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Die weniger kräftige als zähe Natur Lucindens hatte sich am folgenden Morgen vollständig erholt. Von einem wohlthätig über Nacht ausgebrochenen Schweiße merkte sie jetzt kaum noch etwas, als die gewonnene Stärkung. Sie richtete sich, als die Sonne schon hell in die sehr niedrigen, aber wohnlichen Zimmer schien, hoch auf und lachte schon wieder über die Situation, in der sie sich befand. Man war um sie her beschäftigt gewesen. Sie fand schon Kleider, Wäsche, Hülfsmittel ihre Toilette zu machen, erfrischendes kaltes Wasser. Sie konnte annehmen, daß sie mit Oskar Binder in den von ihm so hochgerühmten Hotels der Seestadt Bremen angekommen und eine Gräfin war, als welche er sie überall behandeln zu wollen versprochen hatte. Bei dem Gedanken, ob der junge Mann nicht schon auf dem Wege zum Zuchthause war, überlief sie eine peinliche Furcht. Sie erwog indessen ihren Antheil an seiner Schuld und durfte sich freisprechen bis auf den verlorenen Ruf. Letztere Betrachtung störte sie nicht zu lange: ihrer Natur widersprach es, sich um irgendetwas allzu viel Sorge zu machen.
Die Kleider, die sie vorfand, entsprachen der Vorstellung von einer reisenden Gräfin sehr wenig. Es waren leichte, vielfach gewaschene und von der Sonne ausgebleichte Kleider der Frau Pfarrerin. Sie zog einen der Röcke an und lachte über sich 69 selbst, als sie in den Spiegel geblickt, von dem sie erst zwei sich kreuzende Pfauenfedern und eine Anzahl Visitenkarten und geschriebene Einladungen zu Mittagessen und Kaffeegesellschaften in der Umgegend wegnehmen mußte.
Wie eine Großmutter! sagte sie, von diesen Familienbezügen angeregt, zu sich selbst. Sie sann hin und her, wie sie sich helfen konnte, denn vollkommen gegenwärtig war ihr die Anwesenheit eines Mannes, den man Kammerherr genannt und der ja vor ihr anbetend auf den Knieen gelegen und sie wahrscheinlich spanisch oder arabisch begrüßt hatte. Leise hatte sie auch schon die an den Fenstern dicht herabfallenden gemusterten und roth umsäumten Musselingardinen gelüftet und schon ihren Verehrer in dem kleinen Garten vor dem Hause auf- und abwandeln sehen. Lucinde war eitel genug, die glänzende Toilette, in der er erschien, auf ihre Veranlassung zu setzen. Er trug eine hellblaue Uniform mit goldgesticktem Kragen, mehrere Orden auf der Brust und einen dreieckigen Tressenhut auf dem wieder sehr gerötheten Antlitz. In gravitätischer Würde ging der Kammerherr durch die zierlichen Wege des kleinen Blumengärtchens auf und nieder und brach nur dann und wann zu einem Bouquet, das er schon in Händen hielt, noch eine Rose oder aus den Einfassungen der Beete eine Federnelke.
Zunächst ordnete sie ihr verwildertes Haar. Sie legte es wie sonst wieder in Scheitel und Flechten. Um Locken zu machen, fehlte die Feuerzange ihrer Schwester. Diese Umwandelung dauerte lange. Sie wurde ihr aber angenehm durch eine ganz wunderbare Unterhaltung, die plötzlich durch das Haus ertönte. Eine Musik erfüllte die nicht unansehnlichen Räume desselben und zwar mit einem Wohllaut, der aus höhern Sphären zu kommen schien. Jedes Glas auf dem Tische, die Fensterscheiben, die Bilder an der Wand, ja die klappernde Thür eines gußeisernen Ofens, alles 70 schien von dieser Musik mit ergriffen zu sein, so mächtig brausten die Accorde durcheinander, ob sie gleich nur von einem einzigen Instrumente, etwa von einer riesigen Flötenuhr, zu kommen schienen.
Was ist das? fragte Lucinde die Magd, die sie in seltsam fremder, ihr nicht geläufiger, plattdeutscher Sprache um das Frühstück anging, das sie zu haben wünschte.
Der Herr Pfarrer spielt! hieß es.
Ja, aber was? worauf?
Die Magd lächelte verlegen; ihr guter Wille, Aufklärung zu geben, scheiterte an einem schweren fremdartigen Namen.
Die Töne schwollen indeß und lösten sich ab mit einer Weihe und Erhabenheit, die der feierlichsten Kirchenmusik gleichkam. Bald waren es Flöten, bald Oboen, bald die Töne eines Violoncells. Nur einmal hatte Lucinde ähnliche Eindrücke gehabt, damals, als sie zur Osterzeit gelegentlich die kleine katholische Kirche der Residenz betreten, um zu belauschen, wie sich die Frau Hauptmännin anstellte, im Beichtstuhl zu sitzen. Sie erfuhr später, daß die geizige Frau, die den Satan für den wahren Herrscher der Welt hielt, nur deshalb alle Jahre einmal zur Beichte ging, um ein monatliches gänzliches Fasten zu motiviren, das sie darauf als eine ihrem Hause für ihre Sünden dictirte Strafe einführte. Lucinde dachte bei dieser Musik an jene Zeit der bittersten Entbehrungen.
Da ihr schönes Kleid einer gründlichen Ausbesserung bedürfen mußte, wenn es nicht ganz verdorben war, so blieb ihr nichts übrig, als für ihr Costüm sich den Umständen zu fügen. Sie bat um eine Haube und erhielt sie. An dem Schnitt ihres Antlitzes, an dem Reiz ihrer Formen war nichts zu entstellen, sie konnte den Eindruck einer eben verheiratheten jungen Frau machen. Sie nahm ein leichtes Frühstück von Milch und eilte 71 an die Quelle der berauschenden Töne, die das ganze Hans verzauberten.
Man empfing sie unten sehr freundlich und wünschte ihr Glück zu ihrer schnellen Erholung. Ihre Toilette fand man erfindungsreich und entschuldigte sich, ihr nichts Besseres bieten zu können. Die Musik hatte denselben Augenblick aufgehört. Auf ihr Befragen, welchem Instrumente man verstanden hätte diese wunderbaren Töne zu entlocken, zeigte der Pfarrer auf einen Kasten, in welchem eine Reihe von Gläsern, eines in das andere gesteckt, an einem Bande in der Schwebe gehalten wurden. Durch eine mechanische Vorrichtung bewegten sie sich, geriethen durch ständiges Drehen in Schwingungen und wurden dann mit den Fingerspitzen je nach ihrer Stimmung berührt. Diese Art des Spielens schien anstrengend. Man mußte die Gläser durch stete Friction in Umschwung erhalten. Der Anblick selbst war lange nicht so poetisch als die Wirkung. Es war eine, jedenfalls verbesserte, jener alten und echten Harmoniken, die Benjamin Franklin erfunden haben soll, und die schon lange aus dem Gebrauch des Virtuosenthums gekommen sind und nur hier und da noch von einem Freunde ernster und weihevoller Musik gespielt werden. Der Pfarrer und die Pfarrerin, beide waren gleich darin geschickt.
Das nächste Gespräch, an welchem in bescheidener Zurückhaltung einige freundliche Kinder, zwei Mädchen und zwei Knaben, theilnahmen, betraf natürlich das gestrige Finden der Verirrten. Der Pfarrer hatte mit dem Kammerherrn, der immer noch im Garten, harrend und seinen Strauß vervollständigend, auf- und niederging, kurz vor Sonnenuntergang noch einen Spaziergang gemacht. An dem Riedbruch, wie die bezeichnete Gegend benannt wurde, hatte man Lucinden, überraschend genug, im Schlummer hingestreckt gefunden. Ihr zerrissenes Kleid, die aufgelösten Haare hatten keinen Zweifel gelassen, daß es sich 72 um eine Kranke handelte, und schnell war der Pfarrer zum Dorfe geeilt, während der Kammerherr zur Aufsicht zurückgeblieben war.
Zwei fast gleichzeitige Fragen, die ihrerseits nach der wunderlichen Art des letztern, und die Frage der Pfarrersleute, wie und woher sie denn in die misliche Lage gekommen, durchkreuzten sich eben, als man vorm Hause einen Lärm hörte, Schimpfreden und Drohungen wildester Art.
Ja, was ist nur wieder? sagte ruhig der Pfarrer und ging hinaus.
Lucinde sah, daß sich der Kammerherr wie ein Tobsüchtiger geberdete und in einige Entfernung hinausschrie: Schlingel, nichtswürdiger Schurke, Tagedieb! Wo bleibt mein Degen? Wie lange soll ich nach meinem Degen rufen? Bin ich der Kammerherr von Wittekind oder nicht?
Da auch die Pfarrerin auffallenderweise sehr ruhig in den Garten ging, so nahm Lucinde keinen Anstand zu folgen. Sie hatte schon die Thür in der Hand, als ihr auffiel, wie schnell das älteste der Mädchen an die Harmonica sprang und einige der Gläser mit dem mühsam ausgebreiteten Spann ihres kleinen Händchens zu reiben versuchte.
Was ist das alles? fragte sie sich und war um so mehr betroffen, weil der Name Wittekind sie an die monatlichen Geldsendungen der Frau von Buschbeck oder des Fräuleins von Gülpen erinnerte. Auf den fünf Siegeln hatte sie öfters die Worte: »Freiherrlich Wittekind'sche Kameralverwaltung« gelesen . . .
Die Kleine spielte wohlgeordnet einen Choral. Der Kammerherr riß inzwischen sein Blumenbouquet auseinander, rannte über die Beete, zertrat alles und schlug sogar mit geballter Faust gegen den Pfarrer, der ihm zuzureden und ihn ins Haus zurückzuführen sich bemühte. Leuten, die draußen am Staket gaffend stehen blieben, winkte der Pfarrer zu gehen.
73 Meinen Degen! Meinen Degen will ich haben! rief der Ungeberdige unausgesetzt und drohte mit den Händen nach einer Seite hin, wo sich jemand zu befinden schien, der diesen zu bringen von ihm beauftragt war.
Aber den Degen? rief die Pfarrerin, jetzt doch auch erregter ins Haus zurückkehrend. Wie kann man ihm einen Degen lassen!
Lucinde begriff nun, daß der Kammerherr geisteskrank war. Nie hatte sie Menschen in diesem Zustande gesehen und fürchtete sich, trotzdem daß man versicherte, die Musik würde allmählich seine Tobsucht mildern. In wunderbaren Tönen spielte auch jetzt die Frau Pfarrerin, eine kleine, zarte, geistig durchleuchtete und willensstarke Frau. Wie Lucinde nun auf dem Sprunge war auf die Treppe zu eilen und sich in den obern Stock zu flüchten, traf sie durch die noch geöffnet gebliebene Hausthür der Blick des Tobenden. Kaum war er ihrer ansichtig geworden, als er augenblicklich in seinen Schimpfreden innehielt, die Hände nach ihr ausstreckte und halb die Kniee beugte.
Diese Aenderung der Scene war das Werk eines Augenblicks. Die zaubervollen Accorde, die die Pfarrerin dem Instrument entlockte, hoben eine Situation, deren Feierlichkeit von dem Schrecken und Staunen der Näherstehenden unterstützt wurde; die entfernter Lauschenden freilich lachten.
Lucinde blieb eine Weile unbeweglich. Dann aber faßte sie sich Muth und ging auf den Kammerherrn zu, ihm einen freundlichen: Guten Morgen! wünschend.
Er erhob sich, sprach nichts und lächelte voll Ehrfurcht.
Daß Sie mich noch wiedererkennen! fuhr Lucinde wie in unbefangenster Laune fort. Ich habe mich seit gestern verändert, nicht wahr?
Sie gehören jetzt der Erde an! sprach der wie in einem Bann 74 Befindliche feierlich, langsam, mit sonderbar hochliegender, fast weiblicher Stimme.
Nicht wahr, fuhr Lucinde scherzend fort, Sie glaubten gestern, ich wäre vom Himmel gefallen? Und nun suchte sie die zerstreuten Blumen auf, wobei ihr der Kammerherr behülflich sein wollte. Aber diese steife Uniform! fuhr sie fort. Pfui! Pfui! Wie garstig dieser hohe Kragen! Das mag sich wol bei Hofe schön ausnehmen, aber hier . . . Die armen Rosen und Nelken! Nein, kommen Sie, Herr Kammerherr von Wittekind! Ziehen Sie Ihre gestrige leichte Kleidung an, und wir richten den Garten wieder in Ordnung!
Ich wollte Ihnen meine Ehrfurcht bezeugen! sagte der Kranke und verbeugte sich wie vor einer Fürstin.
Nun gut! So denken Sie nur, daß auch ich ganz incognito hier lebe und wir uns eines dem andern nichts vorwerfen wollen!
Der Kammerherr verbeugte sich und ging, ohne weiter nach dem Degen zu fragen, ins Haus, um sich umzukleiden. Er bewohnte die andere Seite des Erdgeschosses.
Alle standen in Bewunderung vor diesem unerwarteten Besänftigungsmittel. Der Pfarrer besonders schien sehr erfreut und sagte leise:
Die Musik war bis jetzt das Einzige, was die zuweilen ausbrechende Tobsucht des geisteskranken Mannes mildern konnte. Nun kommen Sie und schon Ihr Anblick entwaffnet seine Wuth! Sie sind uns ja wie ein Geschenk von Gott gegeben!
Lucinde erfuhr, daß der Pfarrer von Eibendorf, dem das trauliche Nest mit Kindern sich füllte, aber vom Ertrag seiner Pfarre kaum die Scheuer, sich erboten hatte, einen geisteskranken vornehmen, reichen Mann in Obhut zu nehmen. Es war, er gestand es aufrichtig, eine Speculation auf die Besserung seiner eigenen Existenz. Er wollte diese Ersparnisse anlegen für die 75 künftige Ausbildung seiner Kinder. Offen sagte er das; aber man sah wohl, sein eigener redlicher Wille und die Herzensgüte seiner Frau konnten sich nicht entschließen, diese Pflege nur wie das Amt eines Miethlings auszuführen. Sie unterzogen sich ihrer schweren Aufgabe, die sie in diesem mislichen Umfange, wie sich bald herausstellte, kaum geahnt hatten, mit aufrichtiger Hingebung, wachten Tag und Nacht über den launischen, oft bösartigen und in der großen Welt in vielen Dingen gründlich verdorbenen Mann, der schon an die Vierzig herangerückt schien und kaum dreißig zählte.
Freiherr Jérôme von Wittekind entstammte dem Geschlecht, das sich für die Nachkommen jenes edeln und tapfern Wittekind hielt, der in diesen Gegenden, tiefer abwärts nach Westen zu, lange Jahre Karl dem Großen die Spitze geboten. Einem Geschlecht der Hünen schien auch noch immer dieser entartete Enkel anzugehören. Der Kammerherr war der jüngere Sohn des großen Landbesitzers und eines der ersten Glieder hierländischer Ritterschaft, des Kronsyndikus von Wittekind; der ältere stand in Diensten des nordwärts liegenden großen Staats. Dieser jüngere, von früh beschränkt und schwachsinnig, hatte sich den Kammerherrnschlüssel eines der kleinen Höfe geben lassen, die um die Externsteine herumliegen. Seine Reisen und Aufenthalte in großen Städten waren die Veranlassung zu so vielen Thorheiten und Verschwendungen geworden, daß der Vater seinem Wesen Einhalt thun mußte. Die Beschränkung, die er erfuhr, reizte seine Wildheit nur noch mehr, und als der Vater, der selbst ein determinirter Mann war und im Nothfall, wie Lucinde später kennen lernte, mit geschwungener Hetzpeitsche dreinfahren konnte, ihn vollends einengte und, um den Geisteszustand seines Sohnes nicht zu verrathen, ihn gar wie einen zweiten Kaspar Hauser einschloß, ließ die Elasticität dieser schwachen Geisteskräfte immer 76 mehr nach und ein oft bösartiger Blödsinn war eine Folge, die nur noch die gewohnte Art der Haltung und der hochgetragene Nacken des adeligen Stolzes in der stattlichen Erscheinung des Kammerherrn verdeckte.
Obgleich Katholik, hatte man ihn, um seinen Zustand ganz aus dem Bereich der Controle der ihm ebenbürtigen Adelsgeschlechter zu bannen, zu einem protestantischen Geistlichen, zehn bis zwölf Meilen von den großen Gütern des Vaters entfernt, gegeben. Den Vorwand dafür gab seine Liebe zur Malerei. Er besaß ein wirkliches Talent zum Copiren und streifte durch die Gegend meist mit der Zeichenmappe. Sein Diener sagte dann jedem, sein Herr halte sich deshalb beim Pfarrer auf, weil nichts der Umgegend von Eibendorf gleichkäme. Wald, Berg, Wiese und Grund schmückten das Thal allerdings mit den reichsten Farben; die Malerei und Musik wurden zu Hülfsmitteln, den Zustand des Kranken zu mildern.
Von dem Augenblick an, wo der Kammerherr in seinen Sommerkleidern zurückkehrte und mit Lucinden, die sich einen Strohhut gegen die Sonne entliehen hatte, die Beete zu ordnen und die Pflanzen wiederherzustellen begann, entspann sich ein Verhältniß, das ein Jahr dauerte und Lucindens siebzehntes Lebensjahr füllte.
Lucinde blieb auf der Pfarrei, hier »Pastorat« genannt.
Man fragte sie allerdings nach ihrer Herkunft, ihrem Namen und dem Stande ihrer Aeltern. Sie gab auch dem Pfarrer und dem Schulzen (dem »Meier« des Dorfes) einen Namen an. Erst war sie Johanna Stegmann, aus dem Thüringischen gebürtig. Kam der Pfarrer und drohte lächelnd mit dem Finger und sagte, er hätte nach Vacha, das sie als Wohnort angegeben, geschrieben und die Nachricht bekommen, daß man dort nichts von einer Johanna Stegmann wisse, so nannte sie sich Luise 77 Starkin, aus der Gegend von Fulda über die Rhön hinaus, wo ihr Vater ein Oberförster des Königs von Baiern wäre. Schüttelte man nach vier Wochen wieder den Kopf, so erwiderte sie: Wollt ihr, daß ich bleibe, so quält mich doch nicht so!
Man mußte wünschen, daß sie blieb. Sie war dem Frieden des Hauses nothwendig geworden. Was zur Besänftigung des Kammerherrn die Harmonica nur annähernd erreicht hatte, das löste Lucinde vollständig. Der Kammerherr wurde durch sie ein Kind, das an ihrem Leitseil unter Blumen spielte; er zeichnete, malte, sprach leidlich vernünftig und verhieß eine wirkliche Heilung.
Ohne phantastisches Uebermaß und manche Wunderlichkeit ging es dabei freilich nicht ab. Es blieb dem Kranken von Lucinden die Vorstellung wie von einer in der That feenhaften Erscheinung. Er ließ sich den Wahn nicht nehmen, daß Lucinde eine Tochter der Waldkönigin, vielleicht sie selbst wäre, und Lucinde that nichts, ihm diesen Glauben zu nehmen. Sie ließ sich von ihm so schmücken, wie er sie sehen wollte, wenn er sie malte. Es waren dies die wunderlichen Malereien der Geisteskranken, die durch ihre technische Vollendung oft überraschen und immer dabei doch nur etwas mechanisch Wiedergegebenes und Seelenloses darstellen. Es waren in seinen Landschaften immer derselbe Eichbaum, immer derselbe Felsengrund, immer dasselbe Haus, derselbe Kirchthurm, derselbe Bach und dieselbe Mühle wiederzufinden, nur wechselte die Vermischung und die Beleuchtung. Auch seine Porträts drückten, er mochte den Pfarrer oder den Meier im Dorf oder den einzigen Bekannten, der ihn zuweilen besuchte, einen Grafen Hans von Zeesen wählen, immer denselben Charakter aus, eigentlich ihn selbst. Nur für Lucinden suchte er Abwechselung, bald in dieser Situation, bald in jener. Er verschwendete Summen Geldes, um sie bald als Griechin, 78 bald als Zigeunerin, bald als Salondame oder Amazone malen zu können. Von jenem Residenzstädtchen, wo er sich einst den Kammerherrnschlüssel gekauft hatte, waren beständig Cartons mit kostbaren Stoffen unterwegs. Selbst theuere Schmucksachen wurden angekauft. Und der Kronsyndikus, der Vater, der zuletzt doch auch von diesem Treiben hören mußte, widersprach nicht. Einmal drückte ihn der geheime Vorwurf, das Uebel des Sohnes durch seine Erziehung selbst gemehrt zu haben, dann nährte er die Hoffnung, ihn wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Es wurde sogar eine Adelige genannt, die nach einem Familienstatut mit ihm vermählt werden sollte, nachdem eine Verbindung mit einem Fräulein Monika von Ubbelohde vor geraumen Jahren gescheitert war.
Lucinde genoß diese Lage eine Zeit lang mit der ganzen Behaglichkeit ebenso eines sichern und geschützten Aufenthalts wie des geschmeichelten Selbstgefühls. Eibendorf lag dem Winkel zu, wo sich das Eggegebirge mit dem Teutoburger Walde kreuzt; es war umgeben von jenen Waldzügen, die so dicht belaubt, so frei und urstämmig sich sonst nur im Süden Deutschlands wiederfinden. Von mancher aufsteigenden Anhöhe aus sah man in das Tiefthal der Weser hinab. Ein entzückender Anblick! Jeder Hügel bewaldet und umgeben von unabsehbaren Feldern und Wiesen, denen sich in frischen Farben Dörfer, weiterhin ansehnliche Städte entwanden. Die schroffern und die Seele mit mächtigen Ahnungen erfüllenden Partieen mußte man im Gebirge suchen; diese Ebene hier bot den Charakter der Milde und Lieblichkeit. Nach Osten hin sah man an besonders lichthellen Tagen in dunkler Färbung die Nadelholzcontouren des Harzes. Dabei waren die Volkssitten lebhaft, keck und herausfordernd. Es gab Aufzüge und Feste aller Art, sogar ein Schützenfest für Frauen. Morgens in erster Herbstfrühe zogen die Ehefrauen der 79 Gemeinde, unter ihnen manche Anmuthige, von irgendeinem Hofe aus, in goldenen landüblichen Häubchen und Stirnbinden, mit Bändern und Blumensträußen geschmückt, mit den Gewehren ihrer Männer in den Händen. Der Kammerherr hatte verlangt, daß Lucinde die Schützenkönigin spielte, die mit dem Zeichen ihrer Würde, den Säbel an der Seite, vorausmarschirte. Da sie nicht verheirathet war, so setzte man die äußerste Anstrengung daran, ihn von diesem Verlangen abzubringen. Sie begnügte sich dann mit der Rolle des Fähnrichs. Die Fahne, die er sie tragen ließ, war eine wunderliche Curiosität, die er selbst erfunden hatte. Er beschäftigte sich mit der hier landesüblichen gelehrten Spielerei, in den Nachrichten der Alten über den Aufenthalt der Römer in Deutschland Thatsachen und Namen aufzufinden, die noch jetzt mit den Sitten und Namen der Gegenwart in irgendeinem Zusammenhange stehen. Der Kammerherr wußte genau, wo Varus von Hermann dem Cherusker geschlagen war; er behauptete, daß dies dicht bei Neuhof, dem Schlosse seines Vaters geschehen. Er war auch selbst in Rom gewesen und vermeinte, dort in den Alterthumsschätzen des Vatican Dinge gesehen zu haben, die die Römer nur auf der heiligen rothen Erde Westfalens gefunden haben konnten. Dortige alte Trinkgefäße wären nur aus Glashütte gekommen, einem Vorwerk seines Vaters, alte Wurfgeschosse nur aus einem ganz bestimmten Holze, dem Düsternbrook hinter Neuhof, alte Waffen aus einer uralten Schmiede, die seit Jahrhunderten die Hufe der Rosse seines Hauses beschlug. Nur in einem Punkte wich er vom Urtheil seines Vaters ab. Er las ziemlich geläufig den Tacitus und hatte die besondere Ueberzeugung, daß der Tempel der Tanfana, wo die alten Deutschen angebetet haben sollten, nicht etwa die große Dämpfpfanne der Saline Hallenstein seines Vaters war, wie dieser selbst und alle Pastoren der Umgegend glaubten, sondern 80 nur eine Tannenfahne, nämlich der alte deutsche, weiland heidnische, dann so gründlich getaufte, bekehrte und christlich gewordene Weihnachtsbaum, den in der That Lucinde mit bunten Bändern geschmückt und mit allerlei zierlichen Vergoldungen bei jenem Schützenfeste als Fähnrich tragen mußte. Da auch in diesem Weihnachtsbaume, Tanfana, Tannenfahne, dem Palladium der alten Deutschen, goldene Ringe, Ketten, Schaumünzen hingen, die die Siegerinnen im Schießen gewinnen sollten, so ließ man sich diese Verbindung des alten heidnischen Rom mit Deutschland und dem überwiegend protestantischen Eibendorf (katholische Einwohner waren in einem Nachbardorfe eingepfarrt) gefallen. Es waren Geschenke von dem sogenannten »tollen Kammerherrn«.
Auf die Länge mußte freilich den Pfarrer die unsichere Herkunft und das längere Verweilen Lucindens beunruhigen. Er hatte dem Kronsyndikus nach Neuhof, dem Stammsitz der Wittekinds jenseit des Gebirgs, wiederholt seine Bedenken mitgetheilt. Da aber die Wirkung der Abenteurerin eine so vortheilhafte für den Kammerherrn war, so befahl der Vater, an diesem Erziehungsplane, den der Zufall an die Hand gegeben, vorläufig nichts zu ändern. Seine Briefe waren kurz und bestimmt, wie die Art des Mannes überhaupt sein sollte. So duldete man das, was nach und nach anfing auch seine Mislichkeiten nach sich zu ziehen. Denn weder die vom Gewöhnlichen abweichende Situation des Geisteskranken, seine einsamen Wanderungen mit der Fremden, seine Ausbrüche von Eifersucht, noch Lucindens mehr zum Zerstören als zum Schaffen geneigte Natur blieben lange unverborgen. Schon fing sie an, als es zum Winter ging, sich an dieser sich gleichbleibenden Lage nicht zu genügen; selbst der Bann einer solchen Huldigung, wie sie hier, allerdings ohne die geringste intimere Belästigung, fand, wurde ihr zu enge, der Gang der Tage wurde zu gleichförmig, die Welt, in der 81 man hier seine Befriedigung gefunden hatte, brachte selten eine andere Unterhaltung als eine Thorheit des Kammerherrn mehr. Die Menschen, die es da und dort noch zu gewinnen gegeben hätte, hielten sich in scheuer Ferne, selbst Graf Zeesen, der alle zwei Monate einmal von seinen nahe liegenden Gütern kam, um einige Stunden lang die sonderbarsten Gespräche mit dem Kammerherrn zu führen. Wäre Graf Zeesen nicht ausgesprochen katholisch gewesen und im Pfarrhause dieser Punkt des Kammerherrn wegen mit großer Zurückhaltung behandelt worden, die Familie hätte vielleicht auch diesen Grafen mindestens tiefsinnig genannt.
Dieser noch junge Cavalier war nach den Aeußerungen des Kammerherrn zu Lucinden, die von ihm alle seine Familienbeziehungen erfuhr (nur nie etwas über die Frau »Hauptmännin« von Buschbeck oder von Gülpen, eine Persönlichkeit, die er nicht zu kennen behauptete), sein »zweitbester« Freund. Der »erstbeste« hieß Doctor Heinrich Klingsohr. Doch fügte er regelmäßig mit einem Kreuze, das er dabei in die Luft malte, hinzu: Klingsohr ist mein bester Freund, aber er hat mich verrathen! Vom Grafen Zeesen, mit dem er studirt hatte und in Rom gewesen war, ließ er die aufrichtige Hingebung gelten, beklagte aber ein unglückseliges Geschick desselben, das er nicht genauer angab. Die Pfarrerin verrieth es eines Tages, indem sie Lucinden erzählte: Der Graf hat sich mit einem Freifräulein von Seefelden verlobt, leidet darüber aber an Gewissensscrupeln, seitdem er ein altes Familienstatut in Erfahrung gebracht hat. Vor hundert Jahren hat ein Ahn seines Hauses die Bestimmung gemacht, daß, wenn ein ältester Sohn der Nachkommenschaft sich entschließen sollte, nicht zu heirathen, die von ihm und seiner später geisteskrank gewordenen Frau reich vermehrten Güter der Zeesen dazu angewendet werden sollten, ein großes Landes-Irrenhaus 82 zu begründen. Hundert Jahre lang haben die Nachkommen vorgezogen zu heirathen. Erst dieser Hans von Zeesen, der viel Frömmigkeit besitzt, wurde über jene nunmehr hundertjährige Unterlassung eines guten Werkes stutzig, und sonderbarerweise ist seine Braut, die ihn ebenso heiß liebt, als er sie, von gleicher Seelenstimmung. Ich zweifle nicht, daß der Graf seinen kranken alten Freund nur deshalb so oft besucht, um sich in dem heroischen Vorsatze des Entsagens zu Gunsten einer Irrenanstalt zu bestärken.
Lucinde lachte und horchte doch wieder hoch auf. Da kamen Ideen, die sie an sich verstand, in eine Verbindung oder in Conflicte, die sie nicht fassen konnte. Doch hörte sie aufmerksamer zu, wenn der kleine blasse, schmächtige Mann, dieser Graf Zeesen, in schlichter, fast priesterlicher Tracht kam und sich mit dem Kammerherrn unterhielt. Nie hatte sie so viel von Gedanken, Meinungen, ideellen Beziehungen gehört, wie in den Gesprächen eines Halbirren mit einem Manne, der so fromm katholisch war, daß er selbst unter der protestantischen Pflege seines Freundes zu leiden schien.
Wie eigenthümlich nach dem Wunderbaren, Fremdartigen, ja Schrullenhaften hier zu Lande fast überall ausgegangen wird, erfuhr Lucinde bei vielen Gelegenheiten, unter anderm bei einer Erinnerung an den alten Bienenhelm ihres Vaters, den dieser nie zurückbekommen hatte; die Hauptmännin hatte ihn, scheinbar zu Gunsten Lucindens, an einen Trödler verkauft. Sie besuchte aus alter Neigung oft die Dorfschule und gab in ihr Unterricht auf ihre Weise. Beim Schulmeister fand sie ein geregelteres Hauswesen als bei ihrem Vater und in der Gartenwirthschaft auch einen Bienenhelm, den gerade ein Knecht aus dem Orte vom Schulmeister borgte, um – den Bienen das Leid von seinem eben verstorbenen Herrn anzusagen. Ueber den sonderbaren hierländischen Gebrauch, daß man mitten in die Bienenstöcke hinein 83 den Tod des Hausvaters anzeigen und den Knecht den Bienen melden läßt: »Einen schönen Gruß von der Frau und der Herr wäre todt!« konnten sich der Kammerherr und der gerade anwesende Graf in Mittheilungen verlieren, die alle Seiten der Geschichte und der Philosophie berührten. Lucinde staunte über den Glauben, der annehmen konnte, daß ohne diese Leid-Ansage die Bienenstöcke in Jahresfrist ausgehen würden; aber der Kammerherr und der Graf, beide warfen verklärt ihre Blicke empor und sprachen nun auch anerkennend von dem früher gemeinschaftlichen verrätherischen Freunde Heinrich Klingsohr, der eben auf die Darstellung des Zusammenhangs der Bienen, wenn nicht mit Leben und Sterben, doch mit den Staats- und Rechtsbegriffen der Menschheit in Göttingen Doctor geworden war.
Und so dunkel es nun auch in des Kammerherrn Begriffen aussah, so wurde er doch auf diese Art Lucinden ein Lehrer. Auf Partieen, die er in einem von seinem Diener geführten Einspänner machte, sprach er mit Lucinden, ob sie es verstand oder nicht, nur französisch, ein andermal nur englisch, ein drittesmal, wenn er gerade auf Tacitus und die alten Germanen oder auf eine Sammlung alter Marienlieder kam, die Graf Zeesen zum Druck vorbereitete, nur lateinisch. Sie erwiderte mit dem Wenigen, was sie früher von Englisch und Französisch aufgegriffen hatte, und bewundernswerth war die Geduld, mit welcher der Kammerherr sich mühte, einer »der Erde nicht angehörenden« Erscheinung allmählich die Sprachen derselben beizubringen. Die Sprache, die er an dem Riedbruch damals im Walde beim ersten Finden an sie gerichtet hatte, war ein Gemisch von Lateinisch und Plattdeutsch gewesen.
Diesen Gewinn an Kenntnissen ließ sich Lucinde, die unter all dem landesüblichen und persönlichen Dunkel ihre Heiterkeit nicht verlor, wohl gefallen. Der Gewinn mehrte sich, als die langen 84 Abende kamen und der Pfarrer sich gleichfalls geneigt erklärte, die Civilisation des Wildlings zu unterstützen. Auch im Klavier, dessen Grundlagen Lucinde schon im Hause des Stadtamtmanns gelegt hatte, vervollkommnete sie sich unter Leitung des musikalischen Mannes, der seine Kinder, ja selbst noch seine im Klavier geringer talentirte Frau unterrichtete. Der Herbst und ein langer, schnee- und frostreicher Winter wurde auf diese Art für Lucinden eine Studienzeit, die bei der Leichtigkeit ihrer Auffassung und der geringen Zerstreuung dieses Aufenthalts reiche Früchte trug. Der Kammerherr selbst, dem wissenschaftliches Material nicht mangelte und dessen liebstes Thema sich immer an die Erinnerungen von Rom oder Göttingen hielt, docirte ihr oft Geschichte und Philosophie, die er mit der Mathematik und, sonderbar und für die Schrullen jener Provinz unsers Vaterlandes kennzeichnend genug, auch mit der Kunst des Drechselns verband.
Wie von den Adeligen Westfalens an den Hofbällen Berlins und in Münster ihre Erziehung und ländliche Beschäftigung nicht zu erkennen ist, so wird man seltsam finden, daß es berühmte Geschlechter unter ihnen gibt, die neben ihrem angeblichen Berufe, die unerschütterlichen Erben Karl's des Großen zu sein und in Demuth vor Gott, dem Papst und dem Landesherrn ihre Renten zu verzehren, auch ein Handwerk lernen. Manche, die nicht gut schreiben können, aber schon in Potsdam ein Porteépée führen und in Verlegenheit kommen zu bekennen, daß sie nicht viel mehr wüßten, als was auf ihren düstern, einsamen Kampen der »Hauspape« ihnen zu lernen zugemuthet, verstehen sich vortrefflich auf den Hufbeschlag der Pferde oder arbeiten sich das Sattel und Riemzeug derselben selbst aus. Das Drechseln aber in grobem und feinem Holze ist eine so weit verbreitete Kunstfertigkeit des westfälischen Adels, daß Lucinde sich nicht hätte verwundern sollen, neben dem Maleratelier ihres Freundes auch eine 85 Kammer anzutreffen, die zu einer vollständigen Drechslerwerkstatt eingerichtet war. Ihr aus Kirschbaumholz allerhand Büchsen und Ringe zu drehen, war selbstverständlich seine liebste Aufgabe; aber er drehte auch Bälle, Kegel, Pyramiden, konische Ausschnitte und Figuren aller Art, von denen er nicht nur mathematische Auslegungen gab, sondern philosophische und religiöse sogar. Oft sprach er dabei von einem in der Nähe seiner väterlichen Güter wohnenden Philosophen, der aus den einfachsten Grundbegriffen unserer mathematischen Anschauungen die tiefsten Wahrheiten der Religion hergeleitet hätte.
Je geheimer diese Gespräche vor dem Pfarrer geführt wurden, desto reizvoller wurden sie für einen Verstand, der sich aus den verworrenen Begriffen eines Narren manches Körnlein Vernunft entnehmen konnte. Dennoch wünschte Lucinde diese Lage geändert. Das Aufsehen, das sie in der ganzen Gegend mit dem »tollen« Kammerherrn machte, war nicht gering. Auch hatte der Pfarrer erleben müssen, daß ein Brief, den Lucinde an ihre Schwester geschrieben und eine Meile weit erst auf die Post gegeben hatte, zurückkam mit der vollständigen und wahren Adresse seines Schützlings, ja, daß der Meier von Eibendorf ihm Mittheilungen machte, die jetzt den Zustand, wie man Lucinden im Riedbruch gefunden, vollkommen erklärten.
Eine scheue Besorgniß des Hauses vor Lucinden hatte sich schon längst gesteigert, sie wurde zur Abneigung, als man sie bei Ueberreichung des von der Post geöffneten und wieder auch von der Post verschlossenen Briefes wol aufs äußerste über die offene Angabe ihres Namens erschrocken fand, weniger aber über den von einer ungebildeten Hand gekritzelten Zusatz: »Ist vor vier Wochen am Nervenfieber gestorben.«
Der Tod ihrer Schwester Luise, einer einzigen, wie sie öfter gesagt hatte, erschütterte sie weniger, als die richtige Angabe ihres 86 Namens! Daß mit so viel Schönheit, jeweiliger Liebenswürdigkeit, immer mehr sich herausstellendem Geist und zunehmenden Kenntnissen so viel Gefühllosigkeit verbunden sein konnte, als sich jetzt erst offenbarte, nahm vorzugsweise die Pfarrerin gegen den längern Aufenthalt Lucindens ein, und offen wurde dem Kronsyndikus von Wittekind nach Neuhof die Anzeige gemacht, daß sie ohne Lucinden den Kammerherrn nicht mehr bei sich behalten könnten, mit ihr aber länger nicht mehr mochten.
Lucinde übersah das alles. Selten entging ihrem wühlerischen Umblick etwas, während sie im Gegentheil an sich selbst alles zu verbergen wußte, selbst den Schreck und ein wirkliches geheimstes Erschüttertsein durch den Tod der Schwester. Trotzig warf sie die Lippen auf und erklärte, sie ginge jeden Augenblick, wenn man's wünschte. Man irrte sich keineswegs, wenn man voraussetzte, daß sie auch vom Kammerherrn sich trennen wollte, wenn nicht eine andere Festsetzung ihres Verhältnisses zu ihm stattfände. Die Aussicht sogar, die Gattin desselben zu werden, schien ihr keineswegs zu hoch. Sie besaß ja die Formel, die diesen verdunkelten Geist einigermaßen zu erhellen vermochte. Sie sagte sich, daß der vornehmen und stolzen Familie wenig daran liegen könnte, sich bei einer doch schon aufzugebenden Persönlichkeit auch noch gegen diese Ausnahme von der Regel zu stemmen.
Darin irrte sie sich aber, wie sie von der hierin entscheidenden Persönlichkeit selbst erfuhr.
In den ersten Tagen des April erschien der Kronsyndikus, der Vater des Kammerherrn.