für mein Leben gern geworden. Schon wegen der braunen und schwarzen Mädchen, die man da zu sehen bekommt und die wahrhaftig keinen Pelz auf dem Leibe haben ...
Stenzel Ach lassen wir doch das, liebster Herr Werckhagen!
Werckhagen Aber wenn ich auch kein Seemann geworden bin, Wasser hab' ich doch genug unter meinen Beinen gehabt und Mädchen habe ich von allen Sorten kennen gelernt. Pechschwarze und kaffeebraune und safrangelbe! Und schneeweiße sind auch dabei gewesen, Herr Stadtverordnetenvorsteher!
Stenzel wischt sich wieder die Stirne Gewiß, gewiß, verehrtester Freund!
Werckhagen klopft ihm auf die Schulter Das macht Ihnen warm, Herr Armenpfleger! Kein Wunder, Sie sammeln ja nur die Photographien davon.
Stenzel Um sie zu verbrennen! Um das Gift unschädlich zu machen! ... Aber, um wieder zu unserem Thema zu kommen ...
Werckhagen Zum Kirchenbau oder zu den Mädchen?
Stenzel Darf ich nicht um etwas Ernst in einer ernsten Sache ersuchen?
Werckhagen Vorher möcht' ich Sie nur noch über etwas belehren.
Stenzel Worüber, wenn ich bitten darf?
Werckhagen Daß Sie mich ruhig als einen Bauern ansehen können. Ich bin über zwanzig Jahre da drüben bei den Antipoden Bauer gewesen.
Stenzel lächelnd Plantagenbesitzer! Farmer im großen Stil! Aber wenn Sie Wert darauf legen ...
Werckhagen Den allergrößten, Herr Waisenrat! Er zieht ihn am Knopf des Rockes dicht zu sich heran Weil ich nämlich die Erfahrung gemacht habe, daß der Bauer für den Staat und die Menschheit viel notwendiger ist ...
Stenzel Als ...
Werckhagen Als zum Beispiel ein Flohzirkusdirektor. Er läßt ihn los, zwinkert ihn vergnügt an.
Stenzel Als ein Flohzirkusdirektor! Ausgezeichnet!
Werckhagen klopft ihm auf die Schulter Und jetzt sollen Sie auch erfahren, weshalb ich eigentlich den Pelzrock trage.
Stenzel Nun?
Werckhagen Das tu' ich aus antipodischem Gefühl!
Werckhagen Weil es jetzt nämlich in Australien Winter ist!
Stenzel Wie ...?
Werckhagen Mann Gottes! Wenn man von seinem zwanzigsten bis zu seinem dreiundvierzigsten Jahr zur Johanniszeit Winter gehabt und einen Pelz getragen hat, das hängt einem doch an. Man krempelt sich doch nicht mehr so um. Das antipodische Gefühl, das bleibt.
Stenzel droht ihm mit dem Finger Werter Herr Werckhagen, Sie wollen mich ein wenig zum besten haben! Sie wollen gewisse Empfindlichkeiten an mir auslassen, die sich noch von früher her schreiben.
Werckhagen Ein alter, ausgedienter Invalide, wie ich, einen Oberlehrer zum besten haben ...?
Stenzel Nicht ich war es, der Sie vor fünf Jahren von Ihrem Posten verdrängt hat. Da gab es ganz andere Leute, liebster Freund ... Und wenn dann der Wunsch meiner Mitbürger mich zu Ihrer Nachfolge berief ...
Werckhagen Nur keine falsche Scham, Herr Armenrat!
Stenzel Nicht wahr, verehrter Freund, Sie empfinden das jetzt selbst? Und der Begründer dieses aufblühenden Gemeinwesens, dieser zukunftsreichen Badestadt am blauen Meer, der sind und bleiben Sie ja doch!
Werckhagen Sie und kein anderer soll mir die Leichenpredigt halten, Herr Stadtverordnetenvorsteher.
Stenzel Es könnte auch keiner wärmer an Ihrem Sarge sprechen. Er wischt sich wieder den Schweiß von der Stirn.
Werckhagen Aber vergessen Sie mir dann ja nicht: Daniel Werckhagen hat mit zwanzig Jahren übers Wasser müssen, weil er sich ein bißchen viel mit den Mädchen abgegeben und auch sonst kein gutes Haar an sich gehabt hat.
Stenzel Nun, wer so ernst an sich gearbeitet hat ... Er kratzt sich den Kopf Noch eins, liebster Herr Werckhagen: Ist es nicht auffallend, daß in den letzten Jahren das Vertrauen der Bürgerschaft sich Ihnen wieder doppelt und dreifach zugewandt hat ...
Werckhagen Solange wie Sie jetzt am Ruder sind, Herr Oberlehrer ...
Stenzel Nicht schlecht! Nicht schlecht! ... Nein, Sie sind wieder so anerkannt der öffentliche Vertrauensmann geworden ...
Werckhagen Daß Sie mich jetzt ganz gut für Ihren Kirchenbau brauchen könnten, Herr Oberlehrer ...
Stenzel Ja, ich mache kein Hehl daraus, unsere große stattliche Gemeinde bedarf dringend eines neuen Gotteshauses.
Werckhagen Ist denn das alte Bethaus auf einmal so wacklig geworden?
Stenzel Sie haben wohl Ihren Fuß schon lange nicht mehr hineingesetzt, verehrter Freund! Leider, leider!
Werckhagen Dann sehen Sie nur zu, Herr Waisenpfleger, daß Sie recht viele von unseren großmächtigen Herren Stadtvätern auf Ihre Seite bringen.
Stenzel streckt ihm beide Hände entgegen Dafür, mein lieber, lieber Freund, möchten wir ja gerade Ihren Beistand, Ihr einflußreiches Wort anrufen!
Werckhagen Was können Sie von einer alten havarierten Brigg noch groß erwarten?
Hinten links erscheinen ein großer dicker und ein kleiner dünner Herr.
Werckhagen Sehen Sie, da kommt der Rest von der Bemannung! Alles andere ist über Bord.
Stenzel Ah! Zwei werte Kollegen vom Rathaus!
Werckhagen Ja, meine tägliche Schafskopfspartie! Sie können gleich mit eintreten, Herr Kirchenältester.
Stenzel Das trifft sich ja ausgezeichnet mit den beiden Herren Kollegen. Er eilt den beiden nach hinten zu entgegen, Werckhagen folgt ihm langsamer. Alle vier verschwinden hinten.
Währenddessen sind Christiane und Stefanie von rechts hinten erschienen und kommen jetzt in den Vordergrund.
Christiane sieht sich um Wo unsere Männer nur bleiben? Wir sind doch gleichzeitig aus dem Wasser heraus.
Stefanie Dein Mann wird auf meinen Herrn Gemahl warten. Für Camillo bedeutet das Toilettemachen eine religiöse Zeremonie. Ich habe noch niemand sich mit solcher Inbrunst anziehen sehen.
Christiane Du sprichst, als wenn du schon ganze Regimenter beim An- und Ausziehen gesehen hättest.
Stefanie Nein, aber meine Phantasie ist stark genug, mir das vorzustellen.
Christiane Brr! Fürchterlich!
Stefanie Du bist doch unheilbar monogamisch.
Christiane Ich will aber gar nicht! Ich mache auch Anspruch darauf, noch etwas zu erleben, ehe ich definitiv abdanke.
Stefanie Verliebe dich doch in meinen Mann!
Christiane Ha! Damit du dir dafür meinen angeln kannst!
Stefanie Ich hätte theoretisch nichts gegen einen Männertausch einzuwenden, obwohl ja Camillo für einen Fünfziger noch unglaublich gut aussieht. Daß er Platoniker ist ... na, mein Gott!
Christiane Nein, nein, man müßte mal fort! Mal irgendwo hin! Vielleicht fände man da das Glück!
Stefanie hat sich an den Frühstückstisch gesetzt, summt leicht vor sich hin Hinter den Bergen, da liegt das Glück ...
Christiane Jedenfalls gebe ich die Hoffnung nicht auf, meinem Ideal nochmal zu begegnen.
Stefanie Liebe Christiane, wenn man seit drei Jahren in einem fashionablen Seebad lebt, täglich das Familienbad besucht und dann noch nicht sein Ideal gefunden hat, dann ist man für die Polygamie verloren. Wir sind offenbar nicht zu großen Hetären geboren!
Christiane übrigens du ...! Du liegst in deinem Schaukelstuhl und liest Casanova, bis dir die Augen übergehen!
Stefanie achselzuckend Ich bin die Frau des Platonikers.
Christiane Mit dem Schrei nach Liebe!
Stefanie Zum Glück hört ihn niemand! ... Und schließlich kann man sogar bei Casanova einschlafen!
Christiane ballt die Faust Oh Männer, Männer!
Im Hintergrunde erscheinen Hans Kaspar Mühlenbruch und Camillo Hillenbrandt.
Stefanie Da kommen ja unsere Gebieter in tiefstem Gespräch.
Christiane Du! Rasch noch eins: Ist dir heute nicht jemand im Familienbad aufgefallen?
Stefanie Die interessante Brünette mit den schönen Armen? Zwei Herren waren bei ihr.
Christiane Wer mag das sein?
Stefanie Ich sah sie schon gestern am Strand. Vielleicht vom Theater.
Christiane Hast du bemerkt, wie Hans Kaspar sie mit den Blicken verschlang?
Stefanie Still, wir tun, als ob wir essen. Das ärgert Camillo! Sie greift nach Messer und Gabel, tut, als ob sie eifrig dabei sei.
Mühlenbruch und Hillenbrandt nähern sich dem Tisch.
Hillenbrandt Du scheinst ja wieder einmal Hungers zu sterben, liebe Stefanie?
Stefanie mit Verbeugung Allerdings, lieber Camillo!
Mühlenbruch Nur zu! Ich esse mit!
Stefanie anzüglich Bravo! Doch ein Mensch und kein Zeremonienmeister!
Hillenbrandt setzt sich mit Verbeugung neben Christiane Warum sollen denn Zeremonien, Formen, Konventionen eigentlich so etwas Verwerfliches sein? Alle Kultur beruht doch darauf. Schafft sie ab, und das alte Chaos bricht wieder herein.
Mühlenbruch Es gibt Augenblicke, wo ich mir das wünsche.
Hillenbrandt Also ein Anarchist vom reinsten Wasser!
Christiane zu Mühlenbruch Du bist Egoist, mein Lieber! Das ist das ganze Geheimnis! Du kennst nur dich selbst.
Mühlenbruch Jeder Künstler muß Egoist sein. Für unsereinen muß alles andere verschwinden, wenn man vor seiner Leinwand steht. Aber für wen gilt das nicht?
Christiane Wie hat dir eigentlich vorher im Familienbad die Dame gefallen?
Mühlenbruch Es waren mindestens fünfzig Damen im Familienbad, liebes Kind.
Christiane Dann ist es merkwürdig, daß du nur die eine gesehen hast. Willst du sie nicht malen?
Mühlenbruch Ich kenne sie ja gar nicht.
Christiane So lernst du sie eben kennen! Sie wird doch keine königliche Hoheit und auch sonst nicht von Stein sein?
Mühlenbruch Ach ja! Man brauchte mal wieder ein Modell!
Christiane Du mußt dich überhaupt mal wieder verlieben! Du bist dir das schuldig!
Mühlenbruch streicht ihr übers Haar O Christiane!
Christiane Nein, nein, in allem Ernst! ... Ich suche mir ebenfalls einen andern! Mit uns zweien ist es ja doch aus!
Mühlenbruch Spiele nicht mit dem Feuer, mein Schatz!
Christiane Eine Dynamitkiste im Hause und man soll nicht immerfort auf das Schlimmste gefaßt sein? Einmal fliegen wir ja doch auf!
Stefanie Dann bitte mit Applomb! Ein Feuerwerk ersten Ranges, wie sich's für ein elegantes Seebad gehört.
Hillenbrandt zu Mühlenbruch Was macht denn die Pferdeschwemme mit den nackten Knaben? Wirst du bald damit fertig?
Mühlenbruch Es will nicht! Es flutscht nicht! Hol's der Teufel! Ich geb's bald auf.
Christiane Warum malst du nicht mal was anderes? Dein ganzes Arbeiten befriedigt dich nicht.
Mühlenbruch Nein! Es befriedigt mich auch nicht!
Christiane Ich habe es dir längst an der Nasenspitze angesehen.
Hillenbrandt Unsere moderne Malerei leidet an Hypertrophie der Technik. Die Kehrseite ist dann natürlich Mangel an Ideen.
Mühlenbruch Man malt mit Farben und nicht mit Ideen.
Hillenbrandt Wo ist die Romantik des Volksliedes, der Sage bei unsern Malern hingekommen?
Mühlenbruch Auf den Kehrichthaufen, mit dem andern Zeug!
Stefanie Bist du nicht selbst doch so ein Stückchen von einem unterdrückten Romantiker? Ich habe wenigstens immer das Gefühl wie von einer geheimen Sehnsucht, die hinter deinen Bildern steckt. Selbst hinter den allerwirklichsten!
Mühlenbruch Von einer geheimen Sehnsucht! Wonach denn?
Stefanie Als ich klein war und noch im Elternhaus lebte ... du weißt ja, meines Vaters Gut lag in der Ebene. Eine große, fast unabsehbare Ebene. Nur ganz weit am Horizont sah man blaue Berge. Vielleicht waren es auch nur Hügel. Aber sie erschienen mir doch als Berge. Von denen hab' ich oft als Kind phantasiert. Von den blauen Bergen, die man am Horizont sah und wo man ... nie hinkam. Und dieselbe Sehnsucht empfinde ich hinter deinen Bildern, wenn auch ganz versteckt.
Mühlenbruch Und wenn's so wäre... Ich bin ja auch aus der Ebene her. Und auch für meine Jugend haben solche blauen Berge und Höhenzüge am Horizont gestanden und haben unerreichbar fern herübergewinkt.
Stefanie Dann mag es wohl daran liegen.
Mühlenbruch Die blauen Berge! Wo man nie hinkommt! Hm! ... Er lacht kurz auf, erhebt sich Hole der Teufel alle gescheiten Frauenzimmer!
Lili ist während der letzten Worte rechts hinter dem Gebüsch sichtbar geworden.
Hillenbrandt Ah! Unsere Lili!
Christiane Setzen Sie sich nur hin, Baronesse, und greifen Sie zu! Sie steht auf, geht nach links über die Verandatreppe ab.
Lili O danke, danke! ... Ich komme nur, um einen Besuch für den Professor anzumelden.
Hillenbrandt steht auf Hat er eine Karte?
Lili übergibt ihm die Karte Doktor Pfefferkorn.
Hillenbrandt liest Direktor der Reformbühne für erotische Kultur.
Stefanie Das klingt ja sehr vielversprechend.
Hillenbrandt Reformbühne für erotische Kultur? ... Also du entschuldigst, lieber Hans Kaspar!
Stefanie Ich schließe mich an. Grüße Christiane! Nachmittags im Kurgarten! Sie folgt Hillenbrandt. Beide rechts ab.
Lili ist zurückgeblieben, scheint auf etwas zu warten.
Mühlenbruch nach einem Augenblick Nun? ...
Lili am Tisch ihm gegenüber in nachlässiger Haltung, den Kopf gegen den erhobenen rechten Arm gelehnt Das große Glück noch nicht gefunden?
Mühlenbruch Immer noch unterwegs darnach!
Lili Und die Kunst?
Mühlenbruch Hält ihren Nachmittagsschlaf! Bitte den großen Pan nicht zu wecken!
Lili Man geht ja schon auf Zehenspitzen.
Mühlenbruch Warum bist du nicht mehr meine Schülerin?
Lili Du verlangtest zu viel von deiner Schülerin. Sie konnte sich nicht auf deine Höhe schwingen.
Mühlenbruch Es fehlte dir nur am Willen zum Mut.
Lili Oder am Mut zum Willen.
Mühlenbruch faßt sie fest Ins Auge So hättest du wirklich einmal gewollt?
Lili senkt den Kopf Ich hätte es nicht gekonnt. Meine Erziehung hat mich verdorben.
Mühlenbruch Will dein jetziger Lehrer nicht so viel von dir wie dein früherer Lehrer?
Lili In seiner Art wohl, auch er will seine Schülerin ganz. Aber bei ihm bleibt es in den Wolken.
Mühlenbruch Hat er die Erde so hinter sich?
Lili lächelt mokant Vollständig!
Mühlenbruch Und darum fühlst du dich sicher! Sammelst mit ihm Volkslieder ...
Lili Interpretiere Märchen vom Königssohn und der Gänsemagd ... Aber ich glaube, ich hab' auch dazu kein Talent!
Mühlenbruch Nicht?
Lili Ich habe nur ein Talent: Zu wissen, daß andere Talent haben! Sie wendet sich zum Gehen. Auf der Veranda links erscheint Christiane.
Mühlenbruch Gehst du schon?
Lili mit Blick zu Christiane hinüber Ich räume einer Talentvolleren, als ich bin, den Platz. Bon jour, mon ami! Schnell rechts ab.
Christiane kommt langsam von links her durch den Garten, bleibt vor Mühlenbruch stehen, sieht ihm halblächelnd ins Gesicht Hast du dich mit ihr ausgesprochen?
Mühlenbruch kurz auflachend Über die tiefsten Mysterien!
Christiane sieht ihn an Du solltest dich auch einmal mit mir aussprechen! Nötig tät's uns beiden!
Mühlenbruch Es ist mir immer weniger gegeben, mit meinem Innern hausieren zu gehen.
Christiane Ja, der Panzer um dich wird immer dichter. Bald kann man gar nicht mehr an dich heran.
Mühlenbruch Das ist wie bei den Tauchern. Je tiefer sie unter Wasser gehen, desto sicherer muß der Panzer sein.
Christiane mustert ihn von oben bis unten, schüttelt den Kopf Herrgott! Was ist aus dir geworden! Was warst du für ein netter Kerl, als wir zwei uns kennen lernten!
Mühlenbruch So furchtbar nett und umgänglich bin ich doch wohl nie gewesen.
Christiane Für mich unbedingt! Sonst hätt' ich mich schwerlich in dich verliebt.
Mühlenbruch Ich war immer für mich. Auch als junger Leutnant schon. Immer etwas anderes vorstellen sollen, als was man wirklich ist und wozu man sich berufen fühlt ... Voraus wissen, daß die Entscheidung einmal kommen wird, kommen muß ... Und als sie dann gekommen war ... Der Bruch mit meiner Familie, die Sorge ums tägliche Brot, die Jahre des Kampfs ...
Christiane Oh, auf die lass' ich nichts kommen! Das waren deine schönsten Jahre! Wir waren jung und voller Hoffnung! Und du hattest mich lieb! Es war eine große Zeit!
Mühlenbruch nickt Weil man noch keine Zweifel und Skrupel kannte. Ja, das waren starke Tage. Aber ich habe doch ein bißchen zu lange im Feuer gestanden. Du mußt das in Rechnung bringen.
Christiane Ich komme doch nicht, um dir Vorwürfe zu machen. Du sollst frei von der Leber weg reden. Du sollst dein Herz erleichtern. Das wird dir gut tun und mir auch.
Mühlenbruch sieht sie an Das klingt ja nach der Christiane von dazumal.
Christiane Hab' ich mich denn so verändert?
Mühlenbruch Die Jahre gleiten dahin, Schatz. Wir gleiten mit.
Christiane Die Jahre haben dir ja auch den Sieg gebracht.
Mühlenbruch lacht auf Ich habe heute morgen in meinem Atelier aufgeräumt! Inventur gemacht! Bilanz gezogen!
Mühlenbruch Kunst ist ein Lebensgeschäft wie jedes andere auch. Man wird Millionär oder man macht Bankerott... Nun also! Ich bin hereingefallen bei dem Geschäft!
Christiane Man sollte den Mann wirklich zum Arzt schicken!... Komm' her! Ich will dein Arzt sein! Sie zieht ihn an sich, legt den Arm um seinen Hals, streicht über seine Stirne So, du großes Kind! So! Weg mit dem Unsinn!
Mühlenbruch Ich habe gemalt, gemalt, gemalt! Ochsen, Esel, Schweine, Menschen! Porträts, Akte, Landschaften! Alles versucht! überall probiert! Immer die Natur als einziges Ziel! Natur und nichts als Natur! Und wenn ich mir jetzt die Bilder vornehme ... das einzige, was allen zusammen fehlt: Das ist die Natur! Er lacht auf Bloß die Natur! Weiter nichts! ... Und warum? Weil sie rein von außen gesehen sind. Weil ich mich mit Gewalt gegen alles Innerliche gesträubt habe. Gegen alles, was nach Sinn und Idee aussah. Dafür habe ich jetzt die Bescherung! Prosit Mahlzeit!
Christiane Das sind Krisen. Dir fehlt eine Leidenschaft! Eine große Leidenschaft, die dich wieder aufrüttelt! Die dich um und um wühlt!
Mühlenbruch Um und um gewühlt werden ... damit neue Saat aufgehen kann.
Christiane Du mußt etwas haben, was dir wieder Kraft und Schwung gibt.
Mühlenbruch Kraft und Schwung, um noch einmal von vorne anzufangen ...! Er sieht sie groß an Und den Rat gibst du mir?
Christiane Ja, ich als deine Frau! Als deine Geliebte von ehedem! Als dein Modell, das du geheiratet hast, wie deine Feinde zu sagen pflegten!
Mühlenbruch Christiane, du weißt, daß du mir mehr, viel mehr gewesen bist, als mein Modell.
Christiane lächelt Ich hab's auch nur als Ehrentitel genommen! ... Und wenn ich jetzt wüßte, ich kann dir helfen, dadurch, daß ich von dir gehe ...
Mühlenbruch faßt ihre Hand Christiane!
Christiane Ich tät's! Ich ginge auf der Stelle! Vielleicht würde dir das die Kraft wiedergeben.
Mühlenbruch Und was würde aus dir?
Christiane Ich könnte mir ja noch einen anderen suchen. Es wäre ja noch nicht zu spät. Sie wendet sich ab.
Mühlenbruch sieht sie lange an Weißt du, an wen du mich jetzt erinnerst? ... An deinen Vater, den alten Glockengießer, der Weib und Kind verließ und Gott suchen ging.
Christiane Mach's ihm nach, wenn du kannst!
Mühlenbruch Aber vergiß nicht, wo er geendet hat!
Christiane Im Narrenhaus! Dafür hat er ja auch Gott gesucht!
Mühlenbruch macht ein paar Schritte, bleibt wieder vor Christiane stehen Christiane, ich habe heute früh bei der großen Inventur ein altes Bild von mir herausgefischt. Eigentlich nur eine Skizze. Aber es könnte ein Bild daraus werden, ein wirkliches Bild ... Er läßt sich auf einen Stuhl nieder, starrt mit gekreuzten Armen vor sich hin.
Christiane betrachtet ihn ein Weilchen, nähert sich ihm dann Was ist das für ein Bild?
Mühlenbruch Ganz zu Unterst lag's, in der alten Kommode. Ganz verstaubt und vergessen. Eins aus meiner frühesten Zeit! Anfängerarbeit! Und doch ein gewisses Etwas dahinter ... das einem eben abhanden gekommen ist und wofür man sich die Haare ausraufen möchte, um's wiederzuhaben.
Christiane So ähnlich wohl, als wenn man als reife Frau sein junges Mädchengesicht wiederhaben möchte?
Mühlenbruch Ja, so ähnlich!
Christiane Was stellt denn die Skizze vor?
Mühlenbruch Oh, ganz was Einfaches! Ein junges Weib, angelehnt unter dem Säulenbogen eines südlichen Landhauses ... Es steht, den Kopf etwas zurückgebeugt, die rechte Hand über die Augen gelegt, und blickt in die Ferne hinaus. Eine weite, weite Ferne!
Christiane hat mit starkem Anteil zugehört Ah! Da hast du ja mich gemalt!
Mühlenbruch Ja, aus der Erinnerung! Im Venezianischen war's, bei Padua. Ich lief damals noch Giorgione nach. Aber weißt du, wonach das junge Weib ausschaut? Nach den blauen Bergen am Horizont. Nach denselben blauen Bergen, von denen Stefanie vorhin sprach.
Christiane kopfschüttelnd Sind denn überhaupt Berge auf dem Bild zu sehen? Ich entsinne mich gar nicht.
Mühlenbruch Nein! Aber sie müßten zu sehen sein! Sie müßten zu sehen sein! Und darum habe ich mir vorgenommen, das Bild noch einmal zu malen! ... Und mein Modell für die Frauengestalt sollst du sein!
Christiane weicht zurück Ich? Dein Modell?
Mühlenbruch Ich will wissen, ob ich das Bild so zusammenbringe, wie mir's heute, heute vorschwebt. Es soll eine Probe aufs Exempel werden.
Christiane Aber damals maltest du mich aus der Erinnerung, und ich war weit fort, und du hattest die Leidenschaft. Wenn du mich heute malst, Hans Kaspar ... wo ist die Leidenschaft?
Mühlenbruch Willst du mich im Stich lassen, Christiane?
Christiane Wo ist die Leidenschaft, Hans Kaspar?
Mühlenbruch Dann ist es also nichts mit dem Bild und mit uns beiden?
Christiane Überleg' dir's noch einmal gut, Hans Kaspar, und wenn du morgen noch darauf bestehst, dann mag es sein.
Rechts erscheinen Jacques Muschinsky, Pius Pfefferkorn, Marianne Jordan, geführt von Professor Hillenbrandt.
Hillenbrandt zu Mühlenbruch und Christiane Entschuldigt bitte, den Überfall! Die Herrschaften hatten uns Besuch gemacht, wollten aber eigentlich zu euch herüber. Da habe ich sie gleich durch den Garten geführt.
Christiane Oh, das macht ja nichts.
Hillenbrandt vorstellend Herr Jacques Muschinsky ...
Muschinsky Mein Name ist Muschinsky! Die Firma wird Ihnen bekannt sein. Muschinsky, Rübezahl und Kompagnie, aber das war mein Vater! Der Kohlenfürst des Ostens! Bekannt, gefürchtet, berüchtigt! Wie Sie wollen! Aber Sie sehen, es hat mir nichts geschadet. Die Millionen sollen jetzt wenigstens auf anständige Weise unter die Leute kommen.
Hillenbrandt Die Herrschaften brauchen mich, wie es scheint, nicht mehr. Herr Muschinsky hat sich ja schon selbst eingeführt.
Muschinsky Ja! Danke für die Vermittlung! Das Gartenhaus nehmen wir! Adieu!
Hillenbrandt rechts, woher er gekommen, ab.
Mühlenbruch kurz angebunden zu Muschinsky Womit kann ich dienen?
Muschinsky Sie finden, ich falle mit der Tür ins Haus! Das macht nichts. Ich kenne und schätze Sie längst als Maler. Eine Frühstücksszene von Ihnen hängt in meinem Speisezimmer. Ein Akt, brillant gemalt, im Schlafzimmer. Ich komme, um meine Freundin hier bei Ihnen in Auftrag zu geben. Vorstellend Fräulein Marianne Jordan, Mitglied des Edentheaters! Eine unserer rassigsten und bestgewachsenen Künstlerinnen!
Marianne mit etwas melancholischem Lächeln Du bist wie immer, zu freigebig, lieber Jacques! Zu Christiane Verzeihen Sie, gnädige Frau, die etwas ungewöhnliche Art der Einführung!
Muschinsky Wenn ich fürs Gewöhnliche wäre, hätt' ich ja dich nicht!
Christiane hat schweigend die Gruppe, insbesondere Marianne betrachtet, reicht Marianne die Hand Sie sind uns jedenfalls willkommen, Fräulein Jordan.
Pfefferkorn hat bis jetzt beiseite gestanden, tritt vor, verbeugt sich Pfefferkorn!
Muschinsky Ah, Sie hab' ich ja ganz vergessen! Her mit Ihnen! Er zieht ihn heran Dies ist Pfefferkorn! Doktor Pius Pfefferkorn, mein Freund, Adlatus, Sekretär und Faktotum! Er will die Reformbühne für erotische Kultur und kulturelle Erotik begründen und außerdem die Menschheit im allgemeinen korruptionieren! Und zwar auf meine Kosten! Stimmt's? Er schlägt Pfefferkorn kordial auf die Schulter.
Pfefferkorn weich und eindringlich Nicht so sehr eigentlich die Menschheit, wie zunächst ihre weibliche Hälfte, als in deren Händen ja doch unser Wohl und Wehe liegt. Vor allem natürlich die Korruptionierung der Damen der Gesellschaft.
Christiane Ist denn das noch nötig?
Muschinsky Sie haben Mutterwitz, Gnädigste! Ich habe Ihnen das schon heute früh im Wasser angesehen. Hab' ich's Ihnen nicht vorausgesagt, Pfefferkorn?
Christiane Ah, Sie waren der Herr in dem Resedakostüm mit dem violetten Überwurf?
Pfefferkorn Und ich der große Schlanke mit dem gelben Spitzenbesatz! Sie haben uns bemerkt, ich wußte es.
Christiane Wenn man Sie nicht hätte bemerken sollen, dann müßte man wohl mit Blindheit geschlagen sein!
Muschinsky So! Die Formalitäten wären erledigt. Jetzt zum Geschäft! Das vollzieht sich am besten im Atelier. Geht's dort hinein? Er zeigt nach links.
Mühlenbruch hat mit seinen Blicken Marianne aufgenommen Sie wissen ja Bescheid, als wären Sie hier geboren.
Muschinsky Nur mir nach! Er geht nach links voraus. Marianne folgt ihm, dann Pfefferkorn. Mühlenbruch und Christiane schließen den Zug.
Christiane zu Mühlenbruch, indem sie etwas zurückbleibt Die Dame aus dem Familienbad, Hans Kaspar! Jetzt hast du dein Modell gefunden!
Vorhang.