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Februar 1914
Als ich nach Fertigstellung meiner kleinen Schrift über Kierkegaard Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit. München 1913. zum Spaß die abstrakten Möglichkeiten bedachte, wie ich sie auch anders hätte schreiben können, wunderte ich mich über deren große Anzahl. Ich hätte ja nach Kants und Goethes Versimmelung auch Kierkegaard zu einer Berliner Wassersuppe verkochen können. Zur Verfügung stand auch irgendein anderer philosophisch vertrockneter Mumien- oder ausgefleischter Skelettstil, der mir den sichern Erfolg gebracht hätte, »letzten Endes« als intentionaler Aktträger in den Seinsbezug des »Logos« eingeordnet zu werden. Nach Durchlaufung aller Zwischenstufen wäre ich bei der Gemeinheit angelangt, zu behaupten, Mauthner meine und wolle eigentlich dasselbe wie Kierkegaard. Eine der Zwischenstufen hieß auch Blei. Daß ich sie, unbewußt und bewußt, hinter mir gelassen hatte, stand so fest, daß es der »Feststellung« Bleis eigentlich nicht bedurft hätte. Es ist auch nicht der Umstand, daß sich Blei persönlich zu mir wendet, der mich veranlaßt, ihm zu antworten, sondern der andere, daß ich ihn vorher in meiner Schrift auch genannt habe.
Blei gesteht mir stolzen Mut zu und behauptet, daß er zu vielen Dingen nicht anderer Meinung sein könne als ich.
»Wohl aber im Hauptthema. K. hat nicht nur das vollständigste Buch über sich selbst in allen seinen Büchern geschrieben, das alle Bücher anderer überflüssig macht, sondern er hat überhaupt nichts anderes geschrieben als sich selber; er ist das einzige Thema seiner Bücher; alle Wege, die er geht, sind freiwillige Umwege zu sich selber; er kommt immer zu sich selber zurück: kommt nicht zu Gott, schleppt Gott in seine Höhle; er war Sokrates noch einmal und ein Dialektiker von solcher Inbrunst, daß es ihm sogar den religiösen Charakter geben konnte, ihm, der nur im Sinne des protestantischen Paradoxes religiös war, dessen genialer Zu-Ende-Denker er war und dessen definitiver Erlediger.«
Daß ein Mann, der die »Werke der Liebe« und die christlichen Reden schreiben konnte, der sein Leben von Jahr zu Jahr vertiefte, indem er es »in Gott ausweitete«, der vor seinem letzten Kampf über ein halbes Jahr lang im Wachen und Beten »sich für ewig vergewisserte«, daß er in der Wahrheit sei und nun aber auch für diese Seligkeit, denn es war ja auch Seligkeit, unter vollkommener und rücksichtsloser Preisgabe seiner bürgerlich-empirischen Person und seines zeitlichen Lebens hinaus müsse in das Mißverständnis, auf Markt und Gasse, zur Vollendung der ihm zugewiesenen Aufgabe, daß dieser Mann »Gott in seine Höhle schleppte« usw. usw., davon verstehe ich zwar nicht ein Wort, aber ich glaube: c'est de la littérature, auf dänisch: Pjat, auf deutsch: Geschwätz.
Man wird nicht über Nacht und auch nicht von einem Tag zum andern begreifen lernen, daß die größte Person des vergangenen Jahrhunderts auch die größte Sache um einen Ruck vorwärts gebracht hat, nämlich das Christentum, das ein unendliches Leben ist und weder in die Formen des Katholizismus noch in die des Protestantismus zu bannen ist. Wenn es wahr ist – und ich habe es selber ja auch gesagt –, daß Kierkegaard den Protestantismus erledigt hat, so gilt nicht minder, daß es der Katholizismus schon lange vorher war. Das wird freilich zu jenem Hauptthema gehören, in dem Blei anderer Meinung ist; aber das macht nichts. Passons. Es war eine Tat von unermeßlicher Bedeutung, das Christentum ganz in die Reflexion aufzunehmen und sie durchlaufen zu lassen, eine Tat, die auch nur von einem Manne vollbracht werden konnte, der nicht nur an »Gaben, Fleiß und Bildung« das Außerordentliche war, sondern der auch »zu Gott kam«. Freilich liebte er nicht die Zudringlichkeit [Naergaaenhed] einer gewissen Mystik gegen Gott, weil er trotz der Lyrik des Gefühls – der Seligkeit unsagbare Stille – den heilsamen und menschlich demütigen, vor dem tragischen wie dem komischen Mißverständnis, vor dem Wahnsinn wie vor der Lächerlichkeit schützenden Gedanken der Transzendenz und unnahbaren Unendlichkeit Gottes und der eigenen Ohnmacht und Unwissenheit festhalten konnte. Darum gilt: daß Kierkegaard ein Anfang ist, der noch nicht begonnen hat, eine Flamme, durch welche die Welt noch hindurch muß. Was es heißt, sein Leben doppelt leben, sowohl unmittelbar, wie von Natur aus jeder Mensch, als auch in der Wiederholung im Geiste, das hat erst Kierkegaard deutlich gezeigt, und keiner so vor ihm. Er sah ja die Welt schon so weit fortgeschritten, daß jede schöne Unmittelbarkeit, weil sie in des Menschen an sich höher gedachter, bewußter Existenz keinen Ausdruck mehr findet, wie eine schmerzliche Vergeudung ist. Hier liegt ja auch der Grund, warum Karl Kraus nicht begreift, daß die Glockenblumen noch blühen können. Und wie eine schmerzliche Vergeudung erscheint ja nicht nur alle unmittelbare Schönheit der Natur und des Dichters, sondern sogar noch jene Schönheit der reinen Kausalität, des reinen Intellekts, die in einer vollkommenen Maschine anschaulich und offenbar wird.
Was ich mir von der Universitätsphilosophie erwarte, habe ich doch deutlich genug gesagt, es war nicht nötig, daß Blei es in schwächeren Worten wiederholte und so tat, als hätte ich es überhaupt nicht gesagt.
Die paar zitierten Sätze sind nun alles, was Blei zum Hauptthema zu bemerken hat. Dagegen schreibt er ein paar Dutzend Sätze über ein Nebenthema: über sich selber. Ich kann ihm auch dorthin folgen, ohne Sorge, daß ich mein Hauptthema aus den Augen verlieren könnte, das ich ja doch beständig in mente habe.
»Für mich muß ich zum Verfasser bemerken, daß ich vor 23 Jahren – ich war ein junger Student – zum erstenmal Entweder-Oder las [der Titel des Buches zog mich in den Laden, in dessen Fenster das Buch lag] und daß mir seitdem zum immer stärker drängenden Erlebnis die Existenz dieses aufregenden Ingenium wurde, wenn es mir auch nicht gelang, dieses Erlebnis in höherem Maße auszudrücken, als es nach meinem eben nicht sehr großen Vermögen geschah. In all der Zeit war mir K. stärker als irgend sonst was die laute Mahnung des Christentums«, [Wie? von einem, der doch nie zu Gott kam!] »die nicht immer deutlich gehörte, aber nie nicht gehörte. Keinem bin ich mit meinem inneren Leben stärker verpflichtet. Der Leser entschuldige diese allzupersönliche Bemerkung zum Verfasser hin, der, wie manchmal zum Schimpfen, so manchmal auch in das Mißtrauen des snobistischen Entdeckers fällt, der auf seine Primeurs eifersüchtig ist ...«
Ich habe mich schon manchmal besonnen, was Schriftsteller wie Blei eigentlich wollen. Unmittelbare Dichter sind sie nicht und den entschiedenen Kampf für Geist und Wahrheit führen sie auch nicht, das hatte ich bald heraus. So schien es denn, daß sie für die geistreichsten und klügsten Leute gelten wollten. Das stimmt nun aber auch nicht. Wenn es nämlich, wie ich doch annehmen muß, nicht christlicher Selbsthaß ist, der Blei dazu bewegt, seinem Gegner die stärkste Waffe selber in die Hand zu spielen, nein, wenn es im Gegenteil ahnungslos geschieht und sogar im Glauben, er verteidige sich – ist das dann ein Zeichen besonderer Klugheit? Könnte ich einen stärkeren Einwand gegen Blei vorbringen als sein eigenes Geständnis, daß er Kierkegaard schon seit 23 Jahren kenne? Man denke nur, schon seit 23 Jahren ist Blei »von den Idealen verwundet«, schon 23 Jahre lang braust in seinem Herzen der Schlachtruf: »Entweder – Oder«; aber plaudernd zähmt schon sein Mund wieder die widerspenstigen Glieder der Disjunktion und kopuliert sie so halb und halb zum verträglichen Ehepaar dieser Welt: Sowohl, als auch; sowohl Kierkegaard als auch Maurice Barrès, sowohl Karl Kraus als auch – er selber. Weil ein Geständnis das andere wert ist, will auch ich mit einem aufwarten. Ich gestehe, geahnt zu haben, daß wenn nicht der Herausgeber des »Amethyst«, so doch der Verfasser des »Heliogabalus« schon geraume Zeit vor mir Kierkegaard gekannt hat. Schon lange hegte ich den jetzt zur Gewißheit gewordenen Verdacht, daß Kierkegaards ganze Wirkung auf Bleis literarisches Tun und Lassen nur die verkehrte gewesen war, daß Blei tat, was er hätte lassen sollen. Aber gerade das geht diesen Talenten am allerschwersten in den Kopf, daß für sie das Lassen viel wichtiger und ersprießlicher wäre als das Tun, das ihre besseren Möglichkeiten immer von neuem verschüttet. Würden sie mit der Kraft, die sie zur Herstellung eines Feuilletons aufwenden, ihre Scham vertiefen, daß ihnen nichts Besseres einfällt, wer weiß, vielleicht fiele ihnen Besseres ein! Ich suchte nach den lebendigen Spuren Kierkegaards in dem geistigen Geschehen unserer Tage und fand sie nur bei zwei Lebenden, die beide wahrscheinlich – ich weiß es nicht – niemals ein Wort von Kierkegaard gelesen haben: bei Karl Kraus und teilweise bei Gerhart Hauptmann. Ich fand sie nicht bei Blei, woraus er schloß, daß ich ihn nicht kenne. Ein Trugschluß, er identifiziert Prämissen, die himmelweit voneinander verschieden sind. Ich suchte nach den lebendigen Spuren, nicht nach den literarischen. Hätte ich dieses letzte gewollt, was wäre nicht alles zu suchen und zu sagen gewesen? Viele kennen heute vieles. Irgendein fetter Idiot kann mir unversehens Buddhasprüche ins Gesicht spucken, warum nicht auch Sätze Kierkegaards. Alle Weisheit der Welt liegt auf der Straße, und ein Literat kann eine Henne unterrichten im flinken Aufpicken. Ich hätte sogar von Sternen der Literatur reden können, z. B. daß Jakob Wassermann, nachdem er das »Tagebuch des Verführers« gelesen hatte, das Produzieren nicht aufgab, sondern auch noch die »Masken Erwin Reiners« schrieb, oder daß Heinrich Lilienfels die Indenads-Lectie »Periander« in »Schuldig – nicht schuldig«, also ein Stück, das nach innen gelesen werden sollte, so gründlich und gräßlich mißverstand, daß er es nach außen las und ein Drama »Der Tyrann« machte. So gewiß nun Blei gescheiter ist als diese beiden, ebenso gewiß ist es dennoch, daß er nicht zu den wenigen Denkern gehört, »in denen Kierkegaard existent ist«.
»Ich muß noch eine unanständige Bemerkung des Verfassers abweisen ... Der Verfasser will Claudel durch mich erledigen und gibt mich summarisch noch dem Käufer seiner Meinung drein. Es schmeichelt mir, daß Verfasser mich bei seinen Lesern nicht nur überhaupt als bekannt, sondern sogar als sehr fixiert bekannt voraussetzt. Was er aber für die Prägung einer kurrenten Münze hält, dürfte doch wohl nur ein recht fades übernommenes Klischee sein ... Unanständig ist es vom Verfasser – nicht, daß er mich nicht kennt natürlich, aber daß er Claudel durch den diskreditieren will, der zuerst [vor fünf Jahren!] zwei außerordentliche [moderne, nicht ›mittelalterliche‹] Dramen von ihm übersetzt hat.«
Es behagt mir gar nicht, daß Blei ein und dasselbe, wenn es gegen andere geht, stolzen Mut, wenn es sich aber gegen ihn richtet, Unanständigkeit nennt. Entweder – Oder. Aber davon abgesehen bin ich dafür, daß man den Worten ihren Sinn läßt. Alle Dinge geschehen ihrem wahren Sein nach nur im Geist und werden auch nur dort entschieden. Alles was sich in dieser Welt, die der Politik gehört, ereignet, ist im schlimmen Fall Entfernung vom Geist, im neutralen Scheinbewegung, und im guten nur Annäherung. Daß dieses so ist, bereitet dem in entschiedener Weise geistigen Kämpfer oft die bitterste Qual, denn er ist wie ein ungeduldiges Kind, das nicht warten kann, er will die Entscheidung sofort, ohne Verzug und auf der Stelle schon in dieser Welt, wo sie doch nicht fällt und niemals fallen wird. Diese Qual steigerte sich ja bei Kierkegaard in den letzten Jahren seines kurzen Lebens manchmal bis zur Unerträglichkeit. Darum begrüßte er auch mit dankbarem Herzen die Gewißheit des nahenden Todes und nahm ihn als letzte Krönung seines Werkes, zu dem er gehörte, an, als letztes Geschenk und letzte Gnade des Vaters, der ihn, nachdem er getreu gewesen war, nun wieder zu sich nahm. Weil also alles der Wahrheit nach nur im Geiste geschieht, so finden auch alle Worte ihren ursprünglichen Sinn erst im Leben des Geistes und sind dort erst zu Hause. Als ich das feuilletonistische Tun Mauthners unappetitlich nannte, gab ich diesem Wort seinen ursprünglichen Sinn, wohl wissend, daß es auch eine übertragene Bedeutung habe, so wenn man sagt, ein Mensch esse unappetitlich, denn hier, hier erst sind wir im unendlich schwankenden Feld der Metapher, hier, nicht dort. So muß nun aber auch das Wort unanständig seinen geistigen Sinn haben. Wenn ich anstatt der Wahrheit die Lüge sage, wenn ich in einer Polemik, die nur in der Sphäre und mit den Waffen des Geistes geführt werden darf, mit ungeistigen Mitteln endliche und selbstsüchtige Zwecke statt unendlichen und allgemeinen verfolge, dann, aber auch erst dann, bin ich unanständig. Das aber habe ich nicht getan, auch nicht als ich »ins Schimpfen fiel«. So durfte mich Blei meinetwegen grob, oder wenn er eine Sache besser zu verstehen sicher war, auch dumm nennen, aber nicht unanständig. Er jedoch liebt die Worte, die danebentreffen oder zurückschlagen; dieser Herzens- und Nierenkenner meinte ja gar, mich mit dem Adjektivum »snobistisch« zu treffen, wiewohl er doch hier so offensichtlich von sich selber redet, daß die Blindheit, die es nicht sieht, nur noch komischer wirkt, weil sie die eigene ist. Wenn ich dem Dichter Claudel damit Unrecht getan habe, daß ich zugleich mit ihm Blei nannte, den ich allerdings nicht für einen Dichter halte, so tut es mir leid, aber feinere Ohren müssen doch gehört haben, daß es sich nicht um den Dichter handle, sondern um den auch äußerlich prononcierten Katholizismus, der doch auch da ist, und mit dem doch Blei, der ja bekanntlich ein noch größerer Diplomat ist als weiland der Kardinal Rampolla und eigentlich, damit die Kirche endlich einmal wieder an Haupt und Gliedern reformiert würde, vom Revolutionsball der Aktion weg zum Papst gewählt werden müßte, auch etwas zu tun hat. Hier gilt und bleibt mein Urteil, weil es mit jenem Hauptthema zusammenhängt, in dem Blei zu meinem Glück anderer Meinung ist.
Ob ich den literarisch-jüdischen Neokatholizismus als Symptom dieser Zeit überschätzt habe, ist die einzige Nebensache, über die ich mit mir reden ließe. Die Analogie freilich, die Blei fingiert, wirkt nicht überzeugend. Ich glaube nämlich, daß der rechte Mann auch »das Tangotanzen an den Nabel der Welt binden« könnte, um so mehr als der Ursprung des Tangos nicht weit davon entfernt liegen wird.
»Aber die heute viel geübte Lust zu schimpfen ist so Passion geworden – mit so nachlassendem Denken –, daß sie sich auf die skurrilsten Objekte stürzt und deren Wichtigkeit übertreibt, nur um sich Genüge zu tun: die fünf Schimpfworte des Verfassers geben den ganzen fünf ›Neokatholiken‹ eine Existenz, die sie vorher sicher eher zu bezweifeln als zu behaupten geneigt waren.«
Dieser letzte Satz böte mir Gelegenheit zu einer Retourchaise. Es könnte mir schmeicheln, daß mir die Kraft zugestanden wird, aus fünf Schimpfwörtern fünf Schimpfworte machen zu können, die fünf Neokatholiken zu einer Existenz verhelfen, deren sie zuvor ermangelten. Ja wenn es ein Berufener gesagt hätte, so aber war es höchstens ein arbiter elegantiarum – es schmeichle ihm, denn ich meine, was ich sage, und sage, was er ist, und ätze selber das Klischee, das ihm gleicht. Ein arbiter elegantiarum kann nicht richten über Wahr und Falsch und nicht über Gut und Böse, ich kann von ihm nicht einmal die »Feststellung« annehmen, daß wir im Hauptthema verschiedener Meinung sind, denn sie sagt zu viel und zu wenig und ist darum falsch und gilt nur – bei nachlassendem Denken. Ich löse sie und begebe mich schwindelfrei in jene unendliche Negativität, wo wir – bei zunehmendem Denken – auch im Nebenthema verschiedener Meinung sind, weil wir nicht nur im Hauptthema verschiedener Meinung sind, sondern auch verschiedener Meinung, was eigentlich das Hauptthema sei, und verschiedener Meinung, ob es ein Nebenthema gebe, und so fort und fort im vergnüglichen Wechsel der Aspekte, immer wieder verschiedener Meinung in infinitum.
April 1914
Das Wort geht natürlich auf Dostojewskij. Welcher Art der Mann sein muß, der es heute noch in den Mund nimmt, ist auch klar; es riecht ja von weitem schon nach Linksliberalismus und Industriepolitik. Es stammt aber nicht, wie man auf den ersten Blick meinen sollte, von Richard M. Meyer; denn er, der, wahrscheinlich vom Genuß des Zweigschen Fusels angeregt, zu unserer Pein in Dostojewskij ein Problem sieht, das unbedingt er im Berliner Tageblatt lösen muß, er meint, daß Dostojewskij eine wilde Seele gehabt habe, »der aber kein gleich starker Intellekt zur Seite stand«. Nun, diesem von keinem Skrupel geplagten zielstrebigen Schwachsinn, der sich jetzt auch Urteile über die Hirnkraft eines Dostojewskij anmaßt, hat ja Karl Kraus' Arbeit für alle Zeiten zur verdienten Lächerlichkeit verholfen. Aber daß in den eigentlich reichsdeutschen Landen selber, wo doch jeden zweiten Tag eine neue Zeitschrift gegründet wird, jedoch so gut wie keinem der Schriftsteller mehr etwas einfällt, es sei denn sein Tod in Venedig [der aber wortlos ruhmreicher gewesen wäre], nicht wenigstens für Sauberkeit und Reinlichkeit gesorgt wird, indem was Kraft hat den Besen und die Kehrschaufel zur Hand nimmt und ordentlich ausfegt – das ist die Schande. Es ist, als ob einer Jugend der unmittelbare leidenschaftliche Sinn für Wert, Würde und Ehre im geistigen Leben verlorengegangen sei, als ob sie im Zweifel lebe, was höher stehe, der letzte Putzer und Knecht im Hause des Geistes oder König und Minister im Lande des Gefasels zu sein; freilich ist der Unterschied der: daß auch der letzte Ausputzer im Hause des Geistes selber einigermaßen sauber sein muß, während im Lande des Gefasels gerade die größten und fettesten Oberbonzen auch die schmierigsten Schmutzfinken sein können. Das Wort von der müden Nazarenerseele stammt also nicht von Richard M. Meyer, der ja ganz im Gegenteil meint, daß Dostojewskij eine wilde Seele gehabt habe, aber es stammt von einem seiner Gesinnungsgenossen, und ob diese Seelen sich in letzten Dingen auch so sehr widersprechen wie das Ja dem Nein und das Schwarz dem Weiß, das tut ihrem Einverständnis gar nichts, denn sie treffen sich ja sofort in einem gemeinsamen Dritten, wo alles wieder wurscht ist, und dessen allgemeiner Name liberale Sinnlosigkeit, und besonderer Berliner Tageblatt oder Neue Rundschau ist. Das Wort hat ein anderer Liberaler geschrieben, auch ein Berliner, auch ein Teleologe. Es ist der deutsche Mill, Spencer, Hamilton, Pitt der Jüngere und der Ältere, Macaulay, Disraeli-Lord Beaconsfield [dieses rückständige Preußen, das weder Harden noch ihn zu Ministern haben will], Chamberlain, Cecil Rhodes, Asquith, Churchill, Morley usw., kurz, es ist der große Publizist, der »vom lieben Gott mit Metaphysik gestrafte« [jawohl! er und Mauthner] Philosoph und liberale Politiker der Neuen Rundschau: Samuel Sänger. Er meint, daß die Entwicklung Dostojewskij überholt habe. Wer die Entwicklung ist und wie sie heißt, sagt er nicht, es ist auch nicht nötig, wir wissen es schon. Die Entwicklung ist die Neue Rundschau oder das Berliner Tageblatt oder, weil die gegenseitige Kongenialität feststeht, beide zusammen. Die Entwicklung hat Dostojewskij überholt, weil er eine müde Nazarenerseele war. Da haben wir das Wort. Eine müde Nazarenerseele. Es ist möglich, daß kein einziger Leser der Neuen Rundschau über diese Dummheit oder Lüge, denn eines von beiden ist es, je nach dem Grade der Bewußtheit, mit der es geschrieben wurde, freilich bei dem Mischmasch des Liberalismus kann es auch beides zugleich sein – es ist also möglich, daß kein einziger Leser der Neuen Rundschau über diese Dummheit oder Lüge oder verlogene Dummheit und dumme Lüge gelacht hat, ja, es ist wahrscheinlich, daß jeder damit einverstanden war und sagte: ja, dieser Dostojewskij war eine müde Nazarenerseele, da lobe ich mir den Eifer und die Kraft der heiteren, olympischen, apollinischen Geister, der diesseitigen Jasager, der Mauthner, Meyer und Sänger – ja, das sind die mutigen Pioniere der Freiheit, was im Reiche der Technik die Flieger, das sind sie im Reiche der Geister, tapfere Lichtbringer, vor denen alle Dunkelmänner entfliehen müssen wie, nun das ist klar, wie die Nacht vor dem Tage. Ich aber, der mit der Eifersucht eines Verliebten darüber wacht, daß in seiner Finsternis kein künstliches Industrielicht scheine, und diesem die schwärzeste Nacht noch vorzieht, so in ihr nur dem Glauben, wenn auch aus weiter Ferne, eines wahren Sternes Strahl und Licht leuchtet, ich, ein Dunkelmann also, der zwar der Sonne nichts anhaben kann und auch nicht will, wohl aber übel qualmende Talgfunzeln mit der größten Bereitwilligkeit und ganz besonderem Vergnügen – sie, die sich für Sterne halten, werden sagen: mit thersitischem und herostratischem Ressentiment – auslöschen hilft, ich sage: Dieser Dostojewskij, diese müde Nazarenerseele, dieser wenig starke Intellekt, hat in einer einzigen Minute seines Lebens nicht tausend-, sondern abertausendmal mehr Seelenkraft gewonnen, verloren und wiedergewonnen, und hat außerdem zeitlebens wachend, träumend und schlafend im kleinen Finger mehr Verstand besessen, als jene nimmermüden – nun, dafür müssen sie sich doch halten! – Griechen- und Cäsarenseelen, der Meyer und der Sänger, der Sänger und der Meyer, die ich im Inferno zum ewigen Trinken lauen Wassers verdammen würde, in einer an Jahren das Patriarchenalter erreichenden Betriebsamkeit, die allem wahren Leben Hohn spricht, jemals ausgeben oder einsparen können.
Ich schlage die »Literarischen Schriften« Dostojewskijs auf und lese Seite 356: »Die Schurken foppen mich mit meinem angeblich ungebildeten und rückständigen Glauben an Gott. Diese Tölpel haben sich eine solche Gottesleugnung noch nicht einmal träumen lassen, wie sie in meinem Großinquisitor und dem vorhergehenden Kapitel ausgedrückt ist, und auf die das ganze Buch [Die Brüder Karamasoff] die Antwort gibt. Wenn ich an Gott glaube, so tue ich es doch nicht wie ein Dummkopf [wie ein Fanatiker]. Diese da wollen mich belehren und lachen über meine Beschränktheit! Ihre dumme Kreatur hat sich ja nicht einmal träumen lassen von einer solchen Gewalt der Verneinung, wie ich sie durchgemacht habe. Und die wollen mich unterrichten.«
Ich hege keine, aber auch gar keine Zweifel, daß sowohl Meyer wie Sänger diese Sätze, in denen Dostojewskij von seiner müden Seele und von seinem schwachen Intellekt redet, gelesen haben, denn sie sind liberal und lesen alles, aber ich hege die allerstärksten Zweifel, ob sie sie auch verstanden haben. Ich glaube nämlich, daß beide entweder so dumm oder so schlau – nein, ich will liberal sein, also so dummschlau waren, diese Worte dahinstehen zu lassen, ihnen keinen Sinn zu geben, sie nicht auf sich zu beziehen, nach der Lektüre nicht aufzuspringen, nicht unruhig zu werden, sich nicht zu schämen. Nein, so taten sie nicht, sondern der eine ging hin und schrieb ein Feuilleton für das Berliner Tageblatt, in dem er bewies, daß Dostojewskij eine wilde Seele hatte, aber ein Dummkopf war, während der andere schon vorher ein Feuilleton für die Neue Rundschau geschrieben hatte, in dem er bewies, daß Dostojewskij von der Entwicklung überholt wurde, weil er eine müde Nazarenerseele war. Ah ja, da ist nichts zu machen, denn es werden diese linksliberalen, rasend intelligenten, aber harmonisch ausgeglichenen Fabrikseelen nimmermehr müde werden, in deutschen Landen mit Rundschau und Tageblatt das bißchen Geistesleben zu ersticken.
Mai 1914
Wenn nichts anderes, so kann man aus diesem Schriftchen wieder lernen, was Produktion ist, die nicht nach dem Schweiß des Autors riecht. Das ist schon viel in einer Zeit, in der die Kinder statt eines neuen vollen unschuldigen Lebens in ihren Zügen nur die Qual der Eltern offenbaren. Im schöpferischen Leben der Kunst ist keine Äquivalenz und nicht einmal eine verständliche Kausalität zwischen Arbeit und Leistung. Hier gelten nicht die Hebelgesetze der Physik, weil die gegeneinanderstehenden Kräfte nicht gemeinsames Maß haben. Sie sind verschiedener Qualität und gehören anderen Welten an. Die Arbeit gehört dem Reich der Notwendigkeit, in welchem der biblische Fluch für jeden gilt, der Einfall und das Werk ist Gabe und kommt aus dem Reich der Freiheit, wo die Quelle des Segens fließt. Dennoch will auch die Kunst das schwebende Gleichgewicht, aber der Begriff meint hier etwas anderes als in der Mechanik: Gleichgewicht herrscht erst, wenn Arbeit und Mühe vor der Phantasie verschwunden sind, wie die endliche vor der unendlichen Größe.
Zwischen Arbeit und Lohn im schöpferischen Leben der Kunst liegt ein Riß, ein Blitz und ein Vergessen. Aber ein Vergessen besonderer Art. Wenn ein Genie in der Stunde der Intuition alle seine Gelehrsamkeit vergißt, wenn all sein durch Arbeit erlangtes Wissen wie aufgesaugt ist von einem einzigen Blick seines geistigen Auges, aber ungebrochen mitschwingt im Strahl des gnadenvollen Lichts, das ihn erleuchtet, so ist das ja etwas anderes, als wenn ein Dummkopf auf seinem Stuhl hin und her rutscht und schwitzt, weil er alles vergessen hat und ihm nichts mehr einfällt.
Wenn einer das so verstehen will, als habe das Genie Arbeit und Anstrengung nicht nötig [aber Kierkegaard hat ja nicht nur die Tage, sondern auch die Nächte durchgearbeitet], so beweist er nur, daß er allein und ohne Stütze nicht gehen kann und dem besoffenen Bauern gleicht, von dem Luther redet: Hilft man ihm von rechts in den Sattel, so fällt er links herunter. Die Mühe der Saat ist das eine, die reife Frucht das andere. Die Mühe der Saat und des Pflügens erklärt aber nicht die Frucht, die ja auch ausbleiben kann und sich allein dadurch schon als Gabe und Geschenk erweist. Und die Kunst, in noch höherem Maße als das unmittelbare Leben, will die Ernte und die Freude der Ernte, in deren glücklichstem Augenblick Arbeit und Mühe nicht mehr da und vergessen sind.
Die Frage, ob das Spiel den Einsatz wert ist, ob überhaupt Mühe und Leben um eines Kunstwerks willen sich lohnen, geht die Kunst selber gar nichts an und ist ihr gleichgültig. So wichtig auch die Frage an sich selbst ist, denn wer sich von Weib, Ehe, Macht, Ehre, Kunst, Wissenschaft oder Philosophie um diese Frage betrügen, wer sich von ihr nicht zerreißen, in ihrem Fegefeuer nicht verbrennen läßt, der ist nur erst das Rohmaterial, das μὴ ὄν zu dem inneren, geistigen Menschen, dessen Keim in ihm liegt und der er werden kann und soll, werden, nicht sein, denn wer in dieser Welt so redet, ist voll der ignava ratio. Diese Frage hat aber jeder einzelne mit Gott abzumachen. Hin und wieder trifft sie im Laufe der Jahrhunderte in einem leidenschaftlichen Menschen mit der Kunst zusammen; dann aber ist diese letzte sofort ohne weiteres dienendes Moment, nicht zu einem endlichen Zweck, das ist Unsinn, sondern innerhalb eines unendlichen Lebens. [Die dritte Möglichkeit, daß die Kunst nur um ihrer selbst willen da sei, führt, wenn sie verwirklicht wird, entweder auf einer niederen Stufe zu wesenloser Spielerei, oder auf einer höheren zu Dämonie und Irrsinn.] Es ist ja unserer Zeit der Unfug vorbehalten geblieben, auch einen Paulus etwa unter die Rubrik »Künstler« einzustellen, ein Unfug, der vor allem recht bequem ist. Was nennt sich nicht alles Künstler, und wenn zur Not ein Unterschied zwischen Paulus und dem Blumenthal gemacht wird, so doch nur innerhalb der Stilistik und wegen der Wahl des Gegenstandes, indem der Blumenthal in Lustspielen und Sinnsprüchen fürs Berliner Tageblatt macht, während Paulus in Religion machte, worin der Blumenthal hauptsächlich deshalb nicht macht, weil er eben den Fortschritt mitmacht. Aber auch wo ernsthaft von der Kunst geredet und das Gesindel ferngehalten wird, ist es eine Herabsetzung des Paulus, ihn Künstler zu nennen. Mag er auch Ausdrücke gefunden haben, für die ein Künstler sein halbes Leben und seine Seligkeit dazu geben würde, er ist mehr als Künstler.
Aber die Kunst will das Lied. Mag die Kehle des Vogels sich krampfen, wenn er singt, sein Lied jedenfalls ist kein Krampf. Wo immer man auf dem Wege zu solcher Verwechslung ist, ist man auch nicht weit entfernt von dem noch verderblicheren Wahn, es sei der Krampf schon das Lied. Es gibt heute Schriftsteller, die sich gebärden, als hätten sie zum allererstenmal etwa die Sexualität in der Welt entdeckt, nicht als Dichter oder Denker, dann wäre ja alles gut und schön in der Ordnung, sondern eben einfach als Tiere. Ja, aber wenn sonst nichts, sehe ich mir doch lieber einen Kater oder einen Hengst an als den wörtlich ins Literarische übersetzten Brunstkrampf geiler Mannsbilder. Wozu denn diese überflüssige und in der Regel so widerliche Verdoppelung, bei der weder Natur noch Kunst etwas gewinnen, sondern beide nur gleichermaßen verlieren können? Ich finde schon bei Richard Wagner, wiewohl ich mir hier der Distanz zwischen ihm und den eben Bezeichneten aufs klarste und deutlichste bewußt bin, z. B. in der Musik zu Isoldes Liebestod den Krampf nicht völlig in einem höheren Leben der Kunst gelöst – deshalb fallen ja auch alle Weiber beiderlei Geschlechts gerade auf diese Musik so herein – ich finde, daß, was diese Musik in Wahrheit sagt – ihre Mystik gebe ich drein, man lasse mich damit in Ruhe – im zweiten Akt der Schönen Helena von Offenbach in schwebenderen, von Schwere, Körperlichkeit, Schleim und Lehm freieren Tönen gegeben ist. Und es könnte doch einmal ein abschließendes Urteil werden: R.W. das musikalische Genie einer viel essenden, hartleibigen Bourgeoisie.
Die ganze Tragikomik der ästhetischen Verwirrungen wurde uns durch die dankenswert naive Beichte eines gelesenen Schriftstellers enthüllt. Es war an sich gewiß uninteressant, daß einer den Tod in Venedig herausgab, denn solche Stilübungen werden in der Literatur zu allen Zeiten fabriziert, und es ist doch nur, bürgerlich gesprochen, nett und erbaulich, daß einer all das, zu dessen Erlernung er einst im Gymnasium zu genial gewesen war, in seinen vierziger Jahren durch zähen Fleiß glatt und akkurat so wie ein Gymnasiast wieder einholen kann. Von besagtem Autor galt auch immer, was der junge Kierkegaard von ähnlichen Epikern seiner Zeit sagte: ihre Bücher sind nicht Produktionen, sondern Amputationen. Um so interessanter war die Reaktion jener, die heute den Geist zu vertreten vorgeben. Mit wenigen Ausnahmen, die nur die Regel bestätigten, bekannten sich alle zu den Nöten dieses Priesters der Kunst und Ehrenpräsidenten einer Berliner Tageblatt-Bourgeoisie, in der sich aber auch ein Gustav Freytag heute gewiß nicht mehr wohl fühlen würde; und alle litten als vollendete Einfühlungspsychologen und Ästhetiker die wohl sehr peinlichen und unbehaglichen Beschwerden mit, die einer hat, wenn er Wind gebiert; alle approbierten Hebeammen der Literatur begafften mit dem Affenernst der Wissenschaftlichkeit die Nabelschnur, die nur Nabelschnur war, und an der kein Kind hing. Und alle ließen es zu, daß ihnen Gewalt und Geheimnis des Eros erklärt und enträtselt werde von einem, der vom schöpferischen Leben redet, wie ein schweißtriefender Taglöhner vom Backsteintragen – nur unterliegt der dem biblischen Fluch, ohne sich für einen Priester zu halten. Und das alles geschah in einem Land, in dem doch auch einmal ein Jean Paul als zeitlich bestimmter Mensch zwar im kleinbürgerlichsten All- und Werktag, als Dichter jedoch in der ewigen Kräfte seligem Überschwang und Feiertag gelebt hat. Als ob uns die von Aschenbachs etwas vom Eros sagen könnten, nicht einmal, wie doch Wedekind, etwas von des Mannes Begierde und des Weibes Lust, ich glaube, sie müssen auch da erst zur Vorbereitung der vorbereitenden Stimmung die Kerzen des siebenarmigen Leuchters aus dem Tempel der Jerusalemer Straße anzünden: die leuchten heute freilich zu jedem Erfolg.
Sören Kierkegaard: Der Pfahl im Fleisch, übertragen und mit einem Nachwort versehen von Theodor Haecker, Innsbruck 1914.
Mai 1914
Daß Kierkegaard als strenger Christ – und hier noch als strenger Protestant – vom Neuen Testament nur mit Ehrfurcht redet, und jede literarische Ausbeutung und Anwendung religiöser Ausdrücke als Frechheit ansieht, ist klar. Ich habe manchmal, nicht wie im Traum, nur wie in der Erinnerung an einen fernen Traum, den platonischen Wunsch, ich weiß nicht, ob ihn andere auch haben, aber ich habe ihn: der Staat möchte auch eine geistige, und nicht bloß eine – noch dazu schlechte – bürgerliche Institution sein, so daß man feuilletonistischen Hanswürsten, die im Berliner Tageblatt beim Fall Traub und ähnlichen von »Märtyrertum«, »Dornenkrone« usw. zu reden wagen, in etwas derberer Weise auf die klotzigen Finger klopfen könnte, da sie ja vom Geist längst nicht mehr verwundet werden. Soviel ich weiß, gibt die christliche Kirche zum mindesten vor, an ein persönliches Fortleben nach dem Tod und an eine mögliche Erlösung des Menschen durch Christus zu glauben. Ich bin nun nur ein Laie, nur ein Outsider, aber die Beantwortung der folgenden simplen Frage liegt ja auch noch im Machtbereich des gewöhnlichen menschlichen Verstandes: Wie können einer solchen Kirche noch Pfarrer angehören, die jene unbedingt notwendigen Grundlagen, ohne die das Christentum Galimathias und Unsinn und überhaupt nichts mehr ist, leugnen, wie können sie sich wundern, daß sie hinaus müssen? Damit ist wohlverstanden noch gar nichts gesagt, wie weit die orthodoxen Pfarrer das Recht haben, sich Christen zu nennen, ob ihr Glaube die Wahrhaftigkeit und Deckung der Innerlichkeit hat, ob sie sich im klaren sind, was für eine verwegene und konsequenzenreiche Sache ein solcher Glaube sein kann. Darüber bin ich nicht informiert, es geht mich hier auch gar nichts an. Aber so viel ist doch gewiß, daß die liberalen Pfarrer wie Jatho, Traub usw. glatte Monisten und platte Pantheisten sind, mit Neigung zu jener Sorte von Optimismus, die von Schopenhauer – und wohl allen tieferen Menschen – für die eigentlich perverse und ruchlose Sinnesart der Menschen in religiösen Dingen gehalten wurde und die sie ja auch befähigt, die Hilfe des Berliner Tageblatts anzurufen und ohne Scham anzunehmen, und die ihnen schließlich auch das Einverständnis mit allen Masseninstinkten und Mächten sichert. Wo ist da Märtyrertum und Dornenkrone? Was ist das für ein bequemes Gefasel? So viel lehrt doch die Geschichte, daß wer immer reformieren wollte, einen tieferen wie höheren Standpunkt als die jeweilige Kirche einnehmen mußte, alles andere zählt nicht und ist verwerflich. Und monistischer Optimismus und vager Pantheismus sind doch wohl die niedersten und flachsten Standpunkte, die überhaupt ein Mensch, der es mit dem geistigen Leben zu tun hat, einnehmen kann. Wer das bedenkt, versteht leicht, warum Kierkegaard von den liberalen Pfarrern nicht gelesen, oder wenn doch, nicht genannt wird, denn ein Reformieren nach Art des Liberalismus mit Hilfe von Journalisten haßte er aus ganzer Seele. Jedenfalls sollte man immer von neuem die schamlose Lüge bloßstellen, es sei mit einer Gefahr verbunden und es gehöre Mut dazu, heute im Berliner Tageblatt gegen Autorität von Staat und Kirche schöne Sprüche zu machen. Du lieber Himmel, als ob der in Skepsis grau gewordene Mauthner nicht auf der Stelle sein Gemauschel im Himmel einstellen und in einen Berliner Redaktionspalast verlegen würde, wenn Gefahr drohte, daß ihm von Staats wegen mit dem Stock die verecundia eingebläut wird, zu der er anders nicht kommen kann. Alle sind Betrüger, ob sie nun bloß sich selber, oder was die Regel der Gemeinheit ist, zunächst andere betrügen, alle, die behaupten, das wirksame Böse dieser Welt sei heute in Staat oder Kirche verkörpert, die doch beide innerlich so kraftlos sind, wie nie zuvor, so ohne irgendwelchen Glauben an irgendwelche Idee, daß sie als geistige Größen gar nimmer zählen. Das aktive Böse dieser Welt ist heute in Westeuropa in der Form der Formlosigkeit in Presse und Publikum zu Hause, in Parlamentarismus, Wählerschaft, Bank- und Geldwirtschaft, lauter anonymen, vollkommen verantwortungslosen, nicht faßbaren Massenmächten. Ich werde aber von dem Glauben nicht lassen, daß der blutrünstigste Tyrann noch leichter zu jenem geistigen Verantwortlichkeitsgefühl gelangen kann, ohne das keiner herrschen darf, leichter, sage ich, als die von Verlegern, Abonnenten und Inserenten abhängigen Redaktionskollegien in Massenauflagen erscheinender liberaler und sozialdemokratischer Zeitungen und Zeitschriften. [Es gibt ja heute im Deutschen Reich nicht einmal eine Zeitschrift, die es wagen würde, diesen Aufsatz abzudrucken; alle haben sie entweder gar keinen Charakter oder nur den ängstlich bornierten, von hunderttausend Rücksichten gequälten einer politischen Partei], leichter auch als Bankiers und Mitglieder anonymer Aktiengesellschaften, die für hohe Dividenden Werte der Kultur ohne ein Achselzucken hingeben.
Im Warenhaus unserer liberalen Zeit wird alles feilgeboten, auch Religionen. Manchmal müssen sie verramscht werden, denn es kommen ja immer wieder neue Artikel herein, und, man kann nicht leugnen, recht artige Artikel. Ich begrüße es immer mit Freude, wenn diese unverständliche Welt an irgendeinem Punkt wieder Sinn bekommt, wenn, was im Gedanken zusammengehört, auch in Wirklichkeit trinkbrüderlich sich findet. Es wäre doch schade gewesen, wenn Hermann Bahr und Johannes Müller nur als die Vorstellungen, die ich von ihnen habe, in meinem Kopf und nicht in der Wirklichkeit [laut Berliner Tageblatt], als Fleisch und Blut im Älplerkostüm mit nackten Knien und tanzend [wenigstens der Müller] im Hofe des Schlosses Mainberg, das der deutsche Nachfolger Christi bewohnt, sich gefunden hätten. Es wäre schade gewesen, denn ich weiß zwar nicht, was beide im Anfang waren, aber gewiß ist, daß sie inzwischen Zwillinge geworden sind. Besteht des einen Liebe zur Kunst darin, daß er jeden Schmierer zum Dichter proklamiert, so drückt sich des anderen Religiosität dadurch aus, daß er zu jedem Dreck Ja sagt und aus Menschen, denen vor ihrem allzu intensiven Menschsein zu grauen anfing, wieder quietschvergnügte Schweinderln macht. Ich muß das Wort wiederholen: zu jedem Dreck Ja sagen, ob nun bei sich, oder bei den anderen, das ist die Religion des Warenhaus-Liberalismus und seine Menschenliebe, deren typischer Satz ist: »Er ist ein so lieber und prachtvoller Mensch, er gibt sich immer ganz wie er ist.« Wenn er ein Heiliger ist, gut! Wenn er aber nur unappetitlich ist, dann danke ich. So möchte er auch gerne Dostojewskij verstehen, recht als ein ahnungsloses Bählamm, das gar den Bahr für einen Propheten und den Müller für den Evangelisten Johannes gehalten hätte. Aber wenn Dostojewskij dem schmutzigsten Bettler, dem ekelerregenden Kranken, dem verruchtesten Mörder, nicht aus Liebe zum Schmutz, zur Pest oder zum Verbrechen, sondern aus heroischem Verantwortlichkeitsgefühl und aus heißer Sehnsucht nach Erlösung die Hand gegeben hätte, er würde sie – und dafür sind in seinem Werk genug Anhaltspunkte – vor den Lauen, die nicht kalt und nicht warm sind, die ausgespien werden, vor einem Berliner Tageblatt-Literaten zurückgezogen haben. Man sehe sich nur seine Feinde an, gegen die er mit Haß, jawohl mit Haß kämpfte, sie gehörten alle samt und sonders der »Intelligenz« an, nur daß sie es an geistiger Verworfenheit und alles mitmachender Charakterlosigkeit mit ihren heutigen Vertretern nicht aufnehmen konnten; denn die machen jetzt natürlich auch das neue Irrationale und in Kürze auch Kierkegaard mit. Das Schmählichste an dieser Charakterlosigkeit ist vielleicht überhaupt die Frechheit, mit der sie große Namen akkapariert. Was da der Mauthner für seine Person allein zuwege bringt, ist nicht zu sagen. Wahrscheinlich weil Cotta seinen Lexika füllenden Schmarrn verlegt, ist er mit Goethe aufs intimste befreundet, »du Lieber« und ähnliches darf er zu ihm sagen, und kriegt keine Ohrfeige. Kant hat die Sprachkritik versäumt, aber vorausgeahnt [eine nicht auszudenkende Frechheit!], also ein gescheiter Kopf einesteils wenigstens, andernteils auch wieder dumm, denn er war fromm und glaubte an Gott, diese »abstruse« Idee, überhaupt das Modell zum Gregers Werle, ging immer mit einem Spielzeug in der Tasche herum, jener ethischen Forderung, die bereits verjährt war, als Mauthner das erste Feuilleton schrieb. Aber am meisten mißbraucht er doch den Namen Schopenhauers. Alle Augenblicke, sooft er wieder ein Häuflein hinsetzt, und er kann sich ja nicht beherrschen, ist wie ein Säugling, läßt einfach immer alles laufen, tut er, als würde ihn Schopenhauer, wären sie Zeitgenossen gewesen, zweimal in der Woche zum Abendschoppen eingeladen haben; und gehört doch wenig Psychologie dazu und ist gar kein Wagnis, die Behauptung auf sein Gewissen zu nehmen, daß Schopenhauer für einen Mauthner, wenn er's überhaupt so weit hätte kommen lassen, nur einen Fußtritt übriggehabt hätte, ganz abgesehen davon, daß ein Mauthner als Zeitgenosse Schopenhauers dessen Genialität selbstverständlich nicht erkannt hätte, so wenig er heute die Kräfte kennt, an deren Werken die Mauthner der nächsten Generation schmarotzen werden. Was ist das doch für eine lächerliche Bagage, die sich mit Hausiererzudringlichkeit an Tote heranschnorrt, gegen welche entweder Neid und Haß und Empörung oder Staunen und Bewunderung und Schweigen ihre einzig sinnvolle Reaktion wären. Und niemand nimmt sich der Toten an. Warum auch? Wo die Lebenden tot sind, haben auch die Toten, die lebendig sind, ihr Recht verloren.
Juli 1914
Als der dänische Literat Goldschmidt, der die Hetze im Korsaren gegen Kierkegaard leitete und diesem zu dem Martyrium verhalf, auf der Straße totgegrinst zu werden, der auch reichlich über den von Kierkegaard und zur selben Zeit mit demselben Wort von Schopenhauer verworfenen Witz Heines verfügte, einmal mit Kierkegaard auf der Straße zusammentraf, ging dieser auf ihn zu und sprach mit ihm mahnend, daß er auf dem Weg der Verlorenheit sei, er sprach mit ihm nach der Art der großen Christen, die auch im Feind, den sie vernichten müssen, noch Gott lieben, und Goldschmidt – fing an zu weinen auf der Straße; er hielt es nicht allzulange aus, gab den Korsaren auf und verließ die Stadt. Es war also immerhin einer, der, weil er sich vom Geist vernichten ließ, auch wieder vor dem Geist bestehen könnte. Die Goldschmidts von heute würden bei weitem »fortschrittlicher« sein und – weiter grinsen, denn es ist ja möglich, daß jetzt auch ein Judas, anstatt sich aufzuhängen, die Silberlinge auf die Bank trägt. Was kann er uns denn tun? würden sie sagen. Weltliche Macht hat er keine, will er keine haben, den Sparren im Kopf hat er nun einmal. Das Geld kann er uns auch nicht nehmen, also was kann er uns tun! Und es gibt ja auch genug Zeitschriften, die, wie z. B. der »März«, im Namen der Freiheit auch die Frechheit aufnehmen. Das soll jetzt der März meiner Heimat sein! Was habe ich Schwabe, der stolz war auf sein schweigsames Land, plötzlich für schwatzhafte Landsleute bekommen! Den Traub, den Berliner Tageblatt-Traub! Ist es, ist es möglich? Und wer rauscht jetzt in allen Blättern, wie nie die Bäume meiner Kindheit rauschten? Ach, anders hab ich euch im Gedächtnis, ihr Hügel meiner Heimat, die nach Norden hohe Wälder und nach Süden helles Weinlaub tragen, denn euch beschritt liebend, träumend in Schwermut der gottgeplagte Knabe Hölderlin. Warum blieb das Sudelwetter nicht in München?
»Die Nivellierung kommt nicht von Gott.« »Viele, viele werden schreien in Verzweiflung, aber jetzt ist es zu spät.« – Wer regiert heute die Welt? Jedes Kind, jede Tänzerin und namentlich jeder Minister weiß, daß es die Presse ist, wenn sie auch nicht fassen, was das zu bedeuten hat, wiewohl es der Minister eigentlich fassen sollte. Ein europäisches Volk erkennt man an seinen Zeitungen, am besten an seinen erfolgreichsten. Ich bin Deutscher, also her mit dem Berliner Tageblatt! Auflage 230 000.
Die komische Einheit der talentierten Schmierigkeit ist da, denn das Feuilleton ist in der Politik und die Politik im Feuilleton enthalten. Es kommt nämlich aufs gleiche heraus, ob oben in der Politik ein feuilletonistisch frisierter Wolff – daher die zwei f – die deutschen Schafe hütet, oder ob unter dem Strich die deutsche Kunst ein demokratisches Schlenderdasein führt. Es könnte auch umgekehrt sein: der Wolff im Feuilleton, der Schlenther in der Politik: Wer weiß, vielleicht wechseln sie auch ab, die ungenierten Tausendkünstler. Es ist dasselbe, ob oben von irgendeinem Gebildeten, Professor gar, Fichte zum Schutzpatron des Berliner Tageblatt-Liberalismus ernannt wird, eine Dummheit, wiewohl eine Frechheit – aber auch jede Dummheit geht ihnen ungestraft hin, weil nämlich die Gegner immer noch dümmer und dazu wesentlich faul sind –, oder wenn unter dem Strich ein den böhmischen Wäldern entlaufenes und ursprünglich für eine Bartwuchsmittelreklame bestimmtes Haarphänomen mit der lohnenden Aufgabe betraut wird, beständig und ohne Unterlaß das Dasein liberal-skeptisch anzugrinsen. Es schadet auch nichts, wenn die Weisheit Sombarts, freilich etwas liberal korrigiert, abgedruckt wird, denn dieser prachtvolle Denkertypus paßt ganz gut in die Zeit und in die Zeitung. Mit Hilfe einer kindischen Unterscheidung zwischen objektiver Wissenschaft und subjektiven Zwecken, einer Unterscheidung, mit deren fadenscheiniger Logik und durchsichtigen Motiven ein Student im ersten Semester sich eigentlich genieren müßte aufzutreten, bringt es dieser Forscher fertig, zwar den jüdischen Liberalismus und dessen kulturzerstörerische Nivellierung zu verachten, aber gleichzeitig, weil die liberalen Blätter doch noch die höchsten Honorare zahlen, seine Feuilletons im Berliner Tageblatt zu veröffentlichen. Wie, und da wagt man noch, die Namen Kant, Fichte, Schopenhauer in den Mund zu nehmen! Keinem kommt der Gedanke, daß diesen Männern und auch den Geringeren um sie so etwas ganz und gar unmöglich gewesen wäre. Kann keiner mehr eine Viertelstunde lang mit innerlicher Sammlung einem Gedanken ins Gesicht sehen, und wenn er es tut, kann er die Schmiere ohne Schmerz ertragen? Kann er zweifeln, daß die erste Tat, die ein Fichte heute tun müßte, die wäre: sich von einer Kulturwissenschaft, die sich so liberal definieren muß, daß ein Berliner Tageblatt sie erträglich findet und bezahlt, aufs schroffste loszusagen, denn in der Anweisung zum seligen Leben steht neben vielen ähnlichen Sätzen auch dieser: »Eine höhere Weltansicht duldet nicht etwa neben sich auch die niedere, sondern jede höhere vernichtet ihre niedere und ordnet dieselbe sich unter.« Übrigens ist die deutsche Philosophie in ihrer heroischen Zeit mit Recht darauf bestanden, daß auch die abstraktesten und vom Zentrum des Lebens entferntesten Wissenschaften sich nicht vollkommen und absolut von der Einheit einer religiösen oder philosophischen Anschauung und Idee emanzipieren dürfen. Heute ist dieser Unsinn der Emanzipation Gemeingut geworden, und jeder Scherenschleifer schreit für das Recht der freien Forschung, und die Wissenschaften torkeln wie Betrunkene durcheinander. Und was ist wohl heute von der deutschen Philosophie zu erwarten? Die weitaus Ehrlichsten, die Marburger, sind Epigonen und deshalb im tiefsten Sinne schwach und beschränkt, die seichten Charlatanismen und geschickten Jongleurkünste Simmels sind im tiefsten Sinn unehrlich; daneben so viel Mageres, Dürres und Trockenes. Ganz zu schweigen von denen, die so tun als ob, oder gar von den sprachkritischen Affen, die über jeden Ernst des Daseins grinsend hinwegturnen. Bliebe nur noch Max Scheler, der viel begabt und vieles zu sagen imstande wäre, aber er weiß nicht, was er will, ist vieler oberflächlicher Strömungen Beute und rafft nie seine Kräfte zusammen in einem Ganzen. Wohin die Emanzipation auf dem gefährlichen Gebiet der Kulturwissenschaften führt und führen wird, diese Untersuchung gäbe ein besonderes Buch und wäre die Aufgabe für den, der mit dem reinen Willen und Gedanken die nötigen Kenntnisse verbände. Denn allgemeine, bedauernde Redensarten auf Grund einer vagen Einsicht und eine gewisse kontemplative Vornehmheit, oder besser eine feige Vornehmtuerei, die sich mit so subalternen Dingen nicht einlassen will, helfen gar nichts. Nein, man müßte den Herren Schritt auf Schritt nachgehen, den Gescheitesten wie den Dümmsten, genau so wie Karl Kraus den Herren der Wiener Presse nachging und sich genau ansah, was sein die Welt beherrschendes Viechzeug über Nacht wieder angestellt hatte. Es ist die Idealität des Mannes und des Denkers [zum Unterschied von der des Jünglings und Dichters], die sich energisch mit dem Werktag beschäftigt und mit resoluten Händen auch in den Schmutz greift, wenn es nötig ist, denn die Hände werden wieder gewaschen und wieder rein. Nur hüte man sich vor jenen, die, um sich nicht waschen zu müssen, immerzu die Redensart: »dem Reinen ist alles rein« im Munde führen; denn sie stinken ganz sicher. An einer Welt für Pathos und Komik fehlte es nicht, denn was für gigantische Ochsen brüllen ihre wissenschaftlich gesicherten Ergebnisse in die Welt! Und mit Vorliebe auf Gebieten, die der Wissenschaft überhaupt ein für allemal verschlossen sind. Und welcher Art zuweilen die persönlichen Voraussetzungen derer sind, die der voraussetzungslosen Wissenschaft zu »dienen« vorgeben, das weiß buchstäblich der Teufel. Aber her mit dem Berliner Tageblatt. Es ist immer dasselbe, ob oben in der Politik die Militärgewalt als etwas Mittelalterliches gebrandmarkt und doch zugleich gejammert wird, daß die Juden nicht Offiziere werden, oder ob unter dem Strich der tanzende Holländer Felix einen Roman veröffentlicht, von dem man nur hin und wieder einige Zeilen zu lesen braucht, um zu wissen, daß er an hundsföttischer Verlogenheit der Gesinnung nicht leicht seinesgleichen finden wird. »Werden nicht viele, viele in Verzweiflung schreien?« Oder wird nicht einmal das geschehen? Wird keiner verstehen, wenn ich sage, daß in meinem platonischen Staat der tänzerische Bursche, der mitten in seinen von Freisinns-Rotz triefenden Sätzen ein Kapitel aus den Korintherbriefen abdruckt, mit Ruten gestrichen würde und daß ich wüßte – ach nichts auf der ganzen Welt wüßte ich so sicher –, daß diese Tat dem Geiste wohlgefälliger wäre als das Wohlergehen des Berliner Tageblatts.
Wenn der Papst eine neue Enzyklika herausgibt, die mir auch nicht zu gefallen braucht, die aber immer noch mehr Kenntnis der menschlichen Seele verraten kann, als die Psychologien der Herren Wundt oder Lipps, dann darf sie der »Satiriker« des Simplizissimus als Klosettpapier ansprechen, und es geschieht weiter nichts, als daß sich wahrscheinlich die Auflage erhöht. Das ist freilich kein Wunder, denn ein Papst, der den Mirakelschänder empfängt, nicht aus Spaß wie einen Zirkusclown, sondern mit dem Bürgerernst des Jahrhunderts, nachdem er sich zuvor »informiert« hatte – aber die großen Päpste informierte ihr Instinkt ... Schluß, zu spät! Aber es sollte jenen »Satirikern« wenigstens das eine geschehen, daß man ihre Lächerlichkeit erkennt, diese maßlose, nie aufgedeckte, nie mit einem Witz gestrafte Lächerlichkeit, wenn sie sich immerzu mit Hus, mit Galilei oder Giordano Bruno verwechseln und sich selber und hunderttausend Dummköpfen ebenso mutig und »zornig idealistisch« vorkommen wie Männer, die für ihre Reden und Schriften den Scheiterhaufen zu gewärtigen hatten, während sie doch ganz behaglich leben und ihre Phrasen der Empörung, die genau so in jedem linksliberalen Blatt stehen könnten, davon zeugen, daß auch Kampf und Leiden der Innerlichkeit nicht vorausgingen. Wenn ein Bischof sagt, daß es von Natur Herren und Knechte gebe, eine zwar unbegreifliche, aber bestehende Wahrheit [alle Angriffe der Zeit gehen gegen das Unerforschlich-Verschiedene, die sinnlich-seelischen Unterschiede zwischen Mann und Weib werden rundweg geleugnet, mit den anatomischen geht es nicht so leicht, aber diese haben ja ihren Grund in jenen, die zuerst sind], so wird er in allen sozialistischen und liberalen Zeitungen verspottet oder aufs frechste beschimpft. Und von wem? Das ist das überaus Wichtige! Es sind nicht die Knechte, die vor den Palast eines Bischofs ziehen und diesem in Leidenschaft widersprechen, denn das hätte Sinn, und solche Empörer brauchen nicht immer gottverlassen zu sein. Nein, der »dritte Mann« kommt. Irgendwelche weiß Gott woher gelaufene meist jüdische Literaten, ohne innern und äußern Zuchtmeister, die unter dem Wort des Bischofs nicht leiden, denen auch der Bischof gar nichts getan hat, oder tun kann, wollen Geld verdienen. Sie entdecken eine satirische Ader in sich; sie entnehmen der blutigen Menschheitsgeschichte Worte und Begriffe, die einmal wirkliches Leiden, aus wirklicher Unterdrückung und Empörung hervorgegangen, geboren hat, und machen daraus eine Satire gegen den Bischof. Und diese Satire von irgendeinem Karlchen oder andern Kerlchen oder Ferkelchen wird von Hunderttausenden gelesen, von denen viele sterben werden, ohne auch nur geahnt zu haben, was für eine ungeheure Schamlosigkeit und ethische Dummheit hinter solcher »Freiheit« steckt. In Wahrheit ist heute der Öffentlichkeit gegenüber niemand wehrloser als die angeblich herrschenden und unterdrückenden Mächte und niemand wehrfähiger und gesicherter als ein Freidenker, der ein großes Maul und eine große Zeitung hat. Wenn dem das Ende eines Härchens gekrümmt wird, entsetzen sich morgen Millionen, denn es wird in einem Ton und mit einem Geschrei bekanntgegeben, daß man meinen könnte, nicht nur alle Gesetze und die ganze Verfassung seien verletzt worden, nein: die kosmische Ordnung sei in Gefahr, und daß Mond und Erde nicht aufeinander stürzen, sei rein nur noch das Verdienst der Wissenschaft, die ein Einsehen und ein Mitleid hat. Hier liegt auch jeden Tag das Komische in Fülle da. Und nur die einzige Fackel sieht es, niemals der Simplizissimus. Narren, die meinen, zur Erkenntnis des wahren Komischen gehöre nur ein vifer Intellekt und nicht auch ein reines Herz, Schufte, die meinen, es gehöre Frechheit dazu und nicht im Gegenteil Scham.
Ward solcher Wirrwarr je erlebt! Und ahnt ihn vielleicht die hohe Literatur? Ach, alle Worte, Begriffe und Gefühle gehen ein in Mauthners Riesenwörtermaul und werden dort zu Brei. Und jedes Maul gleicht diesem Maul, und wo es sich auch auftue, es fließt Brei, dicker und dünner, in allen Blättern, Rundschauen und Revuen und auf jedem Forum der Zeit, das in Wahrheit ein Reinhardtscher Zirkus ist, in dem das Mirakel nach Belieben geschieht, daß sich Nietzsche und Sozialdemokraten als gute Europäer in die Arme fallen, denn sie wollen dort nicht Ontologie treiben, sondern Deontologie, aber siehe da, sie treiben Mä-äh-ontologie. Immer neue Reisende müssen den Brei hinaustragen in die Welt. Schon der alte Merkur war meiner Kinderphantasie äußerst unsympathisch, sie ahnte in ihm eine Antizipation des modernen Menschen; immerhin er war der Bote der Götter und kam vom Olymp herab. Aber der neue, wessen Bote kann er sein und was seine Botschaft? Haben die Banken ihn angestellt, sendet das Chaos ihn aus, sich zurückzugewinnen die Welt? Ach schließt und bewahrt euer Haus vor diesen Gestalten. Ihrer sind viele, und immer sind sie unterwegs, und von den Mundwinkeln trieft ihnen der Brei, den sie sich eingequirlt haben aus allen östlichen und westlichen Kulturen, die waren und verwest sind. Nein, ich mag ihnen nicht begegnen, ich mag ihnen nicht gegenübersitzen im D-Zug, wenn sie gerade auf der Tour sind, so zwischen den Zentren deutschen Geisteslebens: Wien-München-Fürth-Berlin und retour. I don't like. Will einer bieten? Tausend Kellermänner für einen Dunkelmann. Geht nicht. Hundertzehntausend Kellermänner und tausend Wassermänner für einen Dunkelmann! Geht nicht, geht nicht. Hilft nichts. Zu spät. Vor 1846 schon war in Europa der dritte Hammerschlag gefallen.
Dostojewskij war ja bekanntlich des Glaubens, daß die westeuropäischen Völker vollständig dem Judentum verfallen seien. Und die Entwicklung hat ihn nicht etwa Lügen gestraft, wie Herr Samuel Sänger, commis voyageur ès sciences politiques et métaphysiques, meint, welcher Mosse und Ullstein für den wahren Tag hält, und Scherl für die Nacht; so scharf scheiden heute die Kulturwarenhaus-Inhaber Licht von Finsternis. Im Gegenteil, Dostojewskij sah vielleicht noch grau, wo doch schon schwarz war, und sein eigenes Volk wird wohl demselben Schicksal entgegengehen. Das ist nicht einmal eine Anklage gegen das Judentum – man suche die Schuld nur immer zuerst im eigenen Haus –, wohl aber eine Anklage gegen die westeuropäischen Völker. Denn wenn sie für jüdisches Geld sich dem jüdischen Geist verkauft und diesen durch die unbestechliche Gerechtigkeit des Daseins als Zugabe bekommen haben, so daß heute kein Unterschied mehr ist, so war das ja nicht ein Unglücksfall, der ihnen von ungefähr nach mechanischen Gesetzen zustieß, sondern eine Handlung, die im Reich der Freiheit und unter Verantwortung geschah. Sie wollen von der Ewigkeit nichts mehr wissen, alle Ethik soll in der Zeit und in der Sorge für die nächste Generation beschlossen, soll »biologisch« sein. Gut, aber glauben sie wirklich, das, was sie getan haben und tun, heiße in Wahrheit für Kinder und Kindeskinder sorgen? Kurzsichtige Narren das! Aber auch hier gilt: jetzt ist es zu spät. Die Rettung des Einzelnen kann nur unter religiösen Voraussetzungen geschehen; nur so kann er zu neuer Unmittelbarkeit kommen, ohne die das Leben doch nur eine Farce ist.
Hinter jeder bloßen Metaphysik, die aus der dichterischen Unmittelbarkeit und aus dem noch ungeläuterten Einssein mit ihrem Objekt und ihrer Welt nicht zur Ethik und zur Vergeistigung übergeht, das will also heißen: zur Subjektivierung, denn nichts anderes ist die Vergeistigung, lauert ein undurchsichtiges, lichtscheues Element: eine Feigheit. Liebenswürdig wie immer, aber auch naiv – eigentlich dürften doch nur Frauen, Kinder und Dichter so naiv sein –, sagt Bergson einmal in »Le Rire«, daß die Natur auch in den besten Menschen noch einen Fond von Bosheit gelassen habe, und fährt fort: peut-être vaudra-t-il mieux que nous n'approfondissions pas trop ce point. Nous n'y trouverions rien de très flatteur pour nous. Ach, das ist fast das Räsonnement eines Boulevardiers und könnte auch in einem Buch von Anatole France stehen. Man ist doch sonst recht neugierig, warum hört gerade hier die Neugierde auf? Uninteressant wäre die Sache doch nicht, gar nicht langweilig! Ist man einfach zu wohlerzogen? Oder ist die Philosophie erfunden, um den Menschen zu flattieren? Ginge Bergson um einen qualitativen Grad tiefer in seiner Philosophie, so würde er doch zugeben, daß der Gedanke der Geistigkeit geradezu gebieterisch verlangt, daß dieser Fond von Bosheit ans Licht und zur Offenbarung komme. Oder wie denken sich das die Metaphysiker? Glauben sie, daß er von selber verschwinde oder daß er der Menschheit geschenkt werde? Aber wir sind hier doch wohl im Reiche der Ethik und der Freiheit, und da geschieht nichts von selber, das ist nun einmal so. Oder sollte es nicht Quacksalberei sein, wenn ein Arzt die Wunde sich schließen läßt, unter der noch ein »Fond« von Eiter weiterfrißt? Aber lassen wir das, ein zu langes Kapitel, das vom schwachen Punkt einer jeden Metaphysik handelt. Auch Schopenhauer, der doch von anderem Kaliber war, hat dieser Feigheit der Metaphysik seinen Tribut abzahlen müssen. Es kann nämlich nicht Mangel an Hirnkraft gewesen sein, der den großen Denker dazu führte, über die letzte, unzerstörbarste und tiefste Wirklichkeit – die Individuation – die schwächsten und oberflächlichsten Gedanken gehabt zu haben, sondern der Grund dafür muß im Ethischen liegen. Selbstverständlich rede ich hier nicht vom Moralischen im bürgerlichen und konventionellen Sinn, sondern im ewigen und religiösen, dem jeder sich auf Gnade und Ungnade zu unterwerfen hat, also auch der, der hier schreibt und der, bei Gott, nicht behaupten will, daß er mutiger sei als Schopenhauer. Jedoch habe ich nie begriffen, wie Schopenhauer es fertigbringen konnte, wiewohl sonst so glücklich in der Wahl von Bildern und Vergleichen, sich für die Tatsache der Individuation mit dem bis zur Lächerlichkeit unzulänglichen und falschen Vergleich der Facettenspiegelung zu begnügen und ihn immer von neuem zu wiederholen. Freilich lag ihm hier seine ganze Metaphysik im Weg, weil er dem Willen den Geist nicht ließ und Raum und Zeit zu Prinzipien der Individuation machte, während doch Raum und Zeit zehntausendmal vergehen können, ehe am Prinzip der Individuation, das im Geist ruht, auch nur ein Partikelchen zerstört werden kann. Trotzdem, es ist vom Verstand her nicht zu begreifen, und einmal in den Parergen hat sich Schopenhauer vergessen: da redet er vom individuum ineffabile sogar eines Tieres. Man könnte fast auch hier sagen: »Der Sünde Maß ist der Strafe Maß«, denn Schopenhauer wird auf grausame Weise bestraft, indem diese seine oberflächlichste und falscheste Lehre solchen Philosophastern wie Mauthner, noch etwas indisch aufgeputzt, am besten zusagt. Zwar wird Schopenhauer auch hier gründlich mißverstanden, da er an einer moralischen Verantwortlichkeit über den Tod hinaus natürlich nie gezweifelt hat. Aber einem gewissen neuerdings in die Philosophie und in die Wissenschaft eingebrochenen Gesindel täte es so passen, 60 oder 70 Jahre lang die mit Blut und Opfern und den Leiden der Verantwortung geschaffenen Anlagen der Menschheit »behaglich lächelnd« zu verpissen und dann verantwortungslos zu verschwinden. Das tät ihnen so passen, aber nicht einmal sie entgehen der Ewigkeit.
Das Weltbild, das Kierkegaards Kritik für den Einzelnen übrig läßt, findet seine volle Erklärung nicht in einer historischen Entwicklung, die nur den Anlaß abgibt, sondern in der Metaphysik und in der Religion. Gesetzt es käme wieder irgendein frisches Volk mit unmittelbaren Kräften zur Herrschaft, wiewohl ich nicht weiß, wo ein solches Volk heute sein sollte, so würde das Weltbild Kierkegaards verdeckt sein und nur offen für den Auserwählten, für die absolute Ausnahme, den Heiligen oder den Religionsstifter, solange als jenes Volk in Staat, Kirche und Familie eine einheitlich geschlossene organisierende Macht hätte, die die Richtung nach einem geistigen Ideal hat und sich Autorität und innere Zustimmung verschaffen kann. Das ist der Gedanke, den Dostojewskij hatte, wenn er vom Gottesvolk sprach, und ursprünglich hat ja gewiß jedes Volk diese Unmittelbarkeit besessen und hat sie mit vollem Recht immer auf Gott bezogen. Aber sobald sich dieser Fonds an unmittelbar gemeinsamer, die Verschiedenheiten der Menschen und Stände schaffender und anerkennender Kraft erschöpft hat, und zwar durch Schuld der Menschen, oben durch Mißbrauch und Überhebung, unten durch Neid und Ressentiment – bislang hat sich ja noch jedes Volk, wenn es nicht überhaupt in Lethargie und geistigen Todesschlaf fiel, auf solche Weise zugrunde gerichtet –, dann steht jenes Weltbild wieder da als die alleinige Möglichkeit der Rettung für den Einzelnen.
In Fichtes Anweisung zum seligen Leben wird auch eine Weltanschauung gegeben, die die sinnliche Welt nur als »die Sphäre der Freiheit« betrachtet, als den Tummelplatz des ethischen Willens. Diese Welt ist noch nicht die Kierkegaards. Sie ist farbloser und ungefährlicher; ihr fehlt das letzte discrimen. Sie kennt noch nicht den absoluten Unterschied zwischen Gut und Böse, noch nicht das Wunder der Sünde auf der einen und der Gnade auf der andern Seite, in ihr existiert noch nicht die letzte, total gedachte Gefahr, die bei Kierkegaard in jedem Augenblick da ist: daß ein Mensch ganz verlorengehen könne. Das drückt sich am schärfsten darin aus, daß für Fichte die Reue eine überflüssige Zeitverschwendung, ein vollkommen fruchtloser Kraftaufwand ist, während sie für Kierkegaard das auch – denn immer läßt er erst der Natur ihr Recht geschehen, ehe das Leben des Geistes beginnt –, aber dann zugleich ein notwendiger Weg und ein Akt der Rezeptivität für die Gnade ist. Eines freilich kennt Fichte doch: den Selbsthaß, eine Medizin, von deren Existenz und Heilkraft die Zeit keine Ahnung zu haben scheint; aber nähme sie nur einige Tropfen von ihr, sie bekäme bald ein reineres Gesicht.
Das ist das Große und Ewige an Kierkegaard, daß sein Gedanke immer die Totalität will. So ist sein Weltbild die vollkommene restitutio in pristinum. Jetzt steht der Mensch wieder an seinem Platz; jetzt ist das Leben wieder gefährlich wie am Tag, als es zum erstenmal dem Tod ins Gesicht sah, und ist es nach unerforschlichem Ratschluß immer und in jedem Augenblick in dieser Welt. In jeder Minute und allzeit sieht für den also Lebenden und Wachenden die Welt so aus wie am Tag, als zum erstenmal die Erkenntnis den zarten Kindertraum zerriß und die Welt nackt war. In dieser entblößten Welt wird Christus nicht zufällig und einmal gekreuzigt, sondern notwendig und für alle »Zeit«, so daß der also Wachende und Lebende die tiefen Worte Pascals verstehen muß: Jésus sera en agonie jusqu'à la fin du monde: il ne faut pas dormir pendant ce temps-là. Was für ein Feuer muß in einem Menschen brennen, daß er diese Worte schreiben kann. Und wo ist der Mann, der ein solches Leben zu führen vermag? Ich neige mich vor ihm als dem größten Helden. Dagegen habe ich bis zum Ekel die Narren satt, die dieses Lebens majestätische Größe nicht einmal fassen und sich vor ihm nicht wenigstens beugen. Sie leugnen lieber das Heilige, als daß sie sich im Vergleich mit ihm gering vorkommen, sie meinen, weil ein Jahr ganz von selber zum andern sich fügt und weil Zeitschriften und Zeitungen ihren Dreck drucken und weil ihre »Dichter« so »schöpferisch« sind, daß sie aus dem puren Nichts einen Haufen Gold erschaffen, werde der ewigen Dinge ewige Rangordnung plötzlich gestürzt und es gebe kein Oben und kein Unten mehr, zwischen denen ein Mensch zu wählen hat. Aber wer sich nur einmal in einer Stunde der Innerlichkeit das Leben eines Kierkegaard ansah, wessen Auge einmal im Zustand der Empfängnis war, so daß er in jedem Gesicht, auch dem schönsten noch, den biblischen Fluch las und erkannte, und hinter jedem Auge, auch dem reinsten und klarsten, noch eine dunkle Angst lauern sah, für den kann das Leben wieder gefährlich sein wie am Tag, als es zum erstenmal dem Tod ins Gesicht sah, er hat es in seiner Macht, die Welt wieder so zu sehen, wie sie aussah am Tag, als zum erstenmal die Erkenntnis den zarten Kindertraum zerriß und die Welt nackt war. Und solche Erkenntnis gräbt ihm ein geheimes Zeichen in die Stirn, das ihn kenntlich macht für seine Brüder im Geist, die die verlorengegangene Melodie wieder suchen, und in seinem Wesen wird eine Fremdheit liegen, gegen die die Welt selbst dann noch mißtrauisch ist, wenn er mitten in sie verloren und verstrickt wäre.
Juli 1914
Schön hat dich Gott erschaffen, mein Kater! Deine Augen sind wie große Glaskugeln; als Knabe spielte ich mit den lichten harten Glaskugeln; ich sah ihnen nach, wenn sie dahinrollten, und verlor mich und die Zeit in ihrem Licht und in ihrer Härte. Langsam und leicht gewölbt zieht sich deine Nase von der Stirne zwischen den Augen herab, ihr Flaum wird immer dünner, zuletzt ein grauer Samt, bis plötzlich – o unerfindliche Linie – ein zartes Rosa beginnt. Wo sah ich die Farbe? In meines Vaters Garten, wenn ich die Himbeeren pflückte, auf denen der Tau des kühlen Morgens lag. Vor Ostern suchte ich die Weidenknospen, die nach deinem Geschlechte heißen, du schönes Tier. So silberner Glanz liegt auf deinen Pfoten. Aber wenn du stehst, sind deine Beine wie Stämmchen junger Birken, die die frische Rinde des Frühlings tragen. Ihr Straßen meiner Heimat, ihr seid breit und sicher wie der Friede, von eurer Seite weicht nicht der Segen und die Fruchtbarkeit; da stehen sie, die Apfelbäume, die Äste so verschlungen und so verkrümmt, als hätten sie die Gicht, und alle so schief und geniert, daß man in sich hineinlachen muß, bis man plötzlich ernst wird, da man die stille Demut ihres Reichtums erkennt; darum schmückt sie auch einmal im Jahre der Herr des Himmels und der Erde herrlicher und bräutlicher, als die Lilie auf dem Feld, die er doch auch schöner kleidet, als Salomo war in all seiner Herrlichkeit. – Nun nehme ich eine deiner Pfoten in meine Hand, niemand sonst darf es tun, denn du bist argwöhnisch, und wie Blitze zucken aus den schwarz geschwellten Polstern die kleinen, harten, spitzen Sicheln der Krallen hervor. Was für ein Tag geht heute zu Ende; die Erde zitterte in den Händen der Sonne. Wie warm ist der Abend geblieben! Der Mond steht nicht am Himmel, die Sterne sind weiter entrückt denn je; so endlos, so verzweifelt weit, daß die Angst mein Herz preßt. Ich sehe die Sterne nicht mehr, ich seh' nur ihr Fliehen, o Vorschmack der Hölle, die Sterne fliehen. So unruhig ist meine Seele, wie der Leib meines Katers. Unaufhörlich geht ein Zucken und Beben durch den weichen, fließend lebendigen Leib, der doch gesund ist. So unruhig ist meine Seele in ihrer Schwermut, Gottes Erfindung zu sein und keinen Geschmack daran zu finden. Eine Atmosphäre so schwer und bang geladen mit der Schwüle der Verzweiflung war dieser Tag; jeden Augenblick konnte der Blitz hereinzucken, der erlösende oder der vernichtende. Nun fliehen die Sterne! – Bitterste Übung der Schwermut: zu lauschen dem Fliehen der Töne. Einer schlug den Akkord: Auffährt mit brausendem Flügelschlag ein Adler wie Stürme der Frühlinge; wo ist er nun? Hat ein Gott ihn verwandelt? In blaue Fernen entschwebt eine Taube, selig und weiß. O abgründliche Bitternisse unwiderruflicher Trennungen! Schon ist auch sie nicht mehr, und plötzlich ein anderes. Fahle Dämmerungen, die den Glauben verschlingen. Wohin, in welche Nächte des Vergessens schwebst du schmerzlich schwankend, blasser Schmetterling? Vorbei! Die Sterne fliehen, es wächst die Einsamkeit und die unaussprechliche Klage. Einer spielt: die Melodie flüchtet in den Baß, damit sein breiter Rücken die Last der Schwermut tragen hülfe, die die oberen Töne zu schrillem Schrei zerreißen würden. Und jener trägt sie leicht mit dem Stolze demütig dienender Kraft, in ruhigem festem Takt und ohne Angst, mit rührender Geduld. – In Antwerpen in den Hafenstraßen längs der Scheide abends ziehen die breiten vlämischen Gäule die schweren Lastwagen mit demütiger Kraft, sicher und mit Geduld, mit rührender Geduld, aber über Stadt und Fluß läuten die Glocken der schönsten Kirche des Landes – vier Takte nur und tragen doch alle Last unergründlicher Schwermut in Klängen unergründlicher Schönheit. Wie nah ist alles nebeneinander in diesem Leben. Amare heißt lieben, amare heißt bitter: amare amare, wer scheidet sie noch? Wie unbegreiflich ist dieses Leben? Zuweilen wie ein Wort, glückseliges, alle Schwere und Fülle in schwebender Melodie haltendes Wort, das stammelnd und lallend meiner Sprache Sehnsucht suchte, und nun ihr geschenkt ward; und nun ein entsetzlich unbegreiflicher Schoß, furchtbarer, fruchtbarer nachtgeborener Kräfte voll. Unheimliches Wunder: vom Glanz der Schönheit umflossen, in Strahlen gehüllt, im Lichte verborgen: unlösliche Rätsel der Finsternis!
Du schönes Tier, ich habe deine Stärke und Schönheit bewahrt. Dein Fell glänzt, deine Zähne sind weiß und blank und spitz, ich habe deine Krallen nie beschnitten. Das Fenster steht offen. – Plötzlich zucken seine Ohren. Seine Augen werden weit und groß, sie trinken jeden Schimmer von Licht, den die Nacht noch übrig läßt. Ein Sprung, und das Dunkel nimmt ihn auf. – Mein Gott, darf ein Mensch so einsam sein? Helfet, helfet, haltet die Sterne, sie fliehen in rasendem Lauf!